Der eine Nachbar
Eigentlich bist du nach Hause gekommen, um zu sterben. Mit sechsundzwanzig Jahren. Es ging dir verdammt dreckig. Schwere neurologische Ausfälle. Du hast auf Leben und Tod gelegen, im Januar.
Jetzt ist es Juni und du lebst immer noch.
Damals, vor drei Jahren, bist du gegangen. Wolltest dein Leben leben. Fühltest dich zu jung für ein Leben mit deiner Frau und den zwei Kindern. Und du hast gelebt, hast alles mitgenommen und dich ausgetobt in so manchen Betten. Viele haben dich nicht verstanden. Aber du wusstest, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. Und dein Herz hat sich auf die Suche begeben, um dann doch, nach all der Rastlosigkeit, wieder Halt zu Hause zu suchen. Du bist schwer krank geworden und niemand hatte dir so recht helfen können. Deine beiden letzten Geburtstage hattest du bereits im Rollstuhl gefeiert. Bevor du wiederkamst.
Im Januar hast du gedacht, dass du bald sterben wirst, warst hoffnungslos. Im Januar kam die Diagnose: HIV-positiv, Aids.
Der Schock saß tief. Du musstest begreifen, dass man in Zeiten wie diesen sein Leben nicht gedankenlos leben kann. Nicht gedankenlos lieben kann. Du hast es zu spät begriffen.
Scheidung. Deine Frau kann mit der Situation nicht umgehen. Du darfst die Kinder nicht sehen. Das tut weh.
Aber deine Familie liebt dich. Sie haben dich wieder zu Hause aufgenommen, sind bereit, mit dir zu kämpfen. Die Frage ist, wem kann man in einer solch ländlichen Gemeinde von deiner Erkrankung erzählen? Du hast noch jüngere Geschwister, die hier zur Schule gehen.
Zuerst warst du nur der Sohn der Nachbarn, der damals abgehauen ist und nun froh sein kann, dass die Eltern ihn wieder aufnehmen. Soll so krank sein, hat man gehört...
Irgendeine Nervenerkrankung... Kann so schlimm doch nicht sein, der läuft doch schon wieder herum... Im Januar soll der noch fast abgekratzt sein? Nachbargetratsche. Jeder weiß es besser, weiß mehr als der andere.
Es geht dir wirklich besser, Dank der richtigen Medikamente. Doch in deinem Herzen verbreitet sich eine tiefe Traurigkeit:
Wie viel Zeit bleibt dir wohl noch?
Du würdest dich so gerne noch mal richtig verlieben.
An manchen Tagen bleiben dir nur deine Träume – und deine Tränen...
Deinen alten Freunden hast du die Wahrheit gesagt, sie stehen zu dir. Und auch der Frau, mit der du dich getroffen hast. Du willst niemandem schaden. Sie soll die Wahrheit erfahren, bevor ihr zusammen schlaft.
Plötzlich weiß es das ganze Dorf.
Jahrzehnte lange Bekannte trauen sich nicht mehr, deinen Eltern die Hand zu geben. Ihr erfahrt, was Diskriminierung heißt.
Wer schadet hier wem?
Dort, wo du dich mit deinen Freunden immer getroffen hast, lässt man dich nicht mehr hinein. Weil du HIV-positiv bist. Als ob deine bloße Anwesenheit jemanden anstecken könnte! Wenn du darüber sprichst, versucht der Sarkasmus auf deinen Lippen die Traurigkeit in deinem Herzen zu übertönen.
Plötzlich bist du der Nachbar, mit dem man sich besser nicht sehen lässt.
Wer Aids hat, ist sowieso selbst schuld. Oder hat es nicht besser verdient, sagen sie. Sie reden lieber darüber, als sich damit auseinander zu setzen.
Wenn sie wirklich Ahnung hätten, würden sie dir zur Seite stehen:
So, wie es sein sollte. Als Nachbarn.
Texte: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2010
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