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Prolog

Es gibt kein Schicksal, sagte Großvater immer. Man trifft Entscheidungen.
Ich sehe es heute genau wie er. Jeder Mensch trifft eine Entscheidung und bestimmt damit das Kommende.
Es gibt Zufälle. Aber mehr nicht.
Zufälle können im richtigen Moment Gutes bewirken. In unserem Fall war dem so.
Und damit hatten wir sicher nicht gerechnet.

 

Wir, das sind mein Bruder Luca und ich.
Zwillinge - zweieiig.
Ich bin – und darauf legen alle Zwillinge Wert! - der etwa zwölf Minuten Ältere. Auch, wenn Luca das nicht gerne hört.
Zwölf Minuten sind in einem durchschnittlich achtzig Jahre langen Leben im Prinzip gar nichts. Aber wie man das eben so unter Zwillingen kennt: da zählt jede Minute.
Das ist eigentlich auch schon die einzige Sache, die Differenzen unter uns beiden hervorruft.
Wir haben so viel gemeinsam und sind dennoch unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch stets ein Herz und eine Seele.

Es begann schon als wir noch im Bauch unserer Mutter waren. Schon während der Schwangerschaft war ihr und Vater klar, dass ihre Jungen Leo und Luca heißen werden. Sie hatten diese Namen also mit Sorgfalt gewählt. Das war vor 25 Jahren.
Nun gut.


Dann wäre zu erwähnen, dass wir uns auch im Aussehen etwas unterscheiden.
Bei zweieiigen Zwillingspaaren generell nichts Ungewöhnliches. In unserem Fall bedeutet das, dass ich circa zehn Zentimeter größer bin als Luca. Dann ist da die Statur, bedingt durch unsere Hobbys.
Sicher, wir teilen die meisten. Zum Beispiel Filme sehen, Konsolenspiele, Kino, Autos.
Aber im Gegensatz zu Luca bin ich leidenschaftlicher Kampfsportler. Genauer gesagt: ich praktiziere Kickboxen. Zweimal die Woche. Luca dagegen ist da eher der gemütlichere von uns beiden. Er liest gerne. Am liebsten Krimis. Und er liebt Dokus im TV. Und zwar sämtliche.

Das alles in die Waagschale gelegt kann man sich nun wahrscheinlich eher vorstellen wie unsere Staturen sind: ich bin der athletische Typ Kerl, dessen Muskeln sich an den richtigen Stellen abzeichnen; Luca dagegen hat keine Ansätze von Muskeln und wirkt eher schlaksig, fast dünn.
Aber das ist völlig in Ordnung.
Warum, fragt man sich an dieser Stelle sicher. Nun, weil es zu unseren Charakteren passt, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten: Ich bin der extrovertierte, draufgängerische Typ mit der großen Klappe, mein Bruder ist der ruhige und eher schüchterne Typ.

Auch unsere Gesichter sind unterschiedlich. Wir haben beide braune Haare, wobei meine die Durchschnittslänge eines jungen Mannes haben. Mit Haarspray reicht es zu angesagten Frisuren, sei dazu erwähnt. Luca‘s Braun in den Haaren ist heller, zudem trägt er sie länger und durchgestuft. Wäre mir viel zu viel Arbeit jeden Morgen im Bad, aber hey, er ist eitel! Dann wären da noch die Gesichtszüge zu erwähnen: meine sind deutlich härter, was mein Gesicht unnahbarer wirken lässt. Wenn jemand ein Problem hat, geht man daher meist auf Luca zu.
Luca hat ohnehin ein Talent dafür, zwischen Menschen zu vermitteln. Er kommt ganz nach unserer Mutter.
Ich dagegen bin aufbrausend und schnell auf hundertachtzig. Genau wie Vater. Ich denke, das ist auch der Grund, warum wir schon immer ein Herz und eine Seele waren.
Und vor allem unzertrennlich.
Manche mögen ihre Geschwister nicht. Vielleicht hassen sie einander ja sogar im schlimmsten Fall, wenn etwas vorgefallen ist.
Die meisten Menschen verstehen sich jedoch im Allgemeinen gut mit ihren Geschwistern.
Aber dann, irgendwann in der Pubertät, verliert man das Auge für diese Bindung.
Man verliebt sich. Das erste Mal. Dann das zweite Mal. Dann wieder und wieder.
Und mit jedem Mal entfremdet man sich mehr von der familiären Bande.
Man findet neue Freundeskreise, zieht mit dem Partner umher und beginnt, mit diesem einst so fremden Menschen alles zu teilen. Jedes noch so kleinste Geheimnis.
Und der Geschwisterteil... er bleibt zurück, um dann irgendwann ebenso diese Prozedur durchzugehen.
Vielleicht, weil er zurückgelassen wurde und es weitergehen muss.
Vielleicht aber auch deshalb, weil ihm die Geschwisterbande noch nie so wichtig waren wie die sexuelle Bindung zu irgend jemand Fremden, mit dem man dann irgendwann das Intimste teilt.
Das klingt jetzt vielleicht etwas hart formuliert, aber im Prinzip ist es ja so und nicht anders.
Man kennt einander ein Leben lang, seit der Geburt.
Man wächst zusammen auf, verbringt die Kindheit miteinander, spielt zusammen, lacht oder weint zusammen, hat Geheimnisse miteinander und ist in der Regel immer füreinander da und vertraut dem anderen blind.
Und dann kommt jemand anderes. Und von da an ändert sich alles. Für immer.
Sicher, man hat dann natürlich immer noch Kontakt zu seinen Geschwistern.
Aber es wird niemals wieder so sein wie früher.
Sobald man eine eigene Familie gegründet hat, nein, sobald man in einer Beziehung ist, dann ist es vorbei.

Wahrscheinlich werden mich an dieser Stelle die wenigsten nachvollziehen können.
Weil man ja auch Ärger hat mit Geschwistern. Und weil manche vielleicht um einige Jahre älter oder jünger und damit die Interessen zu verschieden sind.
Ich beziehe mich hier auf Geschwisterpaare, die nicht mehr als drei oder vier Jahre auseinander sind vom Alter her.


Jedenfalls lange Rede, kurzer Sinn:

Aufgewachsen sind Luca und ich in einer ländlichen Gemeinde in Baden-Württemberg. Kleiningersheim.
Nichts besonderes auf den ersten Blick, wenn man an die Nester auf dem Lande denkt. Aber da täuschen Sie sich mal lieber nicht. Kleiningersheim hat ein eigenes Jagdschloss. Und unsere Gemeinde hat bereits als Kulisse für eine TV-Sendung gedient. „Die Kirche bleibt im Dorf“ heißt diese und ich wette, spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Kleiningersheim viel mehr Menschen ein Begriff als es bis dato war.

Im Prinzip ist der Großraum Ludwigsburg ja ohnehin für seinen Weinbau bekannt und wer hier schon einmal durch die umliegenden Ortschaften gefahren ist, dem dürften die steilen, an manchen Stellen champagnerfarbenen majestätischen Felsen mit den vielen akkurat in Reihen angeordneten Reben aufgefallen sein, die im Sommer von der Sonne verwöhnt werden und im Herbst prächtig leuchten. Keine Frage, Baden-Württemberg ist nicht umsonst für seinen exquisiten Wein bekannt.
Und für seine romantischen Altstadt-Kerne, die von vergangenen, längst vergessenen Zeiten erzählen mit dem freigelegten Fachwerk, das den Betrachter von dem erstaunlichen Können der Menschen von damals berichtet.
Da soll mal noch jemand von den „mittelalterlich rückständigen Zeiten“ sprechen.
Wenn man sich da die sogenannten architektonischen Meisterbauten der heutigen Fachmänner ansieht, diese nackten würfelförmigen Klötze in Übergröße mit Fenstern von ganz oben bis nach unten, das jeder schwäbischen Hausfrau Albträume bereitet, da kann man nur im Unverständnis den Kopf schütteln.
Solche Bauten verschandeln das Flair der kleinen Ortschaften, durch die sich die Straßen schlängeln, dann zwischen den vielen kleinen Wäldern und entlang oder über die Flüsse, die zum Träumen anregen und niemals ein Ende zu finden scheinen.
Der einzige optisch WIRKLICH störende Wermutstropfen in unserem schönen Landkreis ist das Windrad zwischen Ingersheim und dem Husarenhof, ganz oben am höchsten Punkt der Gegend.

Aber seien wir mal ganz offen: in Zeiten von Atomkraft und Co. auf die ursprünglichen Naturgewalten wie Wasser, Sonne oder in dem Fall Wind zurückzugreifen ist doch wohl das mindeste, um Verantwortung für die kommenden Generationen zu übernehmen. Und so groß ist der „Schandfleck“ ja auch nicht mal. Eigentlich muss man stolz auf das von Weitem zu sehende weiße, bei Nacht rot blinkende Ungetüm sein, denn man sieht hierbei wohl, zu was für Fortschritten wir Landeier fähig sind. Und Ingersheim hat hiermit einen großen Schritt getan.

 

Als Kinder waren uns die Belange der Erwachsenen freilich egal gewesen. Wir waren alles gewesen außer besorgt. Das Jagdschloss war unser Lieblingsplatz. Wir waren Abenteurer, Schatzsucher, Piraten, Ritter, Drachentöter.
Na gut, meistens war ich das alles und Luca musste nicht selten das arme Opfer spielen, das ich rettete und so meine Tugenden unter Beweis stellen konnte. Er machte es halt immer geduldig mit, wenn in unserer Fantasie das Schloss uns gehörte und ich, der Ritter, ihn, den Prinzen unseres Landes, vor feindlichen Heeren beschützen musste.
Die Feinde waren selbstredend nichtsahnende Passanten, die eben mal mit dem Hund Gassi gingen oder ältere Ehepaare auf ihrem Verdauungsspaziergang. Ab und zu auch Jogger, die waren dann feindliche Spione oder Boten.
Was hatten wir um das Jahrhunderte alte geschichtsträchtige Schloss herum, das sogar zeitweise als Krankenhaus im zweiten Weltkrieg umfunktioniert gewesen worden war, Spaß und Abenteuer erlebt!
Angeheizt hatte uns natürlich unser Vater, der uns abends, getarnt als Gute-Nacht-Geschichten immer mal wieder einen Schwank aus der eigenen Kindheit erzählt hat und wie er selbst als Kind dies und das beim Schloss gefunden hatte in irgendwelchen Spalten und Höhlen in der Nähe – sogar verrostete Helme und Schwerter!
Klar, dass wir uns da als Kinder nicht lumpen lassen wollten. Gefunden haben wir bis heute nichts, weil man viele dieser Spalten und den Geheimgang verschlossen hat, aber das tut der grenzenlosen Fantasie keinen Abbruch. Nicht einmal mit 25 Jahren.

 

Unsere Eltern sind immer noch verheiratet – ganz spießig, wie das manche oberflächlichen Leute heute bezeichnen würden, denen Monogamie ein Fremdwort ist.
Doch genau in der Zeit, in der unsere Gesellschaft einen steilen Absturz von Moral und Werten hatte, waren unsere Eltern eines der wenigen Beispiele, da sie jeden noch so großen Sturm in ihrer Ehe immer wieder überstanden anstatt feige davon zu laufen.

Heute ist es gang und gäbe, wenn einem etwas nicht in den Kram passt, mit Sack und Pack auszuziehen. Das Scherbenmeer und die später kaputten Existenzen, die daraus entspringen, werden einfach totgeschwiegen. Hauptsache, es geht einem selbst gut. Einfach schnell den nächsten Partner her. Wie bei einem Ersatzteillager.
Unsere Eltern haben sich von diesem kranken, familienfeindlichen Trend niemals beeinflussen lassen.
Das Ergebnis? Zwei gesunde und ausgeglichene junge Erwachsene, die sie mit Stolz ansehen. Und sie gehen Hand in Hand den Weg ins Alter. Wie ich meine Eltern bewundere.

 

In der Schule waren die meisten unserer Klassenkameraden – Luca und ich waren in der selben Klasse -  Scheidungskinder, die einen früher, die anderen später. Das Unverständnis darüber und die Verstörtheit über die entzwei gerissene Familie machte sich in Form von ADHS oder Aggressionen gegenüber anderen Kindern bemerkbar.
Das hatte zur Folge, dass ich meine Energie in der Schule dafür einsetzte, den gepeinigten und gemobbten Kameraden zu helfen. Was wiederum dazu führte, dass ich und dadurch auch Luca recht beliebt in der Klasse waren.
Nach dem Unterricht verließen wir die Schule und kehrten nach Hause zurück  - ein Eigenheim aus den 60ern, Erbe väterlicherseits, das Papa Stück für Stück renoviert hatte.
Es liegt direkt an der Straße, die dann weiter durch den Wald nach Hessigheim führt. Von dort aus hat man im ersten Stock einen wunderbaren Ausblick abends nach Westen über die Felder und kann Rehe oder Feldhasen bei der Nahrungsaufnahme, dem Äsen, beobachten, während die Sonne am Horizont in den schönsten warmen Farben versinkt.
Der angrenzende Garten lag gen Osten und wir frühstückten nicht selten im Sommer und Frühherbst draußen und genossen die Wärme und das Vogelgezwitscher am Morgen. Nachbarn, die zusahen? Nein. Wir hatten sehr nette Nachbarn und jeder war sehr feinfühlig, wenn der andere mal etwas Zeit mit der Familie im Garten verbringen wollte.
Mom hatte ein breites Gemüsebeet angelegt, aber wir hatten auch eine große Eiche darin stehen, in deren Äste wir ein Baumhaus gebaut hatten. Es war unser ganzer Stolz als wir Kinder waren. Dad hatte uns natürlich geholfen, das Ding zu bauen. Es sieht heute noch aus wie damals. Selbst die Sprossenleiter steht noch da. Als würde sie uns sagen: Kommt nochmal hoch, eure Kindheit steckt hier drin und ich hüte sie wie einen Schatz für euch.
Aber unsere Kindheit ging eben auch irgendwann vorbei.

 

Mit 21 zogen wir aus. Luca hatte die Ausbildung zum Apotheker in Bietigheim beendet. Ich dagegen war Kriminalpolizist geworden, hatte die Ausbildung auch hinter mich gebracht mittels dualem Studium auf der Schule in Biberach und war nun ebenfalls in Bietigheim auf dem Revier stationiert. Nichts Weltbewegendes. Aber wir konnten es uns nun gut leisten, zu zweit in eine Wohnung einzuziehen, die nur eine Querstraße von unseren Eltern entfernt lag. Es war die obere Wohnung, von der aus wir auch wieder den Ausblick nach Westen genießen konnten. Wir waren zufrieden. Drei Zimmer. Wir zahlten die Wohnung in Raten ab. Was wollten wir mehr?
Wir waren nun unabhängig von unseren Eltern und lernten die Vorteile und Nachteile des Erwachsenseins kennen. Und irgendwie waren es oft mehr Nachteile. Aber das Gute daran, erwachsen zu sein ist auch, dass man flirten kann, was das Zeug hält und niemandem Rechenschaft ablegen muss.
Seltsamerweise: so sehr ich meine Eltern um ihre intakte Ehe bewundere, so sehr genieße ich meine Freiheit, die ich habe. Sicher will ich irgendwann auch eine Familie gründen. Unsere Eltern haben uns hohe moralische Werte mitgegeben. Aber jetzt nicht  - noch nicht.

 

Mit der Ausbildung hatte ich hier und da mal eine Freundin gehabt. Nichts festes oder so. Es ist ja nicht so als hätte man besonders viel Zeit während der Ausbildung. Aber ich hatte es sehr genossen, bei den Mädchen so beliebt zu sein. Die körperlichen Strapazen in der Ausbildung zum Polizist, die Uniform und dann das Kickboxtraining zollten meinem Körper ihren Tribut. Nicht, dass es nach der Ausbildung bzw. während dem dualen Studium nachgelassen hätte.
Neid musste ich von Luca diesbezüglich nie erdulden. Er war damit zufrieden, dass er eben kein Adonis war wie er im Buche steht. Sein fast knabenhafter Körper stand immerhin in der rechtmäßigen Relation zu dem Wissen, das er sich geistig angeeignet hatte. Über Medikamente, deren Zusammensetzung, Wechsel- und Nebenwirkungen oder dergleichen. Und man mag es kaum glauben, doch durch das jahrelange Ansehen von Dokus hatte er sich ein enormes Wissen über das Dritte Reich, die Antike, die Wissenschaft, Tiere, Religionen und Naturphänomene angeeignet.
Ich konnte ihn zu irgendeiner Sache befragen, er wusste immer etwas dazu zu sagen.
Kurzum vertrieben wir uns oft den Feierabend zusammen in der Altstadt in einer Kellerkneipe oder in einer Eisdiele.
Ob uns das nie langweilig wurde, immer mit dem Bruder zusammen zu sein? Ganz ehrlich: nein. Nie.
Zudem kannte man ja die Klassenkameraden aus der Schule, mit denen man sich dann auch privat hatte zu treffen begonnen.
Sind alles eigentlich recht nette Leute, obwohl man dazu sagen muss, dass die meisten nicht gerade ums Eck wohnen und dass Luca bis auf einen weiteren Kerl nur Frauen in der Klasse gehabt hatte. Muss total cool sein, der Traum eines jeden Mannes.
Aber nicht für Luca. Er war einfach schüchtern und vor allem sehr bescheiden. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum er damals nie eine feste Freundin hatte.  
Aber das ist nicht schlimm, habe ich ihm dann gesagt, dann bleibt mehr für mich, bis du soweit bist.
Ich bin sicher, dass er die Besonnenheit und die Schüchternheit von Mom hat und die im krassen Gegensatz zur strikten Geradheit von unserem Vater stehen. Aber gerade diese warmherzige Art, die auch so fürsorglich sein kann, steckt in ihm. Und damit holt er mich runter, wenn ich mal wieder einen Überfliegertrip habe oder schneller rede als denke.
Vielleicht ist das der Grund, warum Luca und ich uns nach wie vor ein Schlafzimmer teilen. Weil wir uns so ergänzen, dass es kaum Streit gibt. Und natürlich weil dadurch ein extra Zimmer frei ist, das wir fürs Konsole zocken und als Büro nutzen.
Frauenbesuch, so haben wir uns arrangiert, ist erlaubt, aber man spricht sich kurz vorher ab. Und klappt echt gut. Nicht zuletzt, weil Luca eh nie Mädels mit nach Hause bringt. Er hat eher die große Not, weil ich alle Frauen mag. Ob brünett, ob blond, ob schwarzhaarig, ob große Oberweite oder wenig, Leo Jäger liebt sie alle. Gut, lieben ist etwas übertrieben, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden.

 

Wie man sieht, haben Luca und ich eine völlig gewöhnliche Kindheit hinter uns. Wir glaubten an den lieben Gott, an Partys und an das Geld, das wir verdienten. Was bis zu dieser Stelle ja auch absolut in Ordnung wäre und wegen dem man kein Buch schreiben müsste.

Aber an dieser Stelle, noch nicht sehr lange im Leben der Erwachsenen angekommen, passierte etwas, das uns beide unser viel zu sorgloses Leben überdenken ließ und das uns noch viel mehr zusammenschweißte als wir es ohnehin bereits waren.
Und wir mussten einsehen, dass das Böse auch uns hier auf dem Lande erreichte. Denn das Böse kennt keinen Halt. Vor niemandem.

Kapitel 1

Es begann als wir einen Nachmittag im späten August, dem bekanntlich heißesten Monat des Jahres neben Juli, in einem Eiscafé in der Bissinger Altstadt verbrachten, das sich zwischen den Läden befand, und an dem stets ein Strom Menschen vorbei zog, ob es warm war oder kalt, ob die Sonne schien oder ob es in Strömen regnete.
Es war zu warm für einen deftigen Rostbraten oder ein Schnitzel, aber ganz leer wollte man den Magen auch nicht belassen, also hatte ich meinen Bruder kurzerhand auf einen Eisbecher eingeladen. Nicht zuletzt, weil Lucas Arbeitsstelle nur einig Meter entfernt davon lag. Wir wechseln uns beim Zahlen eigentlich immer ab, man kann fast sagen, wir haben eine gemeinsame Kasse.

Wir saßen außen an einem der runden Tische und Luca löffelte immer noch an seinem Eisbecher – der Genießer, klare Sache - , während ich bereits mit meinem fertig war, die vorbeiziehenden Menschen musterte und wie gebannt an den langen Beinen der leicht bekleideten Mädchen hängen blieb, die so viel preis gaben, dass man sich in seiner Fantasie nicht mehr viel ausmalen konnte. Ich liebe den Sommer alleine schon wegen den tollen Ausblicken. Klar, oder?
Aber dann zog eine Dame vorbei, bei der ich zweimal hinsehen musste, weil ich nicht glauben wollte, dass jemand so viele Krampfadern haben kann. Nun gut. Wo waren gleich nochmal die endlos langen, schönen jungen Mädchenbeine?
Zwei Männer um die Fünfzig setzten sich an den Nebentisch. Mussten Bankangestellte sein oder sowas, denn sie trugen Anzüge, nur das Sakko fehlte, aber ganz stilecht und dem Klischee entsprechend trugen sie immer noch ganz obligatorisch ihre Krawatten über ihren Hemden mit den kurzen Ärmeln.
Sie bestellten sich Eiskaffee. Irgendwie auch ganz klischeehaft.

Dann zog einer der beiden eine Zeitung aus seiner Tasche.
„Ich bin heute noch gar nicht zum Lesen gekommen“, murrte er mit rauchiger Stimme und fing an, das Ding zu durchforschen. Das schwarz bedruckte Papier knisterte immer wieder, wenn er die Seiten umschlug. Der andere wartete geduldig auf seinen Eiskaffee und verfolgte den Passanten-Strom.
Irgendwann aber wurde er ungeduldig und wollte eine Konversation beginnen.
„Hast du schon den Artikel mit diesem grausamen Mord in Ludwigsburg gefunden?“
Grausamer Mord? Ich wurde hellhörig. Nachrichten im Fernsehen oder Radio sind Medien, die ich eigentlich nicht oft nutze, weil ich ohnehin genug Ärger mit ansehen muss in meinem Beruf. Aber da war wohl offensichtlich was ziemlich am Brodeln bei den Kollegen in Ludwigsburg.  
„Nein“, brummte der andere in seinen nicht vorhandenen Bart hinein und blätterte weiter.
„Schrecklich, zu was Menschen imstande sind“, stellte der erste wiederum fest, kurz danach kam auch schon ihr Eiskaffee.
Der Mann mit der Zeitung blätterte jedoch unbeeindruckt weiter, bis er gefunden hatte, was er gesucht hatte.
„Da.“

Dann wurde er wieder still und las den Artikel. Ich fragte mich genervt, ob er den Artikel denn seinem Kollegen mit demanderen karierten Hemd nicht endlich mal vorlesen konnte.
Irgendwann sah er wieder auf und begann, seinen Eiskaffee zu löffeln.
Fein, ging das denn nicht noch langsamer?!
Dann sah er seinen Kollegen endlich an. „Die haben keinerlei Spuren gefunden. Aber gut, ist ja auch erst einen Tag her. Da kann man eben noch nicht so viel sagen.“
„Hast du mal von etwas vergleichbarem hier in der Gegend gehört?“
„Nein. Gott bewahre, nein, zum Glück nicht. Wäre je noch schöner.“
Aber wie kam er darauf? Was war da denn bloß passiert?
Zum Glück fuhr er fort, sonst wäre ich wohl vor Neugier geplatzt.
„Ich meine, ganz unter uns: wer ist schon so krank und steinigt jemanden, der sich nicht wehren kann, so lange, bis er daran stirbt?“
Was?

„Hey“, hörte ich es plötzlich gegenüber von mir leise rüber zischen. „Belauschst du gerade etwa die Männer am Nebentisch?“
Ich fuhr erschrocken zusammen und sah geradewegs in Lucas große blaue Kulleraugen und er musste wegen meinem vermutlich dümmlich dreinblickenden Gesichtsausdruck lachen.
„Erwiiiiischt.“
„Ha ha. Sehr witzig“, maulte ich und lief rot an. Wenigstens hatte mein Bruder den Anstand gehabt, so leise zu sein, dass die Krawatten tragenden Schnösel es nicht bemerkten.
„Was ist denn so wichtig?“, wollte Luca nun natürlich wissen.
Ich blies hörbar Luft aus. „Da hat wohl irgendein Verrückter jemanden in Ludwigsburg zu Tode gesteinigt.“
„Was?!“
„Shhhh!“
Ich deutete im mit einer Handbewegung, unauffällig zu sein, und schon sahen die beiden Herrschaften auch schon herüber.
„Äh… zumindest finde ich, das Mädchen passt gar nicht zu dir!“
Sehr schön aus der Patsche gerettet, Bruderherz, aber das war ein böses Foul… Ich hob die Augenbraue provozierend. „Welches? Ich kenne genug hübsche Damen.“
Die Männer sahen wieder weg und ich war erleichtert. Wobei es ja kein Weltuntergang gewesen wäre, wenn sie mich enttarnt hätten, immerhin war es ja nichts gewesen, das absoluter Geheimhaltung unterlag. Dennoch: jemanden zu belauschen ist, so haben uns die Eltern gelehrt, kein Kavaliersdelikt. Es gehört sich einfach nicht.
Luca bog sich an unseren leeren Eisgläsern vorbei in meine Richtung.
„Wie jetzt? Gesteinigt? Ist das dein Ernst?“
Ich zuckte die Schultern. „Ja?“
Damit gab er sich logischerweise nicht zufrieden. „Ja, und was weiß man bisher über den Täter oder die näheren Umstände? Weiß man in Bietigheim im Revier nichts darüber?“
„Ich habe genug um die Ohren“, entgegnete ich etwas entnervt. „Ich weiß auch nicht viel mehr als du! Das leiten die uns ohnehin nur weiter, wenn Hilfe vonnöten ist.“
Klar, man bekam in der Zentrale hier und da was mit. Aber wir hatten mehr als genug Arbeit hier, da blieb nicht viel Zeit für etwas anderes.

Es war unser Glück, dass sich die beiden Männer weiter unterhielten.
Der eine raschelte mit der Zeitung und sah hinein. „Sowas erwartet man vielleicht in einer Großstadt oder in den USA oder sonst wo. Aber nicht hier.“
Ja, da hatte er recht.
Luca lauschte nun ebenso gespannt wie ich und kratzte mit seinem langen Löffel den letzten mittlerweile flüssig gewordenen Rest Eis in seinem hohen Glas heraus.
Der andere Mann sah in der Straße umher und fächelte sich mit seiner Serviette kurz etwas Luft zu. „Ich hoffe, die Kripo bekommt dieses kranke Schwein zu fassen.“
Das hoffte wohl mittlerweile der gesamte Landkreis Ludwigsburg, vermutete ich.
„Vor allem finde ich es sehr geschmacklos, die Leiche auch noch vor der Auferstehungskirche abzulegen.“
Aha. Da war die getötete Person also gefunden worden. Und ich meinte, der Name der Kirche wäre heute Morgen auch gefallen gewesen. Hätte ich bloß besser zugehört…
Der mit der Zeitung hob den Kopf. „Ja, aber gesehen will wohl auch keiner was haben. Typisch deutsche Nächstenliebe. Die sind sich alle selbst der Nächste. Und dann kommt lange nichts mehr.“
Da musste ich ihm still beipflichten. Heute kann neben dir jemand einen Herzinfarkt erleiden und von zwanzig Menschen um dich herum gaffen neunzehn, während der zwanzigste damit ringt, ob er davonlaufen oder dir helfen soll. Oder vielleicht wenigstens den Notarzt rufen.
Das bekommt jeder Polizist mit. Und zwar oft genug. Weil man den gaffenden Mob nämlich wegschicken, nein, förmlich davonjagen muss.
„Nun, irgend jemand wird bestimmt was herausfinden. Wird halt wohl dauern ohne die Mithilfe von den Bürgern.“
Sie wechselten das Thema. Es ging um einen jungen Kollegen, der offensichtlich auf dem Überfliegertrip war.
Aber die Kripo... das war das Stichwort. Wir hatten ja Verwandtschaft, die bei der Kripo in Ludwigsburg arbeitete. Genauer gesagt, es war unser Onkel. Der ältere Bruder unserer Mutter. Und ich hatte sogar ab und an das Vergnügen, ihn zu sehen, wenn er ermittelte und bei uns in Bietigheim hereinschneite.

Sein Name war Harry Schwarz. Und er war schon seit wir denken konnten bei der Kripo. Er pendelte oft zwischen Stuttgart und Ludwigsburg umher und war schon immer eine Person gewesen, zu der ich aufsah. Man kann sagen, er war mein Vorbild.
Wenn man von unserer Mutter auf ihn schließen würde, käme man wohl niemals auch nur auf die Idee, dass die beiden Geschwister sind.
Warum? Nun, das beginnt schon beim Aussehen. Mom hat wie Luca hellbraune, längere Haare, unser Onkel hat dunkelbraune, glatte, kurze Haare, zwischen denen schon die ersten silbrigen verräterisch durchfunkeln.
Mom sieht zwar auch jünger aus als sie mit ihren Mitte Vierzig ist, aber Harry wirkt eher wie Ende Dreißig als dass er fast Ende Vierzig wäre.

Dann kommen noch die harten Gesichtszüge dazu, die er hat. Vermutlich hat er bereits viel Schlimmes gesehen und erlebt in seiner langen Karriere bei der Kripo. Mom‘s Gesicht dagegen war schon immer weich und unterstreicht ihr sanftes Wesen.
Jedenfalls hatte Onkel Harry es seit wir denken konnten drauf. Er hatte jedoch nie ein Aufheben um seine geschärften Sinne und seine gelösten Fälle gemacht. Man konnte es ihm ansehen. Er hatte einen so durchdringenden Blick, den er selbst wenn er ab und an eine Lesebrille trug nicht hinter den Gläsern verbergen konnte.
Seit Luca und ich denken können, war er unser Vorbild. Er war auch einer der Gründe, warum ich Polizist wurde und dann zur Kripo wechselte.
Und genau er, das schwebte uns beiden durch den Kopf, er würde sicherlich etwas herausfinden.

„Meinst du wir sollten Harry aufsuchen?“, vollendete Luca meinen Gedankengang.
Ich nickte kurz. „Ja, der hat garantiert schon mehr Einblick als die Zeitung jemals berichten dürfte.“
„Aber er hat sicher Schweigepflicht.“
Lucas Bedenken waren gerechtfertigt. Natürlich darf in einem ermittelnden Verfahren nichts an die Öffentlichkeit dringen. Das könnte zu unnötigen Spekulationen und vor allem Verwirrungen führen oder im schlimmsten Fall sogar den Täter alarmieren.
Aber Harry kannte uns. Und er wusste auch, dass er auf uns zählen konnte. Und nicht zuletzt waren wir seine Neffen, der Gerechtigkeitssinn lag und liegt quasi bei uns im Blut. Sowieso, weil ich im Prinzip ein Kollege von ihm war.
„Wird schon in Ordnung gehen“, sagte ich schließlich. „Wir müssen es nur geschickt anstellen, dann wird er es schon nicht allzu eng sehen.“

Ich machte der Bedienung einen kurzen Wink und zückte meinen Geldbeutel.
Überhaupt war Harry nie der Typ Onkel gewesen, wie man ihn sich für gewöhnlich vorstellt. Er war auch immer lässig gekleidet, denn er ermittelte nicht selten verdeckt.
Er hatte keine eigene Familie. Mom hatte uns, als wir noch Teenager waren, erzählt, dass ihn seine große Liebe einst sitzen lassen hatte für einen anderen Mann. Er kam nie darüber hinweg – bis heute nicht.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum er so oft bei uns war. Wir verkörperten alle den Traum, den er nie verwirklichen konnte.

Die Frau, die ihn verlassen hatte, hatte einen Menschen verpasst, der sie ganz sicher ein ganzes Leben lang glücklich gemacht hätte. Ob sie wohl mitbekommen hatte, was sie unserem Onkel angetan hatte? Und wenn sie heute noch einmal die Wahl hätte, würde sie dann auch wieder gehen? Oder würde sie dieses Mal bleiben?
Jedenfalls war Onkel Harry oft bei uns eingeladen. Mom meinte, sonst hätte er nichts gescheites zu essen. Er schätzte jeden Tag, den er bei uns verbringen durfte und jedes Essen, das er mit uns zusammen einnehmen durfte. Er nahm sich als Dank sehr oft Zeit für Luca und mich, spielte Fußball mit uns, ging mit uns angeln, saß Abende lang mit uns am Lagerfeuer und wir grillten rote Würste an selbst gebastelten Holzspießen.
Er war für uns definitiv viel mehr ein älterer Kumpel als dass er uns ein standesgemäßer Onkel hätte sein können wie unsere anderen Verwandten. Und für ihn waren wir wohl wie die Söhne, die er niemals haben konnte.
Alleine schon deshalb, so war ich mir sicher, würde er es nicht ganz so streng sehen mit uns, wenn wir ein paar Fragen hätten. Er würde sicher einen Weg finden, uns beide zufrieden zu stellen.

Die Bedienung, eine Frau Mitte Dreißig, allem Anschein nach Italienerin, wenn man ihren braunen Augen, den schwarzen langen Haaren und dem italienischen Namen unseres Eiscafés Glauben schenken durfte, kam an unseren Tisch und ich bezahlte.
Wir erhoben uns vom Tisch und gingen entgegen des breiten Menschenstroms, der sich in Richtung Mitte der Altstadt bewegte, in Richtung der Parkplätze hinter der Brücke.
Eigentlich hätte ich mich über ein Abenteuer hier im Ländle freuen müssen. Aber wenn das auf dem Rücken einer Leiche wäre, dann - so war mir natürlich klar - wäre so etwas nicht im Ansatz gerechtfertigt. Außerdem hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache. Keine Ahnung, warum, aber es war so.

Es hatte sich also etwas ereignet hier im Landkreis Ludwigsburg. Etwas, das ganz anders und viel schlimmer war als das, was ich jeden Tag in meinem Dienst sah. Und inwieweit das auf die sonst stets unbesorgten Menschen hier Einfluss nehmen würde, das würde sich noch herausstellen. Ob wir schwäbischen Landeier das wollten oder nicht.

Kapitel 2

 Etwa eine halbe Stunde später parkten wir in der Nähe des Polizeipräsidiums in Ludwigsburg.
Die Rush Hour führte abends zum Glück aus dem Ort hinaus. Zweispurig. Die B 27. Und doch gibt es in Ludwigsburg immer Stau. Jeden Tag. Man gewöhnt sich daran. Vor allem, wenn man in den umliegenden Orten wohnt.

 

Wir betraten das Gebäude und ich könnte schwören man hat trotz der jahrelangen Routine immer noch einen gewissen Respekt dabei, wenn man die ganzen Personen in Uniform sieht. Oder wegen den Akten, die sie herum tragen, genau wie ihre Waffen, ganz leger an der Seite. Es reicht aber auch schon, wenn man die Funksprüche hört.
Und wenn man Glück hat, kann man live mithören, wenn gerade die Lage irgendwo ziemlich brenzlig ist und Verstärkung angefordert werden muss.

Ansonsten fühlt man sich zwischen den ganzen akkuraten, typisch deutschen Beamten mit den seltenen Lächeln eher fehl am Platz und hat das Gefühl als würde man festgenommen werden, wenn man jetzt auch nur ein falsches Wort in den Mund nehmen würde. Das wäre mir nicht passiert, wenn ich meine Uniform getragen hätte.
Gut, in unserem Fall war das mulmige Gefühl natürlich nicht angebracht, denn erstens kannte man uns hier schon seit geraumer Zeit und spätestens beim Anblick unseres Onkels, der gerade sein Büro verließ und auf den Flur trat, ganz in zivil wie immer, heiterten sich unsere Gemüter auf.

„Harry“, rief Luca sofort quer und die Beamten in den anderen Zimmern und auf dem Flur sahen nicht einmal auf, da sie Wichtigeres zu tun hatten. Vielleicht aber auch deshalb nicht, weil Harry so etwas wie eine ermittelnde lokale Berühmtheit in der Gegend hier war.
Unser Onkel zumindest erkannte seine Stimme sofort und drehte sich in unsere Richtung.
„Hey, ihr beiden.“ Er kam zu uns her. „Schön, euch zu sehen.“
Dass er nicht einmal nach dem Grund für unsere Anwesenheit fragte, zeigte mir nur wieder aufs Neue, wie sehr er uns mochte. Und das sah man ihm auf den ersten Blick wahrlich nicht an. Er wirkte verschlossen und sehr ernst. Und darum war das Lächeln, das er uns nun schenkte, eines der seltenen Dinge, die man bei ihm erleben konnte. Luca wurde fast ungestüm vor Freude, Harry zu sehen. „Wir wollten dich fragen, ob du etwas Zeit für uns hast, wenn du fertig bist.“
„Sicher. Das trifft sich gerade gut. Ich habe jetzt ohnehin Feierabend.“
„Super! Wo gehen wir hin?“
Er überlegte kurz, fasste sich dabei in den Nacken und ließ den Kopf kreisen.
„Gehen wir ins BlüBa.“

 

Allen, denen dieses Wort kein Begriff ist, sei an dieser Stelle gesagt, dass es eine Kurzform für „Blühendes Barock“ ist, ein riesiger Garten beziehungsweise eine Parkanlage, die an das Ludwigsburger Schloss angrenzt und ein Muss ist für all jene, die hierher einen Abstecher machen sollten. Hierher verirren sich regelmäßig Fotografen mit ihren Models, Maler, Romantiker, Familien, ältere Paare oder Personen, die einfach etwas Ruhe draußen in schöner Umgebung finden wollen.
Was ist so besonders an diesem überdimensionalen Garten? Nun, erst einmal der Bezirk, der labyrinthartig akkurat mit grünen Hecken und vielen Blumen angeordnet ist und durch den ein breiter Weg parallel zum Schloss führt und der abgegrenzt ist durch Zitronenbäume in Tongefäßen, die wunderbar duften, wenn die sonnengelben Zitrusfrüchte sich verlockend zwischen den grünen Blättern präsentieren.
Ein flacher Brunnen mit Fontänen bietet in der Nähe ein einmaliges Schauspiel dazu, deren unzählige Wassertropfen je nach Stand der Sonne kleine Regenbögen in die Luft zaubern.
Folgt man dem schmaleren Weg an der Seite des Schlosses, kommt ein Bereich mit einem überdimensionalen Gewächshaus, in dem regelmäßig Ausstellungen mit den schönsten Blumen stattfinden.
Dann gibt es noch den Märchengarten und Imbissbuden, Flächen für die jährliche Kürbisausstellung und viele weitere Events und dann noch eine Ecke, in der so manche Tiere, die man hierzulande kaum zu sehen bekommt, in den Gehegen präsentiert werden.

Im Prinzip ist für jeden dort etwas geboten. Umso weniger verwunderlich, wie groß der Andrang ist.
Ganz zu schweigen von dem prächtigen Schloss, das vom Boden an bis zur Decke nach Perfektion strebt in all den Malereien, den verschnörkelten Statuen, den vergoldeten Schnitzereien und den aufwändig gestalteten Möbeln, die von der Sucht der Menschen damals nach Dekadenz zeugen.
Kein Wunder also, dass es Harry dort hin zog. Er musste den Kopf sicher frei bekommen von all dem Schlechten, das er mit angesehen hatte.

Wir hatten zwar bereits ein Eis gegessen, aber ein kühles Getränk, so machte mir die Kehle klar, konnte jetzt sicher nicht schaden.

 

Also begaben wir uns dort hin, während Luca von einem Kunden erzählte, der heute Vormittag bei ihnen in der Apotheke gewesen war und ziemlich unhöflich wurde, da er ein Medikament mit dem selben Wirkstoff bekommen hatte, aber das von einer anderen Firma hergestellt worden war. Es war immer noch recht voll, doch da das BlüBa so groß ist, verteilte sich die Masse zum Glück recht gut.

Wir setzen uns vor das Café an einen der Tische und bestellten Softdrinks, Cola und Sprite.  
Das Café lag am Rande des Blühenden Barocks und von hier aus begann eine breite Wiese mit vereinzelten hohen, alten Laubbäumen und man hatte eine gute Aussicht über die ganze Gegend mit den verschnörkelten Wegen im Park, hinter dem sich in der Ferne majestätisch die Hochhäuser in den Himmel reckten. Die Vorbereitungen für die Kürbisausstellung waren bereits in vollem Gange.
Aber das störte niemanden weiter.
Hier und da saßen Paare oder Familien, die den Abend hier auch noch genossen. Sie wirkten vergnügt und ich fragte mich, ob sie von diesem grausamen Mord wussten. Und wenn ja, ob es ihnen egal war. Nein, egal war es ihnen sicher nicht. Aber sie versuchten bestimmt, einfach weiter zu machen. Weil sie eh nichts daran ändern konnten.

 

Ich nahm einen Zug von meiner kalten Cola. Das Zeug glitt erfrischend meinen Hals hinab und belebte den müden Geist.
„Und? Wie war dein Tag so, Leo?“, wandte sich Harry mir zu und wedelte eine lästige Schmeißfliege von seinem Arm.
Ich prostete ihm zu. „Wie immer. Schriftkram, aber hey, ich bin der Master of Desaster.“ Der Herr der Lage. Ich liebte meinen Beruf. Was mich nervte, waren diese ständigen Anpöbeleien, die man über sich ergehen lassen musste, wenn man jemanden befragte, aber hey, das war ein kleiner Preis dafür, dass man den Mitmenschen helfen konnte.
Harry lachte kurz. „Ja, das denke ich mir.“
„Und wie war dein Tag heute?“, drehte ich den Spieß um, damit ich zu dem Thema lenken konnte, das Luca und mich so brennend interessierte.
„Bah, frag lieber nicht“, kam es recht nüchtern, bevor er einen großen Schluck Sprite trank, dann wieder absetzte und einen Moment lang nachdachte. „Der übliche Wahnsinn.“

Der übliche Wahnsinn also. Meinte er damit die üblichen Paare, bei denen er handgreiflich ihr gegenüber wurde, weil es ihm an Rhetorik mangelte, und er sich dann versuchte, um Kopf und Kragen zu reden? Oder zählte man die alten, schon monatelang verwesenden Körper der alleinstehenden Rentner dazu, die von ihren Kindern einfach abgeschrieben und vergessen worden waren, solange, bis sie endlich erben durften?
Ich mochte gar nicht näher darüber nachdenken, denn es trieb mir trotz den immer noch recht warmen Temperaturen einen kalten Schauer über den Rücken.

 

Ich stellte mir vor wie es wohl in einigen Jahren werden könnte. Wenn Luca und ich eigene Familien hätten. Würden wir uns jemals eine solch kalte Einstellung aneignen? Unsere lieben Eltern monatelang einfach links liegen lassen, ja völlig ignorieren, weil uns irgend eine Laus über die Leber gelaufen ist oder uns irgend etwas an ihnen stört?
Nein, natürlich würden Luca und ich zu so etwas grausamen niemals fähig sein. Unsere Eltern haben uns großgezogen, uns umsorgt und uns hat es nie an etwas gemangelt bis zu dem Tag, an dem wir auszogen. Man vergesse an dieser Stelle auch eines nie: Eltern sind nicht vollkommen. Auch sie machen Fehler. Aber deswegen zu einer kaltherzigen Bestie werden, die die Eltern ins Heim abschiebt oder in der Wohnung verrotten lässt? Undenkbar!

Ich verdrängte dieses negative Gedankengut schnell. Weil ich wusste, dass es solche Unmenschen zur Genüge gibt. Und zwar überall auf der Welt. Und solche Menschen vermehren sich leider in dieser Gesellschaft explosionsartig.
„Wir haben von diesem grausamen Mord hier in Ludwigsburg gehört“, begann ich schließlich.
„Der Gesteinigte?“ Harry stieß einen spöttischen Laut aus. „Wer hat NICHT davon gehört? Geht ja rum wie ein Lauffeuer.“
„Ist es wirklich wahr, dass jemand zu so etwas fähig ist?“, bohrte Luca mit einem entsetzten Unterton in seiner sonst so ruhigen, klaren Stimme und fuhr sich mit der feingliedrigen Hand durch die Haare.
„Oh ja, sicher. Und der Bursche hatte keine Chance. Er war gefesselt und geknebelt. Die Handgelenke waren blutig gescheuert von dem Seil. Der Kerl musste ziemlich kämpfen, bis er erlöst wurde.“

Das Kopfkino entstand unweigerlich in mir und eine kurze Welle der Übelkeit stieß mir sauer auf.
„Wie… kann jemand nur so etwas tun… ich meine, hatte der Täter denn gar kein Erbarmen mit dem Opfer?“, fragte Luca heiser und fing an, sein Cola-Glas nervös in der Hand hin und her zu drehen. Harry lehnte sich betont entspannt in seinem Stuhl zurück und blinzelte kurz in die Abendsonne. „Weißt du, es ist anzunehmen, dass nicht jeder Stein sofort schwer verletzt. Und bis man einen Kopf trifft, der im Todeskampf hin und her schwingt, dauert es sicher auch. Das Opfer wies verdammt viele Prellungen und innere Verletzungen auf. Der Täter hat sich Zeit gelassen. Viel Zeit.“
Scheiße.
„Aber ihr wisst ja…“
„Schon klar, wir sagen niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen.“
„Gut. Das wollte ich hören.“ Und trotzdem runzelte er kurz die Stirn. Weil er wusste, dass es fragwürdig war, uns solche Dinge wissen zu lassen. Weil wir Mitte Zwanzig waren. Da ist man mit Frauen beschäftigt. Dann mit Frauen. Und mit Autos. Und Alkohol. Oh, und hatte ich es schon erwähnt? Mit Frauen. Da ist die Welt meist noch schön und alles steht einem offen.
Aber Harry wusste auch, dass wir in manchem eben waren wie er: Einer Sache nachgehen. Nach Gerechtigkeit trachten. Und wir waren nicht sensations- oder mordlüstern.
Genau das war auch der Grund, warum er uns ein wenig teilhaben ließ an dem Wahnsinn, dem er täglich ins kranke Antlitz blicken musste.

Selbstredend wird niemand, der wie zum Beispiel Luca nicht selbst bei der Polizei arbeitet, je vollständig nachvollziehen können, wie es sein muss, wenn man fast täglich mit dem Bösen konfrontiert wird. Doch ich hatte mir unlängst Gedanken darüber gemacht, inwieweit es Harry innerlich bereits aufgefressen haben musste, so lange bei der Kripo zu arbeiten. Das ging einfach noch viel mehr in die Substanz hinein als die Arbeit eines normalen Polizisten. Und ich war noch recht am Anfang derselben Karriere.

Ein Mensch kann sich schützen. Er kann Mauern bauen. Aber auch die Ressourcen des mental stabilsten Menschen sind einmal aufgebraucht, wenn er nicht eine lange Weile Abstand bekommt von dem Grauen.

Ich musterte das von so manchen Sorgenfalten und Krähenfüßen durchzogene, kantig definierte Gesicht in dem 3-Tage-Bart meines Onkels. Die blauen Augen glitten aufmerksam und geschult über jedes Detail seiner näheren Umgebung. Er war gut aussehend für sein Alter. Vermutlich der Frauenschwarm auf dem Revier in Ludwigsburg.
„Hast du den Fall?“, fragte ich ihn ganz direkt.
„Mhm. Die meinen, wenn, dann könnte ich den Täter ausfindig machen.“
„Und was hast du bisher rausfinden können?“, wollte Luca prompt wissen.
„An die helle Wand war etwas hin gesprüht. ‚Heb‘.“
Seine Mundwinkel zuckten kurz.
„Nur ‚Heb‘?“ Dieselbe Verwunderung wie meinen Bruder hatte mich ergriffen.
Harry verlagerte sein Gewicht etwas weiter über den Tisch.
„Sonst gar nichts.“
„Was denkst du darüber?“, lockte ich ihn vorsichtig aus der Reserve, denn ich konnte ihm ansehen, dass es hinter der Stirn brodelte.
„Da dieses Gekrakel gar keinen Sinn macht, legt es eine Sache nahe: Das hier fängt gerade erst an.“
„Oh mann“, murmelte Luca und rieb sich das Gesicht. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder?“
„Oh doch. Aber das mit dem Gekrakel darf nicht in die Zeitung. Sonst bricht gleich eine Hysterie mit den wildesten Spekulationen um die Bedeutung aus. Ist doch meistens eh immer dasselbe, wenn jemand mordet und dann meint, sich noch irgendwo mitteilen zu müssen. Zum Glück kommt sowas sehr selten vor.“

Ich hob die Augenbrauen. „Du meinst, dass da irgendwer Stimmen in seinem Kopf hört, die ihn dazu bringen, sowas zu tun?“
„Das ist ja schlimmer als in jedem Hollywood-Streifen!“, warf Luca fassungslos ein.
„Es ist noch viel zu früh, solche Vermutungen anzustellen.“
Da hatte Harry recht. Aber trotzdem… „Ich bitte dich. Wer außer irgendwelchen labilen Fanatikern irgendeiner Sekte würde denn etwas an eine Wand schmieren?“
„Der Tote war übrigens nicht evangelisch. Man dachte zuerst, er sei ein Mitglied der Gemeinde dort, das ist er aber nicht. Er ist Neuapostel.“
Ich runzelte die Stirn. „Gibt sowieso viel zu viele Abspaltungen der Kirche. Da blickt doch keiner mehr durch. Die backen sich alle ihren eigenen Glauben.“

Harry zuckte lässig die Schultern. „Ich weiß es nicht. Mit Religion habe ich nicht viel am Hut. Ich lasse den Herrgott Herrgott sein und räume hier unten das Chaos auf, das seine Schöpfung anrichtet.“
Das war eine bittere Einstellung, bemerkte ich still. Unsere Familie war evangelisch und es stand für uns außer Frage, dass Gott an den Menschen interessiert ist. Zwar waren wir nicht die vorbildlichen Kirchgänger wie man sie sich vorstellt, aber wir gingen ab und an, sporadisch, sonntags in die Kirche.

Dass Onkel Harry so derart gleichgültig gegenüber Gott war, wirkte ziemlich befremdlich auf mich. Aber wir hatten eben auch gelehrt bekommen, die Meinung anderer Menschen zu respektieren und niemanden zu verurteilen, also hielt ich mich daran, da es mir richtig erschien.
Harry fuhr unterdessen fort. „Ihr könnt euch nicht annähernd vorstellen, was in den Köpfen der kranken Menschen dieser Welt vorgeht. Stellt euch das absolut schlimmste vor, dann habt ihr nur die Spitze des Eisberges erfasst.“

 

So weit wollte ich gar nicht gehen. Es reichte mir, was da aktuell geschehen war.
In meinem Kopf erschien das Dreck verschmierte Opfer in irgend einem Lagerraum, das an ein altes, rostiges Rohr gefesselt war und röchelnde, gedämpfte Schreie durch ein Tuch presste, mit dem er zum Schweigen gebracht worden war. Angstschweiß stand auf dem panikverzerrten Gesicht, die Augen weit aufgerissen und um Gnade flehend, während ein Stein um den anderen, kleine und sehr große, seinen Körper traf, Knochen zermalmte, Organe verletzte, bis das Blut ins Gewebe schoss. Seine Schmerzen nahmen zu, er hatte kaum noch Kraft zu schreien, es war nur noch ein Winseln, ein Japsen, dann ein Röcheln, das vielmehr der Bitte glich, ihn doch endlich von dieser Tortur zu erlösen als dass es ein Flehen um sein Leben sein konnte. Doch der Täter, ein Mann ohne Gesicht, aber bekleidet mit einem langen schwarzen Mantel, machte weiter. Er genoss das Spektakel. Er hatte die Macht über Leben und Tod. Er war wie Gott, doch er würde keine Gnade zeigen. Es war die Langeweile, die ihn endlich einen großen Stein greifen ließ und er zielte auf den kraftlos gesenkten Kopf des Mannes und pfiff eine seltsame Melodie als er ihn auf sein Ziel warf… Ich wollte es mir nicht weiter vorstellen, sonst würde ich heute Nacht nicht ruhig schlafen können.

„Dieser Drecksack muss gefasst werden. Und zwar schnell, wenn deine Vermutung zutrifft“, sagte ich scharf und sah Harry dabei fest in die Augen.
Er musterte mein Gesicht und wusste, dass ich genau so tickte wie er, dann zog er eine Zigarettenschachtel aus seiner Hemdtasche und zündete sie sich an.
Wir beobachteten jede einzelne Bewegung und wie er erst einen genussvollen, tiefen Zug nahm und nach zwei Sekunden in die Luft blies. Dann setzte er zu seiner Erwiderung an.
„Ich habe denen hier in Ludwigsburg schon meine Befürchtung erläutert. Die haben nur gelacht. Sie halten es für die Tat eines geistig labilen Mannes und dass er ihnen beim zweiten Mal – sollte es je dazu kommen, und das bezweifeln sie stark – sowieso nicht entkommen wird. Sie vermuten aber eher noch eine Tat aus Rache.“
„Die sind aber sehr von ihren Fähigkeiten überzeugt“, meinte mein Bruder in spöttischem Ton.
„Sie können sich nicht vorstellen, dass hier im Landkreis Ludwigsburg ein Serienkiller sein Unwesen treibt. Aber seien wir ganz offen: wer würde ihnen sowas auch verübeln? Hier wäre etwas derartiges unvorstellbar.“
„Hast du nicht widersprochen?“
„Doch, klar. Aber die halten da den Ball flach. Erst muss immer etwas passieren. Dann kann man eingreifen.“
Ich nahm einen Schluck Cola. „Hast du das mit der Schmiererei an der Außenwand in Verbindung mit deiner Vermutung gebracht?“
„Sie sagen, so etwas kommt ab und an vor, dass man Kirchen anschmiert mit Worten oder Texten, Versen oder Namen. Das würde gar nichts beweisen. Vor allem, weil das, was da steht, null Sinn macht.“

Klar. Das war ja noch schlimmer als im schlechtesten Film, den ich bis dato kannte. Tja, so verfahren waren manche unserer Kollegen halt einfach. Ich meine, klar soll man nicht voreilige Schlüsse ziehen. Logisch. Aber das ist doch streng genommen allemal besser als dass man zu locker mit einem Mord umgeht und am Ende dafür ein weiterer Mensch sterben muss.
Hinterher heißt es immer: ‚Hätte man nur…‘ oder ‚Wenn doch…‘
Aber das bringt den Hinterbliebenen weder den geliebten Menschen zurück noch gibt es ihnen die Kraft, die sie benötigen, um weiter machen zu können.

Ich schüttelte im Unverständnis den Kopf. „Vielleicht sind sie einfach berufsblind geworden in den vielen Jahren.“
„Manche unter Garantie. Dazu wirst du hoffentlich nie gehören, Großer.“
Sicher nicht. „Und was gedenkst du jetzt zu tun?“
Er nahm einen Zug an seiner Zigarette, die vorne tiefrot zu leuchten begann.
„Da keine Fingerabdrücke gefunden wurden und niemand von den Anwohnern etwas gesehen oder gehört haben will, müssen wir das tun, was ich am allermeisten in diesem Beruf als Ermittler hasse.“
Ich sprach ihn aus, weil ich es genauso hasste wie Harry. „Abwarten.“

Kapitel 3

Unser Onkel sollte Recht behalten. Leider.
Es war eine Woche später als die Schlagzeile sowohl das Titelblatt in der Ludwigsburger als auch in der Bietigheimer Zeitung zierte. Ich wusste es natürlich schon.
‚Grausamer Mord schockiert den gesamten Raum Ludwigsburg‘.

 

Das Wetter war genau so katastrophal wie die Laune, die Harry vorhin am Telefon gehabt hatte an diesem Samstag Nachmittag.
Draußen regnete es in Strömen, während sich Blitze und Donner im Wechsel die Hand reichten.  In unserem Schlafzimmer brannte das Nachttisch-Licht und es war dämpfig. Aber es war auszuhalten, da wir morgens immer recht früh lüfteten, danach alles zumachten und die Rollläden herunterließen. In einer Dachgeschosswohnung ist das im Sommer unabdingbar oder man hat den ganzen Tag über eine kostenlose Sauna.

 

Eingerichtet waren wir übrigens ganz im Landhaus-Stil: die meisten Möbel aus Holz (manches davon hatten wir von den Großeltern zum Einzug bekommen), die Wände weiß, die Vorhänge passend dazu in rot-weiß kariertem Muster, die Böden aus Laminat und Parkett. Selbst das Geschirr war blau-weiß wie man es vor hundert Jahren besaß. Ein Geschenk unserer Tante.
Deko hatten wir auch. Weil Luca es zu kahl fand und die einzelnen Fotos an den steril weißen Wänden auch nicht wirklich viel herausholten.
Seien es alte Kaffee-Handmühlen, Schmalztöpfe von Anno Dazumal, bestickte kleine Deckchen oder Bienenwachskerzen, alles (viel davon vorn Verwandtschaft) stand in den Regalen und auf den Schränken herum. Meiner Meinung nach viel zu viel Krempel. Aber weil Luca es nicht wegwerfen wollte, war ich einverstanden damit. Beim Zusammenleben ist ein Kompromiss auf beiden Seiten notwendig und fördert den Zusammenhalt.

Momentan saß Luca in seinen lila Cargoshorts auf dem Bett und sah mich an.
Er fasste sein weißes Tanktop, das seinen schmalen Körper betonte, vorne und zupfte daran herum, um sich etwas Luft zu fächeln.

 

Ich sah wieder aus dem Fenster und ließ das Gespräch von vorhin mit unserem Onkel Revue passieren.  
Wir wussten natürlich, was passiert war. Freitag Abend hatte uns Harry mitgeteilt, was genau Sache war, nachdem ich nur Bruchstücke erfahren hatte.

Man hatte die Leiche einer seit Dienstag vermissten Frau - die Frau des katholischen Pfarrers - gefunden. In einem leerstehenden Fabrikgebäude am Ortsrand von Bietigheim-Bissingen. Anwohner hatten über Geräusche dort geklagt. Und über massig Ratten.
Man hatte also nachgesehen und die sterblichen Überreste der vermissten Frau gefunden – oder vielmehr ihre angefressenen Überreste.
Man hatte sie auf den Boden an alte Halterungen gekettet und geknebelt gehabt. Sie hatte gerade ein paar Zentimeter Spielraum gehabt, ihre Hände und Füße zu bewegen – und zwar auf den sehr scharfen Sägezähnen, die man nachträglich angebracht haben musste und die neben ihren Händen und Füßen vertikal aufgerichtet auf dem Boden befestigt worden waren. Ihre Aufgabe war gewesen, sich die Hände und Füße abzusägen, dann wäre sie frei gewesen. Ein einfaches, aber todsicheres Prinzip.
Sie hatte also eine minimale Chance gehabt, jedenfalls theoretisch, doch die unerträglichen Schmerzen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie war zu langsam gewesen und daher verblutet.

 

Draußen erhellte ein greller Blitz den dunklen Himmel, kurz darauf war ein lautes Donnern zu hören und die Scheibe unseres alten Fensters vibrierte für einen Moment lang. Der Regen peitschte gnadenlos auf die Felder oben hinab und man konnte froh sein, wenn man bei so einem Wetter im Trockenen stehen konnte.
Irgendwas gab mir das Gefühl, hier drin auch sicher vor all den Menschen zu sein, die da draußen wie ein Gewitter über das Land fegten und so schlimme Dinge taten wie man es sich kaum vorstellen kann.

„Du bist so still“, stellte Luca leise fest.
„Mh.“ Mehr war ich nicht imstande zu antworten.
Harry war am Telefon betont ruhig gewesen als wir ihn wegen einer eigentlich belanglosen Sache an dem Tag angerufen hatten, das Telefon auf Lautsprecher gestellt, doch da war etwas in seiner Stimme, ein leichtes Zittern, nur minimal und kaum zu hören in der verzerrten Leitung, und es war genug, um zu verraten, wie aufgelöst er war und wie stark es ihn mitgenommen hatte. Selbst nach über zwanzig Jahren noch.
Und vorhin hatte er uns angerufen, weil ich ihn inständig gebeten hatte, mir die Neuigkeiten mitzuteilen, was diese Sache betraf.

Und tatsächlich.
Man hatte es nur nicht sofort bemerkt, weil das Blut die Hälfte davon auf dem Boden bedeckt hatte, aber ursprünglich war ‚11‘ neben der toten Frau auf den Boden geschmiert worden. In derselben Farbe wie an der Auferstehungskirche. Es gab also einen ersten Zusammenhang. Vielleicht nicht zwischen den Opfern. Aber wegen dem Geschmiere.

 

So weit, so gut. Aber auch hier fand man keinerlei Fingerabdrücke. Da war jemand stark bestrebt, nicht entdeckt zu werden.
Und dieses Mal hatte Harry mit Nachdruck betont, dass man es hier wahrscheinlich mit dem beginnenden Werk eines Serientäter zu tun hatte. Sie waren skeptisch. Weil so etwas „hier im Landkreis Ludwigsburg doch mit Sicherheit nie passieren würde“. Konnte immerhin purer Zufall sein, da sollte man nicht sofort zu viel hinein interpretieren. Und diejenigen, die ihn nicht angezweifelt hatten, schwiegen einfach, unsicher, ratlos.

Kein Wunder war unser Onkel so stinksauer gewesen am Telefon. Weil er seinen ursprünglichen Sitz eigentlich in Stuttgart hatte, war er in Ludwigsburg oder Bietigheim ja nur einer von außen, der seine Nase in alles reinstecken musste und der „viel zu übereifrig an die Fälle heran geht“, hatte er uns fast beiläufig gesteckt. Dann hatte er das Gespräch recht schnell beendet, da er noch den Ehemann der Toten befragen gehen wollte.
„Er tut mir leid“, sagte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2553-4

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