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Ihr Sohn sieht sie fassungslos an. Und sie erblickt Bewunderung, aber auch Entsetzen in seinen Augen.
"Ist dir eigentlich klar, was dir alles hätte passieren können!? Das ist so krass..."


Was war geschehen?
Nun, es war eigentlich ein ganz normaler Freitag...
Die 48jährige Karin erzählt ihrem Sohn, was passiert ist, an diesem 3. Dezember:

"Ich sitze im Zug nach D... und fahre zum Treffen der Aidshilfe, wie immer am ersten Freitag im Monat.Heute Morgen hatte ich einer Mitstreiterin noch eine SMS geschickt, damit sie nicht vergisst, mich am Bahnhof abzuholen. Während ich am Bahnsteig auf den Zug warte, trifft eine Gruppe Jugendlicher ein, türkische und deutsche Kids, wie ich vermutete. Ungefähr zwischen 13 und 16 Jahren alt; ausgelassen, gut gelaunt. Einer der Jungs rennt mich beim Herumalbern fast um. Ich muss lachen, es ist schön, sie so fröhlich zu sehen. Der Zug fährt ein.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, das auch zwei Nazi-Skins eingetroffen sind und in den Zug wollen, schon leicht angetrunken. Als einer der ausländischen Kids die Zugtür nicht sofort auf bekommt, wird er von einem Nazi-Skin sofort derbe angepöbelt: "Hey, scheiß Atatürk...!" Ich bin dann in das Nichtraucher-Abteil rechts eingestiegen, während sich die Jugendlichen und die Skins in das Raucher-Abteil links begaben. Mit dem Rücken sitze ich also nun direkt neben der Abteiltür. Eine junge Frau setzt sich mir gegenüber dazu, anscheinend froh, noch einen Platz bei mir bekommen zu haben, denn hinter uns hört man noch Gepöbel. Sie kann direkt in das andere Abteil sehen und während sie ein Gespräch mit mir beginnt, kann ich an ihrem Gesicht ablesen, wie die Situation nebenan langsam aber sicher zu eskalieren droht. Unbehagen verbreitet sich in den Gesichtern der Menschen, die im gleichen Abteil sitzen. Unbehagen und Angst. Plötzlich greift die junge Frau in ihre Tasche, holt ihr Handy heraus. "Ich rufe jetzt die Polizei, damit die in D... im Bahnhof stehen!" Daraufhin drehe ich mich um und sehe jetzt auch, was sich im nächsten Abteil abspielt: Der Nazi-Skin steht auf den Sitzbänken, mit einer abgebrochenen Bierflasche in der Hand und brüllt einen der jungen Ausländer an; einen Albaner, wie sich hinterher herausstellt. Der Junge brüllt angsterfüllt zurück, der Rest seiner Gruppe steht zitternd im Abteil vor der Tür. Panik liegt in der Luft.
Ich sehe in die Gesichter der Menschen in meinem Abteil und mir ist klar: Niemand wird aufstehen. Ich spüre, das niemand hier den Mut aufbringt, einzuschreiten.
Für einen Moment schließe ich die Augen. Und dann spüre ich, wie ich mit einem Mal ganz ruhig werde. Als würde eine unheimliche, nicht zu beschreibende Kraft mich erfassen und mit unendlicher Liebe erfüllen. Als würde jemand seine sanften Hände auf meine Schultern legen... Ich fühle: Mein Schutzengel steht hinter mir und gibt mir diese Kraft und diese Liebe! Und ich weiß ganz sicher: Mir kann nichts geschehen.
Es fühlt sich an als würde diese Kraft mich hoch heben und so stehe ich auf, stelle meinen Rucksack ab, öffne unsere Abteiltür - die entsetzten Blicke der Anwesenden im Nacken - und schließe sie hinter mir. Dann öffne ich die andere Abteiltür, sehe in die angsterfüllten Augen der jungen Leute. Ein junges Mädchen zittert total und hat Tränen in den Augen. Ich streiche ihr beruhigend über den Rücken und bitte sie sanft, aber bestimmt, das Abteil zu verlassen; ebenso die anderen. Das letzte junge Mädchen sagt mutig: "Ich kann nicht gehen!" Der junge Albaner muss wohl ihr Freund sein. Ich schiebe sie hinter mich. Dann gehe ich langsam auf den Nazi-Skin zu, stelle mich vor ihn, während er und der Albaner sich noch immer, wie von Sinnen, anschreien.
"Schsch.... Es ist gut, du kannst jetzt aufhören. Beruhige dich bitte..."
Meine Stimme ist sanft und ich sehe ihn liebevoll an. Ganz vorsichtig und langsam hebe ich meine Hand, streichele sanft seinen Arm. Er hört auf zu schreien, ist irritiert. Sein Kumpel bleibt ruhig, sieht mich abwartend an. Dann drehe ich mich langsam um, wende mich dem Albaner zu. Auch ihn streichele ich sanft; merke, das er völlig neben sich steht vor Angst. Vorsichtig erfasse ich sein Kinn, drehe sein Gesicht zu mir und streichele ihm sanft die Wange. "Es ist gut... beruhige dich... schsch..." Seine Stimme zittert, er kann sich kaum beherrschen.
Ich sage ihm: "Weißt du, ich glaube an das Gute im Menschen."
Er sieht mich an und sagt: "Ich auch! Aber warum greift der mich an, ich hab’ ihm nichts getan...!?"
"Ich weiß... schsch..."
Es ist plötzlich ganz still im Abteil. Dann drehe ich mich wieder dem Nazi-Skin zu, während ich sage: "Und ich glaube, das niemand

hier irgendjemandem wirklich weh tun will."
Der Nazi-Skin traut sich nicht, mich anzuschauen, schüttelt fast unmerklich zustimmend seinen Kopf. Langsam hebe ich meine Hand, streichele dem Nazi-Skin sanft über seine Wange und sage ihm:
"Und auch du hast das Gute in dir drin. Erinnere dich an die Liebe in deinem Herzen, dann musst du nicht mehr hassen, hmm? Wäre das nicht ein viel schöneres Gefühl?"
Ich sehe in seine Augen und wie er innerlich zusammen sackt, fühle die Verzweiflung in seinem Herzen. Für einen kurzen Moment sieht er mich an wie ein verlorenes Kind, das sich wünscht "Mama, nimm mich in den Arm..." Ich frage mich, was man seiner Seele angetan hat. Und ich spüre diese Kraft in mir und meinen Schutzengel, der hinter mir steht. Während ich ihn noch ein wenig streichle, verlassen die jungen Leute das Abteil. Wir sind mittlerweile beim Zwischenstop in L... und die Hälfte der jungen Leute verlässt den Zug, um einer weiteren Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Ich bekomme noch mit, das sie sich später in D... treffen wollen, als ich dann auch das Abteil verlasse.
Es ist ruhig geworden und ich gehe zurück auf meinen Platz, während der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Ich spüre, das mein Engel noch bei mir ist und mich wärmt. Und ich habe immer noch keine Angst, bin ganz ruhig, kein erhöhter Puls, nichts dergleichen. Die junge Frau mir gegenüber sagt, das die Polizei in D... bereit stehen wird. Wir hören, wie der Nazi-Skin dem Albaner noch etwas durchs Zugfenster hinterher brüllt. Alle zucken erschrocken zusammen. Ich sage: "Da kann nichts mehr passieren, er muss sich jetzt nur seinen Frust aus der Seele schreien. Es ist gut so." Dann unterhalte ich mich noch ein wenig mit meinem Gegenüber. Immer noch ist viel Anspannung im Raum, jeder ist froh, wenn der Zug endlich hält und diese Typen aussteigen. Als wir in D... ankommen, stelle ich mich als erste an die Tür, neben die Skins. Sie sind ganz ruhig und ich spüre den leicht verlegen Blick des Nazi-Skins. Irgendwas murmeln sie untereinander, dann höre ich seinen Freund sagen: "Da stehen sie schon!" Er meint die Polizei, die ich im Dunkeln gar nicht mal erkannt habe.
Ich steige aus und laufe runter, zum Bahnhofseingang, wo meine Mitstreiterin mich üblicherweise abholt. Der Zug hatte 5 Minuten Verspätung, aber sie ist noch nicht da. Ich warte noch etwas, dann hole ich mein Handy raus und wähle ihre Handynummer. Merkwürdig, sie hat ihr Handy nicht an. Ich wähle ihre Nummer zuhause. Sie ist erstaunt und erinnert mich daran, das wir uns wegen der Weihnachtszeit doch erst in der ersten Januarwoche treffen wollten... weißt du nicht mehr... Klar, natürlich! Jetzt fällt es mir wieder ein: Wir hatten ja bei unserer Veranstaltung zum Welt-Aids-Tag noch herum gescherzt, von wegen Guten Rutsch schon mal...

Ich hatte es völlig vergessen. Völlig verdattert stehe ich nun da. Zum Glück kann ich mit dem nächsten Zug, 25 Minuten später, zurück fahren. Ich fasse es nicht, schüttele den Kopf ob meiner Schusseligkeit.. Dann hole ich mir eine Fahrkarte und gehe zum Bahnsteig, der gleiche, auf dem ich angekommen bin. Dort bekomme ich noch mit, wie die Polizei die Skins und neben mir einen der Jugendlichen als Zeugen verhört. Der Junge sieht mich ganz irritiert an, als würde er einen Geist sehen. Alles scheint ganz ruhig abzulaufen. Dann verlassen alle Beteiligten den Bahnsteig.
Es ist kalt und ich laufe auf und ab. Der Zug hat etwas Verspätung, dann kann ich endlich einsteigen, setzte mich hin. Mit meinen Gedanken bin ich weit weg, alles rollt noch mal vor meinen Augen ab. Erst jetzt wird mir richtig bewusst, wie brenzlig die Situation war, was hätte passieren können... Seltsamerweise verspüre ich immer noch keine Angst. Aber eine tiefe innere Freude kommt plötzlich in mir hoch, die mich unheimlich glücklich macht: Ich sollte an diesem Tag, an diesem Abend, in diesem besonderen Zug sitzen. Es sollte so sein.
Auf dem ganzen Weg vom Bahnhof nach Hause habe ich das Gefühl "getragen" zu werden. Wie in Trance laufe ich durch die Innenstadt und irgendwie scheinen sämtliche Gefühle aller vorbei laufenden Menschen bei mir anzukommen: Eine so gewaltige Flut von Emotionen überschüttet mich, dass es mir schon Unbehagen bereitet. Mir ist klar, das da etwas ganz besonderes passiert, aber es macht mir auch Angst und ich hoffe, dass zu hause einfach Schluss ist damit. Die Belastung ist enorm.
Tja, so war das... und als ich um 20.30 Uhr wieder hier war, habe ich mich erst mal aufs Sofa gesetzt und versucht, herunterzukommen. Hätte gerne mit jemandem darüber gesprochen, aber meine Freunde konnte ich vorhin telefonisch nicht erreichen. Und da du ja auch nicht da warst... Na ja und da geht vorhin die Tür auf und du bist durch Zufall (?) schon zu Hause..."
"Man konnte dir auch direkt ansehen, das irgendwas passiert ist!" sagt ihr Sohn.
Und als Karin ihm ihre Gedanken erzählt, was sie denkt, wer sie beschützt hat, wird er ganz nachdenklich:
"Da muss ich erst mal ’ne Nacht 'drüber schlafen...!"

Karin brauchte drei Tage, um sich richtig wieder zu beruhigen. Skin: Das heißt Haut. Da bin ich jemandem mit sehr dünner Haut auf seiner Seele begegnet...

denkt sie. Und erst langsam wird ihr klar, welche übergeordnete Macht ihr da geholfen hat: Die Liebe Gottes.
Und das es nur einen wahren Helden gibt auf dieser Welt:
Die Liebe, die wir leben.


L I E B E
urteilt nicht






Impressum

Texte: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

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