Cover

 

Engel brauchen keine Flügel




Julia hatte sich schon an der Kasse im Supermarkt nicht besonders gut gefühlt. Und jetzt stand sie mit dem Einkaufswagen vor ihrem Auto und hielt sich krampfhaft daran fest. Immer öfter kamen in letzter Zeit diese unangenehmen Schwindelanfälle: Ihr war furchtbar übel und für einen Moment schloss sie die Augen, versuchte langsam und ruhig durchzuatmen.
Etliche Menschen liefen an ihr vorbei, doch niemanden kümmerte es.
"Verzeihung..." hörte sie plötzlich. "Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?"
Sie blickte auf und sah in die freundlichen Augen dieses Mannes, der sie angesprochen hatte.
Sanft hatte der seine Hand auf ihre Schulter gelegt und meinte: "Kommen Sie... Ich glaube, wir schließen jetzt erst einmal Ihren Wagen auf, damit Sie sich hinsetzen können - was halten Sie davon?"
Es war ihr alles egal in diesem Augenblick: Sie ließ sich von ihm die Wagenschlüssel aus der Hand nehmen und auf den Beifahrersitz helfen.
Dann öffnete er den Kofferraum und drückte ihr die Schlüssel wieder in die Hand: "So, bitte schön! Ich packe Ihnen Ihre Einkaufssachen in den Kofferraum und bringe den Wagen weg – einverstanden?"
Sein liebevoller Blick tat ihr gut. Sie nickte.
"Na... geht es schon etwas besser?" fragte er besorgt, als er wieder zurück kam.
"Es geht..." Sie biss die Zähne zusammen.
"Das sieht mir aber nicht so aus... Soll ich Sie zu Ihrem Hausarzt fahren? Oh, Verzeihung – ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt: Mein Name ist Darius, Darius Freund."

Sie sah in seine Augen, die von einem tiefgründigen, unendlichen Blau zu sein schienen und ohne das sie sich dagegen wehren konnte, wurde ihr wohlig warm ums Herz. "Julia... Berger..."
"Also, Julia, dann fahre ich Sie jetzt zu Ihrem Hausarzt - das ist wo?" Wie selbstverständlich nahm er auf dem Fahrersitz Platz, nahm ihr die Schlüssel aus der Hand und startete den Wagen.
"Jesse-Owens-Straße..." murmelte Julia.
"Ach - Sie sind bei Dr. Bergmann?... Dann weiß ich ja, wo das ist. Ich wohne nämlich in der Gegend." fügte er erklärend hinzu.
Julia nickte und ließ es geschehen. Und verstand überhaupt nicht, warum sie keine Angst vor diesem fremden Mann hatte.
Angst, dass ihr ein Mann zu nahe kommen könnte... Diese furchtbare, lähmende Angst, die sie nachts immer noch schweißgebadet hochschrecken ließ... Erinnerung an die quälenden Stunden, als dieser Mann sie vor ein paar Monaten in seiner Gewalt gehabt hatte. Immer und immer wieder war er über sie hergefallen... Jogger hatten sie am anderen Morgen in einer Waldlichtung gefunden, wo er sie schwer verletzt hatte liegen lassen. Ihr Hausarzt und ihr Therapeut meinten, dass die Schwindelanfälle ein spätes psychosomatisches Symptom dieses Traumas darstellten. Julia kannte niemanden, außer ihrem Therapeuten, bei dem sie sich mal alles hätte von der Seele reden können.
Sie hatte nie wieder jemanden so nahe an sich heran gelassen. Und jetzt saß dieser Unbekannte neben ihr im Auto und lächelte sie freundlich an. Der andere war damals auch zunächst freundlich gewesen...
Sie war gerade im Begriff, doch noch in Panik zu geraten, als Darius anhielt und mit dem Finger auf das Haustürschild von Dr. Bergmann zeigte: "Schauen Sie - wir sind schon da! Und sogar ein Parkplatz direkt vor der Praxis! Bleiben Sie ruhig sitzen, ich helfe Ihnen heraus..."

"Ich gebe Ihnen jetzt eine Kreislaufspritze, Frau Berger... Aber Sie sollten morgen vielleicht besser mit Ihrem Therapeuten sprechen." riet ihr Dr. Bergmann. "Ich denke, dass es nach wie vor eine körperliche Reaktion auf den Stress des Ereignisses ist, dem Sie ausgesetzt waren..."
Es war wie immer: Julia konnte sich mittlerweile des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Arzt sie für hysterisch hielt. Ein wenig resigniert kam sie aus dem Behandlungszimmer.
Darius hatte darauf bestanden, auf sie zu warten. "Ich muss doch sicher gehen, dass Sie heil nach Hause kommen!" hatte er gemeint. Und da stand er nun und half ihr in den Mantel.
"Es geht mir besser. Sie brauchen sich meinetwegen nicht extra zu bemühen!" meinte Julia.
"Kommt nicht in Frage - ich bringe Sie bis vor die Haustür!"
"Na gut..." Sie ließ sich überreden und gab ihm die Autoschlüssel. Worüber sie sich selbst wunderte. Aber er schien es wirklich ehrlich zu meinen.
"Ist die Ursache für Ihren Schwindel geklärt?" fragte er und sah sie nachdenklich an. "Ich meine, es geht mich natürlich nichts an, aber Sie sehen nicht gerade aus, als ob Sie mit Dr. Bergmann zufrieden wären?"
Julia wusste nicht, wie sie ihm das erklären sollte. Sie konnte ihr Problem schlecht vor einem wildfremden Menschen ausbreiten. "Ach... ich glaube er... er hält mich für hysterisch..."
"Nein, Julia, das glaube ich nicht, dass Sie hysterisch sind... Wo parken Sie Ihren Wagen, hier? Warten Sie... Ich trage Ihnen noch eben Ihre Sachen herein..."
Vor ihrer Wohnungstür stellte er das Eingekaufte ab und sah sie freundlich lächelnd an. "Nun, dann werde ich mich jetzt verabschieden... Aber wenn Sie vielleicht einen Rat von mir annehmen würden?" bat er sie, während er ihr den Schlüsselbund wieder in die Hand drückte. "Sie sollten sich an einen Internisten wenden: Erzählen Sie von ihrem Schwindelgefühl und bitten Sie ihn, Ihre Bauchspeicheldrüse zu überprüfen per Ultraschall. Hier, ich gebe Ihnen meine Visitenkarte. Und ich bitte Sie, keine Scheu zu haben und mich anzurufen, wenn Sie möchten, ja?"
Julia blickte auf die Karte in ihrer Hand: Da stand geschrieben: "Dr. med. Darius Freund -Tropenarzt- ", seine Anschrift und Telefonnummer.
Wieder legte er seine Hand sanft auf ihre Schulter: "Auf Wiedersehen, Julia - und geben Sie gut auf sich Acht!" Bevor sie noch Danke sagen konnte, war er schon die Treppe hinunter geeilt und zur Haustür raus.

Seine Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn: Vielleicht hatte er ja Recht und es lag wirklich eine ganz andere Ursache vor. So langsam hatte sie schon angefangen, sich selbst für verrückt zu halten! Noch am gleichen Abend rief sie bei einem Internisten an und bekam für den darauf folgenden Tag einen Termin. Und sie rief Darius an.
"Darius Freund!"
"Hallo! Hier ist Julia. Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken... für Ihre freundliche Hilfe... Sie waren so schnell weg..."
"Das war doch selbstverständlich. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?"
"Ja, danke! Ich habe übrigens morgen einen Termin beim Internisten... bei Doktor Wintering. Kennen Sie den zufällig?"
"Dr. Wintering ist mir vom Hören bekannt, er hat einen guten Ruf. Das freut mich, dass Sie sich an meinen Rat halten. Sie werden sehen, Julia: Es wird alles gut werden!"
"Ja... Und vielen Dank noch mal, Dr. Freund!"
"Aber, aber, warum so förmlich? Ich heiße Darius, einverstanden?"
"Einverstanden."
"Julia, hätten Sie was dagegen, wenn ich morgen Abend anrufe und mich nach dem Ergebnis erkundige?"
"Ähm... nein..."
"Gut! Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend! Auf Wiedersehen Julia!"
"Ja, gleichfalls! Auf Wiedersehen!"
Sie fühlte sich noch ein Stückchen besser, nachdem sie mit ihm telefoniert hatte. Seine Stimme hatte so etwas Beruhigendes. "Es wird alles gut werden...." Noch lange klangen seine Worte in ihrem Gedächtnis nach.


Am nächsten Nachmittag saß sie Dr. Wintering gegenüber und schilderte ihm ihre Beschwerden.
"Wissen sie, ein Bekannter von mir -er ist Arzt- hat mir geraten, meine Bauchspeicheldrüse untersuchen zu lassen."
"Nun, nach dem was Sie mir erzählt haben, ist das sicherlich angebracht. Ich möchte gerne, Frau Berger, dass wir jetzt Ihren akuten Zuckerspiegel messen. Und ich sehe Sie morgen früh nüchtern zur Blutabnahme für einige andere Werte. Nehmen Sie noch einen Moment an der Rezeption Platz! Ich werde mir Ihre Bauchspeicheldrüse gleich noch per Ultraschall ansehen, einverstanden?"

Dann lag sie da, auf der Untersuchungsliege, und der Arzt fuhr mit dem Gerät über ihren Bauch. Plötzlich wurde er stutzig und seinem Gesicht war abzulesen, dass ihm nicht gefiel, was er da sah.
"Schauen Sie mal auf den Monitor, Frau Berger..." bat er sie. "Hier... diese Stelle, sehen Sie das?"
"Ich weiß nicht... sieht alles so durcheinander aus..."
"Ich meine das, was wie ein kleiner Ball aussieht..."
"Ah ja, jetzt sehe ich es!"
"Ich will Sie keineswegs erschrecken... aber da scheint mir doch etwas zu sein...", nickte er noch mal nachdenklich mit dem Kopf. "etwas, was da nicht hingehört." Er legte das Gerät beiseite und sah sie ernst an. "Frau Berger, ich sehe da so eine Art Knoten an Ihrer Bauchspeicheldrüse. Und dieser Knoten löst wohl anscheinend Ihre massiven Schwindelanfälle aus. Ich muss sagen, Ihr Bekannter hat Ihnen einen guten Rat gegeben! Jetzt schauen Sie bitte nicht so ängstlich! Ich möchte versuchen, es Ihnen zu erklären: Es gibt sogenannte Lipome, das ist gutartiges Fettgewebe und völlig harmlos. Das holen wir Ihnen heraus und die Sache ist erledigt. Natürlich gibt es auch Knoten, die nicht gutartig sind, aber da wollen wir mal nicht die Pferde scheu machen. Ich werde Sie an das Krankenhaus überweisen für eine spezielle Untersuchung - ein MRT. Da werden Sie in eine Röhre geschoben und es werden Schichtaufnahmen Ihres Körpers gemacht. Danach wissen wir ganz genau, was das für ein Ding ist, wie tief es sitzt und so weiter. Anschließend entscheidet man, ob und wie operiert werden muss. Einverstanden?"
Jetzt musste Julia doch erst einmal tief Luft holen...

Zuhause angekommen, saß sie wie Falschgeld auf dem Sofa und starrte die Wand an. Etliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf... Was, wenn es Krebs wäre?
Sie schrak fürchterlich zusammen, als das Telefon klingelte. Darius erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen.
"Ich...", holte sie tief Luft, "ich komme gerade von Dr. Wintering..."
"Und? Was hat er gefunden?"
"Er hat einen Knoten entdeckt, in der Bauchspeicheldrüse. Sie hatten ganz richtig vermutet..." Ihre Stimme schwankte.
"Julia... Ich würde Sie heute Abend gerne sehen!"
"Ach, ich weiß nicht... Ich bin nicht in der Stimmung..."
"Eben darum! Bitte sagen Sie nicht nein! Es ist nicht gut, wenn Sie jetzt daheim sitzen und Trübsal blasen! Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Kennen Sie den Italiener, zwei Straßen weiter... ja? Gut! Wie wäre es, wenn ich Sie um halb acht abhole und zum Essen einlade?... Ach bitte! Geben Sie sich einen Ruck! Retten Sie mir meinen Abend!"
Er hatte es so lieb gesagt, dass sie unwillkürlich auflachen musste. "Also schön! Überredet! Um halb acht..."
"Ach, das ist toll! Also bis nachher - ich freue mich schon!"
"Gut... bis nachher!" Es war ihre erste Verabredung seit der Sache damals. Ein guter Anfang hatte es werden sollen, als sie den heißersehnten Job in dieser Computerfirma bekommen hatte. Und obendrein in einem netten Team von Mitarbeitern, wie sich herausstellte. Gerade hatte sie begonnen, neue Freunde zu finden in dieser fremden Stadt, als die Vergewaltigung geschah. So war aus der einst fröhlichen Julia eine zurückgezogene, stille Frau geworden.

Und jetzt zitterten ihr unwillkürlich die Knie vor Angst, als es abends an der Tür klingelte.
"Hallo!" Darius streckte ihr eine wunderschöne, rote Rose entgegen. "Ich warte so lange draußen, bis Sie fertig sind..." Er machte keinerlei Anstalten, in ihre Wohnung zu kommen, und darüber war sie sehr erleichtert.
"Oh, ich bin schon fertig." schnappte sie sich ihre Jacke. "Wir können sofort los!"
Darius sah gut aus in seiner Jeans, dem Sweatshirt und der Jeansjacke. Die halblangen, hellblonden Haare unterstrichen die Sensibilität seines Gesichtes. Dieser Mann, der ihr da nun gegenüberstand, hatte eine sehr warmherzige Ausstrahlung. Und: Er schien sich wirklich auf sie gefreut zu haben.
Schüchtern lief sie neben ihm her und er konnte ihre Angst fast körperlich spüren. In der Pizzeria war es noch nicht sehr voll. Sie bekamen einen schönen Tisch, an dem sie in Ruhe sitzen konnten.
Ein wenig ratlos blätterte Julia in der Speisekarte, sie war so etwas überhaupt nicht mehr gewöhnt.
"Was möchten Sie trinken?" fragte der Ober.
"Ich hätte gerne einen Bitter-Lemon, Sie auch Julia?... Fein, dann also zwei Bitter-Lemon! Danke... Hoffentlich war das die richtige Wahl? Wissen Sie, Sie sahen einfach so nach Bitter-Lemon aus!" schmunzelte er sie dann an.
Julia musste lachen, er hatte irgendwie eine drollige Art an sich... "Das war schon richtig - ich mag Bitter-Lemon sehr gerne!"
"Na, das ist doch kein schlechter Anfang, oder? Mal sehen... ich versuche mal zu raten, was Sie wohl gerne essen würden, darf ich? Gönnen Sie mir den Spaß?"
Sie nickte und ließ ihn gewähren. Und siehe da: Er traf genau ihren Geschmack!
Während sie auf die Bestellung warteten, plauderte er unverbindlich über dies und jenes und schaffte eine behagliche Atmosphäre. Ganz allmählich wurde Julia lockerer und entspannter. Sie fing tatsächlich an, den Abend zu genießen. Darius sah es mit großer Zufriedenheit.
"Darf ich Sie um etwas bitten?" fragte er vorsichtig.
Unsicher wich sie seinem Blick aus: "Ja ...?"
"Julia... ich finde Sie sehr nett. Würden Sie mir darum ganz ehrlich sagen, wenn Ihnen meine Gesellschaft unangenehm ist? Wissen Sie, ich möchte auf keinen Fall, dass Sie sich zu etwas gedrängt fühlen... soll ja keine "Zwangsbeglückung" sein! Wenn es so ist, dann dürfen Sie das ruhig zugeben und ich werde mich zurückziehen aus Ihrem Leben!"
Für einen Moment schien sie zu überlegen, dann sah sie ihn an. "Darius... wenn Sie mir nicht geholfen hätten... Na ja, dann würde ich wahrscheinlich selbst glauben, dass ich hysterisch bin! Jetzt weiß ich, dass das alles keine Einbildung ist."
"Haben Sie Angst vor dem Ergebnis der Computertomographie?... Ja, dass kann ich mir vorstellen... Kann Sie jemand zur Untersuchung begleiten?"
Sie schüttelte den Kopf und er sah die Einsamkeit in ihren Augen und die Furcht, vor all dem alleine dazustehen. Es rührte sein Herz zutiefst. "Haben Sie keine Familie hier oder Freunde?" wollte er wissen.
"Nein, ich bin wegen des Jobs hergekommen... Freunde habe ich... habe ich noch nicht gefunden."
"Haben Sie denn wenigstens nette Kollegen?"
"Ja, doch! Es lässt sich gut arbeiten bei uns, darüber kann ich mich nicht beklagen!"
"Na, dass ist doch schon was! Nette Kollegen braucht man, dass macht eine Menge Lebensqualität aus, finden Sie nicht?"
"Das stimmt. Und Sie... haben Sie hier Familie?" wagte Julia sich nun vor.
Er erzählte ihr von seinem Studium und das er sich dann auf Tropenkrankheiten spezialisiert hatte, sprach von seiner Arbeit in den tropischen Ländern. Zuletzt war er wieder für zwei Jahre in Afrika gewesen. Auch er war neu in der Stadt, ohne Familie.
"In einem halben, vielleicht einem Jahr muss ich wieder weg. Man hat mich für ein neues Projekt eingeplant und dann stehen von der Regierung neue Mittel zur Verfügung... Jetzt kann ich mich, dank einer großzügigen Abfindung, erst einmal von den körperlichen Strapazen meiner letzten Stelle erholen..."
Julia merkte gar nicht, dass die Zeit wie im Flug verging. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Gegen zehn Uhr sah Darius auf die Uhr und stellte fest: "Ich würde ja gerne noch mit Ihnen plaudern und ich muss auch nicht früh aufstehen - aber Sie müssen morgen wieder früh raus... Möchten Sie noch bleiben oder sollen wir Schluss machen für heute?"
Irritiert sah Julia auf die Uhr: "Oh... ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist. Ja, für mich wird es Zeit..."
Darius winkte den Ober herbei und zahlte. Dann half er ihr höflich in die Jacke: "Darf ich Sie noch bis zur Haustür begleiten?"
Er durfte. Dort angekommen, stand er vor ihr und sah sie fragend an: "Julia... würden Sie mir erlauben, dass ich morgen mitgehe zur Computertomographie?"
"Ich habe noch keinen Termin... Aber ich werde morgen nach der Arbeit am Krankenhaus vorbeifahren. Ich kann Sie ja anrufen, wenn ich den Termin weiß, ja?"
Jetzt strahlte Darius sie an, streckte ihr seine Hand entgegen. Und als er die ihre in Händen hatte, hielt er sie ganz zart fest, deutete einen Handkuss an. "Danke, Julia, für den wunderschönen Abend - ich hoffe, Sie haben ihn so genossen wie ich!"
Verlegen lächelte sie zurück... Er wahrte auf eine besonders nette Art und Weise immer so viel Abstand, dass sie nie Angst bekommen musste. Dafür war sie ihm sehr dankbar.


"Hallo...! Erde an Julia!"
Ihre Kollegin Heike erwischte sie am nächsten Morgen dabei, wie sie ganz versonnen aus dem Fenster blickte - weit weg mit ihren Gedanken. "Was...? Was hast du gesagt?"
Heike grinste wie ein Honigkuchenpferd: "Na, ich möchte mal gerne wissen, wo du wohl gerade mit deinen Gedanken warst! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Du bist verliebt!"
Sie schaffte es, dass Julia puterrot anlief! "Ja sag mal... oder etwa doch!? Ach, komm, erzähl doch mal! Du weißt ja: Ich bin überhaupt nicht neugierig!"
Julia musste lachen, denn wenn jemand ein Plappermäulchen war, dann Heike. Aber sie war auch ganz nett - sie kamen gut miteinander aus. Und so erzählte sie ihr von der Begegnung mit Darius.
"Mensch, dass ist ja der Hammer..!" lehnte Heike sich nachdenklich zurück. "Ich meine, dass muss man sich mal überlegen: Da muss dir erst vor 'nem Supermarkt schlecht werden, um herauszufinden, woher das kommt! Dein Doktor scheint ja echt Ahnung zu haben - dein Glück sozusagen! Also ehrlich gesagt..." entrüstete sie sich dann, "ich find's ganz schön bescheuert, dass da keiner von den anderen Ärzten draufgekommen ist! Da wirst du schlicht und ergreifend für "bekloppt" erklärt, weil das ja sooo eine einfache Lösung ist! Ja! Ist doch wahr, oder!?"
Desto intensiver Julia darüber nachdachte, desto mehr musste sie Heike Recht geben: Man hatte sie in eine Schublade gesteckt und nicht mehr herausgeholt! Aber das würde sich jetzt, Dank Darius, ja ändern.
"Wie sieht er eigentlich aus... dein Doktor?" fragte Heike dann noch, so ganz nebenbei, und brachte Julia damit zum Schmunzeln. Dass ihre Kollegin gerne mit allem was Hosen trug flirtete, war bekannt.
Und irgendwie genoss es Julia, zu sagen: "Gut... Er sieht "süß" aus, wie du ja immer zu sagen pflegst!"
Worauf Heike sie prompt mit ihrem typischen seufzend-schmachtenden Blick ansah und meinte: "Und...wann lernen wir deinen Wunderdoktor mal kennen?"
Julia reagierte verlegen und murmelte nur: "Ach... jetzt mach doch nicht die Pferde scheu..." vor sich hin.
Plötzlich sah Heike sie ernst an: "Du bist dir nicht sicher, ob er mehr von dir will, oder? Hmm... also, hör mal Julia...", wurde sie leise, "Wir alle hier wissen, was du durchgemacht hast. Und es gibt wohl keinen, der dir nicht ein bisschen Glück gönnen würde. Einen netten Kerl, meine ich... Du, ich rede immer ziemlich viel und auch ziemlich viel Mist - aber eins musst du wissen: Ich würde dir niemals, aber auch niemals deinen Freund ausspannen! Glaubst du mir das?... Was ist, warum lachst du jetzt?"
"Er heißt Freund mit Hausnamen!"
Die beiden kicherten lauthals los und im Zimmer nebenan fragten sich die Kollegen, worüber man sich dort wohl so köstlich amüsierte...


Darius entpuppte sich als wirklicher Freund: Er begleitete sie zur Untersuchung, war ständig für sie da und sorgte auf rührende Weise für Ablenkung.
Dr. Wintering’s Verdacht bestätigte sich: Es befand sich eine Geschwulst in der Bauchspeicheldrüse und im Krankenhaus riet man zu einer sofortigen Operation. Und so wurde Julia schneller dort eingewiesen, als ihr lieb war.


Sie waren alleine im Krankenzimmer. Darius saß bei ihr, am Abend vor der Operation, und versuchte, sie aufzumuntern: "Sie werden sehen, Julia: Es wird alles gut werden..."
"Ich wünsche mir, das alles wäre schon vorbei..." Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer. Plötzlich ergriff sie Darius' Hand. "Sollen wir nicht endlich Du zueinander sagen?"
Sanft nahm er ihre Hand in seine und als er sie so anschaute, begriff Julia, dass da nicht nur Mitgefühl war in diesen Augen. Es war, als würde sein liebender Blick sie wie eine weiche, kuschelige Decke umhüllen.
"Ich würde alles für dich tun, Julia... Alles, was in meiner Macht steht, um dich glücklich zu machen! Und du wirst wieder gesund werden, dass weiß ich ganz sicher! Glaubst du mir das?"
Julia erwiderte seinen Blick und spürte ihre große Sehnsucht nach Liebe, danach, sich in seine Arme gleiten zu lassen und von ihm festgehalten zu werden.
Liebevoll strich er eine Strähne aus ihrem Gesicht. "Julia... ich würde dich so gerne in meine Arme nehmen und dich festhalten, ja?"
Ein Lächeln war die Antwort und glücklich ließ sie sich von ihm in seinen Armen wiegen, während er sanft über ihr Haar strich. Und sie fühlte sich geborgen in diesen Armen, geborgen wie nie zuvor.
Ja, es würde alles gut werden... Er verlieh ihr Kraft und Sicherheit.


Der Laborbefund hatte ergeben, dass es sich um eine abgekapselte Krebsgeschwulst gehandelt hatte. Julia stand nun vor der Frage, ob sie eine Chemotherapie machen sollte oder nicht, falls der Krebs doch schon gestreut hatte. Unschlüssig sah sie Darius an: "Ich weiß nicht, was ich machen soll... Sag mir ganz ehrlich: Was meinst du dazu?"
"Gut, gehen wir einmal die Fakten durch: Tatsache ist, dass der Tumor abgekapselt war. Tatsache ist auch, dass zum jetzigen Zeitpunkt nirgendwo Metastasen zu entdecken sind. Tatsache ist des weiteren, dass in einem Fall wie deinem normalerweise - ich betone: Normalerweise! - die Heilungschancen bei 1 bis 2 Prozent liegen. Im Moment sieht es daher wirklich so aus, als hättest du eine relativ gute Chance! Wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde in deinem Fall nicht hingehen und durch eine radikale Therapie dein Immunsystem völlig außer Kraft setzen. Und ich habe auch schon eine Idee, was wir machen..."

Er kannte eine Rehabilitationsklinik an der See, in der die Patienten mit den Methoden der Naturheilkunde therapiert wurden. Dort setzte man ganz darauf, das körpereigene Immunsystem wieder richtig in Schwung zu bringen und dem Körper selbst zu ermöglichen, aus eigener Kraft gegen neue Erkrankungen an zu gehen. Gesunde vollwertige Ernährung aus biologischem Anbau, ein aufbauendes Fitnessprogramm und mentales Training taten ein Übriges. Zunächst war Julia jedoch noch krankgeschrieben, um sich von der schweren Operation zu erholen. Besonders gut tat ihr in dieser Zeit, dass alle ihre Kollegen sie nicht nur im Krankenhaus, sondern auch zuhause besuchten. Heike kam am häufigsten vorbei, was Darius zufrieden registrierte: Es sah aus, als hätte sie eine Freundin gefunden - und das war gut so. Und Julia freute sich, dass alle ihren Freund sehr sympathisch fanden.
Dann kam endlich der Bescheid der Klinik und zwei Wochen später befand sich Julia an diesem angenehmen Kurort. Darius hatte sich in einem Hotel in der Nähe einquartiert und sie verbrachte jede freie Minute mit ihm. Gemeinsam erlebten sie eine eher besinnliche Zeit; kamen sich von Tag zu Tag näher und ihre Vertrautheit wuchs. Sie traute sich sogar, alleine mit ihm, Zeit auf seinem Zimmer zu verbringen. Es erschien ihr schon fast merkwürdig, dass er niemals Anstalten machte, sie ins Bett zu bekommen. Er blieb stets Gentleman, ging nie zu weit.

Dann kam der Abend, an dem sie sich ein Herz fasste und ihm erzählte, was damals mit ihr geschehen war. Aufmerksam hatte er die ganze Zeit zugehört, sie in aller Ruhe davon berichten lassen. Erschüttert blickte er sie dann an und Julia sah das ehrliche Mitgefühl in seinen Augen, als er sie liebevoll in seine Arme nahm und flüsterte: "Es tut mir so leid, mein Engelchen... Dir soll nie wieder jemand so weh tun, dass schwöre ich dir!"
Es tat so gut, von ihm gehalten zu werden. "Darius... Du bist zwar der erste, vor dem ich überhaupt keine Angst habe, aber ich... ich meine, ich habe mich noch nicht mal getraut, dich zu küssen..."
"Schsch...." Sanft verschlossen seine Finger ihre Lippen: "Ich bin stolz auf dich, dass du zu mir darüber reden kannst! Und das andere hat keine Eile. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst... Es macht mir nichts aus, zu warten, denn du bist es wert!"
Ganz sanft hatte er ihr Gesicht in seinen Händen gehalten - es war der erste, zärtliche Kuss zwischen ihnen und glücklich schlang Julia ihre Arme um seinen Hals.

Als ihre Kur dem Ende zuging, fasste Darius einen Entschluss: "Hör mal, Engelchen... ich habe da so eine Idee..."
"Was denn?"
"Du hast doch noch deinen Jahresurlaub, oder?... Ja? Fantastisch! Was würdest du dazu sagen, wenn du ihn jetzt nimmst und wir beide noch einen wunderschönen Urlaub zusammen machen? Wir könnten hier bleiben oder einfach dorthin fahren, wo wir gerade Lust zu haben - wie findest du das?"
Die Idee war nicht schlecht; Julia hatte große Lust, noch viel Zeit alleine mit Darius zu verbringen - unbelastet von Beruf und Alltag. "Das wäre schon toll... "schien sie jedoch zögerlich.
"Aber?"
"Na ja, dass mit meinem Urlaub wäre wohl kein Problem... aber können wir das denn noch bezahlen? Ein bisschen Gespartes habe ich noch, aber du hast schließlich die ganze Zeit hier schon das Hotel bezahlt. Nachher gehst du noch meinetwegen Pleite!"
Schmunzelnd nahm Darius sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze: "Darüber mache dir keine Sorgen - wirklich nicht! Ich habe genug Gespartes, weil ich in all den Jahren in den Tropen nie viel für mich gebraucht habe. Das ganze Geld habe ich so gut angelegt, dass ich davon leben kann - beruhigt dich das?"
"Ich meine ja auch nur... Irgendwie blöd, wenn du alles bezahlst..."
Er tat, als würde er eine Waffe ziehen, hielt ihr seinen ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust: "Sagen Sie laut und deutlich: Ja!... oder Sie werden erschossen!"
Ein gekichertes: "Ja!" war die Antwort und er schnappte sie sich, küsste sie, wirbelte sie herum und rief lauthals: "Ja!!! Alle mal herhören: Julia fährt mit mir in Urlaub!"
Das Leben war herrlich: Den ganzen Abend alberten sie ausgelassen herum und schmiedeten Reisepläne.


In der Firma gab es wohl niemanden, der ihr diese schöne Zeit nicht gönnte und so war alles schnell geregelt!
Darius hatte sie überredet, mit ihm in die schottischen Highlands zu fliegen. Dort hatte er als Student mal einen Urlaub verbracht, wie er erzählte. Von der unberührten Natur dort hatte er ihr vorgeschwärmt; von den weiten Ebenen, den Seen und Wäldern.
"Wenn dir dort der Wind um die Nase weht, dann fühlst du die Macht der Schöpfung... Dann begreifst du den Kreislauf der Notwendigkeit... den ewigen Zyklus des Lebens..."
Mit Sinn und Verstand hatte Julia ihn angeschaut, als er so vor sich hin philosophierte. Und sie begriff beim Anblick dieser wunderschönen Natur, wie er damals empfunden haben musste, denn auch sie war überwältigt.
Man war mit sich und seinen Gefühlen alleine, wieder animiert, bewusst zu empfinden: Einem Vogel zu lauschen, den man noch nie gehört hatte, dem Rauschen der Blätter im Wind... Den Duft von Wildkräutern in der Luft aufzunehmen, von all den Blumen und Pflanzen - die ganze Vielfalt der Natur mit allen Sinnen zu erleben. Julia fühlte sich wie ein kleines Kind, dass auf Entdeckungsreise ging. Und sie spürte ein Glück, dass tief aus ihrem Inneren kam...

Nach zweieinhalb Wochen bat Darius sie plötzlich darum, nach Hause zu fliegen.
"Ich warte auf Post von der Regierung." war seine Begründung. Doch zum ersten Mal spürte Julia, dass er ihr etwas verheimlichte. Bis dahin hatte sie in seinen Gefühlen immer wie in einem offenen Buch lesen können. Vielleicht war es der bevorstehende Abschied, die Befürchtung, dass er wirklich wieder zurück in die Tropen musste. Zwischendurch hatte er ja bereits erwähnt, dass er von dieser Verpflichtung nicht zurücktreten konnte... Sie beschloss, einfach abzuwarten, was geschehen würde. Nach wie vor vertraute sie ihm.

Auf dem Rückflug war er sehr still. Sorgenvoll betrachtete sie seine Gesichtszüge, die sehr angespannt wirkten, obwohl er eingenickt war. Ungefähr eine Stunde vor ihrer Ankunft in Düsseldorf wachte er auf und man konnte ihm ansehen, dass etwas nicht stimmte. Sanft streichelte sie seine Wange: "Was hast du? Was ist los mit dir?"
"Ich habe furchtbare Kopfschmerzen, alles tut weh. Mir ist nicht gut..." versuchte er ein gequältes Lächeln.
Als Julia seine Stirn fühlte, war ihr klar, dass er krank sein musste: "Du bist ganz heiß... du hast Fieber!"
"Julia... ich fürchte, ich habe einen Malaria-Anfall. Falls ich ohnmächtig werden sollte, musst du dir das gut merken: Tropische Malaria, cerebrale... Die nächsten sechs bis acht Stunden sind kritisch - ich muss ins Krankenhaus..."
Der Schüttelfrost kam schnell und Julia rief die Stewardess herbei. Darius wurde auf eine Notfall-Liege verfrachtet. Ein zufällig anwesender Arzt an Bord kümmerte sich um ihn und als Julia ihm von der tropischen Malaria erzählte, machte er ein ernstes Gesicht. Gerührt bekam der Mann mit, wie Darius: "Ich liebe dich!" zu Julia wisperte, bevor er das Bewusstsein verlor.
Über Funk wurde ein Krankenwagen vom Düsseldorfer Klinikum beordert, der ihn nach der Ankunft direkt vom Flugzeug abholte. Man brachte ihn auf die Intensivstation. Gerade noch rechtzeitig, bevor er einen Krampfanfall bekam und fast ausgeblieben wäre.
In den nächsten Stunden wich sie nicht von seiner Seite - Julia musste um sein Leben fürchten. Es war ernst: Er war ins Koma gefallen.


Währenddessen freute man sich in der Firma über Julias gutgelaunte Postkarte. Doch niemand ahnte, was sie gerade durchmachte.
Dann ging bei Heike zuhause das Telefon: "Horstick... Julia! Hi, seid ihr wieder da?... Was? Wo bist du!?... Ach du meine Güte! Hmm... Oh Gott, im Koma?!... Ach, Julia - es tut mir so leid! So ein Mist! Mensch, warum hast du nur immer so ein Pech! Und, wie geht es d i r ?... Ja, dass glaube ich... Natürlich regele ich das für dich in der Firma... Und du stehst da jetzt ganz alleine, verdammt... Weißt du was, ich packe ein paar Sachen und komme zu dir! Nein, nein, keine Widerrede! Ich kriege das schon hin... nehme meinen Resturlaub... Hör mal: Ich kann dich doch da jetzt nicht alleine lassen - warte, ich schreibe mir die Adresse mal eben auf..."

Über die jüngsten Entwicklungen waren Julias Kollegen sehr bestürzt und hatte um so mehr Verständnis dafür, dass sie jetzt Beistand brauchte.
Heike erwies sich als wahre Freundin: Sie kümmerte sich um alles und hielt Julia den Rücken frei, die mittlerweile schon sehr erschöpft wirkte, da sie ununterbrochen an Darius' Seite gesessen hatte. Niemand hatte sie zu einer Pause überreden können. Als Heike gekommen war, war sie ihr weinend in die Arme gesunken: "Ich habe solche Angst! Ich will ihn nicht verlieren!"
Sie brauchte ihr nicht viel erklären: Ein Blick auf Darius hatte Heike genügt, um zu erkennen, wie ernst die Lage war. Sie hofften, dass er so bald wie möglich zu Bewusstsein kommen würde.
"Die Ärzte haben Bedenken wegen des nächsten Fieberanfalls, den übersteht er vielleicht nicht..."
Heike nahm Julia beiseite: "Julia, jetzt hör mir mal zu: Du brauchst jetzt vor allem ganz, ganz dringend eine Pause! Du musst etwas schlafen... Nein, nein - du legst dich jetzt hin und ich passe für dich auf. Und wenn etwas sein sollte, dann wecke ich dich sofort, verstanden?... Überlege doch mal: Es nützt Darius gar nichts, wenn du auch noch zusammenklappst, oder?!"
Die Ärzte waren froh, dass Heike ihre Freundin überreden konnte:
"Vielen Dank, Frau Horstick!" Der Stationsarzt hatte sie zur Seite genommen. "Sie sind genau die Unterstützung, die wir für Frau Berger hier brauchen! Im Moment sieht's ja leider nicht so gut aus für unseren Kollegen: Er muss zwar nicht mehr beatmet werden, aber... na ja... wir können einfach nur abwarten und sehen, ob er stark genug ist..."


Seufzend legte unterdessen Carsten Maiwald, Julias Abteilungsleiter, ihre Urlaubskarte aus der Hand. "Warum muss es immer die Falschen erwischen..." murmelte er vor sich hin. "Das hat sie wirklich nicht verdient... Na, gut!" rückte er dann seine Krawatte zurecht. "Hoffen wir, dass wenigstens der neue Filialleiter ein netter Mensch ist..."
Heute stand ein Geschäftsessen mit der Firmenleitung auf dem Terminkalender. Der Neue wurde den Abteilungsleitern vorgestellt, in ungefähr vier Monaten sollte er den Posten übernehmen. Hoffentlich kamen sie nicht vom Regen in die Traufe: Der alte Chef wurde weggelobt, den hatte eh keiner richtig leiden können: Ein alter Nörgler, dem niemand was recht machen konnte.


"Julia! Komm schnell!"
Erschrocken fuhr Julia hoch, als Heike vor ihr stand und sie wachrüttelte.
"Was ist? Ist was mit ihm?!" schoss sie hoch und rannte ihr ins Intensivzimmer hinterher.
Und dann stand sie an seinem Bett und... Darius streckte seine zitternde Hand nach ihr aus: Er war wieder bei Bewusstsein!
"Darius...!" Julia war kaum fähig, seinen Namen auszusprechen, kämpfte vergebens gegen die Tränen der Erleichterung an. Seine glasigen Augen suchte die ihren und sie hielt ihn fest, streichelte zärtlich sein Gesicht.
"Ich hatte solche Angst um dich...!" flüsterte sie und er versuchte ein Lächeln, während auch ihm die Tränen hinunter liefen: "Ich liebe dich so... Julia... darf noch bei dir bleiben..."
Erschöpft schloss er die Augen, hielt fest ihre Hand umklammert, so als wolle er sie nie wieder loslassen.
Zufrieden zog der Arzt Heike, der vor lauter Rührung auch die Tränen herunterliefen, auf den Flur: "Ich glaube," klopfte er ihr auf die Schulter, "wir lassen die beiden jetzt mal alleine. Er ist ein Kämpfer... jetzt geht's wieder bergauf!"


Als Darius transportfähig war, hatten sie ihn per Krankenwagen zum heimatlichen Krankenhaus überführt, wo er noch einige Tage zur Beobachtung bleiben musste.
Dann war er endlich wieder bei sich zuhause, wo Julia ihn liebevoll umsorgte in ihren restlichen Urlaubstagen. Die körperlichen Strapazen waren ihm noch deutlich anzusehen - er hatte einiges an Gewicht verloren.
Sie genossen die Zeit zusammen, lagen oft einfach nur aneinander gekuschelt beisammen und erzählten sich etwas oder lauschten schöner Musik.
"Ich liebe dich, Julia!" hatte er sie einmal an sich gedrückt und geküsst. "Ich könnte ewig so hier liegen... mit dir im Arm... Deine Haut riechen, deinen Atem spüren - als würden unsere Herzen im gleichen Takt schlagen! Ich glaube, ich war noch nie so glücklich!"
Julia hatte sich selig an ihn geschmiegt und spürte immer mehr ihre Sehnsucht wachsen, ihm ganz zu gehören...


Dann kam der Tag, an dem sie das Ergebnis der Nachuntersuchungen mit Dr. Wintering besprechen musste.
"Ich komme mit!" hatte Darius gemeint, doch sie hatte ihn energisch zurückgewiesen. "Sei bitte nicht beleidigt - aber ich kann das alleine mit ihm besprechen, okay?"
"Na gut... dann warte ich hier bei dir, ja?... Soll ich schon mal Salat zum Abendessen machen?"
"Ja! Prima! Also, bis nachher!"
"Ja! Tschüss, bis nachher!"
Sie war stark geworden.

Zuversichtlich hatte sie beim Arzt Platz genommen.
"Frau Berger... ich kann es kaum glauben: Sie haben nirgends auch nur die geringsten Metastasen entwickelt, Ihr Blutbild ist völlig in Ordnung, der OP-Bereich gut verheilt... Ich muss gestehen: Ich bin hocherfreut! Sie sind kerngesund!"
Julia strahlte übers ganze Gesicht und Dr. Wintering war nicht verborgen geblieben, dass sie noch mehr von innen heraus strahlte. Liebe ist immer noch die beste Medizin, dachte er im Stillen und sah seine Patientin wohlwollend an.

"Er sagte: Ich glaube, Sie haben einen guten Schutzengel gehabt! " erfuhr Darius am Abend von ihrem Gespräch mit Dr. Wintering. Dann sah sie ihm glücklich lächelnd in die Augen: "Das warst dann wohl d u - mein Schutzengel!"
Zärtlich nahm er ihre Hand und hielt sie an sein Herz: "Und es war sicher der schönste Auftrag, den ich je bekommen habe, denn ich durfte mich dabei in d i c h verlieben!"
"Darius... ich liebe dich..." Aufgewühlt von ihren Gefühlen schlang sie ihre Arme um seinen Hals.
Er umarmte sie liebevoll und flüsterte ein zärtliches: "Ich liebe dich auch..." in ihr Ohr.
Und zum Glück konnte sie die Tränen nicht sehen, die dann in seinen Augen standen, als sie sich an ihn schmiegte und leise sagte: "Ich möchte ganz nah bei dir sein... ich will mit dir schlafen..."
Endlich war sie wieder frei - frei von der Angst, einen Mann ganz und gar an sich heranzulassen.

Es wurde die sinnlichste Nacht ihres Lebens: Feinfühlig hatte er jeden Millimeter ihres Körpers liebkost und gab ihr das Gefühl wieder, eine normale, begehrenswerte Frau zu sein. Und Julia hatte sich fallen lassen in ein Meer von berauschenden Gefühlen, hatte es genossen, nicht nur zu geben, sondern auch wieder nehmen zu können...

Sanft strich Darius über ihr Haar, hauchte einen zarten Kuss auf ihre Wange und drückte sie innig an sich, nachdem sie in seinen Armen eingeschlafen war.
"Ich liebe dich, Julia." flüsterte er leise und seine Augen füllten sich mit Tränen...


Am nächsten Morgen fand sie seinen Abschiedsbrief auf dem Küchentisch:

Liebste Julia!

Es tut mir weh, dich zu verlassen - aber meine Zeit ist gekommen und ich muss nun gehen. Ich werde dich niemals vergessen können, mein Herz wird immer dir gehören. Bitte versuche zu verstehen, dass ich dir beim Abschied nicht in die Augen sehen konnte. Glaube mir, mein geliebtes Engelchen, eines Tages wird jemand in dein Leben kommen, den du von ganzem Herzen lieben kannst. Du wirst mit ihm glücklich werden und ich werde nicht mehr als eine schöne Erinnerung sein. Ich weiß es, vertraue mir!
Und ich weiß, dass du einen Sohn bekommen wirst - er wird Jonathan heißen. Du wirst ein langes, glückliches Leben haben. Gib immer gut auf dich Acht, meine Liebste, dann wirst du nie wieder ernsthaft krank sein.
Und: Bewahre immer die Liebe in deinem Herzen, denn sie ist die Kraft des Lebens.
Gott ist mit dir.

In Liebe

Dein Schutzengel Darius




"Darius...!"
Bestürzt las sie noch einmal seine Zeilen und konnte doch kaum begreifen, was da stand. Sicher, sie hatte ja gewusst, dass er irgendwann wieder weg musste - aber dass es ein Abschied für immer sein sollte, davon hatte er nichts gesagt...
Das Telefon! Vielleicht war er noch zuhause! Den Brief immer noch in Händen, wählte sie hastig seine Nummer. Doch auch nach dem dritten und vierten Versuch kam immer nur dieselbe Ansage: "Kein Anschluss unter dieser Nummer... Kein Anschluss..." Fassungslos legte sie den Hörer auf. Wieso kein Anschluss? Sie war doch gestern noch in seiner Wohnung gewesen, dass konnte doch nicht möglich sein?!
Den ganzen Morgen war sie an ihrem Arbeitsplatz nicht recht mit den Gedanken dabei. Mehrmals hatte sie noch versucht, Darius anzurufen - mit dem gleichen Ergebnis wie zuhause. Nachdem ihre Kollegen nichts dagegen hatten, nahm sie Überstundenausgleich und fuhr im Mittag direkt zu dem Hochhaus, in dem er wohnte. Vielleicht wusste jemand von den Nachbarn etwas.

Als sie vor der Haustür stand, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: Dort, wo Freund gestanden hatte, war das Namensschild entfernt worden. Sie holte seine Schlüssel aus der Tasche, doch als sie die Haustür aufschließen wollte, schien keiner der beiden mehr zu passen. Seltsam... Doch dann ging gerade jemand heraus und hielt ihr die Tür auf. Schnell lief sie die zwei Treppen zu seinem Apartment hinauf, um festzustellen, dass dort ebenfalls kein Türschild mehr existierte. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie... Sie nahm den Wohnungsschlüssel und... "Gott sei Dank!" murmelte sie - er passte! Und dann stand sie dort, in seinem Apartment; dort, wo sie so viele schöne Stunden mit ihm erlebt hatte.
Julia kam sich vor wie in einem schlechten Traum: Es war leer, völlig leer und ohne den geringsten Hinweis darauf, dass hier noch bis zum vorherigen Tag jemand gelebt hatte. Keine Nägel in der Wand, wo die Bilder gehangen hatten... keine Spur seines Daseins... Und die Wände sahen aus, als hätte man sie bereits vor langer Zeit getüncht und dann vergeblich auf einen neuen Mieter gewartet.
Plötzlich öffnete sich die Tür vom Apartment gegenüber und eine ältere Dame kam neugierig auf Julia zu: "Guten Tag! Sind Sie die neue Mieterin?"
"Ich? Oh, ähm, nein... wissen Sie... ein Bekannter hat hier gewohnt... Ich dachte, ich treffe ihn noch in der Wohnung, habe noch seine Zweitschlüssel. Vielleicht kennen Sie ihn, Dr. Freund?"
"Dr. Freund?... Nein, dass muss aber schon länger her sein... Ich bin vor... warten Sie... ja, jetzt sind es acht Monate, da bin ich eingezogen und so lange steht diese Wohnung hier auch leer!"
Ungläubig sah Julia die alte Dame an: "Leer...?"
"Ja! Ist doch eigentlich schade um die schöne Wohnung, finden Sie nicht?"
"Ja, ja... Also, ich werde mal wieder gehen... Auf Wiedersehen..."

Darius Freund war spurlos verschwunden: So, als hätte es ihn nie gegeben.


Drei Monate später kam der neue Chef in die Firma und machte seinen Vorstellungs-Rundgang.
"Julia... Heike..." öffnete ihr Abteilungsleiter Carsten Maiwald die Tür. "Darf ich euch unseren neuen Filialleiter vorstellen..."
Der Neue ergriff selbst das Wort: "Hallo, es freut mich, Sie kennen zu lernen! Ich heiße Jan Henning und Sie sind...?"
"Julia Berger!"
"Hi! Ich heiße Heike, Heike Horstick!"
Jan Henning schüttelte ihre Hände: "Tja, dann meine Damen - ich sehe Sie hoffentlich auch nachher in der Cafeteria zu einem kleinen Einstandsumtrunk, einverstanden?"
Sein Blick blieb auf Julia heften und sie erwiderte ihn mit einem freundlichen: "Herzlich Willkommen - ich wünsche Ihnen einen guten Anfang!"
Mit einem charmanten Lächeln bedankte sich Jan Henning und verließ das Zimmer wieder.
"Oh Mann!" lehnte Heike sich zurück. "Ist der aber..."
"Süß!" nahm Julia ihr das Wort aus dem Mund.
Heike sah sie halb erstaunt, halb belustigt an: "Na, na...! Liebe auf den ersten Blick, was?"
Julia grinste verschmitzt: "Jaaa... ganz nett..."


"Sagen Sie..." fragte Jan Henning am nächsten Tag Carsten Maiwald. "Da hinten in dem ersten Zimmer, diese Julia - wie hieß die noch?"
"Sie meinen Julia Berger?"
"Ja, richtig!... Hat diese Julia auch einen "Romeo"?"
Sein Kollege schmunzelte und zuckte etwas unschlüssig mit den Schultern: "Na ja, sie hatte einen... Netter Kerl übrigens. War 'ne schlimme Geschichte damals - mit Julia..."
Und so erfuhr Jan Henning von den Ereignissen, die Julias Leben so dramatisch verändert hatten. Betroffen fuhr er sich durchs Gesicht: "Puh... dann hat sie ja eine Menge mitgemacht. Kann einem echt leid tun! Dabei macht sie so einen fröhlichen Eindruck."
"Sie sagen ihr doch nicht, dass ich das erzählt habe?... Ich weiß nicht, eigentlich habe ich ja kein Recht, darüber zu reden..."
"Nein, nein, dass geht schon in Ordnung... Machen Sie sich keine Gedanken - ich behalte das natürlich für mich! Hören Sie... ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir da eine offene Basis schaffen: Ich will damit sagen, wenn Mitarbeiter private Probleme haben, möchte ich, dass wir alle gemeinsam uns gegenseitig helfen. Schließlich sitzen wir alle im selben Boot und es wäre doch schade, wenn jemand trotzdem untergeht, ohne dass wir es merken... finden Sie nicht?"
Carsten Maiwald nickte zustimmend: Das war eine Basis, auf der sich arbeiten ließ!

Ob bewusst oder unbewusst - immer öfter suchte Jan Henning die Gegenwart Julias. Unter anderem hatte er sie gebeten, ihm bei der Erstellung eines Fragebogens behilflich zu sein. Dieser ging später an alle Mitarbeiter und konnte anonym zurückgesandt werden. Es ging ihm dabei nicht nur um Arbeitsabläufe und deren bessere Koordinierung, sondern vor allem auch um die persönlichen Belange seiner Mitarbeiter und deren Wünsche den Führungsstil des Hauses betreffend.
Diese Offensive kam gut an. Und während man dem alten Filialleiter früher eher aus dem Weg gegangen war, verschaffte sich Jan Henning durch seine offene Art die Sympathie seiner Mitarbeiter - ohne jedoch an Autorität zu verlieren.

Und dann kam das Betriebsfest. Das er ein Auge auf sie geworfen hatte, machte eh schon die Runde - also, was hatte er zu verlieren? Doch er wusste auch genau, was ihr passiert war; vor einem Jahr, nach dem letzten Betriebsfest.
Jan mischte sich unters Volk, bemühte sich, mit möglichst vielen auch mal ein privates Wort zu reden. Ihm war egal, was einige leitende Angestellte darüber dachten, die noch mit den alten hierarchischen Strukturen verwachsen waren.
Und irgendwann stand er gut gelaunt vor Julia und schleppte sie auf die Tanzfläche: "Ein Nein wird nicht akzeptiert!" hatte er sie aufgefordert, während Heike natürlich sofort anfing zu kichern. Nun schien es offensichtlich: Das die beiden ineinander verliebt waren konnten sie nicht mehr verleugnen - Julia schmolz wie Wachs in seinen Armen und alle um sie herum schmunzelten nur noch.
Er war ein kluger Taktiker: Wenn sie an diesem Abend plötzlich gemeinsam verschwunden wären, dann hätten sich alle das Maul zerrissen - dass wollte er Julia auf keinen Fall antun. Und so ging er, als sie kurz frische Luft schnappen waren, in die Offensive und lud sie für den nächsten Abend zu Essen ein. Sie war einverstanden.

Am dem darauf folgenden Morgen konnte Heike es kaum erwarten, alle Einzelheiten zu erfahren: "Na los! Spann mich nicht auf die Folter!"
Glücklich lächelnd sah Julia sie an: "Oh Heike...! Er ist wirklich total lieb: Ich hab' tausend Schmetterlinge im Bauch!" Sie erzählte von dem wunderschönen Abend und dass sie bis tief in die Nacht im Lokal gesessen und geredet hatten.
"Aber sei mir nicht böse - alles musst du wirklich nicht wissen. Im übrigen sind wir getrennt nach Hause gegangen." schloss sie dann leicht verlegen und sah Heike plötzlich ernst an: "Er weiß, was mir passiert ist... Du, das war so ein tolles Gefühl... ich konnte ganz locker darüber reden!"
"Ach, Julia - ich freue mich so für dich!" ergriff Maike ihre Hand und drückte sie und die beiden Freundinnen strahlten sich an.


Nun war es also offiziell: Jan und Julia waren ein Paar. Die ewigen Nörgler zerrissen sich sowieso das Maul und der Rest freute sich mit ihnen. Und niemand ahnte, wie sehr auch Jan eine so liebevolle Beziehung gebraucht hatte, denn er hatte ihr ebenfalls gleich am ersten Abend sein Herz ausgeschüttet: Zwei Jahre hatte er bereits mit seiner Freundin zusammengelebt und sich gerade mit ihr verlobt, als ein schwerer Verkehrsunfall sie plötzlich aus dem Leben gerissen hatte. Danach hatte er sich entschlossen, in dieser Stadt neu anzufangen und alle Erinnerungen hinter sich zu lassen.
Julia hatte ihm alles von Darius erzählt und von seinem mysteriösen Verschwinden. Nicht einmal Heike wusste davon. Offiziell war er wieder in Afrika und Julia hatte deswegen die Beziehung lieber ganz abgebrochen.
Jans Neugier hingegen war geweckt worden: "Mir fällt da ein Bekannter ein, aus der Studienzeit, der hat damals Medizin gemacht... Den werde ich mal anrufen und fragen, wo man etwas erfahren kann über diese Afrika-Projekte..."
Gesagt, getan: Tatsächlich fand Jan heraus, an welche offizielle Stelle er sich wenden musste, um nach Darius Freund zu fragen. Nachdem er mehrmals verbunden worden war, schien er die richtige Person am Hörer zu haben. Doch je länger er mit ihr sprach, desto ungläubiger wurde sein Blick. Dann legte er endlich auf und schüttelte den Kopf.
"Und?" rief Julia ungeduldig. "Nun sag schon!"
"Du wirst es nicht für möglich halten... Also, pass auf: Dass ein Darius Freund in Afrika für diese Projekte gearbeitet hatte, konnte die Dame da bestätigen... Na ja und dann kam sie natürlich mit Datenschutz und so... Aber plötzlich meinte sie, es wäre ja eh egal und dass diese alten Daten sowieso bald gelöscht würden. Und als ich fragte, wieso alte Daten, da sagte sie, dass dieser Dr. Freund ja schon lange tot sei und sich nie Verwandte gemeldet hätten - es müsse sich bei unserem Freund um einen Namensvetter handeln... Dr. Darius Freund starb im Alter von 30 Jahren in Afrika an tropischer Malaria und zwar 1964!... Hast du mir nicht erzählt, dass er einen schweren Malaria-Anfall hatte?"
"Und er war auch 30 Jahre alt..." nickte Julia
Jan sah sie nachdenklich an: "Und weißt du, was sie noch sagte, als ich nach Angehörigen fragte: Er war verheiratet. Seine Frau ist in Afrika umgekommen. Sie wurde von Eingeborenen umgebracht, weil die sie aufgrund ihrer roten Haare für eine Hexe hielten. Und halt dich fest: Sie hieß Dr. Julia Freund!... Das Ganze ist wirklich mysteriös, oder?!"
Betroffen schüttelte Julia ihren Kopf, dann schmunzelte sie ihn mit einem Mal versonnen an: "Vielleicht war er ja wirklich mein Schutzengel... einer ohne Flügel... Glaubst du an Reinkarnation?"
Jan schluckte merklich und fuhr sich durchs Gesicht: "Puh... lass uns lieber aufhören... Das wird mir jetzt echt zu unheimlich!"


Jan und Julia heirateten und ein halbes Jahr später wurde Julia schwanger.
Im sechsten Monat erfuhr sie, dass sie einen Sohn bekommen würden. Als sie es Jan zuhause erzählte, meinte er: "Hey, dann können wir uns ja jetzt eigentlich definitiv für einen Namen entscheiden, was meinst du?"
"Und? Hast du schon einen bestimmten im Auge?"
Jan grinste sie an und nickte: "Weißt du, ich mochte Jonathan immer gerne leiden - was hältst du davon? ... Was ist? Warum guckst du so komisch?"
"Ich habe dir doch von dem Brief erzählt, den Darius mir damals hinterlassen hat..."
"Ja, und?"
"Etwas habe ich dir nicht erzählt: Er schrieb damals, dass ich einmal einen Sohn haben würde und er nannte ihn beim Namen... Ich habe den Umschlag mit dem Brief aufgehoben... warte!"
Julia eilte ins Schlafzimmer, holte den Briefumschlag, den sie seinerzeit wieder zugeklebt hatte und öffnete ihn vor Jans Augen. Dann faltete sie den Bogen auseinander. Doch kaum, dass Jan ihn in seinen Händen hielt, geschah etwas Seltsames: Vor seinen Augen verschwand Darius' Schrift - nur ein Name verblasste ganz langsam: Der Name Jonathan......
Sprachlos schauten sie sich an und als sie sich wieder gefasst hatte, meinte Julia: "Du, ich gucke mal im Namensbuch nach, welche Bedeutung Jonathan hat ... Warte mal, wo haben wir das denn hingelegt... Ach, hier... Jonathan... hier steht's : Von Gott gegeben..."
Sie legten das Buch zur Seite und lehnten sich zurück auf dem Sofa. Jan legte seinen Arm um sie.
"Du, Jan..."
"Ja?"
"Als zweiten Vornamen möchte ich gerne Darius - würde dir das etwas ausmachen?"
Liebevoll küsste Jan seine Frau: "Das kann ich verstehen... Irgendwie ist es ein schönes Andenken an den, der dir das Leben gerettet hat..." meinte er und schaute nachdenklich in die Ferne: "Wer immer er auch war..."


Jonathan wuchs in einer glücklichen Familie heran. Er studierte später und wurde ein engagierter Arzt. Doch nicht nur seine fachliche Kompetenz machte ihn so beliebt:
Alle mochten ihn, weil er ein besonders warmherziger und zuvorkommender Mann war, der nie den Blick für den Menschen hinter dem Patienten verlor.

Impressum

Texte: Orelinde Hays
Bildmaterialien: Cover:PetrA
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte ist allen Menschen gewidmet, die an die größte Kraft im Universum glauben: Die Liebe.

Nächste Seite
Seite 1 /