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Eine folgenreiche Nacht


Michael Hofer ist ein Vampir. Und noch hasst er es. Denn es geschah nicht aus freiem Willen.

Es war sein dreißigster Geburtstag und seine Freunde hatten eine Party in diesem Club in Münster arrangiert. Es wurde ausgiebig gefeiert, heftig und zuviel getrunken. Dort war sie aufgetaucht: Luisa. So attraktiv, so unwiderstehlich sexy, so bezaubernd, so verzaubernd. Sie waren spät nachts bei ihm in seiner Wohnung in Kiesdorf gelandet; hatten den wildesten Sex, den er je gehabt hatte.

Völlig berauscht war er schließlich an ihrer Seite eingeschlafen. Bis er plötzlich dieses helle Licht sah, welches ihn magisch anzuziehen schien und er eine unendliche Sehnsucht verspürte, darin einzutauchen...
Biss er sich dann an ihrem Arm wiederfand. Blut saugend.
Erst später wurde ihm klar, dass er an der Schwelle des Todes gestanden hatte. Luisa wollte ihn für sich. Hatte ihn auch ihr Blut trinken lassen und ihn verwandelt. Ihn zum Leben eines Untoten verdammt. Für immer.

In wilder Panik war er aus der Wohnung geflüchtet und rastlos durch die Gegend geirrt. Er hatte sich gefragt, in welchen Horror-Albtraum er da hineingeraten war und unglücklich nach Erklärungen gesucht, die er jedoch nicht fand.
Nach und nach wurde ihm schmerzlich bewusst, dass dies kein Mythos war, sondern die bittere Realität.
Es gab sie: Vampire. Doch desto mehr er sich in irgendwelchen Kneipen sinnlos betrank, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er diesem Albtraum nicht mehr entfliehen konnte. Dass da plötzlich dieser unstillbare Hunger war, dieser Hunger nach Blut, dem er sich völlig hilflos ausgeliefert fühlte. Hin- und her gerissen zwischen Verzweiflung und unbändiger Wut, versuchte er es zu leugnen. Nahm aber umso panischer wahr, wie er die Halsschlagader seines Nachbarn anstarrte und am liebsten zugebissen hätte... Oh Gott, zu welchem Untier war er geworden?! Er fühlte sich schwächer und schwächer.
Irgendwann, als er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, erreichte er mit letzter Kraft seine Wohnung.

Sie wartete bereits auf ihn.

 

Alles auf Anfang


Er hatte ja keine Wahl: Sie lehrte ihn zu überleben; Blut zu organisieren, um nicht Menschen verletzen oder gar töten zu müssen, sich durch den Alltag zu lügen und all die Dinge, um als Vampir zu "überleben".
Jeden Tag ließ es ihn mehr verzweifeln.

Luisa hatte egoistisch gehandelt, in jener Nacht, als sie ihn aus reiner Selbstsucht verwandelt hatte – ohne ihn zu fragen. Er hasste sie jeden Tag mehr dafür. Inzwischen konnte er zwar gut auf eigenen Beinen stehen, doch irgendwie wurde er sie nicht los. Luisa hing wie eine Klette an ihm und war, natürlich ohne zu fragen, direkt bei ihm eingezogen. Sie bestimmte sein Leben, wo sie nur konnte. Als wäre er ihr persönlicher Besitz.
Mittlerweile kannte er auch andere Vampire. Gottlob hatte er in Johann "John" Marquard einen Freund seines Alters gefunden. Die hatte er auch bitter nötig, denn seinen alten Bekanntenkreis hatte er verloren. Ganz bewusst hatte er den Kontakt zu seinen alten Freunden abgebrochen. Wie sollte er denen all die Merkwürdigkeiten erklären? Dass sie sein Geheimnis entdecken würden, davor war die Angst zu groß.
In seiner Kleinstadt gab es nicht mal eine Handvoll Vampire, denn die meisten lebten lieber in Großstädten, da sich dort viele Dinge besser organisieren ließen. Michael war schon froh, nicht so ganz alleine dazustehen und in John einen Verbündeten zu haben. Der konnte Luisa nicht ausstehen, was sie noch mehr verband. Doch wie konnte man sie überreden, auf ihren heiß geliebten Michael zu verzichten? Die beiden Freunde fanden keine Lösung.
Dann kam jener Tag im Oktober, als er darauf wartete, dass sie heimkommen würde. Aber Luisa kam nicht in dieser Nacht. Er glaubte an eine ihrer Eskapaden, ging am nächsten Morgen ganz normal zur Arbeit in das Geschäft, in dem er als Fotograf tätig war, um dann am Abend festzustellen, dass sie noch immer nicht nach Hause gefunden hatte. Genauso wie am Morgen darauf.
 
John sah ebenfalls wie ein Dreißigjähriger aus, war aber seit über zweihundert Jahren Vampir. So hatte er ihm nicht nur einiges an Lebenserfahrung voraus, sondern auch die entsprechenden Kontakte. Er streckte seine Fühler aus.
Zwei Tage später hatte Michael Gewissheit: Luisa war in einer anderen Stadt von einigen Vampiren, mit denen sie sich angelegt hatte, getötet worden.
Michael konnte es kaum glauben: Er war endlich frei!
Und doch war da diese Traurigkeit in ihm: Denn, was bedeutete schon diese Freiheit? Wo er doch nie wieder Mensch sein konnte. Denn nach nichts sehnte er sich mehr als nach einem normalen Leben. Familie, Kinder... Es war zum Heulen.

Er musste oft an Monika denken: Mit ihr war er fast drei Jahre zusammen gewesen. Na ja, mehr oder weniger, denn sie hatten nie zusammengelebt, es beide mit der Treue nie so genau genommen und eher eine lockere Beziehung geführt. Bis Monika mehr wollte, etwas festes, monogames. Da hatten sie sich getrennt, da er sich dafür irgendwie nicht bereit gefühlt hatte. Kurz darauf hatte er Luisa getroffen.
Sieben Monate lag das jetzt schon zurück.

Michael brauchte zwei Wochen, bis er den Mut fand, sie tatsächlich eines Abends anzurufen.
"Hi Moni, Michael. Wollte mal hören, wie es dir so geht."
Ihre Stimme klang erstaunt. "Hi...! Meine Güte, ist ja ewig her! Und? Was machst du noch so? Man hat ja das Gefühl, als ob du vom Erdboden verschluckt worden wärst; also, ich meine, keiner von unserer alten Clique hört noch was von dir."
"Ja, stimmt... Sorry. Und du? Ich... also, ähm ... ich meine, störe ich eigentlich oder hast du Zeit zum Quatschen?"
"Hey... Was ist los Michael?" Sie hörte ihn aufseufzen.
"Ich kann dir immer noch nichts vormachen, oder?" Irgendwie fühlte er sich erleichtert.
Sie schmunzelte. "Hör mal, wenn du magst, dann treffen wir uns mal und quatschen, okay?"
"Kein Freund, mit dem es Ärger geben könnte?"
"Nein, kein Freund zur Zeit!"
"Das wäre schön..."
Sie verabredeten sich für den folgenden Abend bei ihr.

Er war so nervös, dass er John eine halbe Stunde lang am Telefon nervte, hin- und her gerissen von seinen Gefühlen und Ängsten.
John wiederum warnte ihn eindringlich davor, zu offen zu sein.
"Sei dir bewusst, welches Risiko du mit einer Sterblichen eingehst! Denke daran, welche Konsequenzen das haben kann! Was du alles vertuschen musst in so einer Beziehung!"
Seine Ratschläge, wenngleich sie auch gut gemeint waren, schienen kein Ende zu nehmen.
"John, ich möchte mich einfach nur mit ihr unterhalten, mal mit jemandem von früher reden, der mir vertraut ist! Verstehst du?"
John seufzte: "Klar, Mann, leider viel zu gut. Als ob ich das nicht kennen würde..."

Am nächsten Abend stand er vor ihrer Tür. Drauf und dran, einfach wieder umzudrehen. Fünf Minuten lang starrte er auf ihre Klingel und traute sich nicht. Doch plötzlich ging im Treppenhaus das Licht an und jemand kam heraus.
"’N Abend..."
"’N Abend!" Schnell schlüpfte er vorbei, lief in den ersten Stock. Wie oft war er früher diese Treppen gelaufen! Dann war er endlich vor ihrer Tür und klingelte.
"Huch!" Sie erschrak, als er so direkt vor ihrer Nase stand. Aber sie lächelte.
Erleichtert lächelte er zurück.
"Unten kam gerade jemand raus..."
"Hi! Komm doch rein!" Sie umarmte ihn, als hätten sie sich gestern erst gesehen. "Meine Güte, hast du kalte Hände..."
Ihm war gar nicht mehr bewusst, dass er nur noch eine Körpertemperatur von knapp 25 Grad hatte. Schon geht’s los mit den Problemen! dachte er, ließ sich seine Irritation aber nicht anmerken.
Als er ins Wohnzimmer kam, wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr ihm diese Gemütlichkeit fehlte, die hier bei ihr so präsent war.
"Magst du immer noch gerne einen lieblichen Rotwein? Oder hat sich daran was geändert?"
"Nein, hat sich nicht geändert!" Mittlerweile konnte er problemlos die meisten Sachen trinken.
Michael nahm auf der Couch Platz, während Monika sich in den Sessel daneben setzte und den Wein eingoss. Auf dem Couchtisch standen Knabbersachen.
Sie sah ihn abwartend an. Michael fühlte sich mit einem Mal so verlegen wie ein kleiner Schuljunge, mochte sie kaum ansehen. Sie prosteten sich zu und nahmen einen Schluck.
"Hm, sehr gut! Wo hast du den denn her?" Er war froh, Gesprächsstoff gefunden zu haben.
Sie spürte seine Unsicherheit, dafür kannte sie ihn zu gut.
"Hey, was ist los? Du kommst mir verändert vor. Irgendwie traurig. Was ist passiert?"
Das war ihre große Stärke: Die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich verändert habe... dachte er. Wie gerne hätte er ihr sofort alles erzählt! Aber konnte man so eine Geschichte überhaupt glauben?
"Michael? Hey! Wo bist du mit deinen Gedanken?"
"Oh, ähm, ich... entschuldige... Ach, weißt du, seit diesem Abend im Club, an meinem Dreißigsten, da hat sich einiges verändert in meinem Leben."
"Thomas und die anderen Jungs haben mir davon erzählt."
Thomas war seit Jahren Michaels bester Freund. Sogar bei ihm hatte er sich nicht mehr gemeldet.
"Hat es mit dieser Frau zu tun, die du dort kennen gelernt hast? Danach hast du dich ja völlig abgekapselt und man hat von dir nichts mehr gehört oder gesehen. Also ehrlich gesagt, da fühlten sich alle irgendwie auf den Schlips getreten! Ich hatte ja auch noch etliche Male versucht, dich zu erreichen."
Er seufzte schuldbewusst vor sich hin.
"Ich weiß, ich weiß... Tja, irgendwie... ist 'ne lange Geschichte. Luisa –so hieß sie- war, wie soll ich sagen, sehr besitzergreifend. Aber ich war zunächst so fasziniert von ihr! Na ja, jedenfalls war ich am Ende eher froh, als ich sie wieder losgeworden bin, weißt du. Aber deswegen habe ich mich eigentlich nicht so isoliert."
Jetzt war es Zeit für seine Lügengeschichte, so etwas ging mittlerweile sehr routiniert über seine Lippen.
"Ich habe einen besonderen Grund, warum ich nicht mehr ganz normal mit anderen Menschen zusammen sein kann, also ich meine, normale Dinge machen kann wie zum Beispiel zusammen essen gehen und so. Es fing so an, dass es mir plötzlich körperlich immer schlechter ging, mit Magen- und Darmkrämpfen; ich wurde immer schwächer, konnte keine normale Nahrung mehr bei mir behalten. Es hat vier Monate gedauert, bis man herausfand, was ich habe."
Sie sah ihn besorgt an und er konnte deutlich spüren, wie viel sie noch für ihn empfand. Vernahm, wie sich ihr Herzschlag erhöhte. Manchmal war das empfindliche Gehör, dass er jetzt besaß, auch echt irritierend.
"Du meine Güte... Und? Was ist das für eine Krankheit?"
Davor, dass sie ihm nicht glauben würde, hatte er die meiste Angst gehabt, denn er hatte sie immer schlecht belügen können. Sogar all ihre Seitensprünge hatten sie sich damals immer gleich erzählt.
"Das haben nur wenige Menschen auf der ganzen Welt. Es ist eine so seltene Stoffwechselstörung, die kann man nicht mal googeln. Man kann keine industrielle Nahrung mehr vertragen, die Haut wird empfindlicher, es hat halt verschiedene Auswirkungen. Nur trinken kann ich fast alles, also alles was pflanzlichen Ursprungs ist, ansonsten bin ich auf Spezialnahrung angewiesen. Die kommt aus England, da gibt es die einzige Klinik, die sich damit auskennt. Sie forschen noch, vielleicht ein Gendefekt oder so. Tja, so sieht’s aus..."
Er mochte ihr kaum in die Augen sehen. Entweder glaubte sie ihm alles, oder...
Mit einem heftigen Ruck stellte Monika ihr Weinglas ab. Aufgeregt gestikulierend sah sie ihn empört an:
"Sag’ mal, geht’s noch?!"
Michael schluckte, zuckte unmerklich zusammen. Das war’s dann wohl.

"Ich meine", fuhr sie nun mit aufgewühlter Stimme fort, "kannst du mir mal erklären, warum, um alles in der Welt, du das mit dir selbst ausmachen wolltest? Wofür bitte sind Freunde denn da? Zumindest zu mir hättest du doch kommen können, ich hätte dich doch unterstützt!"
Sie war aufgestanden, hatte sich neben ihn gesetzt und ihren Arm um seine Schulter gelegt.
"Der starke Mike, nicht wahr? Bloß keine Schwäche zugeben. Mensch, du Idiot! Du Vollidiot!!"
Erleichtert holte er tief Luft und mochte ihr wieder in die Augen sehen. Spürte plötzlich dieses vertraute Gefühl, spürte, wie ihm leicht ums Herz wurde, gepaart mit dieser unstillbaren Sehnsucht nach Liebe.
Sie nahmen sich in die Arme und er spürte die Wärme ihres Körpers, hörte ihren Pulsschlag und ihr Blut rauschen. Er, der eigentlich tot war, er hielt das Leben in seinen Armen. Der ausgeprägte Geruchssinn, den er nun hatte, ließ ihn ihren Duft umso intensiver wahrnehmen. Sie benutzte noch das gleiche Parfum. Sein Kopf lag auf ihrer Schulter, ihr vertrauter Geruch schien ihn völlig zu umfluten und er genoss es einfach, sich fallen zu lassen. Welch Balsam für seine Seele!
Schlagartig wurde ihm eines bewusst: Dass er sie immer noch liebte.
Sie hingegen spürte die ungewohnte Kälte seines Körpers und für einen Moment ließ es sie erschaudern. Doch gleichzeitig sagte ihr der Verstand, dass es sicher mit seiner Krankheit zusammenhing.
Michael hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen. Als sie sich wieder voneinander lösten, sah er in ihre Augen, sah die Zuneigung darin und hatte Mühe, nicht von den Gefühlen überrannt zu werden, die er solange in seinem Herzen gehortet hatte. Verlegen holte er tief Luft und ergriff ihre Hände, hielt sie zärtlich fest.
"Es tut so gut, darüber zu reden... Ich hab’ dich so vermisst!"
Jetzt seufzte Monika laut auf. "Und ich habe gedacht, du willst nichts mehr von mir wissen, nachdem ich das mit dieser Frau gehört hatte!"
Sie schien wirklich erleichtert und lächelte ihn an; fast so wie früher.
"Na ja, als ich mit ihr zusammen war, da war alles andere irgendwie ausgeblendet. Das war wie eine Abhängigkeit... Egal, dass will ich einfach nur hinter mir lassen, verstehst du?"
Er ließ ihre Hände los, nahm sein Weinglas und leerte es in einem Zug, schaute frustriert vor sich hin. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr das alles noch in ihm arbeitete.
Auch Moni griff zu ihrem Glas, nahm einen Schluck und meinte dann: "Was hat sie dir bloß angetan? So habe ich dich ja noch nie erlebt! Also, wenn du darüber reden willst?"
Gerührt tätschelte er ihre Hand und winkte ab. "Ach, lass gut sein."
"Was passiert eigentlich, wenn du diese Spezialnahrung nicht bekommst, wenn zum Beispiel aus England keine geliefert werden kann oder so? Also, England ist ja nicht gerade um die Ecke, könnte ja mal passieren, oder? Und wie viel brauchst du davon am Tag?"
"Also, einmal am Tag brauche ich diese Nahrung. Ansonsten kann ich schon wieder relativ viele Dinge essen. Die müssen aber rein pflanzlich sein und dürfen keine zusätzlichen Stoffe beinhalten. Bestimmte Nahrungsmittel mit blutbildenden Inhaltsstoffen und einem hohen Wasseranteil, wie Tomaten, rote Paprika, rote Beete und so, die sind besonders gut für mich. Tja, und wenn ich nicht nach spätestens 24 Stunden die nächste Spezialnahrung bekomme, dann spielt mein Stoffwechsel verrückt. Das sieht dann so aus, dass meine Körpertemperatur steigt und meine Organe anfangen zu versagen. Ich habe jetzt nur noch eine Temperatur von knapp 25 Grad und wenn ich über 37 Grad komme, dann wird es kritisch; so als ob ich von innen verbrennen würde."
"Ach Gott, hört sich nicht gerade berauschend an! Da kann man nur hoffen, dass der Nachschub immer gesichert ist!"
"Das kannst du laut sagen!"
"Und sag’ mal, wissen deine Eltern eigentlich Bescheid? Ich meine, sie haben ja schließlich nur dich. Du hast ihnen doch alles erzählt, oder?"
Michael fuhr sich durch seinen Lockenschopf.
"Ach Gott, dass war ein Theater! Erst haben sie mir wegen Luisa dauernd ins Gewissen geredet. Dann kam die Erkrankung, die ich irgendwann ja nicht mehr verheimlichen konnte, da gab es noch mehr Stress! Ich sollte schon wieder zu ihnen ziehen!"
"Hey, die sind doch eigentlich ganz lieb, deine Eltern! Machen sich bestimmt total Sorgen, oder?"
Monika hatte sie in der Vergangenheit ja kennen und schätzen gelernt. Die Sympathie war immer gegenseitig gewesen.
Ihm schoss durch den Kopf, welch ein Aufwand es tatsächlich war, sie von den eigentlichen Tatsachen fernzuhalten; sein Leben als Vampir zu verschleiern und ihnen trotzdem befriedigende Antworten auf alle Merkwürdigkeiten zu geben.
"Natürlich weiß ich, dass es gut gemeint ist. Aber sei mal ehrlich: Könntest du dir vorstellen wieder bei deinen Eltern unter der Fuchtel zu stehen?"
Sie grinste: "Na, wo du recht hast, hast du recht! Ich glaube, meine Mama würde zur Oberglucke mutieren! Ach Gott, als meine Eltern mitbekamen, dass wir Schluss gemacht hatten, da bekamen die beiden regelrechte Torschlusspanik! So nach dem Motto: Unsere Monika kriegt nie mehr einen mit! Lagen mir dauernd mit dem Thema Heiraten und Kinderkriegen und meiner tickenden biologischen Uhr in den Ohren!"
Erst musste er lachen. "Du Ärmste! Tja, ich glaube, das ist unser Pech als Einzelkinder: Da konzentriert sich alles nur auf eine Person!"
Doch plötzlich verdunkelten sich seine Gesichtszüge und seine Mundwinkel zuckten. Verzweifelt sah er sie an: "Meine biologische Uhr tickt gar nicht mehr." Er schluckte, konnte kaum weitersprechen. "Ich kann keine Kinder mehr zeugen, weißt du..." Jetzt war auch das raus.
Betroffen sah Monika ihn an, nicht ohne auch einen Stich in ihrem eigenen Herzen zu spüren. Mit ihm hätte sie Kinder gewollt! Egal, dass spielte jetzt keine Rolle, jetzt musste sie erst mal für ihn stark sein!
"Mein Gott, Schatz! Es tut mir so leid!" Tröstend strich sie zärtlich über seine Wange.
In seinen Augen blitzte ein Hoffnungsschimmer auf: Sie hatte ihn Schatz genannt, wie früher. Ob er wieder auf eine gemeinsame Zukunft hoffen konnte? In seinem Kopf schwirrten tausend Gedanken und schienen doch nur ein einziges Chaos zu hinterlassen.
"Es ist alles so deprimierend, verstehst du?" Mist, jetzt schossen ihm doch noch Tränen in die Augen.
"Hey, komm’ her..." Liebevoll nahm sie ihn in ihre Arme. Schluchzend ließ er seinen Kopf in ihren Schoß sinken und heulte sich den Frust von der Seele. Sein neues Leben mit all seinen Lügen kostete ihn so unendlich viel Mühe und ihm wurde in diesem Moment schmerzlich bewusst, dass er eigentlich mit seiner Kraft am Ende war.

Plötzlich klingelte das Telefon und Monika seufzte genervt.
Michael rappelte sich auf, fuhr sich durchs Gesicht. "Geh’ ruhig ran."
"Sorry!" Sie stand auf griff zum Telefon. "Ja?... Hi Karo!... Nee, leider nicht, ich kann jetzt nicht quatschen. Sorry, aber ich hab’ gerade Besuch: Michael ist hier... Ja, du hast richtig gehört: Unser verschollener Michael!... Okay, ich ruf’ dich an, ja?... Ja, Ciao!"
Er hatte ihnen Wein nachgegossen, schien sich wieder gefangen zu haben.
"Ihr seid auch schon ’ne halbe Ewigkeit befreundet, Karoline und du, hm?"
"Ja, dass stimmt! Ich soll dich übrigens grüßen! Sie hat im Moment mit ihrem Peter Stress und jammert mir jeden Tag die Ohren voll, weißt du..."
Michael sah sie liebevoll an und strich ihr sanft übers Haar. "Tja, wenn jemand gut zuhören kann, dann du!"
Ihr Blick wurde ernster und man sah förmlich, wie ihr etliches durch den Kopf ging. "Weißt du, Michael, mit dir, dass hat sich immer richtig angefühlt. Ich muss gestehen, es hat mich echt verletzt, dass du mich so sang- und klanglos abserviert hast. Aber du hast ja nicht nur mir vor den Kopf gestoßen, sondern auch den anderen. Es hat keiner verstanden, was da los war. Da kam ja kein Wort der Erklärung!"
Er nickte zustimmend. "Stimmt. Ich weiß, dass ich mich mies verhalten habe. Und am meisten bedauere ich es bei dir, dass musst du mir glauben! Moni, für mich hat sich das mit uns beiden auch immer richtig angefühlt, dass ist mir jetzt umso klarer geworden! Darum hatte ich auch, wie soll ich sagen, na ja, einfach Skrupel dich in mein kompliziertes Leben mit hineinzuziehen! Merkwürdigerweise hatte ich dir gegenüber ein total schlechtes Gewissen. Okay, wir waren ja nicht mehr zusammen, weil ich damals dieses Zusammenziehen und all das Endgültige nicht wollte. Aber trotzdem war da die ganze Zeit, als ich mit Luisa zusammen war, so ein Gefühl, als würde ich dich betrügen, verstehst du? Ach, am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, all den Mist vergessen und noch mal von vorne anfangen können!"
Sein fragender Blick sprach Bände und jetzt saß er da und sah sie an, so als wolle er die Entscheidung über ihre gemeinsame Zukunft in ihre Hände legen. Lag es jetzt allein an ihr? Monika spürte, dass er es ehrlich meinte, dass da wieder der Michael saß, den sie von früher kannte. Nur reifer, entschlossener; wenn auch verzweifelter. Wollte sie ihn wirklich wieder? Mit allen Konsequenzen, die auch so eine Erkrankung mit sich brachte? Ihr ging durch den Kopf, wie sehr es ihr das Herz zerrissen hatte, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Es war nicht zu leugnen, was sie fühlte: Sie liebte ihn immer noch.

Sie redeten noch lange und als Michael in dieser Nacht nach Hause ging, war er erleichtert. Nicht nur darüber, dass Monika ihm geglaubt hatte, sondern auch darüber, dass da wieder etwas in seinem Leben war, was er so sehr vermisst hatte. Etwas Vertrautes.
Er fühlte sich neu verliebt, wäre am liebsten laut singend durch die Straßen getanzt. Zum ersten Mal seit seiner Verwandlung hatte er wieder so etwas wie ein Glücksgefühl, einen euphorischen Adrenalin-Kick. Michael hätte in dieser Nacht die ganze Welt umarmen können.
Als er endlich im Bett lag, bekam er kein Auge zu. Alles, worüber sie gesprochen hatten, die Dinge, über die sie sich ausgesprochen hatten. Ihre Worte schossen ihm durch den Kopf: "Du warst noch nie so ehrlich zu dir selbst!" Damit hatte sie recht. Verdammt recht. Er schwor sich, diesmal alles besser zu machen.

Aber Michael war nicht der Einzige, der schlaflos im Bett lag. Auch Monika hatte so ihre Probleme. Man hatte deutlich gespürt, dass er es ehrlich gemeint hatte, mit dem, was er sagte. Sie hatten sehr viele Dinge klargestellt. Und trotzdem war da dieses instinktive Gefühl, dass er ihr immer noch irgendetwas verheimlichte. Etwas, wovor er soviel Angst hatte, dass er es nicht sagen mochte oder konnte. Das gab ihr zu denken.
Sie beschloss, ihm Zeit zu geben, und vertraute darauf, dass sich die Dinge entwickeln würden.

Sag' mir, wer ich bin


Er liebte die Abenddämmerung, dieses Zwielicht, wenn der Tag sich verabschiedete und die Geborgenheit der Nacht anbrach. Es zog ihn jedes Mal besonders magisch an, wenn der Vollmond mit seinem sanften Licht die Dunkelheit erhellte. So, wie an diesem Mittwoch Abend. Sicher, er hatte, entgegen aller Mythen über Vampire, keine Probleme mit dem Tageslicht, aber seit seiner Verwandlung war er zum Nachtschwärmer geworden.
John hatte mal, ganz unromantisch, gemeint, es läge an der niedrigeren Körpertemperatur, die man als Vampir habe. Dadurch würde man sich bei den kälteren Nachttemperaturen automatisch wohler fühlen. Natürlich wusste Michael auch, dass es für ihn tatsächlich sogar gefährlich werden konnte, sobald sich sein Körper auf über 37 Grad erhitzte. Aber dafür müsste er in diesen Breitengraden schon den ganzen Tag über in der meist sowieso nicht vorhandenen prallen Sonne stehen.
Jetzt, Mitte Dezember, war es merklich kalt geworden.
"Nicht in die Sauna gehen!" hatte John scherzend gemeint. Dessen anfängliche Skepsis schien sich zu legen, nachdem sich Michael bereits einige Wochen mit Monika traf. Manchmal konnte man sich von seinem väterlichen Gehabe schon ein bisschen genervt fühlen. Andererseits war er auch froh, einen so lebenserfahrenen Freund an seiner Seite zu haben. Zu John konnte er wirklich mit jedem Problem kommen, dass wusste er mittlerweile sehr zu schätzen. Dummerweise hatte er Monika erzählt, dass er John kennen gelernt hatte.
"Bring’ deinen Freund doch mal mit! Oder wir machen irgendwas zusammen?" hatte sie vorgeschlagen.
Das war sicher lieb gemeint, aber Michael hatte natürlich Bedenken, denn wie sollte man vernünftig erklären, dass John die gleiche "Krankheit" hatte wie er? Irgendwann würde es unweigerlich auffallen, dass er nur dasselbe essen und trinken konnte. Eine derart seltene Erkrankung und dann noch gleich zwei Betroffene in derselben Kleinstadt? Nein, unmöglich! Er hatte sie dann mit dem Argument besänftigt, dass John ja in Münster in einer Werbeagentur arbeitete und, wenn überhaupt, immer sehr spät abends wiederkam. Die Wochenenden verbrachte er sowieso lieber dort, da in Kiesdorf eh nicht viel los war. Immer diese beschissenen Lügen. Michael seufzte leise vor sich hin, als er, aus der Promenade kommend, in die Straße einbog, in der Monika wohnte.

"Hi, mein Schatz!" Er wurde überschwänglich gedrückt und abgeknutscht.
"Na, der Abend fängt ja gut an!" Er schmunzelte, legte seine Hände um ihre Hüften und küsste sie innig. "Hast du im Lotto gewonnen, den Mann deines Lebens gefunden oder warum sprühst du so vor Energie?"
Sie zog ihn lachend ins Wohnzimmer auf die Couch.
"Tja, wer weiß", schmiegte sie sich an ihn und strich über seine Brust, "vielleicht habe ich den Mann meines Lebens ja schon gefunden?"
Michael tat entrüstet: "Okay! Wo ist der Kerl, wo hast du ihn versteckt? Den mach’ ich fertig, wenn ich ihn erwische!"
Ehe er sich versah, lag er rücklings auf der Couch und wurde kichernd abgeküsst. Ineinander verschlungen, verspürte er ein Glücksgefühl wie schon ewig nicht mehr. Sein Herz schien so laut zu klopfen, dass er nicht wusste, ob es sein oder ihr Herzschlag war. Er sah ihr in die Augen, die ihn voller Zuneigung anschauten, und flüsterte zärtlich: "Ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr!"
Sie kamen nicht mehr bis ins Schlafzimmer.

Es war die erste Nacht, in der er bei ihr blieb. Er genoss es, als sie sich in seine Arme kuschelte und er spüren konnte, wie ihr Herzschlag ruhiger wurde, als sie einschlief.
Ein tiefes Gefühl des Wohlbehagens und der inneren Ruhe erfüllte ihn, als der Schlaf sich ebenfalls seiner bemächtigte und in die Traumwelt zwischen Nacht und Tag entführte.

Doch diese Nacht sollte nicht so wunderschön enden, wie sie begonnen hatte.
Gegen vier Uhr früh wurde er wach, weil er zitterte wie Espenlaub. Irritiert fühlte er den Schweiß auf seiner Stirn, fühlte sich heiß, wie im Fieber. Verdammt! Panisch fuhr er hoch im Bett, versuchte aufzustehen und auf die Beine zu kommen. Diese Schmerzen im ganzen Körper und dieses Schwächegefühl... Oh mein Gott! Ihm wurde schlagartig klar, was los war: Er war so euphorisch gewesen und voller Vorfreude auf den Abend mit Monika, dass er total vergessen hatte, Blut zu trinken. Es war über 24 Stunden her, dass er sich das letzte Mal ernährt hatte. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, bevor sein Zustand sich dramatisch verschlimmern würde. Er musste unbedingt sofort nach Hause.
So leise wie möglich versuchte er, seine Kleidung zusammen zu suchen und, ohne Moni aufzuwecken, aus dem Schlafzimmer zu gelangen. Ein starker Schwindel erfasste ihn und ihm wurde übel. Im Wohnzimmer machte er Licht, zog sich die Jeans an. Doch es wurde schlimmer und er sank stöhnend auf den Boden, krümmte sich vor Schmerzen.
Trotz seiner Bemühungen war Monika wach geworden, hatte ihn im Wohnzimmer gehört und war ihm nachgeeilt.
"Mein Gott, Michael! Was ist los?" Sie fühlte seine Stirn. "Du bist ganz heiß, hast du Fieber?"

Sie war ganz nah, hielt sein Gesicht in ihren Händen.
Plötzlich konnte er nur noch auf ihren Hals starren, sah das Pulsieren ihrer Schlagader. Seine Nasenflügel bebten, als er den kupfernen Geruch ihres Blutes wahrnahm. Mit Erschrecken spürte er, wie sich seine Reißzähne heftig aus dem Zahnfleisch bohrten.
Entsetzt schrie er auf: "Nein!!!" Verzweifelt riss er seinen Kopf zur Seite, stieß sie von sich und verbarg das Gesicht in seinen Händen. "Nein! Bitte!! Geh’ weg..."
"Was? Wieso?" Völlig perplex sah sie ihn an. Warum reagierte er so heftig?
"Michael... Ich will dir doch nur helfen! Was ist denn los? Ist das deine Krankheit?... Sag’ mir doch, was ich tun kann!"

Er weinte. Hilflos sah sie, wie heftiges Schluchzen seinen Körper erschütterte, als er sich langsam umdrehte und an die Wand lehnte. Die Iris seiner Augen war merkwürdig dunkel, während das Weiße sich wie bei einer Lebererkrankung gelblich verfärbt hatte. Er hielt immer noch seinen Mund mit den Händen bedeckt.
"Ich wollte nicht, dass du mich so siehst..." stammelte er. Ihm war anzusehen, welche Schmerzen er hatte.
Ratlos saß Monika vor ihm. "Was heißt dass, so sehen? Brauchst du deine Spezialnahrung, ist es das?"
Mit einem Mal hörte er auf zu schluchzen. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Langsam ließ er seine Hände sinken und sah sie resignierend an.
"Ich brauche Blut. Nur das kann mich retten. Sonst nichts. Menschliches Blut."
Ihre entsetzten Augen starrten auf seine Reißzähne und instinktiv wich sie zurück.
"Was ist das?! Wo kommen die auf einmal her?" Fassungslos sah sie ihn an, fuchtelte hilflos mit den Händen. "Ich versteh’ das nicht..."

Er fühlte, wie die Lebenskraft aus seinem Körper wich. Wie die Angst von ihm Besitz ergriff. In diesem Moment wurde ihm absolut klar, dass er es nicht bis nach Hause schaffen würde und das es nur eine Möglichkeit gab, ihn zu retten.
Sein flehender Blick sah sie bittend an, bevor sein Kreislauf versagte: "Ich bin ein Vampir. Ich wollte dir das ersparen... weil ich dich liebe... verzeih’... mir..."
"Nein! Michael!!"
Erschrocken sah sie, wie er kraftlos zur Seite sank und stöhnend die Augen verdrehte. Sein Körper krümmte sich noch mehr vor Schmerzen.
"Nein, bitte, Michael!! Nicht umkippen!" Panisch ergriff sie seine Schultern und schüttelte ihn. "Wieso Vampir? Was soll der Scheiß?! Michael! Red’ mit mir!"
Mit großer Willenskraft gelang es ihm, die Augen zu öffnen und sich an der Wand etwas aufzurichten. Er ergriff ihren Arm und stammelte: "Wenn du mich retten willst... ich brauche wirklich Blut... nur ein bisschen... vertraue mir... bitte!"

Schlagartig begriff sie, wie ernst er es tatsächlich meinte.
Es war, als würde ihr Verstand plötzlich aussetzen. Sie sah nur noch den Mann vor sich, den sie über alles liebte. Als würde eine unsichtbare Macht sie leiten, hielt sie ihm wie selbstverständlich ihren Arm hin. Ihr Herz raste.
Er umklammerte ihn und sie spürte, wie sich seine Zähne darin vergruben, hörte das saugende Geräusch und schloss ängstlich die Augen. Betete, dass es bald vorbei sein würde.

Eine gefühlte Ewigkeit später ließ er ab und sank auf den Boden.
Sie zitterte am ganzen Leib und starrte auf ihren Arm, aus dem noch ein wenig Blut tropfte. Fühlte sich schwindelig, wie betrunken. Sah ungläubig, wie die Bissstellen begannen, sich zusammen zu ziehen und zu schließen. Als hätte sein Speichel heilende Wirkung. Starrte auf Michael, der regungslos da lag.
Monika hatte das Gefühl, als wäre ihr eigener Atem das einzige Geräusch auf der ganzen Welt.

Geschockt verharrte sie dort, ihm gegenüber, zusammengekauert auf dem Boden vor der Couch. Schaute ihn an und wartete darauf, dass er die Augen aufschlug oder sich irgendetwas tat. Aber er lag da wie tot; sie war sich nicht einmal sicher, ob er noch atmete.
Fragen über Fragen schossen ihr durch den Kopf, ihre Gedanken spielten Chaos. Sollte sie einen Krankenwagen rufen? Aber wie sollte man das erklären? War er wirklich ein Vampir oder in welchem Albtraum war sie gelandet? In ihrem Kopf hämmerte es wie verrückt. Wieder und wieder blickte sie ungläubig auf ihren Arm: Von den Bissstellen war nichts mehr zu sehen, so als hätten sie nie existiert. Hatte sie jetzt den Verstand verloren oder war das Realität?

Ihr war gar nicht bewusst, wie lange sie schon dort saß. Aber irgendwann war sie eiskalt geworden und zitterte am ganzen Leib. "Du musst aufstehen... Steh’ auf! Du musst dich bewegen!... Oh Gott, jetzt rede ich schon mit mir selbst!" Sie fühlte sich schwindelig, schaffte es mit zitternden Knien langsam bis ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Alles fühlte sich irgendwie kalt an. Wie automatisch raffte sie ihre Kleidung zusammen, zog sich an.
Draußen wurde es schon langsam wieder hell. Ihr Blick fiel auf die Uhr: Kurz vor halb acht... um diese Zeit war sie sonst meistens schon im Büro. Aber heute? Ihr Verstand setzte wieder ein: "Ich muss mich krank melden...", murmelte sie vor sich hin und griff zu ihrem Handy, dass auf dem Nachttisch lag, "Ja, Hi, ich bin’s: Du, ich muss mich krank melden, habe wohl eine Magen-Darmgrippe... ja, die halbe Nacht auf dem Klo verbracht... Ja, ich denke auch, ich bleibe morgen am Freitag auch zu hause, dann kann ich mich übers Wochenende so richtig auskurieren. Okay, dann bis nächste Woche. Ciao!"

"Ich glaube, ich muss mich heute auch krank melden."
Sie schrak furchtbar zusammen, als er da so plötzlich im Türrahmen stand. Eben noch hatte er wie tot nebenan gelegen und jetzt stand er einfach da.
"Sorry, ich hab’ Pudding in den Knien, ich müsste mich hinlegen... also, wenn es für dich in Ordnung ist?" Unschlüssig stand er da, wusste anscheinend ebenso wenig wie sie selbst, was er tun sollte.
Ihm war deutlich anzusehen, wie schwach er sich noch fühlte. Und der Blick, mit dem er sie ansah: Es war die pure Angst davor, wie sie auf all das reagieren würde.
"Ja... natürlich kannst du dich hinlegen."
Erleichtert sank er in die Kissen, seufzte leise und strich sich den Schweiß von der Stirn. "Moni, ich..." Weiter kam er nicht.
Sie stand abrupt auf, strich sich verlegen durchs Haar und meinte: "Ich brauch jetzt was Warmes, einen Kaffee. Und du? Soll ich dir deinen roten Tee machen?"
Schon stand sie in der Tür und er sah ein, dass es jetzt keinen Zweck hatte, reden zu wollen.
"Ja, lieb von dir, Danke."
Während sie in die Küche ging, fragte sich Michael, wie es nun weitergehen würde. Eins war ihm nur allzu klar: Wenn er sie noch mal verlieren würde, würde es ihm das Herz brechen.

Jetzt konnte er nur noch darauf vertrauen, dass ihre Liebe zu ihm stärker war als ihre Angst.

Vampir und Wirklichkeit


Er konnte hören, wie sie in der Küche hantierte. Es war okay so, sie musste erst mal alleine sein und ihre Gedanken sortieren. Den Schock verdauen und nicht zuletzt die Tatsache, dass er sie derart angelogen hatte. Ein unglücklicher Seufzer entwich aus seiner Brust: Genau so sollte es nicht laufen! Genug Zeit wollte er ihr geben, sie langsam darauf vorbereiten.
"Ich bin so ein Idiot!" murmelte er vor sich hin. Wie hatte er bloß vergessen können, sich zu ernähren? Wie konnte man so dämlich sein? Dadurch hatte er womöglich alles aufs Spiel gesetzt. Erschöpft fuhr er sich durchs Gesicht, spürte noch das Zittern seiner Muskeln und das seine gesamten Organe noch immer rebellierten. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass er ihr tatsächlich sein Leben verdankte. In Gedanken an die vergangenen Stunden wurde ihm mulmig: Es war ein beklemmendes Gefühl gewesen, da auf dem Boden zu liegen und zu spüren, wie das Leben langsam aus seinem Körper wich. So würde er also sterben können. So qualvoll. Eigentlich hasste er ja sein Vampirleben, aber für Moni... Sie war zum richtigen Zeitpunkt wieder in sein Leben getreten. Ja, für sie wollte er weiter "leben". Wenn sie ihm nicht ihren Arm gereicht hätte... Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen, ihre Verzweiflung förmlich gespürt. Nicht zuletzt auch seine eigene Zerrissenheit, denn er kam sich feige vor, weil er überleben wollte und sich dafür von ihr ernähren musste. Ausgerechnet von ihr. Das tat weh.

Als Monika mit dem Tee wieder ins Schlafzimmer kam, war er vor Erschöpfung eingenickt. Sie sah noch die Träne, die seine Wange hinunter lief.
Leise stellte sie die Sachen ab und holte sich ihren Kaffee aus der Küche. Dann setzte sie sich vorsichtig aufs Bett und betrachtete ihn. Das Aschfahl der Nacht war wieder einer gesunderen Gesichtsfarbe gewichen. Eine Locke seiner dunkelblonden Haare kringelte sich um sein Ohr. Sie liebte alles an ihm: Die meerblauen Augen, seine schönen Lippen, die so lieb lächeln konnten; seine feingliederigen Hände, deren zärtliche Berührungen sie so liebte. Nachdenklich sah sie auf den Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte. Gerade in den letzten gemeinsamen Wochen hatte sie ihn mehr und mehr für das geliebt, was er jetzt zu sein schien: Jemand, der unter seiner schönen Oberfläche so sehr heran gereift und zu einem wertvollen Menschen geworden war. Aber konnte man ihn noch als Mensch bezeichnen? Oder was war er? Aber was war wirklich wichtig? An dem, was er in seinem Herzen war, da hatte sich doch nichts geändert, oder? Vielleicht musste man sein "Vampir-Sein" tatsächlich einfach als unheilbare Erkrankung betrachten und durfte den Menschen, den es dahinter gab, nicht verdrängen? "Ich wollte nicht, dass du mich so siehst!" hatte er gesagt. Wie viel Kraft, so schoss es ihr durch den Kopf, musste es ihn gekostet haben, all das vor ihr geheim zu halten? Darum war er nie geblieben über Nacht, darum wollte er sich lieber bei ihr treffen, wollte noch keinen Kontakt mit der alten Clique.
Als hätte er ihren Blick gespürt, schlug er mit einem Mal die Augen auf, schaute sie erleichtert an, als er sie neben sich sitzen sah und lächelte.
"Moni, Liebes... Danke. Du hast mir das Leben gerettet."
Vorsichtig ergriff er ihre Hand. Sie zog sie nicht weg.
"Wie geht’s dir? Bist du in Ordnung?" Seine Frage klang ehrlich besorgt.
Sie zitterte ein wenig, ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen.
"Du wärst wirklich beinahe gestorben?" Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig.
Es machte Michael traurig, zu sehen, wie sehr sie sich zusammen riss.
"Wenn du mir nicht geholfen hättest... Ja."
"Ich verstehe das nicht... du bist ein... Hab’ ich das richtig verstanden?! Also das gibt es wirklich..."
Er richtete sich ein wenig auf, strich zärtlich über ihre Hand.
"Ja, so etwas gibt es tatsächlich. Leider ist es nicht nur ein Mythos. Ja, ich bin ein Vampir. Auch, wenn ich es nicht freiwillig geworden bin..."
In ihren Augen blitzte eine plötzliche Erkenntnis auf. Instinktiv erahnte sie die Antwort: "Luisa?! Es war diese Frau, richtig? Ich meine, da hat doch all das Merkwürdige mit dir angefangen, oder?"
"Ja, du liegst richtig mit deiner Vermutung!" Sein Lachen klang bitter. "Ich könnte sie dafür umbringen, wenn das noch möglich wäre! Ich wünschte mir wirklich, ich wäre damals nicht so besoffen gewesen, dann hätte ich vielleicht gemerkt, was da abging. Ach, Moni, warum ist bloß alles so gekommen?... Hör zu: Das, was heute Nacht passiert ist, also, du solltest es nie auf diese drastische Art und Weise erfahren, dass musst du mir glauben! Es tut mir so leid, bitte verzeih’ mir, ja?"
Doch da war noch etwas. Sie sah ihn so merkwürdig an. Plötzlich liefen ihr Tränen übers Gesicht.
"Werde ich jetzt auch ... auch ein Vampir?"
"Ach Süße..." Er zog sie in seine Arme und hielt sie liebevoll fest. Sie ließ es zu.
"Um Gottes Willen, natürlich nicht! Ich würde nicht im Traum daran denken, dir so etwas anzutun! Und schau mal: Ich habe doch auch nur soviel von dir getrunken, wie ich zum Überleben brauchte." Er sah ihr in die Augen und strich beruhigend über ihr Haar. "Und Moni, wenn du Nein gesagt hättest, dann wäre ich lieber gestorben, als dir das gegen deinen Willen anzutun! Glaubst du mir das?"
Sie richtete sich ein wenig auf und er konnte deutlich sehen, wie durcheinander sie noch immer war.
Dann sah sie ihn an, als würde sie durch ihn hindurch sehen, weit weg mit ihren Gedanken. Unversehens war es mit ihrer Beherrschung erneut vorbei. Die Tränen liefen ihr hinunter und sie murmelte: "Ich hab’ gedacht, ich werd’ verrückt...!"
Sein Herz blutete bei ihrem Anblick. Zärtlich hielt er sie tröstend fest.
"Ich weiß, mein Engelchen, ich weiß wie viel Angst du gehabt haben musst. Es ist unglaublich, dass du trotzdem den Mut dazu hattest, mir zu helfen. Aber so etwas passiert nie wieder, ich schwör es dir! Dir zu schaden, wäre das letzte, was ich wollen würde, glaube mir! Ich liebe dich! Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt!"

Sie klammerten sich wie zwei Ertrinkende aneinander und gaben sich Halt in einem Ozean voll verzweifelter Gefühle.
Als das Tageslicht sich vollends seinen Weg durch die Jalousie bahnte, beruhigte sich langsam ihr Schluchzen und er spürte erleichtert, wie sie sich entspannte in seinen Armen.

Eine ganze Weile lagen sie so da, sagten nichts und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bis Michaels Blick zufällig auf den Wecker fiel.
"Oh, Mist! So spät schon!"
"Was?" Erschrocken fuhr Monika ebenfalls hoch.
"Nichts, sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber es ist schon kurz vor neun und ich muss Carsten anrufen und mich krank melden."
Er griff zu seinem Handy und wählte die Nummer seines Arbeitgebers Carsten Hansen.
"Ja, Moin Carsten! Du, ich muss mich krank melden... Ja, hat mit meiner Krankheit zu tun, so was wie ’ne Magen- Darmgrippe... Nein, ich denke, ich kann erst Montag wieder kommen. Ja, okay... Nein, der Auftrag ist erst am Montag, da bin ich wieder fit, versprochen... Alles klar... Ja, Danke! Bis dann!"
"Schon kurios." überlegte Moni. "Jetzt hängen wir hier beide herum, mit unserer "Magen-Darmgrippe"! Obwohl, schlapp fühle ich mich tatsächlich noch."
"Tja, irgendwie ironisch!", Michael stimmte zu, "Vielleicht sollten wir’s in "Vampir-Grippe" umbenennen?" versuchte er dann zu scherzen. Und stellte erleichtert fest, dass die Stimmung nun etwas gelöster zu sein schien.
Aber eins lag ihm noch auf dem Herzen: Er sah Monika liebevoll an und bat sie: "Moni, sag’ mir ganz ehrlich, wie es dir jetzt geht, wie du dich fühlst! Ich kann nur hoffen, dass du jetzt keine Angst vor mir hast. Ich weiß, dass all das erst einmal schwer zu verdauen ist. Aber du sollst wissen, dass ich jede Entscheidung von dir akzeptieren werde. Ich könnte gut verstehen, wenn dir ein Leben mit diesem Geheimnis zu viel wäre. Ich meine, ich weiß ja selbst nur allzu gut, wie anstrengend es ist, wie man immer wieder all die Merkwürdigkeiten erklären muss, ohne zu viel preis zu geben. Ich will einfach nicht, dass du unglücklich bist, dass dich so ein Leben überfordert. Auch wenn das heißen würde, auf dich verzichten zu müssen."
Nachdenklich schlug sie die Augen nieder und seufzte vor sich hin, zuckte unschlüssig mit den Schultern.
"Schwer zu sagen."
Ihr hilfloser Blick sagte ihm mehr als alle Worte.
"Ich komme mir vor wie im falschen Film, dass kann man irgendwie alles kaum glauben! Also, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte..." Immer noch fassungslos, blickte sie auf die verschwundenen Biss-Stellen: "Dass ist alles so unwirklich, verstehst du?"
Er nickte verständnisvoll, strich sanft über ihren Arm.
"Das kann ich gut verstehen. Mir ging es damals nicht viel anders."
Er erzählte ihr, wie er in seiner Verzweiflung durch die Kneipen geirrt war, nachdem er seine Situation begriff. Welcher Horror ihn überkam, als er das erste Mal seinen Blutdurst wahrnahm und seine Reißzähne spürte.
"Weißt du, ich war mir selber plötzlich so fremd; hatte panische Angst davor, was ich als nächstes tun würde. Am meisten davor, wie wenig ich es vielleicht würde kontrollieren können. Die schlimmsten Horror-Visionen habe ich mir ausgemalt. Es hat eine ganze Weile gebraucht, bis ich wieder klar denken und handeln konnte." Auffordernd sah er sie an: "Darum bitte ich dich, ganz ehrlich zu sein: Ob du erst mal Zeit brauchst, um dir über alles klar zu werden. Oder ob es dir schon jetzt zu viel Angst macht, oder was auch immer... Bitte: Ich möchte einfach nur dass, womit du dich jetzt am wohlsten fühlst, okay?"
Seufzend sah sie ihn an. "Ich weiß es nicht... ich hab’ das Gefühl, ich kann gar nicht mehr klar denken, verstehst du?"
"Okay." Michael ergriff die Initiative. "Ich sehe doch, wie durcheinander du bist. Ich hoffe inständig, du weißt, wie leid mir das tut. Es ist wohl am besten, wenn ich dich alleine lasse, damit du nachdenken kannst, zur Ruhe kommen kannst. Mir geht’s sowieso noch nicht so gut, ich muss nach Hause und trinken. Also... am besten, ich gehe jetzt und du rufst mich an, wenn du dazu bereit bist. Ich bin ja eh daheim bis Montag. Wäre das so in Ordnung für dich?"
Erschöpft sah sie ihn an, nickte zustimmend. "Ja, stimmt. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich."
Besorgt tätschelte Michael ihre Wange: "Ist mit dir alles in Ordnung? Geht’s dir körperlich gut? Du musst gleich was essen, ja? Nicht, dass du mir umkippst, okay?"
"Ja, ich werde gleich erst mal frühstücken... gute Idee."
"Kann ich dich alleine lassen?"
Ein flüchtiges Lächeln erhellte ihr immer noch blasses Gesicht. "Alles in Ordnung, mach’ dir keine Sorgen."
"Okay... Moni, ich werde dich nicht anrufen, weil ich denke, du brauchst jetzt wirklich erst mal ein wenig Abstand. Aber ich bitte dich inständig, dich sofort zu melden, wenn irgendwas ist! Kann ich mich darauf verlassen?"
Sie stand vom Bett auf. "Alles klar. Geht schon. Ich melde mich spätestens Sonntag Abend bei dir."
Er zog seinen Pullover an. "Versprochen?"
"Versprochen."
"Gut, dann geh’ ich jetzt mal..."
Es war ein merkwürdiges Gefühl, als sie dann an der Tür standen, er sich seine Jacke anzog und sie sich fast wie zwei Fremde und nicht wie zwei Liebende verabschiedeten. Michael seufzte innerlich. Es schmerzte.

Donnerstag Abend. Ob John zu Hause war? Er brauchte jetzt einen Freund zum Reden. "John, Hi! Können wir uns treffen? Ich hab’ Mist gebaut..."
Eine Stunde später saßen sie in Michaels Wohnung zusammen und er erzählte, was vorgefallen war.
"Hör zu", John sah ihn verständnisvoll an, "ich weiß, wie schwer dass alles für dich ist, für euch beide! Ich denke, du musst ihr einfach Zeit geben. Zeit, zur Besinnung zu kommen, alles richtig zu überdenken. Es ist immer sehr unangenehm für einen Sterblichen, diese Wahrheit zu akzeptieren. Das beinhaltet ja auch immer die Angst davor, wie man damit wird umgehen können, ohne einem der Beteiligten zu schaden."
"Hört sich an, als hättest du entsprechende Erfahrung? Hattest du eigentlich mal was mit einer Sterblichen? Weil du noch nie von so einer Beziehung gesprochen hast, meine ich?"
"Na, was denkst du? Ich werde schließlich schon 211 Jahre alt im Januar! 17.01.1797."
"Was?! Wow... Mir war nicht wirklich bewusst, wie alt du schon bist! Sag’ mal, aber du hast doch nicht immer hier in unserem Kaff gelebt, oder? Das würde doch auffallen, wenn du nicht alterst."
John schmunzelte: "Ich habe schon drei Mal meine Identität gewechselt. Mit dem Thema wirst du dich auch irgendwann befassen müssen."
"Hm, ich vermute mal: Dann ist Johann Marquard wohl auch nicht dein richtiger Name, oder?"
"Mein spitzfindiger Freund!" John lachte. "Nein, das ist nicht mein richtiger Name, da hast du recht. Eigentlich stamme ich aus Schottland, weißt du..."
"Ach, sieh mal einer an! Daher deine Vorliebe für schottischen Whiskey! Und: Verrätst du mir deinen richtigen Namen?"
Ein breites Grinsen überzog nun Johns Gesicht. Erst schien er zu hadern, doch dann meinte er: "Na gut, weil du es bist! Aber nicht lachen, versprochen?"
"Wieso sollte ich lachen?" Irritiert, aber umso neugieriger sah Michael ihn an: "Okay: Versprochen!"
John räusperte sich, dann murmelte er, kaum hörbar: "MacGyver, Seán Aonghus MacGyver..."
"Nein!!" Michaels schallendes Gelächter war noch drei Blocks weiter zu hören. Und es tat gut, über etwas lachen zu können.

Er fühlte sich etwas erleichtert, nachdem John gegangen war. Einen Freund wie ihn zu haben war Gold wert in seiner Situation. Es gab da ja noch diese zwei anderen Vampire in Kiesdorf, aber die kannte er nur flüchtig. Sie hatten allerdings auch einen sehr zwielichtigen Ruf, trieben in größeren Städten ihr Unwesen. Mit denen wollte er lieber nichts zu tun haben, denn die bissen wirklich zu!
John hingegen schien sich immer für ihn verantwortlich zu fühlen. "Soll ich lieber hier bleiben am Wochenende? Oder kann ich dich alleine lassen?" hatte er besorgt gefragt. Michael konnte ihn beruhigen, er würde zurecht kommen. "Aber wenn was sein sollte, dann kannst du mich jederzeit per Handy erreichen, okay?" hatte John im Hinausgehen noch angeboten.
Das war John: Ein hilfsbereiter lieber Kerl.

Als er dann eine viertel Stunde vor Mitternacht alleine auf seinem Sofa saß, war er mit einem Mal hellwach. Er dachte an Monika und fragte sich, wie es ihr jetzt wohl gehen mochte. Den ganzen Nachmittag war er schon versucht gewesen, sie anzurufen. Aber es wäre sicher nicht richtig, sie jetzt zu bedrängen, so durcheinander, wie sie gewesen war. Andererseits machte es ihn halb verrückt, nicht zu wissen, was los war. Sie wollte sich spätestens am Sonntag Abend melden, hatte sie gesagt. Bis dahin war es noch eine halbe Ewigkeit. Er seufzte laut vor sich hin. "Ach Moni..." In solchen Momenten bekam der Begriff Ewigkeit eine ganz andere Dimension.

Monika hatte überall die Heizung aufgedreht, sich wieder ins Bett gesetzt und den warmen Kaffee geschlürft. Versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Was aber nicht gelang. Wenigstens wurde es ihr langsam wärmer. Sie beschloss zu frühstücken und setzte sich in die kleine Küche an den Zweiertisch; unschlüssig, worauf sie eigentlich Hunger hatte. Aber Michael hatte schon recht, sie musste was essen, denn sie fühlte sich ziemlich matt. Nach einem reichhaltigen Müsli und noch einem Kaffee wurde es auch tatsächlich besser. Nur das Chaos in ihrem Kopf blieb hartnäckig zurück. So saß sie wie Falschgeld dort an ihrem Tisch und starrte mit leerem Blick durchs Fenster nach draußen. Es hatte zu schneien begonnen. Sie liebte es, wenn pünktlich zu Weihnachten Schnee fiel. Aber jetzt war es ihr einfach egal. Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten ließ sie die Sachen auf dem Küchentisch stehen und ging zur Couch, setzte sich, schaltete den Fernseher ein und begann, herum zu zappen. Sie musste sich ablenken, sonst würde ihr noch total schwindelig werden, von all den Gedanken, die in einer Endlosschleife durch ihre Hirnwindungen rasten.

Freitag Mittag. John saß in Münster in seinem Büro und brütete über einer Kampagne. Doch so ganz war er nicht bei der Sache, denn immer wieder schweiften seine Gedanken ab zu Michael. Der war als Vampir ja noch grün hinter den Ohren und er fühlte sich deshalb verantwortlich für ihn. Abgesehen davon hatte er ihn gleich ins Herz geschlossen und war froh, endlich mal einen netten "gleichaltrigen" Freund gefunden zu haben. In der relativ kurzen Zeit, in der sie sich jetzt kannten, war eine echte Vertrautheit entstanden, eine wirkliche Freundschaft, und die war selten genug unter Vampiren. Aber Michael war ein herzensguter und ehrlicher Typ, halt jemand, den man gerne zum Freund haben mochte. Er schmunzelte in Gedanken an sein herzhaftes Gelächter, als es um seinen richtigen Namen MacGyver ging. Seit Michael wieder mit Monika zusammen war, war er soviel fröhlicher geworden und das gönnte er ihm von ganzem Herzen. Aber jetzt das... Er konnte sich gut vorstellen, wie geschockt Monika gewesen sein musste. Ein echtes Desaster und er konnte nur hoffen, dass sie die Umstände akzeptieren würde, sonst sah es schlecht aus für seinen Freund. John fuhr sich durchs Gesicht und seufzte leise vor sich hin. Er selbst hatte schon ewig keine feste Beziehung mehr gehabt und in solchen Momenten wurde ihm schmerzlich klar, wie sehr er sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte.
Wie sehr er... aber Nein, in jenes Geheimnis konnte er Michael auf keinen Fall einweihen.

Michael versuchte unterdessen sich abzulenken und befasste sich mit seinen Fotoarbeiten und deren Nachbearbeitungen am PC. Er liebte seinen Job als Fotograf und die zufriedene Kundschaft sprach für sich. Er habe einen guten Blick fürs Detail, hatte sein Chef ihm letztens noch bestätigt, und das er in seinen Portraitarbeiten stets den eigentlichen Menschen dahinter sehr gut erfassen würde. Ja, dass war tatsächlich Michaels Stärke und seine Menschenkenntnis hatte sich auch gerade durch seine Arbeit im Laufe der Jahre erweitert. Er träumte oft davon, sich selbständig zu machen, Ausstellungen zu haben. Ach ja, dass waren schöne Träume!
Vertieft in seine Arbeit, gelang es ihm tatsächlich, auf andere Gedanken zu kommen. Als es gegen halb vier plötzlich klingelte, schrak er hoch und ging, noch ganz in Gedanken, an die Tür und öffnete. "Moni?!"
Da stand sie mit einem Mal vor ihm. Sie sah aufgewühlt aus.
"Ich will, dass du mir alles erzählst, alles erklärst! Ich will das alles verstehen, hörst du?!" Schon rauschte sie an ihm vorbei, setzte sich aufs Sofa und sah ihn auffordernd an.
Michael fühlte sich überrumpelt. "Moni, ähm, ja, klar... Hey, willst du nicht erst mal deine Jacke ausziehen?"
Sie machte einen übernächtigten Eindruck.
Er nahm ihr die Jacke ab, dann meinte er: "Wie wär’s, ich könnte nicht nur eine Pause, sondern auch einen Tee vertragen; kann ich dir einen Kaffee machen? Und dann reden wir in aller Ruhe, ja?"
Monika schien sich schon zu beruhigen und nickte zustimmend. Sie stand auf und folgte ihm. "Hast du noch Cappuccino da?"
"Ja, steht noch welcher oben im Schrank."
Während er den Tee vorbereitete, füllte sie den Wasserkocher und bediente sich beim Cappuccino. Dann setzten sie sich wieder aufs Sofa.
"Gut...", begann Michael, etwas unsicher, wo er nun beginnen sollte, mit all den Erklärungen, "was genau willst du denn wissen? Ich meine, wie ich ein Vampir geworden bin, hatte dir ja schon erzählt."
"Ich weiß. Aber alles andere, was es denn nun bedeutet, ähm, wie soll ich sagen..."
"Du meinst vielleicht, was es im Alltag für Konsequenzen hat? Oder was du unbedingt wissen müsstest, damit es keiner erfährt? Also, worauf man achten muss, oder so was?"
"Ja, zum Beispiel das Blut, dass du trinken musst: Wo es herkommt, wie du es bekommst? Du hast gesagt, du bist nicht so einer... du weißt schon..."
Michael konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. "Du meinst, keiner von der gefährlichen Sorte, der tatsächlich Menschen beißt!"
"Ja! Mensch, jetzt guck mich nicht so an!" Sie klang leicht aggressiv.
Er seufzte und versuchte, gelassen zu bleiben. "Dir ist schon noch bewusst, dass ich dich niemals gebissen hätte, wenn es nicht um mein Leben gegangen wäre? Und um das noch mal klar zu stellen: Ich hätte es auch niemals getan, wenn du Nein gesagt hättest! Im übrigen war es das erste Mal nach Luisa, dass ich überhaupt einen Menschen gebissen habe."
Erstaunt sah sie ihn an: "Ihr habt euch... gebissen?"
Michael schüttelte heftig seinen Kopf: "Nein, nicht in dem Sinne! Das verstehst du falsch, also, wir haben uns nicht ständig voneinander ernährt. Sie hat mir nur gezeigt, wie man zubeißt, ohne jemanden ernsthaft zu verletzen, verstehst du? Na ja, falls man es wirklich mal tun muss oder darf..."
"War auch wohl gut so..." meinte Monika gedankenvoll. "Okay. Und wie kommst du nun an das Blut?"
Nachdenklich fasste Michael sich ans Kinn. "Hm, eigentlich könnte John dir vieles besser erklären, er hat schließlich die längere Erfahrung..." Weiter kam er nicht.
Entgeistert sah sie ihn an. "John? Das heißt, dieser Freund von dir, der angeblich nie Zeit hat, ist auch ein Vampir? Ich fasse es nicht! Wie viele gibt’s denn hier von euch?!"
Es tat ihm weh, wie sie das so sagte "von euch", so als würde er schon nicht mehr zu ihrem Leben dazugehören. Aber er ließ es sich nicht anmerken.
"Ja, Sorry, konnte ich dir ja nicht unbedingt sofort auf die Nase binden, oder? John ist auch ein Vampir und wirklich zu einem guten Freund geworden; immer mit Rat und Tat für mich da, weißt du. Er ist übrigens schon 200 Jahre alt, kannst du dir das vorstellen? Wahnsinn, oder? Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Es gibt hier in Kiesdorf außer John und mir noch zwei weitere Vampire. Aber die sind zum Beispiel von der Sorte, vor denen du dich in Acht nehmen solltest, und das meine ich ernst! Die sind Vampire im übelsten Sinne und beißen Menschen. Zum Glück sind sie nicht hier unterwegs."
"Ach du Scheiße...", entfuhr es Monika entsetzt, "Kenne ich die?"
"Ich glaube eher nicht." Michael konnte sie beruhigen, nannte ihr dann aber doch die Namen, damit sie gegebenenfalls achtsam sein konnte. Sie kannte sie tatsächlich nicht. "Weißt du, ich bin froh, auf John gestoßen zu sein." fuhr er dann fort. "Im allgemeinen, und da traue ich seiner Erfahrung, gibt es in der Regel eher keine blutrünstigen Vampire, sondern so eine Art Verhaltenskodex, nach dem sich alle richten. Also, keinem Menschen zu schaden und so was. Na ja, es sei denn, derjenige macht das freiwillig. Das gibt’s natürlich auch. Jedenfalls sind die Tatsachen meist weit entfernt von all dem schauerlichen Zeug in Filmen und Literatur. Würden sich alle so blutrünstig verhalten, wäre ja auch die Gefahr der Entdeckung zu groß, verstehst du? Kurz umrissen: Es gibt eine ausgeklügelte Organisationsstruktur, in der für alles gesorgt ist: Verbindungen, um Blut zu beschaffen und die Verteilung. Es gibt Mittelsmänner, überall bei der Polizei und allen wichtigen Behörden, falls man mal eine neue Identität braucht oder sonstigen Schutz. Mediziner, die eingeweiht oder selber Vampire sind. Na ja, alles was man so braucht. Da könnte John dir bestimmt viel erzählen, er hat schon dreimal eine neue Identität angenommen."
"Weil er Mist gebaut hat?" wurde Monika hellhörig.
Er lachte. "Nein! Aber man kann schließlich nicht ewig 30 Jahre alt bleiben, dass fällt irgendwann auf, oder?"
"Ach so, ja klar. Gibt es eigentlich in jeder Stadt Vampire oder nur in bestimmten Gebieten?"
"Hm, eigentlich überall, soweit ich weiß. Warum fragst du? Macht dir das Angst?"
Sie schien unschlüssig. "Na ja... ehrlich gesagt, ist es einerseits schon ein merkwürdiges Gefühl. Wie soll ich das sagen... Also, wenn man zum Beispiel sicher sein könnte, dass sich alle an diesem Verhaltenskodex orientieren, wäre es natürlich Blödsinn, sich deswegen verrückt zu machen. Aber andererseits sagst du ja selbst, dass es tatsächlich auch welche gibt, denen das völlig egal ist und die womöglich auch in Kauf nehmen Menschen zu töten, wenn ich das richtig verstehe. Ich meine, du hast mich ja nicht umsonst vor den beiden hier in Kiesdorf gewarnt."
Michael war ernst geworden. "Richtig. Das ist leider eine Tatsache, mit der die Guten von uns erheblich zu kämpfen haben. Es ist wie mit so einigen Dingen im Leben: Mag das Ganze vielleicht gut sein, so wird eine Sache doch immer schneller an ihren negativen Auswüchsen gemessen und es ist umso schwerer, den guten Ruf wieder herzustellen."
"Weißt du was: Wenn man den Gedanken weiter spinnt, dass es nur gute Vampire gibt, dann gäbe es ja auch keinen Grund mehr, alles geheim zu halten, denn dann gäbe es ja auch genauso keinen Grund mehr, Angst zu haben. Es würde eine problemlose Integration ermöglichen."
Michael blickte nachdenklich vor sich hin. "Ein schöner Gedanke! Das würde einem viele Missverständnisse und Einsamkeit ersparen..."
"Ich glaube, ich verstehe jetzt erst so richtig, warum du den Kontakt zu uns allen abgebrochen hattest. Denn, einfach so weiterleben wie vorher... mein Gott, ist das alles kompliziert! Wenn ich mir überlege, wie du die ganze Zeit alles vor mir geheim halten musstest; besonders, wenn ich mal hier war. Man wird ja automatisch zum genialen Lügner, oder?"
"Weißt du noch, der eine Abend, als wir zu Anfang wieder zusammen waren und du plötzlich meintest: "Zeig’ mal deine Spezialnahrung, wie sieht die denn aus?". Darauf war ich total nicht vorbereitet und wusste absolut nicht, was ich tun sollte. Mir wurde siedend heiß, denn ich konnte dir ja schlecht eine Blutkonserve aus der Kühlung holen und zeigen!"
Monika kicherte in Erinnerung an die Situation. "Ich weiß noch! Du warst plötzlich ganz komisch und ich dachte, ob dir das wohl peinlich ist oder das Zeug vielleicht so eklig aussieht oder was auch immer. Jedenfalls merkte ich direkt, dass es anscheinend nicht das Knaller-Thema war!"
Er grinste: "Du hast dann –Gott sei Dank!– gemeint, wäre auch nicht so wichtig oder so was... man, dass war vielleicht ’ne blöde Situation!"
Sie schien ihre Scheu vor der Sache überwunden zu haben und sah ihn neugierig an: "Sag’ mal, wie ist eigentlich, wenn du das Blut trinkst? Ich meine, schmeckt das nicht eklig? Ich kann mir das gar nicht vorstellen!"
Michael musste schmunzeln. "Ach, kann ich nicht sagen. Du musst bedenken, dass ich einen veränderten Stoffwechsel habe und das bedeutet auch einen veränderten Geschmackssinn. Für mich schmeckt es irgendwie ganz normal, verstehst du?"
Sie sah ihn an und er konnte eine Art Erleichterung in ihren Augen sehen. "Ach, ist ja auch nicht so wichtig. Darüber müssen wir uns in Zukunft ja keine Gedanken mehr machen!"
Ihm war, als würde jemand nach seinem Herzen greifen und es für einen Moment so fest zusammendrücken, dass es aufhörte zu schlagen. Was meinte sie damit? Sollte das etwa bedeuten, dass sie trotz allem eine gemeinsame Zukunft sah?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, rückte Monika nun ganz nah heran an ihn und überlegte: "Das wird schwer, es allen zu verheimlichen, was du wirklich bist. Vor allem bei Karo; wir haben uns immer alles erzählt, hatten nie Geheimnisse voreinander. Würde dir doch mit deinem besten Freund Thomas genauso gehen, oder?"
Michael sah in ihre Augen, in denen er wieder die alte Vertrautheit und Zuneigung sehen konnte und ergriff ihre Hand. Die Erinnerung an ihre letzte gemeinsame Nacht schien ihn mit einem Mal zu überwältigen und er kämpfte plötzlich mit den Tränen.
"Weißt du, für einen Moment habe ich wirklich überlegt, einfach da liegen zu bleiben und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Einfach zu sterben und endlich würde alles vorbei sein, mit all den Lügen und all dem. Tot war ich ja schon mal gewesen, dass machte mir keine Angst mehr. Aber dann... dann konnte ich nur noch an dich denken und fühlte diese Sehnsucht und dachte, wenn ich jetzt einfach sterbe, dann kann ich ihr ja nicht mal mehr vernünftig erklären, was eigentlich los war! Ich dachte daran, wie sehr ich dich liebe und das ich für dich weiterleben will, verstehst du?"
Sie sah die Verzweiflung in seinen Augen, konnte seine Zerrissenheit fast körperlich spüren. Und sie sah noch etwas: Sein ehrliches Bemühen. Er war bereit, nur für sie, weiter dieses komplizierte Leben auf sich zu nehmen. Das seine Liebe zu ihr über allen Problemen stand und er dafür alles tun würde.
Ihre Finger glitten über seine Wangen und wischten liebevoll die Tränen fort.
"Ich glaube dir. Und ich bin bereit, dass gemeinsam mit dir durchzustehen, dieses ganze Lügengebäude aufrecht zu erhalten, allen anderen gegenüber. Zusammen schaffen wir das. Weil ich dich auch liebe!"
Er schluckte, kämpfte mit seiner Fassung. Auch Monikas Mundwinkel zitterten verdächtig. Doch dann gab es kein Halten mehr und sie fielen sich beide weinend in die Arme.
"Ich hatte solche Angst... ich hatte solche Angst..." murmelte Michael und drückte sie fest an sich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beide wieder beruhigt hatten.

Schatten der Vergangenheit

John freute sich: Michael hatte ihn zum Kaffeetrinken am Samstag Nachmittag bei sich eingeladen, zusammen mit Monika! Er hatte sich erleichtert angehört, am Telefon, und die Sache zwischen ihm und seiner Freundin schien wieder in Ordnung zu sein. John war gespannt darauf, sie kennen zu lernen und so stand er am Samstag, pünktlich um 15:00 Uhr, im Hauseingang und klingelte.
Bevor Michael reagieren konnte, war Monika schon an die Tür geeilt und öffnete.
Da stand John, genau so wie ihr Freund ihn ihr beschrieben hatte: 1,82m groß mit sportlicher Figur, männlichen und doch sensiblen Gesichtszügen, aus denen sie zwei freundliche rehbraune Augen anlächelten, umrahmt von dunkelbraunen halblangen Haaren mit einem leichten rötlichen Touch. Wow... schoss ihr durch den Kopf, ein gutaussehender Mann! Man würde niemals einen zweihundert Jahre alten Vampir dahinter vermuten.
Sie lächelte: "Hi John, komm doch rein!" Dann grinste sie und witzelte: "Ich beiße nicht!"
John lachte amüsiert und meinte: "Oh, da bin ich ja beruhigt! Nett, dich kennen zu lernen!" Dann zog er, ganz Kavalier der alten Schule, eine Rose hinter seinem Rücken hervor und überreichte sie ihr. "Mylady! Bitteschön!"
Monika freute sich über die nette Geste und suchte nach einer Vase, während Michael seinen Freund an den Kaffeetisch bat.

Michael hatte recht gehabt, dachte sie: Es war einfach, sich mit John sofort wohl zu fühlen. Nicht nur, dass er sehr sympathisch wirkte, er hatte irgendwie etwas faszinierendes an sich, eine ganz besondere Präsenz; einfach Charisma.

Ein Gespräch kam schnell in Gang. John erklärte so einige Dinge und erzählte aus seiner Erfahrung. Dabei gab es neben interessanten Informationen auch viel zu lachen, als er von so einigen kuriosen Missverständnissen und Peinlichkeiten berichtete. Das seine Freundin förmlich an Johns Lippen klebte, entging Michael nicht und er spürte so etwas wie Eifersucht in ihm hochsteigen.
Monika kam auf Johns Alter zu sprechen: "Sag mal, du bist wirklich schon zweihundert Jahre alt?"
"Ja, richtig. Ich wurde am 17.01.1797 in Schottland geboren." Er sah, wie Monika zu grinsen begann und kam ihr zuvor. "Und ja, ich heiße MacGyver!"
"Aber er kann nicht aus einem Kugelschreiber eine Bombe basteln!" schmiss Michael in die Runde und sorgte für Gelächter.
"Oh man", meinte Monika dann, "ich mag mir das gar nicht vorstellen: Zweihundert Jahre! Wenn ich da so darüber nachdenke, du hast bestimmt schon viele Menschen verloren, die du geliebt hast, oder?"

Johns Augen waren plötzlich traurig geworden und mit einem Mal sah man ihm sein wahres Alter irgendwie an. Er sah bedrückt aus, als er tief Luft holte und zu erzählen begann: "MacGyver, das ist eine abgewandelte Form unseres alten Clan-Namens. Ursprünglich hieß es "MacIver", aus dem alten Gälischen "Mac Iomhair". Unser Familienwappen war der Kopf eines Keilers und unser Motto hieß: "Nunquam Obliviscar: Ich werde niemals vergessen". Und das kann ich auch wohl nicht, da könnte ich noch so alt werden... Wisst ihr, ich habe soviel erlebt, soviel gesehen, was ich lieber nicht gesehen hätte; da reicht keine Zeit der Welt, um das alles zu vergessen, geschweige denn, es zu verarbeiten."
Monika sah ihn mitleidig an: "Es kommt ja auch noch immer mehr dazu! Ich meine, für unsereins ist es ja schon in einem Leben schwer, mit allem klar zu kommen. Aber in mehreren Leben..." Sie blickte nachdenklich auf Michael, so als ob ihr erst jetzt die wirkliche Tragweite seines Vampir-Daseins bewusst werden würde.
"Wenn du 1797 in Schottland geboren bist, wie hast du denn damals gelebt? Du hast noch nie soviel darüber erzählt, wie war das?" wollte Michael wissen.
"Ich bin in Glen Lyon geboren, wo die MacIvers auch ursprünglich herstammen. Aber der eigentliche alte Clan mit seinen Familien-Zweigen lebte sehr verstreut, ohne festes Stammland, also Ländereien. Da die MacIvers 1685 eine Rebellion gegen König James VII. unterstützten, wurden ihnen sämtliche Ländereien weggenommen. Das war Duncan MacIver, bekannt als MacIver of Stronshiray und Landherr von Lergechonzie, mein Ururgroßvater. Nach der erfolgreichen Revolution 1688 wurden dem MacIver-Clan, also meinem Urgroßvater Duncan jun., die alten Eigentumsrechte wiedergegeben, allerdings unter der Bedingung, dass er und seine Erben von nun an den Namen und das Wappen der Campbells tragen müssten. Daher war mein Urgroßvater der letzte der MacIvers. Mein Großvater hieß dann schon Campbell und mein Vater Hannroai "Henry" Campbell nahm den alten Namen MacIver wieder an und ging nach Glen Lyon zurück, wo ich dann geboren wurde."
"Und, ist das in Schottland passiert, bist du da zum Vampir geworden?" wollte Monika wissen.
Abrupt stand John auf. "Sorry, ich muss mal eben den Tee wegbringen..." Schon war er zur Toilette verschwunden.
Michael beugte sich zu Monika herüber und flüsterte: "Lass die Frage lieber! Da ist irgendwas, worüber er nicht reden will oder kann, keine Ahnung. Jedenfalls muss da was gewesen sein, was er niemandem anvertrauen mag, okay?"
"Oh, alles klar. Wusste ich ja nicht. Danke für den Hinweis! Ähm, ich mache noch mal Tee, ja?"
Monika verschwand in der Küche, gerade als John wieder herein kam.
"Sagt mal, ihr Zwei: Habt ihr nicht Lust nach Münster zu fahren, zum Weihnachtsmarkt?"
"Habe ich da Weihnachtsmarkt gehört?" ertönte es prompt aus der Küche.
"Also von mir aus, ich hätte auch wohl Lust dazu!" meinte Michael.
"Okay, dann brauche ich ja keinen Tee mehr zu kochen, oder?"
"Nein!" John lächelte und deutete eine galante Verbeugung an, "Wir werden Mylady dann einen Glühwein kredenzen, wenn es Mylady recht ist?"
"Oh, es ist, es ist!" Kichernd ging sie auf seine Art ein.
Michael fand, es war an der Zeit, sich dazwischen zu stellen. "Nicht, dass du mir seinem aristokratischen Charme erliegst?!"
"Verzeiht mir, edler Freund. Nichts liegt mir ferner, als Euch die Dame eures Herzens abzuwerben!" Wenn John einmal in Fahrt war, war er nicht zu bremsen!
Monika schüttelte lachend den Kopf. "So, Jungs, und jetzt beruhigen wir uns alle wieder! Auf nach Münster! Wer fährt?"

Es machte Spaß auf dem Weihnachtsmarkt und Monika zerrte ihre beiden Begleiter von einem Stand zum nächsten.
"Du kaufst noch den halben Weihnachtsmarkt leer! Lass den anderen Leuten auch noch was!" Michael beschwerte sich schon scherzeshalber.
John grinste und meinte hinter vorgehaltener Hand zu ihm: "Ich fürchte, in zweihundert Jahren haben sich die Frauen nicht wesentlich geändert!"
"Was habt ihr da zu lästern?" Prompt wurde Monika hellhörig.
"Och, nichts!" kam es wie aus einem Munde zurück.
"Ja, schon gut!" lachte sie. "Verschwört euch ruhig gegen mich! Aber wisst ihr was: Ich habe Hunger, lasst uns mal essens-technisch was suchen! Ne Bratwurst so."
"Ist wohl auch besser so!" frotzelte Michael. "Sonst bist du gleich vom Glühwein sofort besoffen!"
"Ist für euch eigentlich irgendwas dabei, was ihr essen könnt?" überlegte Monika.
"Ich kann eigentlich fast alles essen, aber für Michael glaube ich eher nicht." meinte John, "Letztens war ich allerdings abends mit meinen Kollegen hier, da haben wir einen netten Rotwein-Stand gefunden. Da könnten wir anschließend hin, okay?"
Monika wurde neugierig: "Wie? Du kannst alles essen? Wieso ist das bei Michael nicht so?"
John erklärte es ihr: "Nun, es dauert sehr lange, bis sich der Stoffwechsel richtig umgestellt hat. Dann kannst du irgendwann fast alles vertragen. Bei mir hat es fast drei Jahre gedauert."

Sie wollten gerade weiter, als hinter ihnen eine Stimme erscholl: "Michael? Michael! Moni! Hey, wartet mal!"
Als sie sich umdrehten, sahen sie Thomas Gerber auf sich zulaufen, Michaels besten Freund. Er war mit seiner Schwester Melanie und seiner Freundin Anne unterwegs.
"Hey, du treulose Tomate!" grinste Thomas, als er vor Michael stand. Er schien nicht sauer zu sein. "Mensch, da muss man zum Weihnachtsmarkt nach Münster, um dich mal wiederzusehen! Alter, wie geht’s dir? Moni hat uns ja schon aufgeklärt, was mit dir los war!"
Erleichtert fiel Michael seinem Freund in die Arme. "Mensch, Tommy, wie schön!" Dann drückte er Melanie und Anne. "Wie schön, euch alle wiederzusehen!" Er stellte ihnen John vor, als seinen Leidensgenossen bezüglich seiner "Krankheit" und bemerkte amüsiert, wie fasziniert Melanie ihn ansah.
Man merkte deutlich, wie gut Michael und Thomas bereits befreundet gewesen waren, denn sie waren sofort in ein Gespräch vertieft und vergaßen alles um sich herum.
"Siehst du!" meinte Monika zu Anne. "Was habe ich gesagt? Wenn die beiden wieder aufeinander treffen, dann sind wir abgeschrieben!"
Das bekam Thomas mit und verteidigte sich: "Na, hör mal, schließlich haben wir uns ja auch eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen!"
"Ist ja gut! Wir gönnen es euch!" besänftigte Anne ihn. "Und außerdem können wir Mädels auch alleine Spaß haben, habe ich recht?"
John blickte schmunzelnd auf Michael und Thomas, dann auf Moni und Anne, die sich bereits eingehakt hatten und stellte kapitulierend fest, indem er Melanie seinen Arm darbot: "Tja, so wie es aussieht, liebe Melanie, bleiben wir zwei Hübschen als Zweierpack übrig! Also: Gnädige Frau, darf ich’s wagen, Arm und Geleit Ihnen anzutragen?"
Auch wenn die ungewohnte Ausdrucksweise sie ein wenig irritierte, nahm Melanie sein Angebot aber lächelnd an und Monika meinte auch schon: "Lass dich von John nicht verwirren, er redet öfter so aristokratisch daher! Aber er ist harmlos!"
Sie lachten und John schlug vor: "Wie sieht es aus? Gehen wir zum Rotwein-Stand?"
Gemeinsam marschierten sie gut gelaunt los, einem feucht-fröhlichen Abend entgegen!


Fortsetzung in Teil 2: Seán aus Glen Lyon

Impressum

Texte: Orelinde Hays
Bildmaterialien: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2009

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