„An Seine kaiserliche Majestät, Alexander II., Zar von Russland:
Wir, eine Handvoll Bürger der Vereinigten Staaten, die wir zur Erholung reisen, haben keinerlei Entschuldigung dafür, dass wir uns – wenn auch unaufdringlich, wie es unserem inoffiziellem Status gebührt – Eurer Majestät aufdrängen, es sei denn, um unsere dankbare Anerkennung gegenüber dem Herrscher eines Reiches zum Ausdruck zu bringen, welches unserem Heimatland stets ein verlässlicher Freund gewesen ist.
Wir könnten es uns niemals anmaßen, uns Euch derart aufzudrängen, wenn wir nicht wüssten, dass die Worte, die wir sprechen, wie die Ansichten, die wir stammeln, die Gedanken und Gefühle unserer Landsleute widerspiegeln – von den Grünen Hügeln Neuenglands bis zu den schneebedeckten Gipfeln am fernen Pazifik. Obwohl wir nur wenige sind, sprechen wir für unsere ganze Nation.
Eine der glänzendsten Seiten, mit denen uns die Historie beglückt hat, seit Weltgeschichte geschrieben wird, wurde von der Hand Eurer Majestät verfasst, als sie die Fesseln von 20 Millionen Leibeigenen löste, und für jeden Amerikaner ist es ein Privileg, einem Herrscher die Referenz zu erweisen, der solch eine Tat vollbracht hat. Dies war uns eine Lehre, von der wir profitiert haben, und unser Land ist heute nun auch faktisch so frei, wie es dies vor der Sklavenbefreiung nur nominell war.
Amerika verdankt Russland viel, vor allem aufgrund der nimmer schwankenden Freundschaft in der Zeit unseres unseligen Bürgerkrieges. Wir beten vertrauensvoll dafür, dass diese Freundschaft erhalten bleibt, und wir wissen sehr wohl, dass unser Land Russland und seinem Souverän dankbar ist und bleiben wird. Es wäre Verrat, zu glauben, dass unser Land diese Freundschaft jemals infolge irgendeiner vorsätzlichen, ungerechten Tat aufgeben könnte!
Yalta, den 26. August 1867.“
Der Sprecher verstummte, senkte das Blatt, verneigte sich und reichte es seinem Gegenüber. Dieser deutete seinerseits eine Verbeugung an, nahm die Huldigungsadresse entgegen und warf einen Blick auf die Signaturen: „Zu generös, Mister – Mister Clemens, scheint mir?“
Adressat und Sprecher lächelten gütig beziehungsweise geschmeichelt; dies konnten trotz des ausgeprägten Bartwuchses der beiden Männer alle Umstehenden erkennen. „Samuel Langhorne Clemens aus San Francisco, Eure Majestät; ich habe die Ehre, als Sprecher aller Passagiere der Quaker City
zu fungieren. In den letzten zwei Monaten haben wir den Atlantik überquert, halb Europa durchreist und das Mittelmeer durchkreuzt. All dies verblasst jedoch gegen das Glück und die Ehre einer Audienz bei Eurer kaiserlichen Majestät. In Paris – auf der Weltausstellung – sahen wir bereits den Kaiser der Franzosen und den türkischen Sultan, doch dort waren wir nur Zuschauer in der Menge.“
„Dieser Narr! Warum muss er Paris erwähnen?“
„Wie bitte, Herr Konsul? Warum sollte Clemens das nicht tun?“
Der Diplomat stand am rechten Ende der Reisegruppe; daher hatte sowieso nur sein Nebenmann jene letzte Bemerkung verstanden. Dennoch beugt sich der Konsul nun zu dem jüngeren Mann hinüber, um noch leiser werden zu können: „Warum, fragen Sie!? Nun gut, Mister Jones; Sie waren auf See ... Seine Majestät war auch in Paris – einige Zeit vor Ihnen – und dort wurde ein Attentat auf ihn verübt.“
„Schon wieder!? War da nicht erst ...“
„So ist es: Erst letztes Jahr versuchte ein Anarchist, Seine Majestät in Sankt Perkinsburg zu töten. In Paris war es dann ein Pole ... Es war reines Glück, dass der Zar aller Russen überlebt hat.“
„Glück für die Russen – oder für den Zar?“
„Mit so etwas scherzt man nicht, junger Mann!“
Der derart Getadelte schwieg – wenn auch kaum aus Scham über einen vermeintlichen Scherz. Statt zu antworten, sah er sich darauf mit erhöhter Aufmerksamkeit in dem Garten um, wo man sich im Schatten einiger Baumriesen versammelt hatte: Der Zar unterhielt sich gerade mit einigen Mitgliedern der Reisegruppe, die – den Hut stets ehrerbietig in der Hand – mehr oder minder eloquent Auskunft gaben. Dabei stellte der Monarch nach und nach einige Personen aus seiner Begleitung vor: Zuerst die Zarin, dann seine Tochter, allerlei Großfürsten sowie einige Militärs. Dass letztere zumeist ältere Männer waren, befremdete Jones: „Und trotzdem kommt er ohne Leibwache!?“
„Wir sind in seinem Sommerpalast.“ erwiderte der Konsul mit einem Schulterzucken. „Und Besucher aus dem Ausland, das ist sowieso unproblematisch. Bei Einheimischen, da ist das etwas Anderes.“
Jones antwortete nichts, zumal sich nun die Zarin an alle Anwesende richtete: „Meine Damen und Herren, Sie haben besonderes Glück, dass Sie gerade an diesem Tag in unserem schönen Yalta sind: Denn heute ist auch Fjodor Grigoriew in unserer Mitte, der berühmteste Bass des Mariinsky-Theaters, und er hat sich bereit erklärt, uns alle mit einigen Liedern zu erfreuen.“
Während sich alle zu dem Musik-Pavillon hinüber begaben, der ein Hügelchen am anderen Ende des Gartens krönte, vermischten sich die gut drei Dutzend Amerikaner mit den zwei Dutzend Russen. Jones wurde vom Konsul getrennt; stattdessen gesellte sich ein Mitreisender zu ihm, der sich bisher abseits gehalten hatte: „Mister Perkins! Haben Sie schon mit der kleinen Großfürstin gesprochen? Ein allerliebstes Kind!“
„Ein allerliebstes Kind, fürwahr!“ erwiderte Perkins mit unüberhörbarem Hass in der Stimme. „Ihr Vater mag uneingeschränkter Alleinherrscher über siebzig Millionen Untertanen sein, doch ebenso uneingeschränkt herrscht dieses Kind über ihn; man sieht es an jedem Blick, den Vater und Tochter wechseln: Sie ist sein ganzes Glück.“
„Das ist doch nur natürlich; ein sympathischer Zug. Was ärgert Sie daran, Perkins?“
„Was mich daran ärgert? Auf einen Wink Alexanders fahren Schiffe durch die Meere und Lokomotiven über die Steppen; Telegraphen setzen sich in Bewegung; Millionen Soldaten und Beamte stehen stramm. Über all dies könnte auch jenes Kind gebieten; vor allem: Sie könnte jenen Tausenden und Abertausenden helfen, die im Namen ihres Vaters in die unwirtlichen Weiten Sibiriens verbannt worden sind: Eine Gegend, in die niemand freiwillig reist, ein Landstrich, den jene Unglücklichen aber auf Jahre, Jahrzehnte oder gar für den Rest ihres Lebens nicht mehr verlassen dürfen – es sei denn, dass der Zar sie begnadigt. Würde er dies seinem Töchterchen verweigern, wenn sie ihn darum bäte? Wenn?“
„Sie ist doch erst – wie alt? Vierzehn?“ gab Jones zu bedenken. „Bei ihrem Vater, da ist das etwas anderes. Er-“
„Spielt keine Rolle!“ unterbrach ihn Perkins rüde. „Wenn ihr Vater heute tot umfällt-“
„Nicht so laut, Mann!“
„Was schert’s mich, wer mich hört!? Wenn ihr Vater heute tot umfällt, so würde dennoch alle Macht jenem Kind zufallen – oder ihrem Bruder; das spielt keine Rolle. Und dann? Würden die auch Alexanders Reformen fortsetzen? Oder geht alles wieder in die andere Richtung? Diese Monarchie ist ein Glücksspiel, eine Lotterie, bei dem es um das Glück und das Unglück der Völker geht, Jones – und das gilt für jede Monarchie; schon allein die Idee an sich! Der groteskeste Schwindel, den sich die Menschheit je erdacht hat. Der einzige, der bei diesem Spiel immer auf der Seite des Glückes steht, ist der Monarch!“
Jones war überrascht: „Viele sehen in Zar Alexander einen Befreier. Immerhin, er hat die Leibeigenschaft-“
Wieder fiel ihm sein Mitreisender ins Wort: „Spielt alles keine Rolle. Mit einer Handbewegung kann jener Mann, jener so harmlos, so leutselig wirkende Mann da drüben jeden beliebigen seiner Untertanen in die sibirische Hölle verbannen; gleichzeitig kann er mit Clemens und den anderen plaudern, als wäre nichts geschehen. Dennoch; ich könnte ihn mit einem Schlag, mit einem Stich, mit einem Schuss niederstrecken wie jeden anderen Menschen.“
„Was – wollen Sie etwa-?“
„Und wenn: Was spräche dagegen? Das einzige, was diesem Land auf Dauer helfen kann, ist eine Revolution. Erstich einen Romanow, wo immer du einen findest!“
Allmählich begann diese Tirade Jones auf die Nerven zu gehen: „Und? Warum tun Sie’s nicht? Da drüben ist er; ein Dutzend schnelle Schritte ...“
„Sagte ich nicht, dass eine Monarchie immer ein Glücksspiel ist? Ich kenne die Geschichte, mein junger Freund – etwa die Frankreichs: Was half es, dass seinerzeit Heinrich IV. – der ‚gute’ König Heinrich! – ermordet wurde? Seine Erben waren viel schlimmer! So könnte auch der nächste Zar alle Aufstände und Revolutionen in Blut ertränken, wie es seinerzeit Ludwig XIV. tat. Erst unter dem vermeintlich harmlosen, gütigen Ludwig XVI. war die große französische Revolution möglich! Auch Alexander II. ist eher harmlos, wenn man ihn an seinen Vorgängern misst – und auch im Vergleich mit seinen Erben, fürchte ich. Je länger also er im Amt bleibt, umso besser sind die Chancen auf eine erfolgreiche Revolution! Eine Revolution aber braucht dieses Land; der Versuch, das derzeitige System zu reformieren, ist unlogisch, ja idiotisch. Merken Sie sich meine Worte!“
Letzteres rief Perkins Jones noch nach: Denn nun erreichte man die Stuhlreihen, die im Viertelrund um den leicht erhöhten Musik-Pavillon herum standen, in dem das Piano schon wartete. In der ersten Reihe ließen sich die Zarenfamilie nieder, einige Offiziere und als einziger Amerikaner der Konsul. Jones gelang es, einen Platz in der zweiten Reihe zu ergattern; Perkins indessen ging zuerst ganz nach vorne, aber da er dort natürlich nicht unterkam, musste er sich schließlich mit einem Sitz in der fünften und letzten Reihe begnügen – was Jones erleichtert zur Kenntnis nahm: So war der Zar für ihn außer Reich- und Hörweite. Er dagegen müsste sich nur vorbeugen, bräuchte nur seine Rechte auszustrecken, und er könnte die linke Schulter des Herrschers aller Russen berühren ...
Sein Sitznachbar schien seine Gedanken zu erraten: „Faszinierend, nicht wahr, Jones?“ wisperte er dem jungen Mann zu, wobei er auf den Zaren wies. „Wenn ich seinen Mantel stehlen könnte, ich würd’s tun! Wenn ich solch einen Mann treffe, dann muss ich einfach ein Souvenir haben, das mich an ihn erinnert.“
Jones bemerkte erst jetzt, neben wem er saß, und er zwang sich zu einem Lächeln: „Ich weiß, was Sie meinen, Clemens: So wie die Steinchen und Bruchstücke, die wir unterwegs von all den Heiligtümern, Ruinen und Relikten abgebrochen haben?“
Während sich ringsum die letzten aus der Reisegruppe setzten, lachte Clemens fröhlich auf: „Ach, ich bin ja nur ein Amateur! Aber waren Sie in letzter Zeit mal in Bluchers Kabine?“
„Äh, nein ...“
„Ein wahres Kuriositäten-Kabinett! Ich habe ihn gestern dabei ertappt, wie er das Zeug etikettiert hat, das er auf den Schlachtfeldern des Krim-Krieges gesammelt hat: Eines davon – offensichtlich der Kieferknochen eines Pferdes – hat er mit ‚Fragment eines russischen Generales’ beschriftet. Zwei andere, schon ältere Teile fielen mir auf; an einem stand ‚Von der Kanzel des Demosthenes’, am anderen ‚Vom Grab des Abelard und der Héloïse’ – und beides waren Hälften desselben Steines; er gab ganz offen zu, dass er ihn irgendwo am Wegesrand aufgelesen hat. Nach dieser Reise werde ich die ‚Schätze’, auf die all die Museumsdirektoren der Welt so stolz sind, mit anderen Augen betrachten – ganz zu schweigen von den Reliquien in Kirchen und Klöstern ... Wo wir schon beim Thema Reisen sind: Darf ich Sie mit Baron von Ungern-Sternberg bekannt machen? Er ist der
russische Eisenbahn-Tykoon.“
Er wies auf seinen Nachbarn zur Rechten, einen der russischen Zivilisten, bei dem die rötliche Gesichtsfarbe auffallend mit dem weißen Haar- und Bartwuchs kontrastierte. Dieser begrüßte Jones derart lautstark, dass sich der Amerikaner wunderte, als sich niemand aus der ersten Reihe umwandte: „Frrrreut mech, Mester Jones! Warrr efft en Ehre schäne Land, in Värrräinigte Stattten von Amerrricka: Wenderrrvolles Netz an Äisenbahn – aberrrr zu vell ... Wie sägt mannnn ... Tohuwabohu? Jedärrr baut, wo ärrr will, wann ärrr will ... Nicht bei uns: Zarrr sagt, wo bauen – wirrr bauen!“
Wieder lachte Clemens laut auf, aber diesmal zischten einige Nachbarn nachdrücklich: Denn nun betraten Sänger sowie Pianist den Pavillon, und wie nur noch fernes Grillenzirpen zu hören war, begann der Bassist nach einigen einleitenden Takten des Klaviers:
„Die Mitternacht zog näher schon;
in stiller Ruh’ lag Babylon.
Nur oben in des Königs Schloss,
da flackert’s, da lärmt des Königs Tross.“
„Ah, ‚Belsazar’ von Schumann.“ bemerkte dazu der Eisenbahn-Baron leise. „Nach Heine ... Sährrr schän!“
Mit einem seligen Lächeln faltete er seine Hände überm Bauch, lehnte sich zurück und lauschte den folgenden Strophen.
„Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
Die Knechte saßen in schimmernden Reih’n
und leerten die Becher mit funkelndem Wein.“
Jonas hatte zwar die Bemerkung des Barons gehört, verstand aber den deutschen Original-Text des Liedes nicht – ebensowenig wie offenbar Clemens, der ein Gähnen zu unterdrücken versuchte. Die meisten Russen dagegen lauschten andächtig dem stimmgewaltigen Sänger – darunter auch der Zar, soweit Jones das von hinten beurteilen konnte.
„Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht’;
so klang es dem störrigen König recht.
Des Königs Wangen leuchteten Glut;
im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
Und blindlings reißt der Mut ihn fort,
und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.“
Ein großer Sänger; das erkannte auch Jones. Umso zorniger machte es ihn, dass der Zar offenbar nichts dabei fand, sich hier dem Kunstgenuss hinzugeben, dass er – und erst recht seine amerikanischen Gäste! – so glücklich wirkten, während Millionen seiner Untertanen in Unglück, Elend und Verfolgung lebten. Ja, Perkins hatte recht gehabt, hatte recht mit jedem einzelnen Wort; um das zu lernen, hätte Arthur Jones – beziehungsweise Jonas Arturatis, wie ihn seine Eltern eigentlich getauft hatten – nicht um die halbe Welt reisen müssen.
„Und er brüstet sich frech und lästert wild;
die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.“
1831 war ein weiterer Aufstand in seiner Heimat gescheitert; erneut hatte sich jede Hoffnung zerschlagen, dass sich das Baltikum aus den Klauen des russischen Adlers würde befreien können. Stattdessen wurde im Folgenden die Eigenständigkeit des litauischen Volkes und ihres katholischen Glaubens gewaltsam unterdrückt. So flohen Jonas’ Eltern schließlich schweren Herzens aus Vilnius bis ins ferne Amerika; eine Reise, die deren Sohn nun gewissermaßen in umgekehrter Richtung nachvollzog – wenn sie auch an den Gestaden des Schwarzen Meeres anstatt am Ostseestrand enden sollte.
„Der König rief mit stolzem Blick;
der Diener eilt und kehrt zurück.
Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.“
Jonas hat die Heimat seiner Eltern – seine Heimat! – nie gesehen; er kannte sie nur aus Erzählungen, nur von Bildern und aus Büchern. Vermutlich würde er niemals seinen Fuß auf litauischen Boden setzen. Und wer war schuld daran? Wer, wenn nicht der Zar, wenn nicht die Machtgier der Romanows?
„Und der König ergriff mit frev’ler Hand
einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
und rufet laut mit schäumendem Mund:
„Jehova! dir künd’ ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon!““
Jonas war von Anfang an klar gewesen, dass Perkins’ Tirade eben dies war – eine Tirade, nichts als großspuriges Gerede; zur Tat würde er niemals schreiten.
Anders er! Wie er durch einen glücklichen Zufall von jener Europa-Reise erfahren hatte, hat er alles daran gesetzt, eine Fahrkarte zu bekommen, und er hat auch darauf hingewirkt, dass die Passagiere die Einladung des Zaren zu dieser Audienz annehmen: Denn dies war das einzige Reiseziel, das ihn interessierte. Es würde ein Litauer sein, der Alexander II. auf die Reise gen Hades schickt, kein russischer Anarchist, kein polnischer Patriot; mit noch ein wenig Glück mehr würde hier und heute das Glück des Zaren enden ...
„Doch kaum das grause Wort verklang,
dem König ward’s heimlich im Busen bang.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
es wurde leichenstill im Saal.“
Jonas zuckte zurück, wie sich der Zar plötzlich rührte: Er beugte sich vor; er fasste sich an die Schläfe; er sah zur Seite, zu seiner Frau hinüber, so dass ihn Jonas im Profil sehen konnte. Er wirkte ... betroffen? Gar unglücklich!? Oder ahnte er etwas? Nein; unmöglich: In Jonas’ Pass stand nur „Arthur Jones“, und selbst den hatte er auf russischem Boden zu seiner eigenen Überraschung bisher nicht vorzeigen müssen. So viel Glück an einem Stück, das will genutzt sein! Und wenn der Zar etwas ahnen würde, würde er doch wohl nicht hier sitzen!? Nein; Alexander würde selbst dann noch nichts begreifen, wenn Jonas ihm seinen Dolch zwischen die Schultern rammen würde: Jenes Mitbringsel der etwas anderen Art, das er jetzt noch im linken Mantelärmel versteckte. Er würde den Tyrannen töten, so wie einst Brutus den Cäsar; er, Jonas Arturatis, würde sich so mit flammenden Lettern in die Geschichtsbücher eintragen – vielleicht nicht als Befreier, aber doch zumindest als Rächer.
„Und sieh! Und sieh! an weißer Wand
da kam’s hervor wie Menschenhand;
und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.“
Jonas hatte bereits die Rechte in den linken Ärmel gesteckt, da zuckte er erneut zurück: Neben ihm unterhielt sich Clemens wieder mit dem Baron – flüsternd zwar, doch laut genug, dass es lästig war. Nun gut; zwar würden gleich eh alle aufschreien und aufspringen, aber trotzdem; dann würde es immerhin einen guten Grund geben ...
„Der König stieren Blicks da saß,
mit schlotternden Knien und totenblass.
Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
und saß gar still, gab keinen Laut.“
„... wirrr lasssänn jätzt arrbeitän Sträffflinge, Värrbannte an Bahn.“ hörte zugleich Jonas den Baron flüstern. „Ist särrr gut: Sind still, frädlich ... Habän fast schon Zähntausend Sträffflinge bei Bau!“
Zehntausend Zwangsarbeiter! Vielleicht, sagte sich Jonas, sollte ich nach dem Zaren gleich diesen Baron abstechen! Oder noch vorher?
„Ach was!“ hörte er dann Clemens fröhlich antworten. „Was sind schon Zehntausend? Beim Bau der amerikanischen Eisenbahnen müssen achtzigtausend Sträflinge mit ran: Alles zum Tode verurteilte Mörder. So gesehen, ist das noch ein Glück für die!“
Darauf blieb dem Baron vor Verblüffung der Mund offen stehen – und ebenso Jonas. Achtzigtausend! Stimmte das wirklich? In den USA, in seiner Heimat, im Hort der Freiheit und Gerechtigkeit!? Aber im Allgemeinen war Clemens, der Schreiberling, gut informiert ...
„Die Magier kamen, doch keiner verstand
zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
von seinen Knechten umgebracht.“
Das Lied endete; der Zar sprang auf, applaudierte beigeistert und schritt auf den Pavillon zu. Nachdem sich der Sänger verbeugt hatte, stolperte er fast die vier Stufen zum Pavillon hinunter, um den Dank seines Herrschers nicht von oben herab entgegen nehmen zu müssen; aber auch, wie sich die zwei Männer dann gegenüber standen und sich der Bass erneut verneigte, überragte er den Zaren immer noch um die Breite einer Messerklinge.
Auch Jonas war aufgesprungen. Erst, wie er sich schon klatschen hörte, wurde ihm bewusst, dass die Gelegenheit nun endgültig verpasst war. Noch mal Glück gehabt, Alexander! Aber andererseits ... Erst vor zwei Jahren war Präsident Lincoln ermordet wurden, der sein Land in einen vierjährigen Bürgerkrieg gestürzt hatte. Der Krimkrieg des Zaren mochte 200.000 Menschen das Leben gekostet haben; was war das gegen die 600.000 Toten des Sezessionskrieges? Und Lincolns Vize und Nachfolger Andrew Johnson lebte ja noch. Vielleicht, dachte Jonas, sollte ich als nächstes lieber nach Washington reisen; da bin ich auch noch nie gewesen, und dann, mit ein wenig mehr Glück als heute ...
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Im Gedenken an den 100. Todestag von Mark Twain, den 200. Geburtstag von Robert Schumann und den 213. von Heinrich Heine