Die Geschichte vom freundlichen Autohändler
Es knallte, puffte und zischte, dass einem Hören und Sehen verging! Erschrocken sah der Autohändler Jürgen Bergmann von seinem Schreibtisch im Büro auf und wandte seinen Blick nach draußen: Da stand, nur ein paar Meter von der Einfahrt seines Autohauses entfernt, ein qualmender Wagen.
"Oh, oh...!" murmelte Jürgen vor sich hin, "Das hört sich nicht sehr "gesund" an!" Schon eilte er hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Und da stand ein junger Mann neben seinem Fahrzeug und sah ziemlich ratlos aus.
"Guten Morgen!" grüßte Jürgen ihn freundlich. "Kann ich Ihnen behilflich sein?"
Zwei tiefblaue, traurige Augen sahen ihn an:
"Ich fürchte, mein Wagen hat nun endgültig seinen Geist aufgegeben!" seufzte der blonde Jüngling und die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
"Es sieht in der Tat wohl nicht allzu günstig aus..." stellte Jürgen mit fachmännischem Blick fest. "Wollten Sie sowieso zu mir?"
"Zu Ihnen...?"
Irritiert sah der Blondschopf sich um.
"Oh! Das hatte ich gar nicht gesehen: Hier ist ja eine Autowerkstatt!"
Ganz offensichtlich war ihm nicht bewusst gewesen, wo er hier zufällig gelandet war; mehr oder weniger unfreiwillig. Hilflos sah er Jürgen nun an:
"Ach Gott! Was mache ich denn jetzt bloß?! Ich muss dringend zu meiner Oma, sie braucht mich! Es wäre nicht mehr weit gewesen. Und jetzt das!"
Er tat ihm leid, wie er so verzweifelt da stand und fast in Tränen ausbrach.
"Wohin müssen Sie denn? Wo wohnt Ihre Großmutter?" wollte Jürgen nun wissen.
"Meine Oma wohnt an der Bachstraße... Ich muss möglichst schnell dorthin!"
"Sie betonen das so... Gibt es einen Grund für Ihre Eile, wenn ich fragen darf?"
"Allerdings!" Immer nervöser trat der junge Mann von einem Bein auf das andere. "Sie hat mich angerufen, wissen Sie, dass es ihr nicht gut geht. Sie hat zwar versucht, es herunterzuspielen, aber ich kenne meine Oma! Ich weiß, wie sie ist, wenn es ihr wirklich schlecht geht, verstehen Sie? Und da habe ich ihr gesagt, sie soll im Bett liegen bleiben und dass ich sofort komme. Dann habe ich mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren..."
"Und von wo kommen Sie jetzt?"
"Aus Münster."
Jürgen hatte mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass er diesen aufgelösten jungen Mann erst einmal beruhigen musste. Er schlug ihm vor, dass ein Mechaniker sich den Wagen anschauen könne, während man im Büro, bei einer Tasse Kaffee, eine Lösung für sein Problem suchen wolle.
"Das ist wirklich sehr nett von Ihnen", wurde er dankbar angelächelt, "aber ich glaube, ich werde mir schnell ein Taxi nehmen, zur Weiterfahrt. Wenn ich den Wagen solange hier stehen lassen könnte?"
"Aber natürlich! Kommen Sie mit in mein Büro, da können Sie telefonieren! Mein Mechaniker kann den Wagen solange auf den Hof bringen, wenn Sie einverstanden sind – dann steht er niemandem im Weg!"
Erleichtert folgte ihm der junge Mann, doch als er dann im Büro in seine Gesäßtasche griff, wurde er leichenblass:
"Oh, nein...!"
"Was ist denn?"
"Auch das noch: Ich habe in der Hektik meine Brieftasche vergessen! Du meine Güte, was mache ich denn jetzt – ich muss doch zu meiner Oma!"
Der arme Kerl war mit seinen Nerven fast am Ende. Mitleidig sah Jürgen ihn an. Just in diesem Moment fuhr seine Frau auf den Hof, die vom Einkauf wieder zurück war. Jürgen hatte eine Idee:
"Warten Sie! Ich glaube, ich weiß, wie ich Ihnen helfen kann!"
Schon war er nach draußen geeilt und fing seine Frau vor der Haustür ab.
"Heike! Warte mal!" rief er ihr zu. "Du musst mir einen Gefallen tun..."
Heike war eine reizende, immer hilfsbereite Person und so saß der junge Mann fünf Minuten später in ihrem Wagen und sie fuhr ihn zu seiner Oma.
"Ich bin Ihnen so dankbar!" lächelte er sie an. "Das werde ich Ihnen nie vergessen!"
"Ach, schon gut! Wir helfen Ihnen doch gerne!" meinte Heike. "Sie hängen wohl sehr an Ihrer Oma?"
"Ja, dass kann man wohl sagen! Sie hat mich aufgezogen, nachdem meine Eltern verunglückt waren, damals ... Sie hat nur noch mich. Ich bin dann schweren Herzens wegen meines Studiums nach Münster gezogen. Aber so oft es geht, bin ich bei ihr."
Heike setzte ihn vor der Haustür seiner Großmutter ab und fuhr wieder nach Hause. Jürgen hatte mit ihm vereinbart, dass sie sich inzwischen den Wagen anschauen und nachsehen wollten, ob noch was zu retten war. Der junge Mann wollte sich dann wieder bei ihnen melden, nachdem er sich um seine Oma gekümmert hatte.
Am Abend schob der Mechaniker den Wagen in den hinteren Teil der Werkstatt, bevor er abschloss und Feierabend machte.
"Ein hoffnungsloser Fall!" hatte er sich zu seinem Chef geäußert, als der ihn nach dem Stand der Dinge gefragt hatte. "Der ist absolut schrottreif!"
"Ach, dass tut mir aber leid für den Jungen!" bedauerte Heike die Umstände, als sie sich beim Zubettgehen darüber unterhielten. "Der war sehr nett, fandest du nicht? So ein richtig lieber Kerl; einer, den man sofort ins Herz schließt!"
"Ja, da hast du Recht!" pflichtete Jürgen ihr bei. "Tat mir richtig leid, als er da so verzweifelt stand! Und es sah nicht so aus, als könne er sich einen neuen Wagen leisten... Wird nicht einfach, ihm die schlechte Nachricht mitzuteilen!"
Der nächste Morgen lief wie immer: Gemeinsam mit ihren zwölfjährigen Zwillingen Ricarda und Dion saßen sie am Frühstückstisch.
"Was ist los, Dion? Mal wieder so lange gelesen im Bett?" sah Heike forschend ihren Sohn an, der verschlafen an seinem Brötchen kaute.
Doch der grummelte nur vor sich hin:
"Gar nich..."
Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen.
Ein neuer Arbeitstag begann für Jürgen. Alles lief wie immer. Doch auf eines wartete er den ganzen Tag vergeblich: Der junge Mann meldete sich nicht.
"Sag mal, Heike: Weißt du zufällig seinen Namen oder den seiner Großmutter? Ich habe total vergessen, ihn danach zu fragen!"
"Hm....." überlegte Heike, "Ehrlich gesagt, das weiß ich auch nicht! Aber die Hausnummer habe ich mir gemerkt: Die 24 war es!"
"Na ja, mal sehen: Vielleicht meldet er sich bald; ich habe ja noch den Wagen!"
Am darauf folgenden Tag musste Jürgen geschäftlich fort und so stand er früh auf. Als er gegen sechs Uhr das Haus verließ, traf er auf den Zeitungsboten, der gerade auf den Hof gefahren kam.
"Morgen!"
"Morgen!" erwiderte Jürgen und freute sich: So konnte er noch schnell einen Blick auf das Neueste werfen, bevor er los fuhr. Und als er die Lokalnachrichten aufschlug, staunte er nicht schlecht, denn da stand zu lesen, dass eine alte Frau gerade noch rechtzeitig vom Notarzt versorgt werden konnte, nachdem sie in letzter Sekunde von ihrem Enkel gefunden worden war. Das musste der junge Mann gewesen sein! Na, gottlob war die Sache ja noch mal gut ausgegangen! Und natürlich war Jürgen jetzt auch klar, dass dieser etwas anderes im Sinn gehabt hatte, als sich um seinen Wagen zu kümmern. Er legte die Zeitung ins Büro und fuhr los.
Als er am späten Abend zurückkehrte, saß Heike noch im Wohnzimmer. Ihr war anzusehen, dass etwas passiert sein musste.
"Was ist los? Wie kommt's, dass du noch auf bist?" setzte Jürgen sich zu ihr.
Und Heike erzählte, was sich ereignet hatte: Ihre Tochter Ricarda war auf dem Nachhauseweg von der Schule mit dem Rad verunglückt. Ein Auto hatte das Mädchen übersehen, als sie hinter ihren Freundinnen die Straße überqueren wollte. Erschrocken sah er seine Frau an.
"Und? Was ist mit ihr?!"
Aber Heike konnte ihn beruhigen:
"Es ist alles in Ordnung; sie liegt im Bett und schläft – hoffe ich jedenfalls! Es war kaum möglich, sie müde zu bekommen. Sie war total aufgekratzt und hat dauernd was von ihrem Schutzengel erzählt. Aber weißt du, dass Merkwürdige war..."
Weiter kam Heike nicht, denn plötzlich stand Ricarda im Wohnzimmer. Anscheinend hatte sie doch noch nicht schlafen können.
"Papa!"
Schon fiel sie Jürgen um den Hals und wurde von ihm gedrückt.
"Was höre ich da? Du hattest einen Unfall?"
Und schon erzählte Ricarda ganz aufgeregt:
"Das Auto hat mich nicht gesehen, Papa! Und dann weiß ich nicht mehr... dann bin ich erst wieder wach geworden, als der Christopher mich wach gemacht hat."
"Was denn für ein Christopher? Einer aus deiner Klasse?"
"Neiiiin!! Der Christopher – mein Schutzengel!!"
Jürgen konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.
"Wie sah er denn aus?" wollte er wissen.
"Er hatte gaaaanz blaue Augen und blonde Haare! Er hat mich wach gemacht und mir ganz lieb über den Kopf gestreichelt. Auf einmal waren meine Kopfschmerzen weg. Und er kennt euch, hat er gesagt. Und das jedes Kind einen Schutzengel hat und das er meiner ist! Und dass er mir jetzt helfen wolle, so wie du ihm geholfen hast und das alles wieder gut werden würde, hat er gesagt..."
Irritiert sahen Jürgen und Heike sich fragend an und beide dachten in diesem Moment wohl dasselbe.
"Ach... das kann doch nicht..." murmelte Heike nachdenklich vor sich hin. Dann sah sie ihr Töchterchen an:
"Du sagst, Papa hätte ihm geholfen? Hat er auch gesagt wie?"
"Hm....." überlegte Ricarda, doch dann fiel es ihr wieder ein:
"Doch! Jetzt weiß ich es wieder: Sein Auto war kaputt und er musste zu seiner kranken Oma...."
Verdutzt schaute Jürgen auf seine Tochter. Dann fiel ihm plötzlich die Meldung in den Lokalnachrichten wieder ein:
"Ach, dass habe ich ja noch gar nicht erzählt..." stand er auf und suchte nach der Tageszeitung. "Hast du heute morgen die Zeitung gelesen? Nein? Da stand nämlich etwas über eine alte Frau drin, die noch rechtzeitig von ihrem Enkel gefunden worden war..."
Doch als Jürgen die Lokalseite aufschlug, war an der Stelle ein ganz anderer Artikel... Merkwürdig! Er konnte schwören, es dort gelesen zu haben!
Dann erzählte er Ricarda von dem jungen Mann, dessen Auto vor ihrem Autohaus seinen Geist aufgegeben hatte.
"Und wo ist das Auto jetzt?" wollte sie wissen.
"Das müsste in der Werkstatt sein oder hinten auf dem Hof."
"Du Papa: Können Schutzengel zaubern?"
"Wie kommst du denn darauf?"
"Weil ich doch heute morgen zuhause meinen Helm vergessen hatte; aber als ich da auf der Straße lag, da hatte ich ihn plötzlich auf dem Kopf! Ist das nicht komisch?"
"Ja!" bestätigte Heike die Aussage ihrer Tochter. "Das stimmt! Genau das wollte ich dir vorhin schon erzählt haben, bevor Ricarda hereinkam. Ich habe mich noch geärgert, dass sie wieder vergessen hat, ihn aufzusetzen!"
Es war in der Tat recht seltsam, was sich da zugetragen hatte!
Am nächsten Morgen kam der Mechaniker ins Büro:
"Tschuldigung, Chef..."
"Ja, was gibt's denn?"
"Wann hat dieser junge Mann eigentlich seinen Wagen wiedergeholt?"
"Wieso wiedergeholt?" sah Jürgen ihn irritiert an. "Der müsste doch noch hinten in der Werkstatt stehen!"
"Nein! Das ist seltsam: Als ich gestern morgen in die Halle kam, da war er weg! Ich hatte mich schon gewundert, ob der den noch spät abends geholt hat oder so. Ich hatte doch abgeschlossen, wie immer! Und auf dem Hof stand er auch nicht!"
Jürgen schüttelte ungläubig den Kopf:
"Der kann sich doch nicht in Luft auflösen!"
Doch auch Jürgen's Vater, von dem er das Geschäft übernommen hatte und der sich in seiner Abwesenheit um alles gekümmert hatte, wusste nichts über den Verbleib des Wagens. Er war einfach verschwunden.
"Vater... kannst du mal eine halbe Stunde auf's Geschäft achten? Ich müsste mal eben mit Heike weg, ja?"
Es ließ Jürgen keine Ruhe:
"Was hast du gesagt, wo wohnte die Oma von dem jungen Mann?"
Sie fuhren zur Bachstraße.
"Das war die Nummer 24!" war Heike sich ganz sicher.
Doch es gab keine Nummer 24.... so sehr sie auch suchten.
"Das gibt's doch nicht!" zweifelte Heike schon an ihrem Verstand. "Ich bin mir ganz sicher, dass es genau hier war!!"
Sie konnten es drehen und wenden wie sie wollten: Sie fanden keine Erklärung für all diese seltsamen Dinge.
Doch noch oft, wenn sie Ricarda gesund und fröhlich lachen sahen, dann dachten Jürgen und Heike an diesen lächelnden, blonden jungen Mann....
Texte: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2009
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