„Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!“
(Theodor Fontane: Die Brück’ am Tay)
20. Mai 2007 – Nacht
James hätte selbst dann geschwankt, falls er nüchtern gewesen wäre. Eine steife Brise überstrich von der Themse her Greenwich, und obwohl die Cutty Sark seit über 50 Jahren im Trockendock lag, ließ der Wind Masten und Takelage des Klippers unwillig aufknurren; selbst der Rumpf begann sich zu regen und zu ruckeln. Dies hätte James fast auf die Bootsplanken geschickt, doch auch der zweite Mann an Deck registrierte dies: „Die Deern sehnt sich nach dem Meer.“
James lehnte sich beidhändig gegen die Reling und blickte über das Heck weg zur Greenwich Pier. Endlich erkannte er, dass da tatsächlich nicht nur er selber schwankte: „Würde sein schlecht Idee: Ohne Ruder, ohne Halb der ... Half of the yardarms. What is it in German, Gerd?“
„Die Hälfte der Rahen?“ riet sein Gegenüber grinsend. „Stimmt; bis die restauriert sind ... Aber ehrlich, James: Dein Deutsch mit schottisch-englischem Akzent, das ist eh schon tough, und nach vier Bieren-“
„Nichts englisch an James Kirkpatrick!“ unterbrach ihn sein Kollege; dann taumelte er auf Gerd zu, der auf einem Tau-Stapel am Besan-Mast saß. „Nur Schottisch!“
„Sorry! Stört es dich dann nicht, dass du jetzt in London arbeiten musst – in der Hauptstadt des englischen Erzfeindes?“
„Ist nur Job. Und sind nicht viel Jobs für Schisa ... Schafsimmi ...“
„Für Schiffszimmermänner wie uns?“
„Hell, yes! Ich habe arbeitet in Russia, habe arbeitet an Gorch Fock, wo lernte Deutsch – sogar in Frankreich, wo ich lernte kennen dies!“
Er zückte eine im Mondlicht grünlich schimmernde Flasche, die von Gerd misstrauisch beäugt wurde: „Ist es das, wofür ich es halte?“
„Hell, yes: Echte Absinth, gebraut nach alte Rezept! Slàinthe mhath, mein Freund!“
Eher zögerlich ließ sich der Deutsche aus der Flasche einschenken. Es dauerte aber nicht lange, da drohte auch er sich an dieses Getränk zu gewöhnen; Glas folgte auf Glas, und wenig später sang James schon gegen die Brise an:
„Weel-mounted on his grey mare, Meg,
A better never lifted leg,
Tam skelpit on thro' dub and mire,
Despising wind, and rain, and fire.“
Während sich bei dem Schotten die Zunge zu lösen beginnt, wird sie bei dem Deutschen eher schwerer: „Was war’n dasss?“
„Tam o’ Shanter!? Das Gedicht, von das die Schiff hat ihre Namen: Cutty Sark, das ist ... Ja, kurzes Hemd – eine Art ...“
Jetzt stellte sich Gerd neben James an die Reling und in den Wind: „Ah, weiß schon: Hatten wir in Englisch; ’ne Hochland-Schauer-Ballade. Und Meg, das war Tams Pferd, dem die Hexe – also, die im kurzen Hemd, die Galionsfigur da hinten – dem sie den Schwanz abriss. Stimmt’s?“
„Rrrrichtig!“
„So was haben wir aber auch; wie war das... Ach ja:
‚Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf.
Und wie’s auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.’
Die Brück’ am Tay; Fontane – auch was Schottisches!“
Derart in Gang, singen und rezitieren die zwei zwischen den Gläsern noch einige Strophen – bis Gerd bei folgenden Zeilen anlangt:
„’Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht!
Wann treffen’ – Warte mal, was is’n das? Siehst das auch?“
James, der in der Takelage hing, sah daraufhin auch flussabwärts: „Das ist ... What the hell!? Wenn das wäre Loch Ness ... It’s Nessie! A Dragon! Look at all that smoke, the fire, the glowing eyes!“
„Das ist kein Drachen, das ist ... Hör, wie’s stampft: Das is’n Pferd! Ein Geisterpferd; es spuckt Feuer, und ... Es reitet auf dem Wasser!“
„Oh my goodness: It’s Meg! Die Pferd von Tam o’ Shanter; es will nehmen Rache an die Hexe: Rache an die Hexe Cutty Sark!“
„Und sie kommt näher; sie ... Sie galoppiert schon am Greenwich Pier vorbei, und ... Nein, Gott sei Dank: Sie bleibt auf dem Fluss!“
„Aber sie – sie wirft ihr Feuer nach hier; sie will uns – Take cover!“
So schnell, wie es der Zustand des Duos gestattete, sprang der Schotte auf den Deutschen zu und riss ihn zu Boden. Hart schlug man auf auf den Schiffsplanken, und als sich die zwei wieder aufrappeln konnten, stand über ihnen schon ein Segel am Besan-Mast in Flammen.
21. Mai 2007 – Tag
Kopfschüttelnd blickt der Inspektor auf das qualmende Wrack der Cutty Sark: „Gestern noch ein stolzer Tee-Klipper; heut ein Haufen Holzkohle. Ob da noch was zu retten ist ...“
„Dabei hatte man noch Glück im Unglück.“ erwidert der neben ihm stehende Feuerwehrmann. „Viele Teile waren demontiert und ausgelagert, aber was noch da war ... Weiß man schon, wie’s passiert ist?“
„Wir vernehmen gerade zwei Handwerker von der Crew der Restaurateure. Aber was die so erzählen ... Die waren Sternhagelvoll, und gepanschter Absinth, der kann üble Halluzinationen zur Folge haben.“
„Was hatten die denn nachts auf dem Schiff zu suchen?“
„Ach, sie hatten Überstunden gemacht, waren die letzten an Bord; tranken ein Bierchen, dann noch eins, und- Was ist denn das?“
Als sie ein ungewohnt stampfendes Maschinengeräusch hören, drehen sich beide Männer zur Themse hin um. Der Feuerwehrmann erkennt das betreffende Objekt sofort: „Was, kennen Sie nicht die Princess Meg? Den letzten noch auf der Themse verkehrenden Raddampfer?“
„Ach ja, doch; schon mal gehört; noch so ’ne nautische Touristen-Attraktion ... Gab’s da nicht auch mal irgendwelche Probleme?“
„Irgendwelche? Mit dem Kahn haben wir dauernd Ärger! Die machen Tagestouren auf die Nordsee; da draußen veranstalten sie Besäufnisse mit Feuerwerk, und manchmal feuern sie die letzten Raketen noch hier in Greater London ab! Aber solang’s nicht so endet wie beim Schwesterschiff ... Princess Alice, sagt Ihnen das was?“
„Klar; das Unglück von 1878 auf der Themse: 640 Tote!“
„Genau! Gönnen wir der Meg ihren Spaß, solang’s halt dauert: Ist schließlich nur ein Jahr jünger, als es die Cutty Sark hier war ... Und kommt auch aus Schottland!“
„Hat also wieder Dampfkraft gesiegt über Windkraft.“ bemerkt der Inspektor. Einige Zeit blickt man dem gen City davon stampfenden Dampfer nach. Als auch das lauteste Gekreische feucht-fröhlicher Touristen wieder vom Tröpfeln des Löschwassers übertönt wird, murmelt der Inspektor dem Schiff einen Gruß hinterher:
„’Now, do thy speedy-utmost, Meg,
And win the key-stone o' the brig;
There, at them thou thy tail may toss,
A running stream they dare na cross.’“
Der Feuerwehrmann drehte sich verwundert zum Sprecher um: „Hm? Beg your pardon?“
„Oh, never mind. Just some old, forgotten lore ...“
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2013
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