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Die Fahrt des Phaëton

Es hatte so enden müssen, dachte ich, als ich die Meldung im Radio hörte. Es konnte gar nicht anders enden, nein, es durfte gar nicht anders enden, dachte ich. Ob auch noch andere so dachten? Jedenfalls war die Meldung die Nachricht des Tages, die Sensation der Woche, und für manchen die Nachricht des Jahres, wenn nicht gar ihres Lebens. Für die einen war die Sonne vom Himmel gefallen; die anderen hatten ihren Lebensmenschen verloren, und selbst ich – selbst ich als geborener Österreicher! – staunte, wie viele von denen, die den Lebenden vorher beschimpft, bekämpft und verachtet hatten, wie viele von denen den Toten plötzlich priesen. Hätte er sein eigenen Begräbnis besuchen können, er wäre begeistert gewesen: Endlich, so schien es, endlich liebten ihn alle, aber auch wirklich alle! Er wollte immer geliebt werden, wollte beliebt sein bei jedermann, das war schon immer so; das war so, so lange ich ihn kannte – und das ist ziemlich lange. Wir trafen uns in der Schule, damals, in den muffigen 60er Jahren, in der ersten Klasse eines oberösterreichischen Gymnasiums, ich, Elias Quadratsky, Sohn eines emigrierten Juden und Sozialdemokraten, und er, Bernhard Ahab Waldner – vermutlich waren seine Eltern Melville-Leser; ‚da bläst er; es ist Moby Dick!’ – eigentlich aus kleinen Verhältnissen stammend, bald aber Erbe eines arisierten Gutes, besser gesagt, Erbe eines ganzen Tales! Außer dem Alter hatten wir kaum etwas gemeinsam; das dachte ich mir gleich am ersten Tag: Während ich mich still in die erste Reihe setzte, stellte er sich – kaum in der Klasse – bei allen Mitschülern vor, schwatzte, scherzte, schwadronierte, organisierte die Klassensprecherwahl und ließ sich auch gleich wählen. Amüsiert beobachtete ich die Lehrerin; sie spielte offenbar mit dem Gedanken, gleich wieder zu gehen. Dass Bernhard aber – niemand nannte ihn Bernie; bei aller Jovialität: Das nicht! –, dass er eine Lehrerin, eine gute Lehrerin gut gebrauchen konnte, dies merkte man bald. Um viele Fragen konnte er sich herumdrücken; er tat sie mit einem Scherz ab, reichte sie generös an andere weiter, aber das funktionierte nicht immer; längst nicht immer! Kurz: Er war kein guter Schüler, eher ein schlechter Schüler: Nicht dumm, teils sogar talentiert, aber eben faul, träge und speziell desinteressiert an allen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern; nur mit Deutsch und Sport, da hatte er keine Probleme; damit nie. Freilich, mit seinem Charme, seiner Chuzpe, um nicht zu sagen, seiner Unverschämtheit fand er immer wieder wen, der ihn durchschleppte, der ihm seine Hausaufgaben lieh, ihn Abschreiben ließ und ihm vorsagte – und oft genug war ich das. Ich gebe es zu; ich hatte wenig Skrupel, mich seiner Clique anzuschließen, denn Anschluss zu finden, damit hatte ich eher Probleme – damals jedenfalls. Wenig Probleme hatte ich mit dem Schulstoff, und so machte ich als Jahrgangs-Drittbester Matura, und Bernhard, nun ja, er schaffte es immerhin ins vordere Mittelfeld – auf welche Weise, das will ich gar nicht näher erläutern. Auf der Universität trennten sich unsere Wege; ich studierte Geschichte, was mich schon immer interessiert hatte; Bernhard aber belegte Jus; schließlich hatte er schon als Schüler allerlei Kontakte geknüpft: Er hatte bereits sein Parteibuch; ein Parteifreund war sein Professor, und so absolvierte er auch das Studium ohne größere Probleme, geradezu wie geschmiert; sogar seinen Doktor bekam er nur ein halbes Jahr nach mir. Da wir die gleiche Universität besuchten, liefen wir uns ab und an über den Weg, trafen uns auf der einen oder anderen Party, dieser oder jener Veranstaltung, plauderten über Gott und die Welt, doch wenn es um seine Zukunft ging, da blieb Bernhard immer seltsam vage. Während ich eine akademische Laufbahn anstrebte, war es einerseits klar, dass er in die Politik gehen würde, ja, eigentlich war er da längst drin. Andererseits: Ich wollte es schon gerne genauer wissen. Ich hatte mich auf die neuere Zeitgeschichte spezialisiert, um an der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit unseres Landes mitzuwirken; aus Bernhard jedoch konnte ich nichts herauskitzeln, was man als politisches Programm hätte bezeichnen können; nichts auch nur annähernd Ähnliches; nichts außer Phrasen wie ‚die Interessen des Kleinen Mannes vertreten’ und Vergleichbares. Auch den Medien gegenüber, in Interviews, Reden und Vorträgen, auch da wurde er kaum konkreter, doch er verstand es, gegen den Wasserkopf Wien zu wettern, gegen die vermeintlich oder tatsächlich Mächtigen, gegen jene, die ‚die Interessen des Kleinen Mannes’ mit Füßen traten. Er verstand es, mit den Medien zu jonglieren, er verstand es schon immer, und er beherrschte dieses Spiel mit den Jahren immer besser, selbst wenn die meisten Medienvertreter ihm wenig Sympathien entgegen brachten: Egal; Bernhard war immer gut für gelungene Bilder, für publicity-trächtige Berichte, und so hatte er nie Probleme, seinen Populismus an den Mann zu bringen – oder an die Frau. Und dort kam er oft gut an: Allzu oft, und allzu gut, und dies speziell in der Provinz – der sehr provinziellen Provinz –, die Bernhard sich als Betätigungsfeld erwählt hatte. So begann sein politischer Höhenflug, und er verlief ebenso rasant wie steil. Seine Laufbahn gemahnte mich schon damals an die Fahrt des Phaëton mit dem Sonnenwagen seines Vaters Helios. Ich dachte: Phaëton wollte allen Zweiflern, allen Spöttern beweisen, dass er der Sohn des Sonnengottes ist, und womöglich ähneln Bernhards Motive denen des Phaëton; womöglich will auch er irgendwem irgendwas beweisen. Aber wem? Und was? Um seinen Vater, dachte ich, kann es kaum gehen: Der war ein alter Nazi, das wusste jeder, und dass auch Bernhards Sympathien nach rechts tendierten, nach ganz rechts, das wusste auch jeder, das bezweifelte niemand, das bestritt im Grunde nur er selber; er sah sich einfach nur als ‚Streiter für den Kleinen Mann’ – oder er wollte als solcher gesehen werden. Als solcher bemühte er sich besonders um Projekte, die populär waren, Pläne, die seine Berühmtheit, ja, meinet- oder seinetwegen auch seine Berüchtigtheit zu steigern versprachen, und eines dieser Projekte, das machte schließlich aus einem mehr oder minder interessierten Beobachter, der ich vorher gewesen war, einen Beteiligten, einen Gegner Bernhards. Er war seit kurzem Bürgermeister der Landeshauptstadt seiner Provinz, und als einer der Schandflecken der Stadt galt schon seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, das vollkommen verfallene, völlig verkommene Fußball-Stadion. Ich persönlich hielt es für viel peinlicher, dass Bernhards Stadt die einzige Landeshauptstadt Österreichs ohne eine eigene Bibliothek war, aber das schien kaum wen zu stören; es störte jedenfalls Bernhard nicht, und dies allein, das hätte mich auch nicht dazu gebracht, ‚in die Politik einzusteigen’, wie man so unschön sagt. Aber Bernhard strebte einen Stadien-Neubau an, und dazu wollte er unter anderem das Wohn- und Sterbehaus der bedeutendsten Dichterin abreißen lassen, die je in seiner Stadt gelebt hatte. Sie genoss zwar literarischen Ruhm; Preise und Plätze waren nach ihr benannt, aber populär, womöglich gar volkstümlich, das war sie nicht; dazu waren ihre Werke zu spröde, zu schwierig. So hatte Bernhard ihretwegen auch wenig Bedenken; andere aber protestierten, so auch ich, obwohl ich gerade erst eine Professur angetreten hatte. Ich wurde zum Vorsitzenden einer Bürgerinitiative gewählt, die den Abriss verhindern wollte, und es gelang uns, einiges an Unterstützung zu mobilisieren: Unterstützung in der Stadt, aus der Umgebung, aus ganz Österreich, ja sogar aus dem Ausland, denn die Dichterin wurde auch dort gelesen und geschätzt. Dies provozierte freilich auf Seiten der Stadion-Befürworter – und damit auch bei Bernhard – eine Trotzreaktion: Jetzt erst recht; wir sind wir, und wir lassen uns nicht diktieren, was wir wann und wo aufbauen oder abreißen: Nicht von den Großkopferten in Wien, und schon gar nicht vom Ausland. Ich machte geltend, dass die Dichtern einen bedeutender Teil jenes ‚wir’ bildet, dass die Autorin dieses ‚wir’ so wortgewaltig, so treffend beschrieben und besungen hatte wie keine zweite, aber so etwas ließ man nicht gelten. Dass die Dichterin zumeist eher kritische, um nicht zu sagen, vernichtende Worte für jenes ‚wir’ gefunden hatte, war auch nicht unbedingt hilfreich für unsere Initiative. Wir waren – das gebe ich zu – in der Minderheit: Eine Minderheit, ja, aber nur in der Stadt selber; außerhalb davon stand die Mehrheit auf unserer Seite. Zugegeben, dazu gehörte nicht viel; wen scherte schon da draußen ein Stadion für einen Verein, der nicht einmal in der obersten Liga spielte? Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde die Auseinandersetzungen immer erbitterter, immer grundsätzlicher; längst ging es um mehr als ein neues Stadion, um mehr als ein altes Haus. Es ging – so empfand ich es zumindest – um die Kultur, oder, besser gesagt, um divergierende Definitionen von Kultur. Was war Kultur? Brot und Spiele für eine vermeintliche Mehrheit? Worte und Werke von Ewigkeitsrang für eine vermeintliche Minderheit? Wenn es nur nach mir gegangen wäre, hätten beide Varianten gerne nebeneinander bestehen können; warum auch nicht? Aber, wie gesagt: Darum ging es schon längst nicht mehr. Die Auseinandersetzung wurde überall geführt: Auf der Straße – eine zumindest für mich ungewohnte Arena –, in den Volksvertretungen – denn bald hatte sich die örtliche Opposition unseres Anliegen bemächtigt – und vor den Gerichten. Über Monate, über Jahre zog sich der Streit hin; das Haus war längst von Mitgliedern unserer Initiative besetzt; in der Zwischenzeit hätte man problemlos einen neuen Bauplatz für das Stadion finden können; man hätte auch das Haus als Ganzes versetzen können, wie es einst mit den Tempeln in Assuan geschah; auch dafür wäre ich offen gewesen. Aber so etwas stand längst nicht mehr zur Diskussion. Bei all dem stand Bernhard natürlich immer auf Seiten der Stadien-Befürworter; zwar war es ursprünglich nicht seine Idee gewesen, aber er hatte sie sich längst zueigen gemacht, so wie er sich alles aneignete, wofür er sich einsetzte. Dass sich Bernhard selber gar nicht für Fußball interessierte, spielte dabei gar keine Rolle; es kam auch nie wirklich zur Sprache; kaum wer wusste davon. Ich freilich wusste es natürlich, da wir uns schon so lange kannten. Motorsport und Tennis, das war viel eher seine Sache; das passte auch besser zu seinem Status, zu seinem Reichtum, und ich denke, dass dies auch der Hauptgrund war, wegen dem er sich ab und an an Rennstrecken oder auf dem Tenniscourt sehen ließ – nicht allzu oft freilich, denn kaum etwas fürchtete Bernhard mehr, als einen elitären Eindruck zu erwecken. So ließ er sich lieber in Fußball-Stadien fotografieren, filmen und feiern, obwohl er mit den Fans dort kaum etwas gemein hatte: Er war reich, er war mächtig, er war berühmt, und er musste nie, nie, wirklich niemals in seinem Leben von seiner Hände Arbeit leben; selbst als Anwalt war er nie tätig. Dennoch – und obwohl zumindest dies kein Geheimnis war, obwohl es eigentlich sogar allgemein bekannt war – jubelten ihm die Massen in den Stadien zu, und ich denke, dass das der einzige Grund war, weshalb er sich dort sehen ließ, denn meistens ging er schon vor Spielende. Ab und an ließ er sich freilich auch in einem Konzert – einem klassischen Konzert, genauer gesagt – sehen; schließlich gab es selbst in seiner Stadt ein Orchester und allerlei Ensembles; Klangkörper, die auch mit manch Brosamen beglückt wurden. Dort ging er nie vor Schluss, und ich wusste, dass dies nicht nur aus Höflichkeit geschah: Während unserer Schul- und Studienzeit war es mir gelungen, Bernhard einen gewissen Geschmack an klassischer Musik zu vermitteln, indem er mich in diverse Opern- und Konzerthäuser begleitete. Genauer gesagt, war es eher umgekehrt; ich begleitete ihn: Ich, der ich das Wissen besaß, wählte die Gelegenheiten aus, und er, der das Geld hatte, bezahlte; so hatten wir beide etwas davon. Auf diese Weise hörten wir etwa auch Glenn Gould auf einem seiner letzten Konzerte, und bei ihm, da waren wir uns einig: Das ist keine Interpretation mehr; das ist eine feindliche Übernahme! Was die Komponisten betraf, so kam Bernhards Geschmack über Beethoven und Mozart, über Verdi und Wagner kaum je hinaus, aber immerhin: Ich war und bin überzeugt, dass sein Interesse genuin und ehrlich war. Und doch war er der einzige Mensch, den ich kenne, der solch ein Interesse verheimlichte und stattdessen eine Vorliebe für Volksmusik heuchelte. Dass dies geheuchelt war, das wusste ich; schon als Schüler, da hatten wir über diese Gattung gelästert – genauer gesagt, über das, was in den Medien als Volksmusik verkauft wurde, denn als Historiker, da weiß ich natürlich, dass dies mit genuiner Volksmusik wenig zu tun hat. Dennoch, es galt und gilt als volkstümlich, und so ließ sich Bernhard oft und gern – nun, jedenfalls oft – auf Volksmusik-Veranstaltungen sehen, und meistens trug er dazu sogar den lokalen Trachtenanzug, für den er früher so gar nichts übrig gehabt hatte; einen Anzug, den vorher in seiner Familie niemand getragen hatte; auch dies wusste ich. Diese ‚Tracht’ trug er jedoch nicht, als ich ihn das letztemal traf; da hatte er einen unauffälligen, aber sehr edlen, sicher auch sehr teuren italienischen Anzug an. Dieses Treffen war Zufall, reiner Zufall – und doch auch wieder nicht. Unsere Stadt ist nicht Wien; allzu viele Gelegenheiten für Konzerte, die gab und gibt es hier nicht. Das heißt, Gelegenheiten für wirklich gute Konzerte, Konzerte mit sehr guten Interpreten; so etwas war rar gesät. So erstaunt es nicht, wenn man bei diesen Konzerten auch immer dieselben Personen, dieselben Adabeis trifft; einige Kenner sind auch mit dabei, das will ich nicht leugnen. Wenn ein gutes Orchester, ein begabter Interpret in der Stadt ist, da fragt man auch nicht lange, welche Werke auf dem Programm stehen; da sind wir ganz wienerisch; auch hier druckt man die Namen von Orchestern, Dirigenten und Solisten ganz groß auf die Plakate; irgendwo dadrunter, ganz klein, kommt der Komponist. Dem Namen Mendelssohn liest man dort nicht allzu oft, nur heuer, anlässlich des Jubiläums, des Jahrestag, da kommt man schlecht drum herum; somit wurde etwa auch sein „Elias“ mal wieder aufs Programm gesetzt – auf das Programm eines Konzertes, das just auf den Sommerbeginn terminiert war; es war bereits derart heiß, dass man sich die dort besungene israelische Dürre unschwer ausmalen konnte. Den „Elias“ hatte ich mir vor Jahren zusammen mit Bernhard sogar zweimal angehört; es war eines seiner Lieblingswerke, und so wunderte es mich nicht, dass ich ihn auch an dem Abend im Publikum sah. Um genau zu sein: Eigentlich sah ich ihn nicht gleich; ich musste ihn geradezu suchen, ehe ich ihn im Schatten einer Loge entdeckte. Wer ihn nur oberflächlich kannte, den hätte das verwundert; sonst war er für jedes Foto zu haben, stellte sich vor jede Kamera, sprach in jedes Mikro, aber ich, ich kannte ja längst den Grund dafür: Er legte wenig Wert darauf, als Klassik-Fan geoutet zu werden, womöglich noch als Verehrer eines Komponisten jüdischer Herkunft... So las ich an jenem Morgen im Internet auch nur davon, dass Bernhard nach dem Kirchgang – schließlich war es Johannistag – am Abend auch bei einem Sonnenwendfeuer anwesend sein werde. Letzteres provozierte ein paar höhnische Kommentare im Netz, von wegen ‚erst Christentum zelebrieren, dann Heidentum’ und so, aber ansonsten regte sich kaum jemand auf; man kannte ihn ja, man wusste auch, was für Figuren sich bei solchen Sonnenwendfeiern herumtrieben, und man wusste um Bernhards Sympathien für solche Gestalten. Obwohl, Sympathie, das trifft es vermutlich nicht; ich bezweifle, ich bezweifle stark, dass diese dumpfen Möchtegern-Neuheiden Bernhard wirklich sympathisch waren; er wollte sie nur einfach auch auf seiner Seite wissen, er wollte ihre Zuneigung, ihre Unterstützung, was auch immer. Aber dass er auch auf jenes Konzert gehen würde, davon war weder im Bericht noch in den Kommentaren die Rede; und dennoch, wie ich bereits sagte: Ich war nicht überrascht, ihn dort zu finden. Natürlich war auch er seinerseits nicht überrascht, mich zu treffen; meine Vorlieben kannte er ja, und er wirkte auch durchaus erfreut. Überhaupt, eines muss ich ihm zugute halten: Trotz der Auseinandersetzung um den Stadion-Bau, um den Haus-Abriss und so weiter, trotz alledem hatte sich unser persönliches Verhältnis nicht wirklich verschlechtert. Ironischerweise sahen wir uns nun sogar wieder öfter, auf Diskussionsrunden, auf politischen Veranstaltungen, auf Ausschusssitzungen... Man könnte folgern, dass Bernhard zwischen einem Menschen als Person einerseits und dessen politischen Auffassungen andererseits zu unterscheiden wusste, aber ich denke, das trifft es nicht: Er buhlte einfach um die Zuneigung aller, wirklich aller Menschen, und wenn diese halt eine andere Politik verfolgten als er, nun ja, das konnte sich ja noch ändern, oder es konnte geändert werden... Wie auch immer: An dem Abend freute er sich sichtlich – und, denke ich, eben auch ehrlich –, mich zu sehen. Wie die Konzertpause begann, holten uns beide am Buffet ein großes Glas Rotwein – ich war mit dem Bus da, und ich ging davon aus, dass ihn sein Chauffeur fahren würde –; wir setzten uns in eine Ecke, und wir plauderten. Erst beim zweiten oder dritten Glas kamen wir auf das Thema, auf das Stadion, das Dichterhaus und all das zu sprechen. Ich gestand, dass ich eigentlich gar kein Verehrer jener Dichterin war; um ganz offen zu sein: Ich fand die meisten ihrer Gedichte nicht nur handwerklich mangelhaft, sondern mit ihrer permanenten, penetranten Larmoyanz sogar ziemlich nervtötend. Bernhard war überrascht, sogar erstaunt; dann jedoch gestand er seinerseits, dass er gar kein Fan des örtlichen Vereines sei, ja, dass er sich für Fußball eigentlich gar nicht interessiere – was ich, wie gesagt, ja schon gewusst hatte. Da er dies nun aber auch so offen einräumte, stellte ich die nächste, naheliegende Frage: Warum er dann so hartnäckig auf dem Stadionbau bestehe? Und warum ausgerechnet dort? Ich unterließ es, ihm unlautere Motive zu unterstellen, die mir durchaus schon in den Sinn gekommen waren – die schiere Lust an Schlagzeilen, schmutzige Geschäfte unter der Hand und ähnliches – denn bei allen Differenzen: Daran mochte ich doch nicht so recht glauben. Was ich erwartet hatte, wusste ich nicht so recht; jedenfalls aber nicht das, was ich dann zu hören bekam: Bernhard sah sich um, er sah, dass die meisten Konzertbesucher bereits wieder im Saal waren, und dann antwortete er, antwortete fast flüsternd, mehrfach schluckend, und es schien, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen: Es sei dies seine einzige Chance, brachte er schließlich hervor. Chance? Chance worauf, fragte ich. Er zögerte wieder; dann fuhr er fort: Die Chance darauf, sich zu verewigen. Die Chance, etwas zu schaffen, was ihn selbst überleben würde, was seinen Namen, sein Andenken bewahren würde. Dieses Stadion, das war sein Projekt, und Tausende, nein, Zehntausende von Fans, die würden beim Eintritt dann immer denken: Dieses Stadion ließ Bernhard A. Waldner erbauen! Vielleicht würde man es sogar nach ihm benennen? Er geriet geradezu ins Schwärmen, bekam wirklich und wahrhaftig feuchte Augen, während ich mit offenen Mund dasaß: Das hatte ich nicht erwartet! Warum, so fragte ich, lag ihm etwas am Andenken von Menschen, mit denen er doch gar keine Interessen teilte, die ihn nicht kannten, die er nicht kannte und die er – so unterstellte ich – auch gar nicht kennenlernen wollte? Dazu nickte Bernhard, noch immer lächelnd, doch nun war es ein trauriges Lächeln: Dies, meinte er, würde ich nicht verstehen: Was bliebe ihm denn anderes übrig? Er habe nun halt einerseits genug Ehrgeiz, sich einen Namen machen zu wollen, einen Namen, der auch ihn als Person überleben sollte. Andererseits, und auch das gab er ganz offen zu: Er wusste durchaus, dass er nicht genug Talent hatte, um dank seiner eigenen Leistungen unsterblich zu werden: Er war kein Komponist wie meinetwegen Mendelssohn – von dem gerade die ersten Takte vom zweiten Teils des „Elias“ aus dem Saal hervor klangen; ‚Höre, Israel, höre des Herrn Stimme; ach, dass du merkest auf sein Gebot!’ –, er war kein Schriftsteller wie jene Dichterin; er hat nicht einmal das Zeug zu einem bedeutenden Historiker, wie ich zweifellos einer werden würde. Das schmeichelte mir, das gebe ich zu, aber stärker war mein Erstaunen, ja, mein Erschrecken ob dieser Eröffnung; damit hatte ich nicht gerechnet, nie und nimmer. Ich brauchte einige Zeit, bis ich eine Antwort fand, und es war eine ganz spontane Antwort, eine Eingebung des Augenblicks, geboren aus den dumpfen Oratorien-Klängen, die sich bis zu unseren Plätzen vorzukämpfen vermochten: Warum, so fragte ich, wolle er sich denn unbedingt mit einem Stadion-Bau verewigen? In zwanzig, dreißig Jahren – vermutlich jedenfalls noch zu unseren Lebzeiten – würde das neue Stadion schon wieder veraltet sein; man würde es abreißen, mindestens umbauen und nach irgendwem neu benennen, nach dem nächstbesten Sponsor oder Filmstar aus heimischen Gefilden, der es in Hollywood zu etwas gebracht haben würde. Da wäre es doch viel besser, meinte ich, wenn er der Stadt einen Konzertsaal schenken würde: Der Saal hier, der sei zwar recht hübsch, aber doch viel zu klein, und die Akustik, die sei auch nicht gerade überragend; die Elektronik sei veraltet, die Infrastruktur notorisch überlastet... Ein neuer, ein gelungener Konzertsaal, der könnte hundert Jahre und länger in Betrieb sein, und gewiss würde man auch für den Bauherrn eine Gedenktafel aufhängen, womöglich gar eine Büste aufstellen... Diese Idee überraschte seinerseits Bernhard; ich konnte geradezu mitverfolgen, wie ihm dieser Gedanke durch den Kopf wanderte, wie er sich dort festsetzte. ‚Der Waldner-Saal... Bernhard A. Waldner Konzertsaal...’ murmelte er, und es war ihm anzusehen, dass ihm die Idee gefiel. So ermutigte ich ihn zusätzlich, indem ich darauf hinwies, dass es solche Wünsche schon verschiedentlich gegeben hätte, dass er damit auch manch andere Stadt ausstechen könnte, weil es zwar jede Menge Konzertsäle im Lande gebe, aber kaum moderne Säle, kaum solche auf dem neuesten klangtechnischen Stand. Vielleicht würde er sogar die Wiener ärgern können... Es sah aber so aus, als bräuchte Bernhard diese Ermutigung gar nicht mehr; wie er dann aufstand, nein, aufsprung, zeigte er schon wieder jene Dynamik, die viele an dem Politiker Waldner so schätzten – oder auch fürchteten. Er bedankte sich, bedankte sich geradezu überschwenglich bei mir, versprach, dass er gleich am nächsten Tag eine Initiative starten würde, und dann eilten wir beide in den Konzertsaal zurück. Selbst im Halbdunkel sah ich Bernhard dann unruhig auf seinem Sitz hin- und herrutschen: Unruhig aus Begeisterung über die neue Idee, aber bald auch aus einem anderen Grund. Ungewöhnlicherweise spielte man an jenem Abend nach dem Elias noch ein anderes Werk von Mendelssohn, ebenfalls für Chor und Orchester gesetzt: „Die letzte Walpurgisnacht“, selten zu hören, doch mit ihrem geisterhaft-gespenstischem Charakter zur Johannisnacht passend – zwar nicht terminlich, aber immerhin inhaltlich. Dieses Werk dauerte aber auch eine gute halbe Stunde; somit war absehbar, dass Bernhard es kaum rechtzeitig zu seinem nächsten Termin schaffen würde: Er war eben seit langem für jene Sonnenwendfeier angekündigt, und ich weiß, wie sehr er es hasste, sein Publikum zu enttäuschen, zu versetzen oder warten zu lassen. Er wollte aber auch nicht vorzeitig aus dem Konzertsaal eilen; dazu war jenes Opus 60 viel zu selten zu hören; es ließ sich sicher nicht mit Mendelssohns Opus 70 vergleichen, war aber allemal hörenswert; ‚die Flamme reinigt sich vom Rauch; so reinig’ unsern Glauben’ und so. So blieb Bernhard auch hier bis zum Schluss sitzen; kaum aber hatten sich Dirigent und Solisten verbeugt, eilte er davon – und das war das letzte, was ich von ihm sah. Alles andere weiß ich nur aus der Presse: Er setzte sich in seinen Dienstwagen – ein Phaëton, das Luxus-Modell aus dem Hause Volkswagen –, setzte sich selber hinter das Steuer, legte eine CD ein – ironischerweise gerade eine mit Saint-Saëns Tondichtung „Phaéton“ – und raste davon in Richtung Sonnenwendfeier. ‚Raste’ ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen; der Rekonstruktion zufolge fuhr er zeitweise über 200 Stundenkilometer – und das mit drei Gläsern Rotwein im Magen, somit mit reichlich Alkohol im Bauch, im Blut und im Schädel. Zum Unfall kam es schließlich in einer 70-Stundenkilometer-Zone, durch die er – so das Ergebnis der Ermittlungen – mit 210 Sachen raste; er geriet auf den Seitenstreifen, verlor die Kontrolle über den Wagen, kam von der Straße ab, raste eine Böschung hinauf, und dann hob er ab. Was mag er gedacht, was mag er gefühlt haben in jener knappen Sekunde, in der er durch die Luft segelte in seinem feurigen Wagen, den er nun so wenig zu kontrollieren vermochte wie einst Phaëton sein Gefährt? Ich mochte und mag es mir nicht ausmalen! Jedenfalls landete sein Wagen im Dach einer Kapelle, die dort am Straßenrand stand; Benzin lief aus, entzündete sich, und ehe sich der Fahrer befreien konnte – wenn er denn noch in der Lage dazu gewesen war –, stand der Wagen in Flammen. Ich kann nur hoffen, dass Bernhard – wie üblich in solchen Fällen – am Rauch erstickte und nicht bei lebendigem Leib verbrannte, nicht so wie jene Dichterin, die aus Unachtsamkeit in besagtem Haus in ihrem Bett verbrannte. Wie auch immer: Was von ihm übrig blieb, reichte hinterher nicht mehr aus, um dies festzustellen. Als Polizei, Rettung und Feuerwehr eintrafen, war es längst zu spät; sie konnten nur noch das Wrack des Wagens bergen, Spuren sichern und Bernhards sterbliche Überreste einsammeln. Freilich, für die Presse begann die Story damit erst, und selbst Bernhard hätte sich nicht träumen lassen, welchen Rummel seine so spektakuläre Todesfahrt auslösen würde. Davon brauche ich also nicht weiter berichten; bekannt ist wohl auch, wie die Sache mit dem Stadionbau ausging: Einige Monate später einigte man sich gütlich; das Dichterinnen-Haus wurde versetzt und eine neue, großzügige Gedenkstätte gestaltet; so konnte das Stadion gebaut werden, und natürlich wurde es ‚Bernhard A. Waldner-Stadion’ benannt. So bekamen wir zwar keinen neuen Konzertsaal, aber dennoch hatte Bernhard sein Ziel erreicht, ja, er hatte es wohl in einem umfassenderen Sinne erreicht, als es ihm ohne jenen Unfall je gelungen wäre. Auf kurze Sicht, wohl auf einige Jahre und Jahrzehnte hin, bleibt sein Name dank des Stadions und seiner Todesfahrt lebendig; auf lange Sicht sollte dies glücken, indem ihm ein literarisches Denkmal gesetzt wird.

Was hiermit geschah.

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2010

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