Strandgut
Dienstag, 10. Juli 20..
Heut morgen um Zehn das erstemal am Hafen. Windig, aber kein Wölkchen am Himmel; nicht zu heiß; einfach herrlich! Wollte eigentlich Behördengänge machen, aber bei dem Wetter!? Lief lieber zwei Stunden über die Deiche, quer durch den Ort; habe mir ein Restaurant gesucht... Für die Ämter war noch nachmittags Zeit. Gegen Vier zurück zum Hafen, zu dem Café, das ich mir am Morgen gemerkt hatte. Ich holte mir einen Kaffee, setzte mich an einen Tisch mit Blick übers Wasser – und verschluckte mich glatt: Das ganze Wasser, einfach weg! Der Kellner bemerkte mein Erstaunen, hielt mich wohl für einen Touristen und klärte mich auf: In Husum haben sie einen Tidenhub von 3 bis 4 Meter, und jetzt ist eben Ebbe! Ich sagte ihm lieber nicht, dass ich ab dieser Woche ein Haus in Husum habe – sogar eines mit Meerblick! Klar, drüben in Kiel hatte ich auch Meerblick, aber wie hoch war da der Tidenhub? 20 Zentimeter? 40? Hier sieht man wenigstens, wann Flut ist, wann Ebbe. So sollte also nicht nur der Job abwechslungsreicher werden!
„Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu dieser Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesungen der Universität Kiel. Der Titel meiner Vorlesung lautet ‚Einige unerklärliche Phänomene in Nord- und Ostsee,’ aber ich bitte diesen Titel nicht misszuverstehen: Also, es geht nicht um übernatürliche Phänomene, sondern einfach um Vorgänge, für die die Wissenschaft bisher noch keine befriedigende Erklärung gefunden hat. Das ist natürlich etwas ganz anderes, und – ja, eine Frage? Die Dame in der zweiten Reihe?“
„Entschuldigen Sie, aber – ich meine, Herr Professor – nun, gehen Sie auch auf Auswirkungen der Gezeiten auf Menschen ein?“
„Auf Menschen? Ich fürchte, nein. Wie angemerkt, bin ich Meeresbiologe! Ich wüsste auch gar nicht, welche... Wollen Sie trotzdem bleiben?“
„Ja, ich werde – Entschuldigen Sie; reden Sie nur weiter!“
Mittwoch, 11. Juli, mittags
Gut, dass ich mir ein paar Tage frei nahm! Das Ein- und Aufräumen gestern Abend schaffte mich ziemlich; war kaum Neun, halb Zehn, wie ich einschlief. War auch dementsprechend früh munter. Hätte eigentlich weiterräumen sollen, aber bei dem Wetter... So ging’s nach dem Frühstück wieder raus, raus aus dem Ort und ab in die Dünen! War schon gegen Neun auf dem Schobüller Berg; rechtzeitig, um das Anlaufen der Flut bis Elf zu verfolgen. Kein Deich, der die Sicht verstellt, nur Dünen, Wiesen, Watt. Das heißt, Watt eben nur bis Elf.
Habe heut Nachmittag einiges aufzuholen im Haus!
„Also weiter. Besonders interessant ist eine Unterart der Meeresschnecken, die Ostsee-Seeohren oder Haliotis baltica
. Trotz ihres Namens kommen sie auch in der Nordsee vor, und dort zeigen sie ein meines Wissens nach einmaliges Fortpflanzungsverhalten, welches ich im Rahmen meiner Dissertation untersucht habe. Während die meisten Meeresschnecken ihre Eier einfach ins Wasser ablassen, setzt Haliotis baltica
ihre Eier im Watt ab, und zwar alle an einer Stelle, bevorzugt in der leeren Grabröhre eines Wattwurmes. Dazu braucht sie natürlich mehrere Gezeitenzyklen. So lässt sich die Schnecke nach der Ablage einiger Eier – um nicht bei Ebbe auszutrocknen oder von Vögeln erbeutet zu werden – vom zurückweichendem Wasser auf die offene See tragen, um mit der nächsten Flut zurückzukehren, weitere Eier abzulegen, und so weiter. Sie – ja, eine Frage? Der Herr dort in der dritten Reihe?“
„Verstehe ich das richtig? Sie lassen sich von Flut und Ebbe mittragen und legen doch alle Eier an derselben Stelle ab?“
„So ist es; sie haben den Punkt erfasst! Ich habe Dutzende Haliotii balticae
gekennzeichnet, und sie alle kehren nach gut 12 Stunden mit der Flut exakt an dieselbe Stelle zurück. Es gelang mir auch, einige Exemplare auf offener See zu fangen: Sie treiben bis zu 10 Kilometer hinaus, womöglich sogar weiter! Wie sie trotzdem immer wieder zurückfinden, konnte ich in meiner Dissertation leider nicht klären.“
„Ein unerklärliches Phänomen eben.“
„So ist es; danke!“
Nachts
Habe wohl auch mit den Nachbarn Glück gehabt! Wollten mich nur willkommen heißen, sahen mich dann schuften, sahen auch das Chaos... Schon haben sie die Ärmel hochgekrempelt, mit angefasst, und ruckzuck war das Gröbste erledigt. Eine Frau (von nebenan?) meinte es besonders gut; ließ sich kaum davon abhalten, ihren Staubsauger zu holen. Recht nett, höchstens in meinem Alter, eher Anfang Dreißig... Hätte fast gefragt, ob sie verheiratet ist!
Habe so einige Zeit gespart; so ging’s wieder raus, wie’s dämmerte: Ein Sonnenuntergang im Meer, das soll ja was ganz anderes sein als ein ‚üblicher’ Sonnenuntergang! Hätte gleich auf den nächsten Deich steigen können; es zog mich aber wieder zum Schobüller Berg. Freilich war’s längst dunkel, wie ich oben war. Verfolgte dafür im Licht des Abendsternes wieder das Anlaufen der Flut. War schon etwas unheimlich, so ganz im Dunkeln. Kurz vor Mitternacht, als das Wasser am höchsten stand, hatte ich irgendwie das Gefühl, als käme noch wer auf den Berg. Sah freilich keine Menschenseele. Als ich endlich ging, hatte ich das Gefühl, als folge mir wer, aber da war niemand. Rief mehrmals ‚Hallo!’ – ohne Antwort, klar. Aber erst im Ort ließ das Gefühl nach. Wunderlich!
„Also; danke für den Kaffee; den kann ich gebrauchen: Als echter Norddeutscher bin ich natürlich nicht dran gewöhnt, eine Stunde am Stück zu reden. Aber mir scheint, Sie möchten noch etwas loswerden? Hat es mit dem zu tun, was Sie zu Beginn meiner Vorlesung ansprachen? Der Auswirkung der Gezeiten auf den Menschen? Dann muss ich leider sagen-“
„Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber ich meine – nun, es könnte auch für Ihr Thema interessant sein. Sie erwähnten eine Beobachtung bei Seeschnecken...“
„Den Ostsee-Seeohren?“
„Ja, die meine ich. Ich weiß – ach, Sie werden nur lachen!“
„Nur zu: Wir sind unter uns. Und habe ich nicht gezeigt, was für unglaubliche Phänomene es im Tierreich gibt?“
„Nun, es kann sein, dass bei diesen – dass bei den Seeohren der gleiche Effekt wirksam ist, wie man ihn auch – nun ja, wie man ihn jedenfalls bei manchen Menschen findet.“
„Bei Menschen!? Also, das wäre schon ziemlich...“
„Unglaublich?“
„So ist es.“
Donnerstag, 12. Juli
Kam recht spät aus dem Bett; die Sonne stand schon hoch am Himmel; die Flut war am Steigen... Echt gemütlich, dies beim Frühstücken über die Terrasse zu verfolgen; noch gemütlicher wär’s, wenn da draußen nicht all die Umzugs-Kartons ständen! So machte ich mich dann wieder ans Räumen; so war’s mir auch sehr recht, als später die Nachbarin wieder vorbei schaute: Nur sie, und auch das war mir recht!
Freitag, 13. Juli
Habe gestern gut was weggeschafft -will sagen, wir haben! Habe erst dabei gemerkt, was mir so alles fehlt; war deshalb heut morgen in einigen Läden. Klar; das Angebot in Kiel war breiter; habe aber fast alles gekriegt. War bis nach Eins unterwegs, aber bald kenne ich mich ja besser aus.
War nur etwas komisch, als ich zurückkam: Hatte irgendwie das Gefühl, als wäre wer im Haus. Bin glatt auf Zehenspitzen herumgeschlichen – um mein eigenes Haus! Die Terrassentür war offen; hatte ich wohl vergessen. Drinnen war alles in Ordnung, besser gesagt, so unordentlich wie am Morgen. Dem Gefühl nach war einiges an der falschen Stelle. Seltsam; irgendwie das gleiche Gefühl wie auf dem Schobüller Berg – am helllichten Tag! Muss mich wohl erst an die neue Umgebung gewöhnen. Und wie’s aussieht, will mir die Nachbarin dabei helfen; sie kam wieder vorbei. Hat gleich ganz andere Gefühle geweckt!
Samstag, 14. Juli, morgens
Schlief die ersten Nächte hier wunderbar; schreckte heute aber gegen Zwei Uhr früh hoch: Wieder dieses Gefühl; wieder niemand da! Habe sogar im Wohnzimmer nachgesehen, hab all die Kartons zugemacht, die ich gestern Mittag aufgemacht hatte, um mir einen Überblick zu verschaffen... War wohl die Brandung, die mich geweckt hat; war gerade wieder Flut. Holte mir ein Bier aus dem Keller; damit schlief ich gleich wieder.
„Also, dass ich das richtig verstehe: Sie meinen, dass die Tiere, während sie sich mit den Gezeiten zwischen Watt und offenem Meer bewegen, eine Spur hinterlassen? Eine Art seelische Schleimspur, der die Schnecken auf dem Rückweg nur folgen müssen?“
„Entschuldigen Sie, Herr Professor, wenn ich mich da etwas unwissenschaftlich ausdrücke, aber – nun, das trifft schon in etwa, was ich meine. Sie spüren, welchem Weg sie gefolgt sind. Sobald sie die Flut ins Watt zurück trägt, erspüren sie die Anwesenheit von – nun, ihre eigene Anwesenheit, wo sie eben gut 12 Stunden vorher gewesen sind. Und so finden sie ihre Eiablage-Stelle wieder. Vermutlich wird die Spur umso stärker, das Erspüren umso einfacher, je öfter sie den Weg zurücklegen.
Sie wirken wieder etwas erschöpft, Herr Professor. Ich glaube – möchten Sie noch einen Kaffee?“
Mittags
Morgens war die Nachbarin wieder da. Entweder langweilt sie sich, oder... Wollte ihre Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren; ließ mir stattdessen den Ort zeigen; Schloss, Schlosspark, die Marienkirche; dann lud ich sie zum Essen ein... Nur dauernd diese abgehackten Sätze! Dabei wirkt sie gar nicht nervös, nicht hektisch oder so.
Waren gegen Drei wieder hier, und, klar, da warteten die Kartons – aber nun wieder offen; alle! Hatte die doch in der Nacht zugemacht! Oder? Nein, stimmt schon; heut Morgen hab ich’s hier vermerkt. Fragte die Nachbarin, ob sie die Kartons aufgemacht habe, aber die sah mich nur verwundert an. Wann denn auch?
Vielleicht ging sie deshalb bald. Kaum war sie weg, war dieses Gefühl wieder da! Es gab sich aber gleich wieder, wie ich in den Keller ging, um mir ein Bier zu holen. So machte ich die Flasche gleich unten auf –bis mich das Gefühl einholte! Nichts sah ich, nichts hörte ich, und dennoch: Hätte schwören können, dass da irgendwas, irgendwer zu mir runter kam. Ich renne hoch, knalle die Tür zu, und wie ich mich wieder ans Räumen mache, ist nichts mehr zu spüren. Blödsinn, solche Ideen!
Sonntag, 15. Juli, morgens
Schon wieder! Bin schon wieder aufgewacht, mitten in der Nacht, gegen Drei, und wieder das Gefühl! Natürlich war keiner da, als ich das Licht anknipste. Es schien sich zu geben, wie ich mir wieder ein Bier aus dem Keller holte. So blieb ich noch ein wenig, trank mein Bier – und wieder kam er!
Ich schreibe ‚er’, aber, klar, ich sah nichts, hörte nichts... Aber ich spürte es: Irgendwas, irgendwer kam da zu mir runter, kam direkt auf mich zu; das merkte ich deutlich, viel stärker als gestern... Ich wieder rauf, wollte ins Schlafzimmer – da stoppt mich das gleiche Gefühl! Heut früh wachte ich im Wohnzimmer auf, auf der Couch. Albern!
„Also, das ist natürlich sehr interessant, gute Frau... Eine faszinierende Theorie, wirklich! Aber erwähnten Sie nicht etwas von Parallelen zwischen Tieren und Menschen?“
„Genau, ich wollte – schließlich kann das bei Tieren immer nur eine Vermutung, eine Theorie bleiben, wie Sie sagten. Man kann sie ja schlecht befragen... In solchen Dingen kann man bestenfalls von Menschen Informationen erhalten, meine ich. Oder?“
„So ist es.“
Nachmittags
Das ist doch alles nicht wahr! Alles paletti den ganzen Vormittag über, kein seltsames Gefühl, alles bestens. War wieder am Räumen, machte mir zwischendurch nur einen Imbiss... Aber die Nacht war kurz, war unbequem; so fielen mir gegen Drei die Augen zu. Wollte mich auf die Couch legen, und plötzlich war das Gefühl wieder da. Klar, die Couch war leer, aber ich hätte schwören können, da war wer! Das gleiche im Schlafzimmer, beim Bett, fast genauso stark!
Ich halt’s nicht aus; ich muss raus aus dem Haus!
Montag, 16. Juli, morgens
War vielleicht doch kein so schlechtes Gefühl, das ich da hatte: Schließlich hat’s mich zur Nachbarin rüber getrieben, und die hat wohl schon auf mich gewartet! Waren im Ort, essen, bummeln, und in der Nacht... Klar, sie mag ledig sein, aber eine Jungfrau ist sie weiß Gott nicht mehr! Und der Schlaf hinterher! Sie musste mich mit dem Frühstück wecken.
Nachmittags
Vier Uhr, die Flut ist wieder da, und auch das bewusste Gefühl! Lästig, aber irgendwie auch recht passend: So hab ich einen Vorwand, um mich wieder zur Nachbarin zu verdrücken!
Dienstag, 17. Juli, morgens
Was für eine Nacht! Aber ganz anders als die vorige. Schlief zuerst wieder wunderbar, schreckte dann aber plötzlich hoch. Suchte im Dunkeln den Wecker; da wurde sie wach; klar. Spontan fragte ich, ob noch wer im Haus ist, ob sie auch so ein Gefühl hat... ‚Was meinst du?’ fragte sie nur. Was sollte ich sagen? Sie knipste das Licht an; halb Fünf, wir beide wach... Irgendwie erregte mich das Gefühl; schien fast, als wären wir zu dritt im Bett. Eigentlich war’s großartig, und auch ihr dürft’s gefallen haben!
„Also, noch mal zur Sicherheit, dass ich das richtig verstanden habe: Manche Menschen werden von den Gezeiten derart beeinflusst, dass die Flut jedesmal einen Teil ihrer, also...“
„Ihrer Seele. Ich weiß, das – nun, ich habe kein besseres Wort dafür. Seele, Geist, Psyche; Sie wissen, was ich meine.“
„Also gut. Die abziehende Flut nimmt also einen Teil ihrer Seele mit, trägt sie aufs offene Meer hinaus und schwemmt sie dann gut 12 Stunden später wieder zurück, und zwar exakt an dieselbe Stelle, von wo sie ausgegangen ist. Eine Art Seelen-Strandgut also. Habe ich Sie richtig verstanden?“
„Ja, schon, ich – nun, ich würde es eher als eine Art geistiges Echo bezeichnen. Wie das akustische Echo die Worte des Rufers wiedergibt, reflektiert das geistige Echo das Tun der Person, von der es ausgegangen ist: Das Tun während der vorigen Flut – der vorigen Fluten, meine ich. Auch das Echo selber kann wieder ein Echo haben, scheint es. Das ist entsprechend schwächer.“
„Und warum hört man dann nicht dauernd was von solchen Vorkommnissen?“
„Nun, ich meine –es kommt häufiger vor, als man denkt: Ich habe nachgeforscht, in der Literatur, im Internet... Aber offenbar sind nur wenige Menschen dafür empfänglich, und dann hängt es stark von den Bedingungen ab: Je näher die Küste, je höher der Tidenhub, desto größer der Effekt. Wenn die Betroffenen ins Binnenland zogen, verschwand der Effekt immer. Es gibt sogar eine Website, wo Betroffene Erfahrungen austauschen. Denn um offen, von Person zu Person- nun, da haben viele Hemmungen...“
„Natürlich; kann ich verstehen.“
„Viele verstehen auch erst sehr spät die Zusammenhänge.“
„Soweit man sie verstehen kann!“
„Stimmt. Und bei manchen... Na ja, ehe sie erahnen, was da vorgeht, ist es leider oft schon zu spät.“
Nachmittags
Den Vormittag über wieder allerlei Besorgungen im Ort; nach dem Mittag Arbeit im Haus. Und wieder die gleiche Geschichte; plötzlich wieder das Gefühl! Nicht so stark wie Sonntag oder Montag, aber doch. Schien sich diesmal auf mehrere Räume, auf mehrere, schwächere –nennen wir es ‚Präsenzen’- zu verteilen. Bin ich am Durchdrehen, weil’s mir fast schon normal erscheint? Um Fünf, als das Gefühl am stärksten war, machte ich einen Test: Ging in den Keller, zur Bierkiste, und Bingo: Kaum hatte ich ein Bier genommen, da kamen ein, zwei ‚Präsenzen’ zu mir runter; die Flaschen klirrten im Kasten, als bewege sie ein Wind...
Wie ich aus dem Keller hoch kam, zog es mich irgendwie wieder zur Nachbarin rüber; sei’s wegen dem Gefühl, sei’s wegen ganz anderer Gefühle... Sie ist aber leider bis übermorgen weg; dann ließ das Gefühl auch rasch nach.
Mittwoch, 18. Juli, morgens
Schlief recht normal im eigenen Bett; erst kurz nach Fünf Uhr früh wieder dieses Gefühl, eher schwach, aber doch. Es gab sich gegen Sechs, aber ich blieb doch wach. Seltsam; fast schien mir dann was zu fehlen! Stand dann eh bald auf: Mein erster Arbeitstag!
Abends
Lief ganz gut, der erste Tag im neuen Job! Nette Kollegen, interessante Tätigkeit... Und kein Anflug des bewussten Gefühls! Bin hinterher zum Dockkoog raus, zum Badestrand; brauchte etwas Bewegung. War schon halb Sechs, aber noch warm; es herrschte Flut; so war gut was los. Wäre selbst ins Wasser gegangen, aber die Badehose lag daheim!
Donnerstag, 19. Juli, morgens
Gegen Sechs weckte mich nicht der Wecker, sondern wieder das bewusste Gefühl, deutlich stärker wieder als gestern. Aber auch bedrohlicher, erschreckender? Es schien mich nur im Bett festhalten zu wollen; kam erst in Gang, wie es nachließ. Komisch!
Abends
Hatte diesmal mein Schwimmzeug mit; mochte aber am zweiten Tag nicht gleich früher gehen; außerdem war’s echt heiß... Gegen sechs war ich am Badestrand, pünktlich zur Flut –und prompt meldete sich da das Gefühl, stärker als je zuvor: Hätte schwören können, ‚es,’ ‚er’ oder was auch immer steht direkt hinter mir, bläst mir seinen Atem in den Nacken... Die Präsenz schien dann gen Husum zurückzuweichen, und mein erster Impuls war: Hinterher! Bin dann aber rasch runter an den Strand: Und das Wasser war herrlich!
Nachts
Vorhin war die Nachbarin noch da, fragte, wo ich denn bleibe... Irgendwie zog es mich diesmal aber gar nicht rüber; habe sie aufs Wochenende vertröstet: Das Schwimmen habe mich geschafft; stimmte ja auch irgendwie...
Freitag, 20. Juli, morgens
Schlief heut wunderbar durch, bis um Sechs der Wecker schellte. Seltsam; trotzdem zog’s mich eine halbe Stunde später heftig ins Bett zurück: Muss los, sonst lege ich mich doch noch mal hin.
Abends
Obwohl Freitag, wurd’s im Büro besonders spät; erst gegen halb Sieben kam ich zum Badestrand; war aber noch gut was los. Und wieder das Gefühl, stärker noch als gestern, und es zog mich ins Wasser. Wehrte mich freilich nicht lange; war glatt eine halbe Stunde drin. Werde die Nachbarin auf morgen vertrösten...
Samstag, 21. Juli, mittags
Hatte mich früh hingelegt, war zeitig auf und kurz vor Sieben schon am Strand! Wochenende, Ferien, Flut, aber trotzdem fast noch menschenleer; war eher wolkig. Mich aber trieb das Gefühl ins Wasser; war wunderbar, und diesmal hielt’s mich noch länger drin.
Abends
Gegen Sechs läutete hat die Nachbarin, und ich ging nicht hin. Warum? Weiß nicht so genau; sie ist klasse, aber irgendwie zieht’s mich heute Abend noch mal an den Strand. Der Wetterbericht sagt zwar, es kann gewittern, aber egal: Ich muss einfach! Ich muss!
„Also, verstehe ich Sie richtig, gute Frau: Sie selber sind nicht davon betroffen?“
„Nun, ich bin – nein, Herr Professor. Aber ich kannte wen, bei dem sich der Effekt besonders rasch, besonders stark bemerkbar gemacht hat. Leider erkannte ich das erst später, und hinter die Ursache... Nun, das konnte ich mir erst hinterher, erst in den letzten Monaten so nach und nach zusammenreimen.“
„Hinterher?“
„Ja, leider... Er ist im letzten Sommer abends noch schwimmen gegangen, wurde von einem Gewitter überrascht; es gab gerade eine Springflut...“
„Das tut mir leid. Also ist er ertrunken? Tragisch, aber doch wohl ein Unfall!?“
„Könnte man meinen! Aber mit der nächsten Flut wurde er an den Strand gespült: Direkt hinter seinem Haus – nun, hinter unseren Häusern; wir waren Nachbarn. Ich fand ihn...“
„Meine Güte...“
„Ja... Nun, ich half beim Aufräumen, fand dabei – jedenfalls las ich dann sein Tagebuch, und da schrieb er ausführlich über diesen Effekt. Was ihm entgangen war, fiel mir auf; dieser Rhythmus... Ich hab alles mit einem Gezeitenkalenders überprüft, und es stimmte exakt: Immer bei Flut machte sich der Effekt bemerkbar: Ich meine, immer, wenn er am gleichen Ort war wie bei der letzten Flut, spürte er dieses – nun ja, das seelische Echo.“
„Der gleiche Effekt also wie bei den Haliotii balticae
?“
„Genau. Und zuletzt war er mehrfach bei Flut schwimmen gegangen...“
„Also, das ist wirklich eine faszinierende Theorie, gute Frau. Aber, wie soll ich sagen? Es ist natürlich schwierig, so etwas wissenschaftlich zu untermauern.“
„Ich weiß, was Sie meinen, Herr Professor. Ich habe auch nicht wirklich erwartet, dass Sie mir glauben.“
„Also, ich-“
„Schon gut; ich kann’s verstehen. Nur, eine Frage hätte ich noch: Sie haben in Ihrer Vorlesung gar nicht erwähnt, was mit den Seeschnecken passiert, wenn sie die Eiablage beendet haben.“
„Ach so. Also, das ist nicht sonderlich ungewöhnlich. Die meisten Exemplare kommen noch mehrfach zu der Ablagestelle zurück, gewissermaßen aus Gewohnheit; dann werden sie schwächer und, äh...“
„Sie sterben?“
„So ist es. Wie gesagt, bei der Gattung nicht die Regel, aber eben auch kein ungewöhnliches Phänomen. Wieso fragen Sie?“
„Ach, nur so... Haben Sie vielen Dank für Ihre Geduld; jetzt habe ich Sie aber lange genug aufgehalten.“
„Kein Problem; war sehr interessant! Soll ich Sie vielleicht mit meinem Wagen noch wo absetzen? In Ihrem Zustand...“
„Danke; es geht schon: Ist erst im April, in zwei Monaten so weit.“
„Junge oder Mädchen, wenn man fragen darf?“
„Ein Junge.“
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2009
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