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Rüdiger: der erste feste Freund

Als ich 1981 in Erlangen zu studieren begann, mietete ich mit meinem damaligen Freund eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Rüdiger war vier Jahre älter als ich und studierte Chemie. Um mit mir zusammenzuleben, war er von Marburg nach Erlangen gezogen, was er immer bereut hat. Wenn er mir Komplimente machte, dann war es auf indirekte Weise. Einmal hätten die Nachbarn seiner Eltern gemeint, dass er einen sehr guten Geschmack habe, was Frauen betrifft. Ein anderes Mal hätte er ein schönes Mädchen auf dem Fahrrad erspäht, bis ihm aufgefallen sei, dass es sich um mich handelte! Für mich klang es immer so, als fände er mich nicht besonders attraktiv.

Ich war 19 Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß und versuchte wie Barbie auszusehen. Um meine Akne zu kaschieren, hatte ich meine Haare lang wachsen lassen und weißblond gefärbt. Ich kleisterte mein Gesicht mit dem Clearasil-Antipickelstift zu, ersetzte meine hässliche Brille durch weiche Kontaktlinsen und kleidete meinen eckigen, knochigen Körper in Wrangler-Jeans oder schwarze Cordhosen und Oversize-Sweat-Shirts. Darüber trug ich eine Lederjacke oder einen Blazer mit Schulterpolstern. Ich fühlte mich immer sehr hässlich.

Rüdiger schwärmte eigentlich für Elisa, deren glattes seidenweiches dunkelblondes Haar bis zu den Hüften reichte. Rüdiger selbst sah mit seinem dunkelbraunen Pilzkopf nach seinem Amerikatrip wie ein Mitglied der Dire Straits aus, deren Musik bei uns immer auf seiner Stereoanlage mit den Riesenboxen lief. Er sprach ein gekünsteltes Hochdeutsch und klang wie Florian Silbereisen. Rüdiger war Feinschmecker und ein leidenschaftlicher Koch und zauberte in unserer zwei Quadratmeter großen Kochnische französische Leckereien nach Rezepten der Nouvelle Cuisine. Sein Vorbild war Paul Bocuse, der gekonnt zwei Erbsen und ein Rehmedaillon auf einem Gourmetteller arrangierte. Wir tranken Beaujolais, diskutierten mit Franz, einem Karl-Marx-Anhänger, über die Auswüchse des Kapitalismus und nahmen an Friedensdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss teil. Dazu gab es Beluga-Kaviar und Chicorée in Sahnesauce mit Shrimps. Wir wollten zusammen mit Hunderttausenden die Aufstellung von atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa verhindern. Man könnte sagen, dass mich Rüdiger politisiert hat. Wahrscheinlich hat er auch maßgeblich zu meiner Entscheidung beigetragen, gegen den Willen meines Vaters Philosophie und deutsche Literaturgeschichte zu studieren, statt eine zukunftssichere Ausbildung in einer Bank anzustreben.

„Du wirst schon sehen, wo du landest, wenn du Antichristen wie Nietzsche weiterhin studierst! Wir unterstützen dich dann nicht“, pflegte mein Erzeuger zu drohen. Er schien fest davon überzeugt zu sein, dass ich im Leben eine Bauchlandung hinlegen würde. Wenn ich ab und zu nach Worzeldorf fuhr, um meine Familie zu besuchen, ergriff mich die Angst. Ich musste dann immer im Wohnzimmer schlafen, da mein kleiner Bruder mein ehemaliges Zimmer in Beschlag genommen hatte. Meine vier Jahre jüngere Schwester wollte endlich ein eigenes Zimmer haben und es nicht mit ihrem kleinen Bruder teilen. Kaum zur Tür eingetreten, fühlte ich mich in meinem Elternhaus schrecklich gestresst. Intoleranz und Verständnislosigkeit hatten das Gesicht meines Vaters geprägt. Es gab keinen Raum mehr, in den ich mich vor seinem bösen Blick zurückziehen konnte, wenn mir alles zu viel wurde.

„Wie DIE wieder aussieht!“, hatte mein Vater immer zu meiner Mutter gesagt, wobei er mich und meinen von ständigen Kopfschmerzen geplagten Körper meinte. Er hätte sich eine hübsche Tochter gewünscht ohne Talgdrüsen, die übermäßig Talg produzierten und mich entstellten.

„DIE kriegt einmal keinen Mann!“, orakelte er, wenn ich wieder einmal mit schmerzverzerrtem Gesicht apathisch in der Ecke saß.

„Lass sie doch in Frieden!“, warf meine Mutter ein. „Sonst wird sie später keine Männer mögen!“

Mit diesem Orakel sollte mein Erzeuger allerdings nicht rechtbehalten. Jedenfalls waren meine Eltern immer heilfroh, wenn ich wieder nach Erlangen fuhr.

In meinem Elternhaus stand ich ständig im Rampenlicht und fühlte mich überwacht. Mein Vater war total verkorkst, sein Gesicht war seltsam verzerrt wie bei einem Sadisten, der versucht, seine aufgestauten Frustrationen an einem Schwächeren auszulassen. Das war ich in unserer Familie, weil ich immer auf seine Vorwürfe einging, im Gegensatz zu meiner Schwester, die ihm den Rücken kehrte.

„DIE wird zu groß! DIE braucht Hormone!“, war der zweite väterliche Refrain meiner Jugend. Irgendwie hatte sich mein Vater in den Kopf gesetzt, dass ich von selbst nicht mehr aufhören würde zu wachsen. Meine Mutter verteidigte mich nie. Wahrscheinlich hatte sie auch Angst vor meinem Erzeuger. Als mein Körper eine Höhe von 1.75m erreicht hatte, hörte er wie durch ein Wunder auf, weiter zu wachsen. Ich war 16 Jahre alt und dankte dem Schicksal für meine Wachstumsbeschränkung. Ich war heilfroh, denn ich hatte mich schon auf der Jagd gesehen nach schwer aufzutreibenden Langgrößen bei Kleidung und Schuhen für Frauen ab 1.85m. 

            Rüdiger gefiel meiner Mutter sehr. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir heiraten sollen. Seine Eltern besaßen ein Zweifamilienhaus in einem Vorort von Nürnberg. Sie wohnten im Erdgeschoss, während sie den ersten Stock an amerikanische GIs und ihre Familien vermieteten. Von diesen in Deutschland stationierten US-Soldaten hatte Rüdiger ein perfektes amerikanisches Englisch gelernt, da er sich oft mit ihnen unterhielt.

„Er stammt aus einem anständigen Elternhaus! Mit dem können wir uns sehen lassen.“, sagte meine Mutter zu meinem Vater. Rüdigers Vater war Polier auf dem Bau und hatte sich kaputtgearbeitet, um seinen drei Söhnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Seine Mutter hatte ein Problem mit den Hüften und ging nach einer missglückten Operation am Stock. Alle paar Wochen betrat sie ohne unser Wissen unsere Wohnung – Rüdiger hatte ihr einen Zweitschlüssel gegeben – zog Rüdigers Bettwäsche ab und nahm seine Schmutzwäsche mit, was ich als Terror empfand, da ich nie genau wusste, wann sie uns überfiel. Ich wusch meine Wäsche im Waschraum im 20.Stock selbst und war der Ansicht, dass Rüdiger das auch tun sollte. Tat er aber nicht.

„So eine gute arme Frau!“, sagte meine Mutter über die Mutter ihres zukünftigen Schwiegersohns. „Sie wäre bestimmt auch gern hübsch gewesen.“

Da Rüdigers Mutter den Haushalt nicht allein schaffen konnte, kam samstags immer die Tante Henriette, eine Schwester seines Vaters, zum Putzen. Unter der Woche arbeitete sie in der Fabrik. Tante Henriette war immer gehetzt, da sie sich auch um die 90jährige Großmutter kümmerte, mit der sie in Nürnberg eine Wohnung teilte. Am Anfang unserer Beziehung, als Rüdiger noch zu Hause wohnte, übernachtete ich manchmal bei ihm in seinem Kellerzimmer. Die Toilette befand sich im Heizungskeller neben dem Öltank. Ein kleines Waschbecken war der einzige Komfort in diesem dunklen Raum voller Spinnen. Das einzig Positive an diesem Raum war, dass er im Winter, wenn die Heizung lief, pudelwarm war. Jeden Samstag gegen 8:30 Uhr weckte uns Tante Henriette, indem sie unser Zimmer durchwischte. Ich versteckte mich unter der Bettdecke und schmiegte mich an Rüdigers warmen Körper. Dann fluchte sie über die faule Jugend und klatschte den Lappen gegen die Recycling-Möbel.

Einmal sagte ich zu Tante Henriette, dass sie den Dreck nur verteilen würde, weil sie das Wasser im Eimer nicht wechselte. Das nahm sie mir auf ewig übel. Seitdem hatte ich keine Chance mehr, ihre Sympathie zu erringen.

Die einzige in Rüdigers Familie, die mich irgendwie schätzte, war seine Mutter, da sie mir gerne zuhörte, wenn ich Geschichten aus meinem Leben erzählte. Sie fand, dass ich das gut könne, das Erzählen. Rüdigers Brüder und sein Vater zeigten mir die kalte Schulter.

Nachdem wir zwei Jahre in Erlangen zusammengelebt hatten, verbrachten Rüdiger und ich immer weniger Zeit zusammen, denn er schlief oft bei seinen Eltern in Nürnberg und ließ mich allein. Als wir nach längerer Zeit mal wieder zusammen bei Aldi einkauften, spottete er über den abgepackten Leberkäs, den ich in den Einkaufswagen gelegt hatte. So etwas hätte ich früher nie gegessen! Dabei schmeckt er frisch angebraten richtig lecker, wollte ich entgegnen, sagte aber nichts. Den Chantré, über dessen Erwerb ich mich freute, benutze er nur zum Kochen! Trinken würde er nur den 7sternigen Metaxa! Zwischen uns tat sich ein Abgrund auf.

An Weinachten zog es Rüdiger vor, zu seiner Familie zu fahren, statt den Heiligen Abend mit mir zu verbringen. Ich warf ihm sein Geschenk, einen Setzkasten, hinterher und stürzte mich in einige oberflächliche Affären. Ich bereute es, dass ich ihm in wochenlanger Heimarbeit einen Schal gestrickt hatte. Er hatte das komplizierte Strickmuster gelobt und trug ihn auch mehrere Winter lang. Schließlich zog Rüdiger in eine Wohnung in einem Haus, das seiner Tante Henriette gehörte. Natürlich musste er ihr Miete zahlen. Ich habe ihn dort nie besucht.

Vor einigen Jahren besuchte mich Rüdiger bei meiner Mutter in Worzeldorf. Wir waren beide über fünfzig. Er war inzwischen Manager bei einem großen Chemiekonzern, besaß ein eigenes Flugzeug, seine Frau war wesentlich jünger und Investmentbankerin. Ich machte ihm ein Kompliment, dass er keine Zwanzigjährige geheiratet hatte, sondern schon eine vierzigjährige Schweizerin, mit der er einen kleinen Sohn hatte. Er besaß nun eine eigene Hausmarke Wein. Er ließ sich nämlich einmal im Jahr 2500 Flaschen aus Frankreich kommen, und zwar vom Besten: irgendeinen Chateau-Wein, der auf diese Weise nur noch 20 Euro pro Flasche kostete. Die Flaschen lagerte er in seinem Keller, von wo aus er sie an Freunde und Bekannte weiterverkaufte. Mir schenkte er sogar eine Flasche und versuchte mit mir zu flirten. Man soll die Vergangenheit ruhen lassen. Außerdem trinke ich seit über zehn Jahren keinen Alkohol mehr.

 

Erich: das Genie

 In meinem dritten Studienjahr trennten sich Rüdigers und meine Wege, da er mir vorwarf, nicht oft genug mit ihm zu schlafen, was ihn in seiner Männlichkeit einschränkte.  Das war für ihn ein Trennungsgrund. Um etwas gegen meine ständigen Kopfschmerzen zu tun, ging ich oft schwimmen oder machte autogenes Training. Ich wollte einen durchtrainierten, gepflegten Körper besitzen, der mir ein selbstsicheres Auftreten ermöglichen sollte. Doch es ging mir von Tag zu Tag schlechter. Ich hatte ein multiples Erschöpfungssyndrom.

In Ratgebern hatte ich gelesen, dass man sich gut verkaufen musste, wenn man Erfolg haben wollte. Sich Hängenzulassen finde niemand attraktiv. Im Studium fühlte ich mich meistens überfordert, weil ich keine Nacht durchschlief, sondern mich ruhelos im Bett herumwälzte. Negative Gedanken beherrschten mich. Am Morgen stand ich völlig gerädert auf und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Wahrscheinlich war es die Wirbelsäule, die sich im Laufe des Tages verspannte und so die Dauerkopfschmerzen verursachte.  Der Körper brauchte Bewegung. Ich fand es unerträglich, schlaffes Fleisch an meinem Körper zu haben. Das Schwimmbad tat mir gut und entspannte meine angegriffenen Nerven. Im Sommer ging ich ins Freibad, das ein 50 Meter Schwimmbecken besaß und legte mich anschließend auf die Steintribüne in die Sonne. Mit gebräuntem Gesicht stach meine Akne nicht so hervor. 

Erich sprach mich an, weil er dasselbe Buch wie ich las, nämlich „Die Kritik der zynischen Vernunft“ von Peter Sloterdijk. Erich hatte ein abgeschlossenes Philosophie- und Mathematikstudium und arbeitete als Dozent am Institut für Automatentheorie. Er konnte nachts nur mit einer starken Neonlampe schlafen, deren Licht ihn blendete. Er nahm sie überall mit hin. Wenn man seine Wohnung im vierten Stock betrat, musste man sich den Weg erkämpfen durch Stapel von Büchern und Notizen, die auf dem Boden lagen und aus den zahlreichen Wandregalen quollen. Die Wände waren vollgekritzelt mit mathematischen Formeln und philosophischen Gedankensplittern. In der Kochnische erhob sich auf der Arbeitsfläche neben der Spüle ein 30 Zentimeter hoher verkrusteter Kaffeesatzberg, der schätzungsweise von 100-mal Kaffeeaufbrühen stammte und zum Düngen eines ganzen Gewächshauses gereicht hätte. Dabei besaß Erich keine einzige Zimmerpflanze.

Erich schleppte mich oft in Büchergeschäfte, wo er stets auf der Suche nach einem bestimmten Buch hinter irgendwelchen Regalen verschwand. Ich kam mir dann wie abgestellt vor, da er für Stunden kein Wort mit mir wechselte.

Erich fand, dass ich aussähe wie ein Hund. Damals hörte ich es gar nicht gern, mit einem Tier verglichen zu werden, doch heute sehe ich das anders. Es ist eine Ehre wie ein Tier auszusehen, da inzwischen Hunde und Katzen meine besten Freunde geworden sind. Erich sah damals eigentlich wie ein Clochard aus, doch ich hütete mich, es ihm zu sagen. Er hätte wirklich etwas auf seine Kleidung achten können, die ziemlich heruntergekommen war. Seine Hemden waren mit Tintenflecken übersät, weil er die Füller, mit denen er seine mathematischen Beweise aufschrieb, ohne Kapsel in die Tasche seiner Hemden steckte. Sogar im Winter trug er nur ein dünnes Hemd und einen offenen Lodenmantel. Pullover besaß er keine. Ihm schien es nie kalt zu sein.

Erich war 37 Jahre alt, hatte einen großen Mund, große Ohren, denen nichts entging und wallendes Haupthaar, das allerdings am Hinterkopf schon sehr dünn wurde. Außerdem war er am ganzen Körper sehr behaart. Ich fand es lustig, ihn anzusehen. Man hatte irgendwie den Eindruck, in längst vergangene Zeiten zurückversetzt zu sein. Er war mein Lehrmeister in Philosophie, aber bedienen wollte ich ihn nicht. Einmal hatte ich deswegen sogar eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter, die mich in meiner Wohnung in Erlangen besucht hatte. Als auch Erich dort eintraf, meinte sie:

„Du könntest Erich schon einen Kaffee machen!“
„Den kann er sich selbst machen!“, war meine lakonische Antwort. Ich wollte kein Knecht sein, sondern genau dieselben Dinge tun wie die Männer. Niemand sollte mich je „besitzen“. Die Ehe galt für mich als „Bumsvertrag“, der dem Mann vertraglich sein Vergnügen zusicherte. Erich betonte, dass Hausfrauen in Beziehungen besser wegkämen als Männer, da sie höchstens eine 20-Stunden-Woche hätten. Eine These, die er mit Beispielen aus seiner weiblichen Verwandtschaft stützte, die den ganzen Tag nur faulenzten. Ich dagegen führte die zahlreichen berufstätigen Frauen an, die daneben auch noch den ganzen Haushalt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sabine Schmidt
Bildmaterialien: Fernando Frattianni
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2023
ISBN: 978-3-7554-3071-1

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