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Umarme Mich




Als Daniel die Praxis verließ, fühlte er sich wie betäubt. Einen Moment lang blieb er vor der Tür stehen und holte tief Luft. Dann trottete er langsam los.
Krebs. Ich bin im falschen Film, dachte er. Das kann doch alles nicht wahr sein!
Doch das war sein Drehbuch. Sein ganz persönliches. Und es nahm gerade eine beschissene Wende. Seine Gedanken rotierten. Ich bin doch erst dreißig Jahre alt! Um Gottes willen... was sage ich Susanne?! Sie wollten bald heiraten; er hatte in ihr endlich seine große Liebe gefunden, war so glücklich wie noch nie.
Jetzt bloß nicht mitten auf der Straße anfangen zu heulen... Wie in Trance lief er weiter nach Hause.......


......Der Wecker tickte in dieser Nacht so laut wie nie. Daniel sah auf das Krankenhausfenster: Durch die geschlossenen Vorhänge drang diffuses Mondlicht und warf bizarre Schatten in den Raum. So hell... dachte er. Vielleicht war Vollmond? Ohne auf die Uhr zu sehen, wusste er wie spät es war: Vom entfernten Kirchturm aus hatte er die Uhr drei schlagen hören.

Er starrte in die Dunkelheit; so viel ging ihm durch den Kopf. Austherapiert, Schluss, Ende, Aus. Susanne war so tapfer. Wenn er an sie dachte, schmerzte ihn nicht nur sein Körper. Es tat weh, sie leiden zu sehen. Heute war es ihm eigentlich ganz gut gegangen: Sie hatten zusammen gelacht, sich an viele lustige Dinge erinnert. Er sah sie so gerne lachen. Das war besser als all das Morphium, das sie in ihn hinein pumpten.
Er klingelte und die Nachtschwester war schnell da. "Alles in Ordnung? Brauchen Sie was?"
Die waren alle sehr lieb hier.
"Nein, alles okay. Aber könnten Sie wohl den Vorhang aufziehen?"
"Ist Ihnen das nicht zu hell? Wir haben Vollmond."
"Nein, ich mag den Mondschein total gerne."
"Gut..." Nachdem sie noch alles überprüft hatte, lächelte sie ihn an: "Wenn was ist... dann schreien Sie einfach lauthals nach mir, ja?"
Es brachte ihn zum schmunzeln. "Mach' ich, Danke."
"Gut! Dann versuchen Sie noch ein bisschen zu schlafen. Ich schaue dann später noch einmal nach Ihnen, ja?"
"Ja, ist nett. Danke."

Jetzt sah er genau auf den Vollmond, der direkt ins Zimmer strahlte. Er drehte sich auf den Bauch, ganz vorsichtig, um den Infusionsschlauch nicht aus seiner Ellenbeuge zu ziehen. Früher, als Kind, konnte er so immer am besten einschlafen. Aber manche Dinge funktionierten nicht mehr so einfach.

Den Blick immer noch Richtung Fenster, beobachtete er die Schatten am Boden, die hin und her sprangen, genauso wie die Bewegung der Gardinen, die der Wind durch das halb geöffnete Fenster nach seinem Rhythmus tanzen ließ.
Da! Jetzt sprang Gollum aus seinem Tümpel und krabbelte den Hügel hinauf... ein Schatten jagte ihm auf der anderen Seite hinterher... welcher Held aus "Herr der Ringe" war es? Als Jugendlicher hatte er die Tolkien-Trilogie regelrecht verschlungen. In jeder freien Minute, und oft bis spät in die Nacht, hatte er sich in die Welt der Hobbits entführen lassen. Er liebte diese Fantasie-Welten.
Und was war das dahinten? Kamen die bösen Mächte ihnen zuvor? In der Ferne hörte er Pferdegetrappel... waren die Schergen des dunklen Herrschers Sauron bereits bedrohlich nahe?...
"Daniel! Mach’ endlich das Licht aus und schlaf!" hörte er seine Mutter rufen...
"Ja, Mama... gleich..."


Und das strahlende Licht des Mondes umarmte ihn sanft und bettete ihn in die weichen Federn der Ewigkeit, während seine Seele zufrieden aufseufzte und sich erhob.


Und am anderen Ende der Welt seufzte die Frau auf und schmiegte sich in die Arme ihres Liebsten.
"Ich liebe dich!" flüsterte er und hielt sie fest umschlungen. "Diesmal hat's geklappt, das fühle ich!"
Sie spürte seine Lippen, die ihr einen Kuss auf die Stirn drückten.
"Ich liebe dich auch!" Zärtlich fuhr ihre Hand über seine Brust. "Weißt du was, Schatz, was mir gerade durch den Kopf geht..."
"Was denn?"
"Mir kommt gerade der Gedanke, wenn es ein Junge wird, dann fände ich Daniel sehr schön als Namen; was denkst du?"
Er drückte sie liebevoll an sich: "Es wird ein Daniel... beschlossene Sache!"
Sie lächelte.


Daniel auch.




Impressum

Texte: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010

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