SEÁN AUS GLEN LYON
Sie waren seit drei Monaten dabei, Johns altes Landhaus zu renovieren. Und nebenbei entstand ein Fotoatelier für Michael, der mit dem Gedanken spielte, sich selbständig zu machen.
Als Seán Aonghus MacGyver alias John Marquard begann, in der Bibliothek die Bücher in das Regal zu räumen, konnte er Michaels nachdenklichen Blick förmlich auf seiner Haut spüren. Verunsichert ging er ans Fenster und sah hinaus.
Aber sein Freund ließ nicht locker: "John... ich merke doch, dass du mir ausweichst! Na, komm schon, willst du nicht darüber reden? Irgendwas ist doch los mit dir!"
In diesem Moment fühlte John, wie all seine Stärke von ihm wich und nur noch seine geschundene Seele zurückblieb. Ein innerliches Zittern erfüllte ihn und er spürte, wie seine Mundwinkel zuckten und sich seine Augen langsam aber sicher mit Tränen füllten. Irgendwie war er immer dem Glauben erlegen, mit all den Jahrzehnten stärker zu werden und seinen Seelenqualen besser begegnen zu können ~ ein Irrglaube.
Betroffen sah Michael, wie sein Freund sich tränenerfüllten Blickes umdrehte und an der Wand auf den Boden sinken ließ. Als würde alle Kraft ihn verlassen. Sein hilfloser Blick sprach Bände, als er ihn verzweifelt ansah und ließ den Schmerz erahnen, den er in sich trug.
"Mensch, John...", setzte sich Michael nun neben ihn, "so schlimm?"
Von John indes war kein Schluchzen zu hören, nicht mal ein Atmen, aber die Tränen liefen ihm wie ein Sturzbach über die Wangen.
Michael fühlte sich hilflos. "Hey... hol mal tief Luft, hm?"
Sein Bemühen ließ John dankbar lächeln. Der holte mehrmals tief Luft und schien sich wieder zu fangen.
"Hat es was mit Melanie zu tun?"
Michael hatte sich sehr gefreut, für seinen Freund, dass er und Melanie -die Schwester seines besten Freundes Thomas- sich im Dezember auf dem Weihnachtsmarkt in Münster kennen und lieben gelernt hatten.
"Nein... nichts wegen Melanie."
"Sondern?"
Er hatte aufgehört zu weinen, fuhr sich durchs Gesicht und seufzte laut auf. Dann sah er Michael resignierend an: "Ich... ich hab’ mich verliebt... in Melanie. Ich meine, so richtig, verstehst du?"
Michael sah ihn irritiert an: "Also doch wegen Melanie? Entschuldige, vielleicht bin ich ja etwas begriffsstutzig: Ich meine, du bist in sie verliebt und sie ist in dich verliebt; sie weiß Bescheid und akzeptiert, das du ein Vampir bist! Wo bitteschön ist dein Problem?!"
"Es fühlt sich nicht richtig an."
"Nicht richtig? Was meinst du damit?"
Abrupt stand John auf, ging wieder herüber zum Regal und murmelte: "Schon gut... egal, lassen wir das..."
"Das könnte dir so passen!" Michael sprang ebenfalls auf, packte seinen Freund an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. "So, mein Lieber, jetzt setzen wir uns und du bist mal ehrlich und sagst mir endlich was los ist!" Er drückte John in die Sitzgarnitur und setzte sich Auge in Auge zu ihm hin. "Also: Ich höre?"
Der stöhnte laut auf und wollte sich heraus winden mit einem verzweifelten: "Ich kann das nicht!"
"John, lass das! Und rede endlich!" Michaels Ton klang bestimmt.
Für einen Augenblick lehnte John sich zurück und schloss die Augen. Dann sah er Michael an, mit todernstem Blick. Aber noch immer schien er nicht in Worte kleiden zu können, was ihn so sehr bewegte.
Michael überlegte und instinktiv wurde ihm plötzlich klar, wovor sein Freund Angst zu haben schien.
"John... hat es mit damals zu tun? Du wolltest nie erzählen, wie du zum Vampir geworden bist. Ist es das?"
Er schluckte, schloss wieder für einen Moment die Augen und seufzte leise. "Ja..."
"Okay. Dann vermute ich, dass damals etwas passiert ist, worüber du bis heute nicht hinweg gekommen bist, richtig?"
"Richtig. Es war damals in Glen Lyon: Ich war sehr krank und meine Familie konnte mir nicht helfen. Und da war diese wohlhabende Familie, die MacThomas. Ihr Sohn Arthur, ich war mit ihm befreundet..." Er stockte.
"Und? Hat es mit diesem Arthur zu tun? Warte mal... hat er dich verwandelt?"
"Ja... ist eine lange Geschichte..."
"Ich hab’ Zeit."
Noch einmal holte John tief Luft, dann begann er zu erzählen, wie sich das alles zugetragen hatte, damals, in Glen Lyon...
"Es war Dezember 1827 und ich war neunundzwanzig Jahre alt. Mit Arthur MacThomas, der in meinem Alter war, war ich seit ungefähr fünf Jahren befreundet. Wir hatten uns per Zufall kennen gelernt, als ich spät abends auf unserem Ackergaul aus dem Nachbardorf zurück kam, von wo ich Stoff für meine Mutter geholt hatte.
Arthurs adelige Familie war durch ihre Ländereien und ihre Pferdezucht wohlhabend und lebte auf einem großen Gut an der Grenze unseres Dorfes. Sie wurden mit großem Respekt behandelt, den viele von uns Bauern und Fischern waren wirtschaftlich von ihnen abhängig.
Einige arbeiteten auf dem Gut in den Pferdestallungen, als Landarbeiter, Magd oder sonst was. Sie nahmen uns Getreide, Fisch oder Gemüse ab und das sicherte vielen das Überleben. Für die meisten war es ein karges Leben, so wie für meine Familie.
Jedenfalls, an diesem besagten Abend, ritt Arthur im Dunkel der Abenddämmerung auf seinem Reitpferd in wildem Galopp einen Hügel hinab und übersah dabei mich auf unserem alten Gaul. Es gelang ihm zwar in letzter Minute, da er ein exzellenter Reiter war, sein Pferd herumzureißen und zu zügeln, aber meines scheute und warf mich ab. Ich blieb ohnmächtig liegen, hatte mir wohl an einem Stein den Kopf angeschlagen. Arthur hievte mich auf sein Pferd und nahm mich mit zu ihm nach Hause. Erst dort kam ich auf einer Liege wieder zu mir und habe ihnen direkt mal eben, na ja... den Inhalt meines Magens präsentiert, bevor ich wieder ohnmächtig wurde. Was soll ich sagen, sie kümmerten sich rührend um mich. Lord MacThomas schickte zwei seiner Arbeiter los, die sich um mein Pferd kümmern und meinen Eltern Bescheid geben sollten. Und er bestand darauf, dass ich solange bleiben musste, bis es mir wieder richtig besser ging. Wie sich dann herausstellte, hatte unser Pferd sich das Bein gebrochen und sie mussten es erschießen. Das war für meine Familie eigentlich eine Katastrophe, aber nun zeigte sich abermals die Großzügigkeit der MacThomas: Arthurs Vater meinte, da sie ja quasi an dem Verlust des Tieres Schuld waren – "Durch das ungestüme Verhalten meines Sohnes!" wie er betonte – würden sie natürlich auch für den Schaden aufkommen. Meine Eltern bekamen eines der älteren Pferde, das auf dem Acker noch seine Dienste tun konnte, geschenkt und er ersetzte meiner Mutter obendrein auch noch den Stoff, der bei dem Unfall unbrauchbar geworden war. So waren alle wieder zufrieden.
Ich blieb einige Tage bei den MacThomas und genoss es, ein bisschen an diesem feineren Leben teilhaben zu dürfen. Arthur und ich verstanden uns sofort sehr gut. Er leistete mir Gesellschaft, gab mir sogar, mit Erlaubnis seiner Eltern, ein paar seiner alten Sachen, die ich anziehen und behalten durfte. Ich kam mir vor wie im Paradies! Und fühlte mich fast wie Arthurs Bruder. In den ersten beiden Tagen war es mir noch ziemlich mulmig und ich denke, ich hatte eine ordentliche Gehirnerschütterung. Am dritten Tag meinte er, ob wir was lesen wollten zum Zeitvertreib. Da musste ich ihm gestehen, dass ich nie eine Schule von innen gesehen hatte, da sich meine Eltern das nicht leisten konnten. Daraufhin bot er mir an, mir Lesen beizubringen, was ich ganz toll fand. Mit Begeisterung fing ich an, Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort.
Das bekam Lady MacThomas mit. "Seán, ich muss bemerken, Ihr seid ein aufgeweckter Bursche!" meinte sie zu mir, nachdem sie sich anscheinend mit ihrem Mann beraten hatte. Und sie bot mir an, dass Arthur mir alles beibringen sollte, was er wusste. Tja, so verdankte ich es also diesem Freund, dass ich irgendwann Lesen, Schreiben und Rechnen konnte!"
Nachdenklich sah Michael seinen Freund an: Wenn er von damals erzählte, dann hatte er so einen sehnsüchtigen Glanz in den Augen. Etwas, dass er sonst nur bekam, wenn er Melanie ansah. Was zum Teufel war damals passiert? Offensichtlich hing ja alles mit diesem Arthur zusammen.
"Und dann hast du also ständig deine Zeit mit ihm verbracht?"
"Na ja, ständig ist wohl zu viel gesagt, denn als einziges Kind musste ich natürlich auch noch meinen Pflichten zu hause nachkommen. Und dann gab es da noch Fiona."
"Du hattest eine Freundin?"
"Ja! Sie war süß, ich mochte sie sehr. Aber außer Händchen halten und ein bisschen rumknutschen und Fummeln war da noch nichts gewesen zwischen uns." John grinste, in Erinnerung daran. "Ihr Vater hätte mich sonst auch erschlagen!"
"Hattest du vorher schon mal mit einer Frau geschlafen?"
Etwas pikiert sah John ihn an: "Du bist manchmal ganz schön direkt! Aber gut: Ich war wohl das, was man einen Spätzünder nennt... Okay, die anderen in meinem Alter, die Jungs, mit denen ich mich manchmal traf, die hatten alle schon so ihre Erfahrungen. Aber ich konnte das irgendwie nicht. Das erste Mal habe ich mir immer als was besonderes vorgestellt, weißt du, mit Verliebtsein und allem. Aber die Arbeit auf dem Hof, dann die Zeit, die ich mit Arthur verbrachte; irgendwann hatte ich kaum noch Zeit für Fiona und sie verliebte sich in einen anderen. Erst war ich traurig, weil ich sie wirklich sehr gern hatte, aber dann kam ich schließlich darüber hinweg. Zudem verbrachte ich immer mehr Zeit mit Arthur. Meine Eltern hatten sich schon daran gewöhnt, dass ich auch öfters bei ihnen übernachtete. Da gab es eine Kammer neben Arthur, in der immer ein Bett für mich stand. Sie waren sogar stolz darauf, dass ich einen adeligen Freund hatte und soviel lernte. Nur meine Mom schaute mich manchmal so merkwürdig an und sagte öfter einmal, ich solle meine Wurzeln nicht vergessen."
"Sie hatte wohl Angst, dass du dich als was Besseres fühltest?"
John seufzte. "Ja... vielleicht." Dann lachte er: "Heute würde man wohl sagen, ich hatte Flausen im Kopf! Aber tatsächlich eröffnete sich für mich eine andere Welt bei den MacThomas, eine gebildetere eben, und ich sog alles auf wie ein Schwamm! Während es bei uns zu hause eher etwas derb zuging, fand ich Gefallen an den feineren Umgangsformen dort. Und Arthurs Eltern betonten immer wieder, wie sehr sie sich über unsere Freundschaft freuten. Dafür nahm ich in Kauf, dass ich bei meinen eigenen Leuten ein bisschen zum Außenseiter zu wurde. Aber irgendwann war mir auch das egal, ich hatte ja Arthur! Innerhalb kurzer Zeit wurden wir beste Freunde, die sich ohne Worte verstanden, waren wir in jeder freien Minute zusammen. Er hatte mich wirklich in seinen Bann gezogen."
"War er zu der Zeit schon ein Vampir?" wollte Michael wissen.
John schien ganz weit weg zu sein, mit seinen Gedanken. "Was? Ähm... ja, zu der Zeit war er bereits ein Vampir. Aber weißt du, dass ist mir erst später klar geworden, durch einen Zufall. Da haben sie mir alles erzählt."
"Was ist da passiert?"
"Aufgefallen war mir einerseits immer schon, dass er sehr viel Kraft hatte, aber andererseits war er auch sehr muskulös und trainiert. Gewundert hatte mich allerdings, dass er sich nie auch nur die geringste Schramme holte, wenn wir auf dem Hof halfen. Und wenn, dann schien es immer rasend schnell zu heilen. Die MacThomas, die packten nämlich selber mit an, was damals bei Gutsherren nicht unbedingt üblich war. Das war es wohl auch, was ihnen im Gegenzug bei der Landbevölkerung Respekt einbrachte. Jedenfalls war da dieser neue Hengst für die Zucht, den sie bekommen hatten. Ein wilder, ungestümer Charakter, schwer zu zähmen und wohl genauso ungeduldig wie der Vorarbeiter, der ihn eines Abends in den anderen Stall bringen wollte. Der Hengst rastete aus und schlug wild um sich, mit den Hufen gegen einen Koppelzaun. Wir eilten alle nach draußen und sahen, dass der Mann zwischen dem wütenden Hengst und dem Zaun lag. Ihm schien noch nicht viel passiert zu sein, aber jede Sekunde hätte das aufgebrachte Tier ihn zu Tode trampeln können. Lord MacThomas versuchte, von vorne beruhigend auf den Hengst einzureden und ihn mit Futter anzulocken, während Arthur sich von hinten langsam an den Mann heranpirschte. Er hatte ihn auch schon fast ganz von dort weggezogen, als irgendein Idiot gegen einen Eimer stieß, der scheppernd umfiel. Der Hengst erschrak erneut, bäumte sich auf und schlug dann derart mit den Hinterhufen aus, dass er Arthur gegen den Zaun schleuderte. Mittlerweile waren mehrere Männer herbeigeeilt, hatten Seile um den Hengst geworfen und ihn bändigen können. Wir eilten zu Arthur, der schwer verletzt am Boden lag, und trugen ihn ins Haus, wo wir ihn auf den Küchentisch legten. Ein abgesplitterter Teil eines Zaunpfahls hatte sich in seine Rippen gebohrt, er schrie vor Schmerzen. Nur noch die alte Magd Moira, Lord und Lady MacThomas und ich waren da, alle anderen waren fortgeschickt worden. Komischerweise wollte sein Vater mich auch fortschicken, doch Arthur packte meine Hand und bat eindringlich, dass ich bleiben solle, bevor er das Bewusstsein verlor. Aber da hatte ich auch schon seine gelblich verfärbten Augen und seine Reißzähne gesehen.
"Wir brauchen Blut, Moira. Gehe und hole ein Kaninchen!" befahl man der Magd.
Dann sah mich Lord MacThomas ernst an: "Wenn Ihr wirklich sein Freund seid, dann seid ohne Furcht! Wir erklären Euch später alles. Und wenn Ihr lieber gehen möchtet, dann bitten wir Euch inständig, über das zu schweigen, was Ihr gerade gesehen habt!"
Natürlich bin ich geblieben. Wir zogen das Holz aus seinen Rippen, versorgten seine Wunden, gaben ihm das Blut des zur Ader gelassenen Kaninchens zu trinken und legten ihn in sein Bett. Dann wollten sie mir alles erklären. Aber ich bat darum, an Arthurs Bett wachen zu dürfen und von ihm die Erklärung zu erhalten. Sie waren einverstanden.
Er lag wie tot in seinem Bett und war leichenblass. Nur sein schwerer Atem und sein leises Stöhnen ab und zu ließen vermuten, wie sehr sein Körper zu kämpfen hatte. Es machte mir in diesem Moment klar, wie viel mir dieser Mensch in meinem Leben bedeutete. Er war ja fast schon wie ein Zwillingsbruder für mich! Die ganze Nacht saß ich an seinem Bett und hielt Wache, während mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf schossen und ich nach einer Erklärung für das suchte, was ich an jenem Abend gesehen hatte."
"Das kann ich mir vorstellen!" meinte Michael. "Genauso ist es ja meiner Moni gegangen, als sie mich ungewollt in so einem Zustand gesehen hat."
"Ja, man schwankt irgendwie zwischen Selbstzweifel und Vorahnung. Nachdem ich ja schon das mit dem Kaninchen mitbekommen hatte, zog ich also meine Schlüsse aus einigen Dingen. Mir wurde langsam klar, warum Arthur abends immer für ein, zwei Stunden allein sein wollte und in den Stallungen oder mit seinem Reitpferd nach draußen verschwand. Aber trotzdem hoffte irgendetwas in mir drinnen verzweifelt auf eine andere Erklärung. In unserem Dorf hatte es immer Gerüchte gegeben, dass es in der Nähe Vampire gab, aber niemand war sich sicher, ob es nicht doch Aberglauben war."
"War Arthur denn der einzige Vampir auf dem Gut?"
"Ja, das war er, auch der einzige in unserer Gegend. Weißt du, als ich dich kennen lernte und erfuhr, wie du durch Luisa verwandelt wurdest, da hat mich das sehr daran erinnert, was Arthur passiert ist. Jedenfalls wurde er am nächsten Morgen wach und sah, dass ich an seiner Seite saß. Ich werde nie vergessen, wie verliebt er mich ansah."
Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln in Johns Gesicht und ließen Michael schlagartig erahnen, welche Gefühle auch er damals gehabt haben musste.
"Er hat dir dann die Wahrheit gesagt?"
"Arthur wollte gerade beginnen und alles erzählen, als Lady MacThomas hereinkam, um seinen Verband zu wechseln. Ich sah mit Erstaunen, dass seine Heilung über Nacht schon ziemliche Fortschritte gemacht hatte. So langsam wunderte mich gar nichts mehr. Seine Mutter bestand dann darauf, dass ich erst in Küche kommen und mich stärken sollte. Aber in Windeseile war ich dann wieder bei Arthur. Und er erklärte mir alles."
"Ähm... also..." Zögerlich sah Michael seinen Freund an, wusste nicht so recht, wie er seine Vermutung artikulieren sollte. "Du sagst, er hätte dich so verliebt angesehen: Heißt das, dass er schwul war?"
"Ja, das ist richtig. Es war für ihn schwer, mir das offen zu sagen. Aber ich denke, sein noch desolater Zustand und die Tatsache, dass ich geblieben war und anscheinend keine Angst vor ihm hatte, haben ihn ermutigt, mir über alles die Wahrheit zu sagen. Mit sechzehn, siebzehn Jahren hatte er immer mehr gespürt, dass er sich eher zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlte. Und hatte sich dann das erste Mal so richtig verliebt in einen jungen Stallburschen, der neu auf dem Hof war. Ich musste lachen, als er zum Besten gab, wie ungeschickt und trottelig er sich in seiner Gegenwart benommen hatte aufgrund seiner eigenen Unsicherheit. Hinzu kam, dass dieser ihn auch noch total anhimmelte. Jedenfalls fingen die beiden ein Verhältnis an und da wurde ihm schlussendlich klar, dass er nur auf Männer stand."
"Das muss doch fatal gewesen sein, für die damalige Zeit, oder?" überlegte Michael. "Ich meine, der muss doch ständig Panik gehabt haben aufzufliegen, oder nicht?"
"Das war selbstverständlich nichts, womit man hausieren ging! Und Arthur, der ein ausgenommen gutes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, war zu dem Zeitpunkt drauf und dran, ihnen alles zu erzählen. Doch dann wurde dieser Stallbursche zu seiner Familie zurückgerufen, da seine Eltern waren tödlich verunglückt waren und er sich um seine Geschwister kümmern musste. Es hat Arthur das Herz gebrochen und er erzählte, dass er nächtelang geweint hat."
"Hatte Arthur eigentlich keine Geschwister?"
"Er hatte eine kleine Schwester, die er wohl sehr geliebt hat. Und so wie er mir erzählte, gab er sich offensichtlich die Schuld an ihrem Tod. Sie war sechs und er zehn Jahre alt, als er mit dem Sohn eines anderen Gutsherrn, der bei ihnen zu Besuch war, draußen spielte. Eigentlich sollte er dabei auch auf sie aufpassen.
Keiner bekam mit, dass die Kleine in den Wald lief. Erst als alle zum Essen gerufen wurden, stellte man ihr Verschwinden fest. Stunden später fand man sie bewusstlos im Wald. Die giftigen Beeren, die sie gegessen hatte, noch in ihrer Hand. Sie konnte nicht mehr gerettet werden."
"Mein Gott, wie schrecklich! Man mag sich nicht vorstellen, wie er sich gefühlt haben muss!"
"Ja. Lady MacThomas hat mir später mal erzählt, dass er danach für lange Zeit sehr still war und sich immer nur zurückgezogen hat. Er hätte nur noch gelernt und gearbeitet auf dem Hof. Ich denke, alles, um sich irgendwie von seinem Schmerz abzulenken."
"Und wie haben seine Eltern nun erfahren, dass er schwul war? Oder hat er es ihnen nie gesagt?"
"Ungefähr ein halbes Jahr, nachdem dieser junge Stallbursche fort war, hat Lady MacThomas ihn sich mal beiseite genommen und mit ihm unter vier Augen gesprochen. Ihr Mutterinstinkt hatte ihr gesagt, dass da etwas im Argen lag. Arthur erzählte mir, wie erleichtert er war, nichts mehr verheimlichen zu müssen."
"Wie hat denn sein Vater darauf reagiert?"
"Das gestaltete sich etwas schwieriger. Aber letztlich obsiegte die Liebe zu seinem Sohn über seine Konventionen. Alles, um was er ihn bat, war, nach außen hin den Schein zu wahren, um die Ehre der Familie nicht zu beschädigen.
Tja, und als er mir das damals erzählte, da sah er mich plötzlich so verlegen an und gestand mir, dass er sich sofort in mich verliebt hatte. Und wie schwer es ihm zunächst gefallen war, seine Gefühle für mich zu verdrängen, da ich ja zu Anfang noch mit Fiona zusammen war. Er konnte also nicht davon ausgehen, in mir einen potentiellen Partner zu sehen. Mir war natürlich aufgefallen, wie gefühlvoll er mit mir umging. Aber andererseits war er, gegensätzlich zu seiner maskulinen Statur, sowieso ein sehr empathischer Mensch. Es faszinierte mich immer wieder, auf welch lebendige Weise er zum Beispiel Gedichte rezitieren konnte. Na ja und dann hatte ich ja Schluss mit Fiona und er vermochte mich auf seine Art zu trösten.
Im Laufe der Zeit wurde unsere Freundschaft immer enger und auch inniger. Die MacThomas fragten mich, ob nicht ganz auf ihrem Gut arbeiten wolle und ich sagte natürlich gerne zu. Da ich für mich ja kaum etwas brauchte, konnte ich fast meinen ganzen Lohn meiner Familie zugute kommen lassen. Die Beziehung zu Arthur wurde auch deutlich intensiver, wir verstanden uns mittlerweile blind. Wenn ich mir das heute so durch den Kopf gehen lasse, dann wird mir klar, wie viel Einfluss er auf mich ausgeübt hat."
"Was meinst du mit Einfluss?"
"Nun ja…", seufzte John leise auf, "mal abgesehen von seinen hypnotischen Fähigkeiten, begann ich mich im Laufe der Zeit tatsächlich in ihn zu verlieben."
"Ähm, du meinst so richtig?" Michael schluckte unmerklich. "Mit allem was dazu gehört?"
"Ja, ich muss gestehen, ich fand ihn auch körperlich immer attraktiver… das hat mich damals ziemlich konfus gemacht. Ich meine, weil ich doch vorher in Fiona verliebt war."
Etwas hilflos sah John Michael an und der konnte sich so langsam zusammenreimen, was ihn nicht nur damals sondern auch heute verwirrte.
"Sag mal, John: Hast du jemals mit irgendwem darüber geredet? Ich meine richtig? Wenn du das all die Jahre mit dir herumgeschleppt hast… Du hast es nie richtig verarbeitet, oder?"
Dankbar sah John ihn an. "Nein, du bist der Erste, dem ich alles erzähle! Der Erste, bei dem ich mich komischerweise traue; keine Ahnung, warum."
"Was ist dann weiter passiert, damals?"
"Lady MacThomas fragte mich dann kurze Zeit später, ob ich nicht ganz bei ihnen wohnen wolle, in der Kammer neben Arthur, wo ja eh schon ein Bett für mich stand. Und ich sagte natürlich zu. Mittlerweile waren wir schon zwei Jahre befreundet. Nun musste ich es nur noch meinen Eltern beibringen, aber das fiel mir erstaunlich leicht, denn dort war ich ja eh kaum noch. Darum verstand ich auch nicht, warum sie so sorgenvoll schauten und mich zum Bleiben überreden wollten. Und dass, obwohl Vater eigentlich recht froh war über das gute Geld, dass ich ihnen bringen konnte, denn er war kränklich und körperlich nicht mehr sehr fit. Die harte Jahre der Arbeit auf dem Feld und beim Fischen hatten ihn mürbe gemacht."
"Hast du dich mit deinen Eltern überworfen?"
"Nein, nicht wirklich. Sie waren nur irgendwie so furchtbar traurig, so als hätten sie mich für immer verloren. Es hat mir mehr weh getan, als im Streit auseinander zu gehen."
"Nun, dass kann ich gut verstehen: Du warst schließlich ihr einziges Kind!"
"Ja, so war das wohl. Natürlich habe ich weiter für sie gesorgt, aber irgendwie... Später konnte ich kaum begreifen, warum es mir damals nichts mehr ausmachte, sie kaum noch zu sehen."
"Als du ganz bei den MacThomas eingezogen bist, waren Arthur und du da schon intim miteinander? Wusste seine Mutter, dass er in dich verliebt war?"
"Nun, nach außen hin waren wir für alle anderen wie zwei Brüder. Und das war es auch, was die MacThomas erzählten: Dass sie mich wie einen Sohn mochten und froh waren, dass Arthur nach dem tragischen Verlust seiner Schwester einen so guten Freund gefunden hatte. Ich werde nie vergessen, wie mich seine Mutter einmal ansah, als Arthur und ich, ausgelassen miteinander feixend, zur Küche hinein kamen. Ich war vor Verlegenheit puterrot geworden, doch sie lächelte mich vielsagend, aber auch verständnisvoll an. Und als Arthur, wie üblich, nach dem Abendessen verschwand, nahm sie mich beiseite und meinte: "Seán, mein Junge, Ihr habt ein gutes Herz und ich sehe, dass Ihr meinem Sohn von ganzem Herzen zugetan seid. Es ist schon schwer genug, mit dem zu leben, was er ist. Und es war ebenso schwer, zu begreifen, wie er fühlt. Darum bin ich froh, ihn bei Euch in guten Händen zu wissen, denn so weiß ich wenigstens, dass ihm kein Leid geschieht! Seid versichert, dass Euer beider Geheimnis sicher in meinem Herzen verwahrt ist und auch in dem seines Vaters!"
"Das war eine großartige Frau!" stellte Michael bewundernd fest.
"Ja, das war sie ohne Zweifel!" stimmte John zu. "Weißt du, zu der damaligen Zeit geziemte es sich nicht, wenn eine Frau sich mit Reden hervor tat. Aber wenn man die Eheleute MacThomas erlebte, konnte man schon einen gewissen Freigeist spüren, denn die beiden gingen für damalige Verhältnisse außergewöhnlich tolerant miteinander um. Im Nachhinein bin ich froh, dass mir all das in so einem angenehmen Umfeld widerfahren ist, verstehst du?"
"Das ist wohl wahr! Wenn ihr euch auch noch vor seine Eltern hättet verstellen müssen... wäre ganz schön anstrengend gewesen, oder?"
"Wir haben selbstverständlich aufgepasst, dass kein Außenstehender etwas mitbekam. Die MacThomas waren liebe Leute und ihr guter Ruf sollte auf keinen Fall darunter leiden. Ich muss gestehen, ich war natürlich auch mächtig stolz, dass sie mich wie einen Sohn aufnahmen!"
"Wie alt warst du da, als du bei ihnen eingezogen bist?"
"Sechsundzwanzig. Das war im November und im Januar wurde ich siebenundzwanzig. Meine Mutter hatte mir das Versprechen abgenommen, sie an diesem Tag zu besuchen, um meinen Geburtstag mit ihnen zu feiern. Ich freute mich auch darauf, denn das letzte Mal hatte ich sie zu Weihnachten besucht."
Michael runzelte nachdenklich seine Stirn: "Was bist du denn jetzt eigentlich... Bi?"
John lächelte verständnisvoll: "Lass mich weiter erzählen, ja?"
Michael nickte. "Haben deine Eltern Arthur eigentlich gekannt?"
"Ja. Er ist zwei oder dreimal mit gewesen, wenn ich ihnen meinen Lohn gebracht habe. Das war schon merkwürdig: Mutter schien zu ahnen, dass er anders war. Einmal nahm sie mich beiseite und mahnte mich zur Vorsicht. Er habe etwas Magisches an sich und ich solle mich nicht blenden lassen, meinte sie. Ich habe das als kleine Spinnerei abgetan und sie beruhigt, dass mir in all der Zeit doch nur Gutes widerfahren wäre. Da sah sie mich an, wie nur eine Mutter ihr Kind ansehen kann, segnete mich und sprach: "Gott schütze dich!" Das ist mir damals durch und durch gegangen!"
Michael sah ihn nachdenklich an: "Ich glaube schon, dass Mütter einen ganz besonderen Instinkt haben. Wenn man allein die enge Verbindung bedenkt, die sie zu ihrem Kind durch Schwangerschaft und Geburt haben... Frauen sind eigentlich im Allgemeinen intuitiver als die meisten Männer, oder?"
Plötzlich lächelte John verliebt. "Ja... das habe ich bei Melanie gemerkt! Sie hat sehr schnell realisiert, dass bei mir etwas anders ist."
"Und es akzeptiert! Mensch, Alter, du weißt hoffentlich, was für ein Glück du hast! Aber was wolltest du vorhin eigentlich von deinem Geburtstag erzählen?"
Johns Blick wurde traurig. "Tja... ich kam damals ganz stolz ins Dorf geritten auf dem Reitpferd, das mir die MacThomas zu meinem Geburtstag geschenkt hatten und kurz vor unserem Haus sah ich schon den Auflauf von Nachbarn, der sich dort versammelt hatte. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, als ich abstieg und mich alle so mitleidig ansahen. Im Hauseingang stand Mrs. Dermond, eine alte Nachbarin und Freundin meiner Mutter. Sie nahm mich in Empfang, strich mir tröstend über die Schulter: "Ach Junge, es tut mir so leid!" sagte sie unter Tränen und führte mich zum Schlafzimmer meiner Eltern."
"Ach Gott, was war passiert?"
"Mein Vater. Er hatte gegen Mittag noch etwas auf dem Feld gearbeitet. Mutter rief ihn dann zum Mittagessen, aber er kam nicht. Dann hat sie ihn tot auf dem Acker gefunden."
"Wie ist das gekommen?"
"Er ist wohl einfach tot umgefallen, wahrscheinlich Herzinfarkt oder so. Er hat ja auch sein Leben lang schwer gearbeitet! Aber trotzdem kam das so plötzlich, ich war wie vor den Kopf geschlagen, weißt du. Mutter und ich haben uns in den Armen gehalten und getröstet. Und man spürte wieder, was es heißt, wenn alle Nachbarn in schweren Zeiten zusammenhielten. Sie waren für meine Mutter da und halfen alle, die notwendigen Formalitäten zu erledigen und die Beerdigung vorzubereiten. Ihre größte Sorge war, all das nicht bezahlen zu können, denn Gespartes war rar zu der Zeit. Ich konnte sie beruhigen, denn ich hatte mir etwas auf Seite legen können und so konnten wir Vater eine schöne Beerdigung arrangieren. Die MacThomas hatten es sich außerdem nicht nehmen lassen, für Essen und Trinken auf der Beerdigungsfeier zu sorgen."
Michael schaute nachdenklich vor sich hin. "Ich könnte mir vorstellen, dass sich danach einiges geändert hat für dich. Musstest du dich dann nicht um deine Mutter kümmern? Ich meine, konntest du überhaupt noch bei den MacThomas bleiben?"
John seufzte auf, in Erinnerung an die schweren Zeiten. "Ja, die Überlegung stand tatsächlich im Raum, dass ich wieder zu meiner Mutter ziehen würde. Es zerriss mir damals das Herz, denn Arthur hatte mich schon so sehr in seinen Bann gezogen. Andererseits wurde mir klar, dass ich mich gerade meiner Mutter aber noch sehr verbunden fühlte. Ich wusste erst überhaupt nicht, was ich tun sollte."
"Hattest du denn damals überhaupt keine Verwandten in der Nähe, zu denen sie hätte gehen können?"
"Nein, das war nicht der Fall. Aber plötzlich war es ausgerechnet Arthur, der mich darin bestärkte, wieder in mein Elternhaus zu ziehen."
Michael runzelte seine Stirn. "Das wundert mich, so sehr wie er dich anscheinend vereinnahmt hatte!"
"Ich muss zugeben, dass hat mich auch zunächst irritiert. Aber er meinte dann ganz verständnisvoll, dass er es gut verstehen würde, wenn meine Familie jetzt an erster Stelle stehen würde und außerdem wären wir doch den ganzen Tag bei der Arbeit zusammen. Und das es immer genügend Freiraum für unser Beisammensein geben würde. Weißt du, Michael, wenn ich mir das heute alles so durch den Kopf gehen lasse, dann ist mir klar, dass er einfach nur sehr klug taktiert hat."
"Inwiefern?"
"Na ja, auf diese Weise schürte er meine Sehnsucht nach ihm noch mehr! Fortan lebte ich nur noch für die Stunden, die wir zusammen sein konnten."
"Oh, ja, clever! Und du konntest ihm nichts vorwerfen, da er dich ja selber dazu ermuntert hatte, wieder nach Hause zu ziehen. Sag' mal, wie alt war deine Mutter damals eigentlich?"
"Ach, für die damaligen Verhältnisse war sie schon alt, das kann man mit heute kaum vergleichen... sie war auch immer kränklich gewesen, das kam noch hinzu. Ich glaube, sie war sehr froh, mich wieder bei sich zu haben. Aber der Verlust von Vater...Sie ist nie richtig darüber hinweg gekommen. Man konnte deutlich sehen, wie sehr sie in allem nachließ, wurde immer schwächer, obwohl sie nicht wirklich krank war, verstehst du?"
"Ja. Ich weiß noch, wie es mit meinem krebskranken Opa damals war: Meine Oma war völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Da hatte er plötzlich auch keinen Lebenswillen mehr und starb innerhalb von vier Wochen."
"Ja, an gebrochenem Herzen, so sagt man wohl zu recht. Meiner Mutter ging es genau so: Sie lebte noch ein dreiviertel Jahr, dann starb sie einfach so, im Schlaf."
"Und du warst ganz alleine."
"Ja... Das war merkwürdig, dass auf einmal die MacThomas sozusagen meine Familie waren. Obwohl, Arthurs Eltern waren großartig, sie waren total lieb und immer für mich da, das muss ich schon sagen!"
"Wie ging es dann mit Arthur weiter?"
John nahm die Hände hinter den Kopf und lehnte sich im Sofa zurück. "Erst einmal musste ich eine Entscheidung treffen, was mit dem Haus und Grund meiner Eltern passieren sollte. Es gab nicht direkt einen Interessenten dafür und ich überlegte natürlich zunächst, ob ich nicht selbst dort einziehen wollte. Arthur war direkt begeistert und sprach von einem Liebesnest für uns und so weiter. Aber ich spürte ganz deutlich, dass ich das alles nicht so ohne weiteres hinter mir lassen konnte. Und irgendwie, ich weiß gar nicht wie ich es erklären soll, hatte ich mit einem Mal so ein mulmiges Gefühl, war mir selber fremd, verstehst du?"
"Hattest du ein ungutes Gefühl was Arthur anbelangte?"
"Ich denke, da könntest du gar nicht so unrecht haben. Aber damals war ich einfach so durcheinander, in einem totalen Gefühlschaos..."
"Hmm..." Nachdenklich rieb Michael sich das Kinn. "Ich glaube, du hast vielleicht gespürt, dass die Sache mit Arthur gefährlich für dich werden konnte, oder? Und dann plötzlich ganz allein, niemand, dem du dich anvertrauen konntest. Wahrscheinlich hast du die Angst, die du instinktiv vor Arthur hattest, einfach verdrängt, weil das einfacher war!"
Seufzend fuhr John sich durch die Haare. "Weißt du, ich wollte wohl über nichts mehr nachdenken. Und als mich Lady MacThomas dann irgendwann beim Abendbrot fragte, wie ich mich denn nun entschieden hätte, da wurde offensichtlich, wie unschlüssig ich war. Da meinte ihr Mann plötzlich, wie es denn wäre, wenn er mir Haus und Land abkaufen würde. Ich könnte das Geld für mich auf die Seite legen und wenn ich irgendwann wollte, es einfach von ihm zurückkaufen. Oder ich könnte es verpachten und als Einnahmequelle nutzen... Jedenfalls empfand ich das in meiner unentschlossenen Lage als beste Lösung. Und so kam es, dass er mir alles gegen gutes Geld abkaufte und das Thema damit für mich erledigt war."
"Und dann hast du ganz normal, wie vorher auch, bei den MacThomas gelebt?"
"Ja, und es war erstaunlich, wie schnell ich mein altes Leben vergaß..."
"Du sagtest, du warst bereits fünf Jahre mit Arthur zusammen, als etwas passiert ist? Vermute ich richtig, das du da verwandelt wurdest?"
"Ja, damals, im Dezember 1827, wurde ich krank. Zunächst erschien es wie eine hartnäckige Grippe, doch ich wurde zusehends schwächer und schwächer, verlor an Gewicht und litt an heftigen Fieberschüben. Die MacThomas setzten Himmel und Hölle in Bewegung, holten jeden Heilkundigen, der irgendwie zu finden war. Aber es ging mir immer schlechter und ich kam an einem Punkt, an dem ich mich schon damit abgefunden hatte, zu sterben."
"Dann war die Verwandlung deine letzte Rettung, nehme ich mal an?"
"Weißt du, Arthur hatte mir irgendwann erzählt, wie er verwandelt worden ist. Es war nämlich genauso unfreiwillig wie es dir durch Luisa geschehen ist. Er war, nachdem er sich sicher war, schwul zu sein, eine Weile durch andere Gegenden gereist und traf erstmals auf Gleichgesinnte. Leider hatte er sich gleich unsterblich verliebt und machte mit diesem Mann seine erste sexuelle Erfahrung. Na ja und der war, wie sich dann herausstellte, ein Vampir und hat ihn dann eines Nachts, ohne sein Einverständnis, verwandelt. Kurze Zeit darauf wollte er dann nichts mehr von ihm wissen. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie unglücklich er war."
"Oh ja!" Michael stimmte aus voller Kehle zu. "Das kann ich gut nachvollziehen!"
"Okay, also nachdem Arthur mir das erzählt hatte, machte er klar, dass er mich niemals ohne mein Einverständnis verwandeln würde..."
"Aber...?"
"Er saß Tag und Nacht an meinem Krankenbett, hielt meine Hand. Ich sah seine Verzweiflung, die mir ins Herz schnitt, spürte seine aufrichtige Liebe... Nur das hat mir noch Kraft gegeben durchzuhalten. Aber dann kam der Moment, in dem ich genau spürte, dass jetzt nichts mehr helfen würde, dass ich keine Chance mehr hatte. Als Arthur da so saß und ihm die Tränen herunter liefen, da habe ich ihn gebeten, mich zu verwandeln. Dachte, vielleicht soll es einfach so sein, dass mir diese Möglichkeit gegeben ist, weiter leben zu können."
"Und, wie hat er reagiert?"
John holte tief Luft und fuhr sich durchs Gesicht. "Ich werde nie seinen entsetzten Blick vergessen: Er fuhr hoch, raufte sich die Haare und vermochte zunächst keine Worte zu finden. Dann beruhigte er sich wieder, setzte sich und sah mich liebevoll, aber eindringlich an. Seine Worte klingen mir heute noch im Ohr: "Du weißt, dass ich dich über alles liebe und nichts habe ich mir mehr erträumt, als in Ewigkeit mit dir zusammen zu sein. Aber bedenke, welche Qual ewiges Leben auch mit sich bringen kann!" Kurze Zeit vorher hatten wir nämlich darüber gesprochen, dass er über kurz oder lang gezwungen sein würde, sein Elternhaus zu verlassen, da sein junges Aussehen nicht mehr mit seinem angeblichen Alter übereinstimmte. Weißt du, Michael, in dem Moment war ich irgendwie gerührt, sah nur seine Liebe. Und meine Angst davor, das alles zu verlieren und natürlich auch vor dem Tod war einfach größer. In jener Nacht hat er mich dann, auf mein eindringliches Bitten hin, verwandelt."
"Wow... so war das also... Du, ich überlege gerade: Vielleicht sollte das einfach so sein, oder? Ich meine, könnte doch sein, dass du in deinem jetzigen Leben noch etwas besonderes erleben sollst!... Ja, zum Beispiel deine Liebe zu Melanie!"
Anscheinend hatte Michael ins Wespennest gestochen, denn Johns Blick verdüsterte sich schlagartig. Er senkte den Kopf und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Dann sah er seinen Freund mit einem verzweifelten Blick an: "Weißt du, was Melanie mir vor ein paar Tagen gesagt hat?"
Michael wunderte sich, was jetzt wohl kommen würde. "Nein...?"
"Sie sagte, dass sie keine Angst vor mir hätte, und sich vorstellen könne, so wie ich zu leben..." John stockte und sein Blick schien ratlos in die Ferne zu wandern.
"Und?"
"Ich soll sie verwandeln, wenn sie körperlich genau so alt aussieht wie ich jetzt!"
Irritiert sah Michael ihn an und verstand nicht, warum ihn diese Bitte anscheinend so verzweifeln ließ. "Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz: Was idealeres kann dir doch gar nicht passieren, oder?"
John seufzte laut auf: "Das ist ja die Scheiße!" rief er und sprang auf vom Sofa, lief aufgeregt auf und ab.
"Hey, komm, beruhige dich und setz' dich wieder!"
John tat, wie ihm geheißen. Dann erfuhr Michael, warum ihm Melanies Bitte so zu schaffen machte.
"Weißt du, damals, nachdem Arthur mich verwandelt hatte, dauerte es ein wenig, bis es mir wieder besser ging. Alle waren sehr lieb um mich bemüht - allen voran natürlich Arthur. Du weißt ja selbst, welch enorme Anstrengung mit dieser körperlichen Verwandlung verbunden ist. Und zunächst dachte ich, es würde damit zusammenhängen, dass ich mich plötzlich - wie soll ich sagen - anders fühlte. Aber während ich mich erholte und Arthur sich jeden Tag umso mehr darüber freute, nun für immer mit mir zusammen sein zu können... Michael, auf einmal waren meine Gefühle für ihn wie weggeblasen! Da war nichts mehr, keine verliebten Gefühle, gar nichts! Allenfalls das, was man für einen besonders guten Freund empfindet, verstehst du?"
"Oh..." Michael rieb sich verwundert das Kinn. "Das ist merkwürdig, wo du vorher richtig in ihn verliebt warst! Hast du eine Erklärung dafür?"
John fuhr sich durch die Haare. "Eigentlich gibt es für mich nur eine Erklärung: Du weißt ja um unsere gewissen hypnotischen Fähigkeiten; wir können den Menschen ja schon was suggerieren, wenn wir wollen. Obwohl ich nach wie vor nicht glaube, dass Arthur mich auf so eine Weise gewinnen wollte, sondern dass es schon echte Liebe war, die ihn so anziehend wirken ließ. Nur musste ich plötzlich erkennen, dass mich die Verwandlung von seiner hypnotischen Anziehungskraft befreit hatte und unsere Beziehung in normalem Licht erscheinen ließ."
Michael begriff. "Ihr ward ja auch plötzlich sozusagen auf einem Level, nicht wahr? Wo er dich nicht mehr beeinflussen konnte."
"Genau. Jedenfalls befand ich mich mit einem Mal in der Situation, dass ich nichts mehr für ihn fühlte. Damit musste ich auch erstmal klar kommen. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich mich irgendwie in seiner Schuld fühlte, da er mir ja das Leben gerettet hatte!"
"Ach Gott...!" Jetzt verstand Michael erst, welche Angst seinen Freund wegen Melanie plagte. "Und nun befürchtest du, wenn du Melanie eines Tages verwandelst, das dir das genau so ergeht und sie nichts mehr für dich empfindet?"
John schien mit einem Mal erleichtert, da er seinen Kummer endlich erzählt hatte. "Ja! Und das Schlimmste wäre, dass sie die Verwandlung dann nicht mehr rückgängig machen könnte!"
"Ich kann deine Ängste verstehen. Aber ehrlich gesagt: Ich weiß auch nicht wirklich, was ich dir da raten könnte! Das Problem stellt sich bei Moni und mir ja gar nicht, da sie sich eh nicht vorstellen kann, verwandelt zu werden. Ein ewiges Leben wäre für sie keine Option, das hat sie eindeutig klar gemacht!" Nachdenklich sah er John an. "Weiß Melanie eigentlich von Arthur?"
"Nein, sie weiß nur, dass ich damals in Glen Lyon verwandelt wurde." Resignierend sah John seinen Freund an. "Was soll ich denn jetzt tun?"
Ratlos schüttelte Michael seinen Kopf. "Keine Ahnung... Ich glaube, das Beste ist, wenn wir beide erst einmal 'ne Nacht darüber schlafen. Manche Dinge kann man nicht ad hoc lösen, auch wenn man es noch so gerne will!"
"Ja... ich denke, du hast recht." John sah auf die Uhr. "Schon so spät! In einer halben Stunde kommen unsere Ladies, wir sollten zum Ende kommen!"
"Na ja," meinte Michael, "ein bisschen was haben wir ja wenigstens geschafft." Dann schmunzelte er: "Okay, lass uns mal die Küche und das Esszimmer aufräumen, sonst kriegen wir gleich Ärger!"
Sie waren mit Melanie und Moni um 18:00 Uhr zum Essen verabredet, um gemeinsam zu kochen.
Es war ein gemütlicher Abend zu viert geworden. Michael und Moni waren gegen 22:30 Uhr nach Hause gefahren. John und Melanie saßen auf dem Sofa und gönnten sich noch ein Glas Rotwein.
Das Michael den ganzen Abend auf besonders lustig machte und das John dagegen eher in sich gekehrt wirkte, war Melanie nicht entgangen. Forschend sah sie ihn von der Seite an, er hingegen schien ihrem Blick aber ständig auszuweichen. Sie seufzte laut auf: "Okay, MacGyver: Ich weiß zwar nicht was los ist, aber du musst nicht meinen, dass du deine Stimmung vor mir verheimlichen kannst! Ich merke doch, dass irgendwas ist, so komisch wie ihr beide euch heute Abend verhalten habt. Also, was ist los?"
John sah aus wie ein Kind, das beim Klauen aus der Keksdose erwischt worden war. Er schluckte merklich, dann wandte er sich Melanie zu.
Sie sah, wie seine Augen sich langsam mit Tränen füllten und der Kloß in seinem Hals ihm anscheinend die Sprache verschlug. Betroffen ergriff sie seine Hand: "Hey... was ist denn los? Ist was passiert? Sag' doch, Schatz..."
Er nahm ihr Gesicht zärtlich in seine Hände, küsste sie unter Tränen und flüsterte: "Weißt eigentlich, wie sehr ich dich liebe?"
Melanie erwiderte seinen Kuss liebevoll und antwortete: "Ich hoffe so sehr, wie ich dich liebe!"
Und während ihm die Tränen weiter hinab liefen, fasste sich John ein Herz und bat sie, einfach nur zuzuhören und ihn erzählen zu lassen.
"Es wird Zeit, dir über alles von mir die Wahrheit zu sagen..."
So erfuhr Melanie von ihm, was sich damals in Glen Lyon zugetragen hatte.
Als John am nächsten Morgen erwachte, hörte er draußen die Vögel zwitschern und die Sonne lugte mit ein paar vorwitzigen Strahlen unter der Jalousie hervor. Er betrachtete Melanies entspannte Gesichtszüge, sie schlief noch tief und fest. Ganz leise seufzte er glücklich auf, lehnte sich zurück, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und ließ den vergangenen Abend Revue passieren.
Sie hatte ihm ganz geduldig zugehört, auch, als er von seiner Beziehung zu Arthur erzählte. Seine Angst, das diese Episode seines Lebens ihre Beziehung beeinträchtigen könnte, hatte sich als falsch erwiesen. Natürlich konnte Melanie nicht mit s o einem Geständnis rechnen und war zunächst auch irritiert gewesen. Aber als ihr klar wurde, unter welchem Einfluss das geschehen war, schien das für sie keine Bedrohung mehr zu sein. Vielmehr hatte sie gemeint, dass viele Menschen ja sogar bisexuell wären und auch damit klar kämen.
"Gibt's eigentlich irgendwas, für das du k e i n Verständnis hast?" hatte er sie daraufhin verliebt angelächelt.
Da hatte sie ihn plötzlich ganz ernst angeschaut und gemeint: "Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, über alles, was dich irgendwie bedrückt. Das würde mir weh tun, denn ich vertraue dir! Und: Ich habe nicht das Gefühl, von dir als Vampir beeinflusst zu sein, denn dazu sehe ich viel zu sehr den Menschen in dir! Ganz ehrlich, ich habe noch nie empfunden, dass du mich in irgendeiner Weise manipuliert hast, hypnotisch oder wie auch immer ihr Vampire das könnt! Und darum werde ich dich auch noch lieben, wenn du mich -irgendwann mal- verwandelt hast!"
Und damit war das Thema für sie beendet gewesen.
Eine große Erleichterung verstärkte das Glücksgefühl in seinem Herzen, als er sich noch einmal genüsslich an Melanie herankuschelte und sie gemeinsam noch ein wenig träumten...
Fortsetzung in Teil 3: Die Liebe und die Ewigkeit
Texte: Orelinde Hays
Bildmaterialien: Orelinde Hays / "westglenlyon" by Glen Lyon History Society
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2009
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