Cover

Prolog


Entweder bestehen wir oder wir zerbrechen. Stück für Stück, Atemzug für Atemzug. Bis wir am Ende sind.

Oder wir können uns wieder nach oben kämpfen. Ans Licht. Wir können aus dieser Hölle aufsteigen. Stück für Stück, Atemzug für Atemzug.
Wir können wieder zu dem werden, was wir einst waren.

It's a new chapter. Face it - things will change.


„Es geht mir hier nicht mehr gut. Mit dir unter einem Dach zu leben zerfrisst mich. Langsam, von innen. Aber es bringt mich früher oder später um. Deswegen muss ich jetzt gehen. Jetzt, wo noch keine Worte gefallen sind, für die es keine Entschuldigungen gibt.“
Ronnie, eigentlich Veronica, erschrak vor ihrer festen Stimme. Innerlich zitterte sie und am liebsten wäre sie aus dem Arbeitszimmer geflohen. Geflohen vor allem. Vor ihrem Leben, ihrem Vater und am liebsten vor dem gekränkten Blick in seinen Augen.
„Ich wusste ja nicht…“ – „Natürlich wusstest du es nicht. Tag für Tag verschanzt du dich in diesem Zimmer, hängst über irgendwelchen Verträgen und deine eigene Familie bekommt dich nicht mehr zu Gesicht.“
Schnell biss sich Ronnie auf die zitternde Unterlippe. Bevor ihr Vater Michael das sehen konnte. Er sollte nicht sehen wie schwer es Ronnie fiel zu gehen.
„Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Nicht überhastet aufbrechen…“
Michael ließ den Satz in der Luft hängen. Er wusste, dass es sinnlos war. Ronnie würde es nicht wieder probieren. Nicht schon wieder.
„Du weißt, dass es sinnlos ist. Ich wollte es dir nur sagen. Versuch gar nicht erst mich zu erreichen. Ich brauch Abstand.“
Fast blind stolperte Ronnie aus dem Arbeitszimmer und die letzten Worte ihres Vaters gingen im dumpfen Knall der Tür unter. Im Flur stand der letzte Umzugskarton, den die sich unter den Arm klemmte während sie die Treppe runter polterte und ohne einen Blick zurück das Haus verließ. Das Haus, in dem sie seit ihrer Geburt gelebt hatte und das voller Erinnerungen steckte.

Es vergingen einige Momente ehe sich Michael wieder rühren konnte. Unfähig sich zu bewegen saß er in dem weichen Schreibtischsessel und starrte die Tür an, die seine Tochter erst vor wenigen Sekunden kraftvoll zugeschmissen hatte. Er lauschte ihren Schritten im Flur, auf der Treppe und im unteren Teil des Hauses und schließlich wie sie die Haustür schloss. Für wie lange wusste keiner der Beiden. Und dabei war diese Reaktion absehbar gewesen. Für Ronnie war es die einzige Möglichkeit vielleicht irgendwann mal wieder zu ihrem Vater zu finden und Michael selbst schätzte seine Tochter für diese Stärke. Die Probleme zu sehen

und sie nicht zu ignorieren, wie er es gerne tat.
Leise entfernte sich das Motorengeräusch von dem Haus. Michael hätte es zu jedem Zeitpunkt wieder erkannt. Dieses einzigartige, unverkennbare Geräusch des Autos, das er seiner Tochter zu ihrer Volljährigkeit geschenkt hatte. Selbst damals lag die Welt schon im Argen.
Und erst, als das Motorengeräusch vollends verstummt war konnte Michael sich wieder bewegen. Langsam, bedächtig, lehnte er sich wieder vor und fixierte mit seinem Blick die Unterlagen, die er sich angesehen hatte, bevor Ronnie ins Zimmer gekommen war.
Michael tat es nicht extra. Er überging nicht gerne unangenehme Situationen wie diese. Welcher Vater konnte schon mit einem müden Lächeln darüber hinwegsehen, dass die älteste Tochter Reißaus nahm? Aber er kannte es nicht anders. Für Michael war das Leben aber so einfach gestrickt: Entweder verlief sein Leben in geregelten Bahnen, oder er ignorierte einfach die Tatsache, dass es nicht so war. Er war ein Meister der Täuschung; vor allem der Selbsttäuschung.

Mit großen Augen stand Ronnie nun vor dem alten Fachwerkhaus am anderen Ende der Stadt. Die Räume hinter den antiken Fenstern wirkten verlassen, aber mit nichts anderem hatte sie gerechnet.
In der Zeitung war sie vor einigen Monaten auf einen Annonce gestoßen, die ihr Herz höher schlagen ließ: Jemand suchte einen Mitbewohner, der für ein Drittel der Miete den Haushalt schmiss. Ronnie hat sich natürlich sofort um die Wohnung bemüht und weil außer ihr nur ein Pärchen gemeldet hatte, dass nicht nur nach Alkohol sondern auch nach Drogen roch, hatte man ihr die Wohnung zugesprochen.
Und nun stand sie da. Alleine vor dem Haus, das in den nächsten Tagen und Wochen, vielleicht sogar Monaten zu ihrem neuen Heim werden sollte. Mit zittrigen Händen sperrte sie die Tür auf und stielte zu den scheinbar endlosen Treppen über ihr. Ihr neues Heim lag in der zweiten Etage. Und dieses alte Haus besaß keinen Fahrstuhl. Seufzend klemmte sich Ronnie ihr Plüschnilpferd Elliot

zwischen ihre Knie, band ihre blonden Haare zu einem Zopf und starrte erneut auf die endlosen Treppen über ihr.
„Na dann mal los“, versuchte sie sich selbst zu motivieren und klatschte in die Hände, bevor sie sich Elliot unter den Arm klemmte und mit der ersten Kiste unter ihrem anderen Arm die Treppen erklomm. Das erste Mal von vielen weiteren.

„Warum hast du sie nicht aufgehalten?“, fragte Sam ihren Vater, als Ronnies Platz am Tisch leer blieb. Eigentlich war es ein festgeschriebenes Ritual in der Familie Sanders, dass man jeden Abend zusammen aß. Die einzige Zeit des Tages, wo die Familie Zeit hatte und sich über die Ereignisse des Tages austauschen konnte. Jetzt stand Ronnies Auszug ganz oben auf der Liste.
„Und was hätte ich dann deiner Meinung nach tun sollen?“, fragte Michael und schaute ruhig zu seiner Tochter. Er verurteilte sie nicht für diese bissige Frage, einfach weil sie es nicht besser wusste. Sam senkte beschämt den Kopf und starrte stumm auf ihr Essen.
„Sie wird zurück kommen“, erklärte Michael Sanders und schaute jedem seiner Kinder ins Gesicht, die seinen Blick stumm erwiderten, „aber Ronnie braucht jetzt Zeit für sich. Seit mehr als fünf Jahren hatte eure Schwester keinen Moment mehr für sich. Seit mehr als fünf Jahren steht eure Schwester für jeden hier parat. Für euch wie für mich. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Meint ihr nicht, dass nun Zeit ist, für sie da zu sein und ihr den Freiraum zu geben, die sie bitter nötig hat?“
Stumm starrten die Sanderskinder auf ihre Teller und schoben nacheinander diese von sich. Schuldbewusst ließen sie die Schultern hängen und seufzten, genau wie Michael selbst. Ronnie war noch keinen Tag von ihnen weg und schon vermissten sie ihre lebensfrohe Art dass es schmerzte.

Erschöpft ließ Ronnie sich auf das breite Sofa fallen, dass im Wohnzimmer stand. Das Polster war zwar abgenutzt und auch die Farbe hatte ihre beste Zeit lange hinter sich gelassen, aber für Ronnie war es mehr als genug. Mit dem letzten Karton hatte sie auch ihre Schuhe im Flur stehen gelassen und war mehr tot als lebendig auf das Polster gefallen. Ihre Füße baumelten über die Rückenlehne und kopfüber betrachtete sie den großen Fernseher, der nicht wirklich zum Rest des Wohnzimmers passen wollte. Während die Deko nicht existierte und die Möbel alt und abgegriffen waren, strahlte der Fernseher staubfrei und riesengroß an der Wand. Es sah schon ulkig aus.
Als sie hörte wie ein Schlüssel in die Haustür gesteckt wurde und darin gedreht wurde, wollte sie schnell vom Sofa springen und sich halbwegs vernünftig hinsetzen. Doch als sie Riegel in der Tür zurücksprangen fiel Ronnie vom Sofa und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Laminat, das nur von einem fransigen Teppich etwas gepolstert wurde.
„Autsch“, fluchte sie leise, rappelte sich unelegant wieder auf die Beine und gerade als sie stand und einen Blick in den Flur riskieren wollte, schaute sie direkt in das Gesicht ihres neuen Mitbewohners, das nur wenige Zentimeter vor ihr war.
„Hast du dir was getan?“, fragte er fürsorglich, doch Ronnie kam nicht drum herum zu erkennen, dass seine Mundwinkel belustigt zuckten und er sich ein Lachen verkneifen musste.
„Nein. Alles gut“, sagte sie schnell und die Worte stolperten beinahe aus ihrem Mund als sie ihm noch rasch erklärte, dass er ruhig lachen solle.

Allein saß Michael Sanders im leeren Wohnzimmer des Hauses. Nur eine einzige Lampe erhellte den Raum in dem sich die verschlingende Dunkelheit langsam aber sicher breit machte. Auf dem Glastisch vor ihm thronte der Laptop, dass Michael seit Jahren hütete wie seinen Augapfel. Nicht nur, dass dort all seine Arbeitsunterlagen drauf gespeichert waren. Vor zwei oder drei Jahren hatte er alle Fotos digitalisieren lassen und sie in einem der passwartgeschützten Ordner seines PCs versteckt um alle Erinnerungen immer bei sich tragen zu können. Jedes Mal lächelte er, wenn er diesen Ordner öffnete und sich Bilder aus beinahe vergessenen Zeiten anschaute. Dabei setzte er sich jedes Mal ein Limit. Eine halbe Stunde pro Woche. Nicht mehr. Michael fürchtete sonst sich in der Vergangenheit zu verlieren und dann nicht mehr zu sich zu finden. Denn diese Zeit lockte ihn mit schillernden Farben.

„Was gibt es hier zu beachten? Außer, dass ich für den Haushalt zuständig bin?“, fragte Ronnie nachdem sich ihr neuer Mitbewohner, Jonathan, zum einen beruhigt hatte und ihr die Wohnung gezeigt hatte. Jetzt saßen sie einander in der Küche gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen thronten zwei Tassen mit Tee.
„Nichts Großartiges. Die normalen Regeln, die man dir hoffentlich auch zu Hause beigebracht hat. Obwohl, du solltest vielleicht auf die Lautstärke hier achten. Wir haben sehr dünne Wände und die Mieterin unter uns kann noch immer nicht im Takt mit dem Besenstiel gegen die Decke klopfen. Sie hat das Talent das beste Lied zu versauen.“
Ronnie nickte wissend und als die Worte zu ihr durchdrangen brach sie in schallendes Gelächter aus. Sie stellte sich bildlich vor wie Jonathan diese Erfahrung machte.
„Okay. Das merke ich mir. Sonst noch was?“ – „Die Haushaltskasse. Als kleine Schülerin verdient man ja nicht sonderlich viel Geld. Davon kannst du die Einkäufe bezahlen. Ich werde dir immer was darein packen.“
Es dauerte noch bis Jonathan und Ronnie alles geklärt hatten und noch einmal eine halbe Stunde, bis die Beiden Ronnies Kisten in ihr neues Zimmer zu brachten. Jonathan hatte sich die ganze Zeit darüber lustig gemacht wie viel Zeug Ronnie dabei hatte. Ronnie hatte ihn daraufhin strafend angesehen und ihm erklärt, dass sie wirklich nur das Nötigste dabei hatte.
Sie lachten viel an diesem Abend. Ronnie war unglaublich froh, dass sie sich mit Jonathan so gut verstand. Das war ihre einzige Sorge gewesen. Doch der Kerl raubte ihr den Atem, wortwörtlich. Er riss einen Witz nach dem anderen.

Während in Ronnies neuem Heim die Nacht zum Tag gemacht wurde, kehrte bei den Sanders’ ungewöhnlich früh die Ruhe ein. Die Kinder hatten sich direkt nach dem Essen auf ihre Zimmer verzogen und nachdem Michael sich seine wöchentliche Dosis Erinnerungen gegönnt hatte, schlich er auch in sein Zimmer. In seinem Arbeitszimmer stapelten sich zwar massenhaft Unterlagen die er durchschauen und bearbeiten musste, aber er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er vermisste seine Tochter mehr als er sich eingestehen wollte und dennoch zwang er sich vor Allen den Schein zu wahren, dass er sich für Ronnie freute. Aber dennoch: Welcher Vater sah gerne wie seine Tochter erwachsen wurde und langsam aber sicher flügge wurde? Niemand. Kein Vater, keine Mutter, keine Familie. Und dennoch: Nichts war für die Ewigkeit bestimmt, außer vielleicht die Ewigkeit selbst.

Große Veränderungen in unserem Leben bedeuten fast immer eine zweite Chance


Der Wecker schrillte laut in Ronnies Zimmer. Schlaftrunken tastete sich nach dem Wecker, doch als ihre Hand nur das kalte Mauerwerk fand, schreckte sie hoch. Verwirrt musterte sie die fremde Umgebung und suchte nach dem Störenfried.
Letztendlich fand sie nach verwirrenden Augenblicken die Wecker auf der anderen Seite ihres Bettes. Es hat einige Minuten gedauert bis sie realisierte, dass sie nicht mehr zu Hause war, sondern zusammen mit Jonathan in einer gemütlichen Wohnung in einem Fachwerkhaus am anderen Ende der Stadt.
„Mach den scheiß Wecker aus“, brummte Jonathan müde aus seinem Zimmer und nachdem Ronnie seiner Bitte nachgekommen war, musste sie schmunzeln. Jonathan hat wirklich nicht übertrieben als er ihr am Abend zuvor von den papierdünnen Wänden erzählt hatte.

Es dauerte nicht lange bis sich aus Jonathan aus dem warmen Bett schälte. Er hörte das Wasser in der Wand rauschen als Ronnie unter der Dusche stand und entschloss sich währenddessen das Frühstück für sie Beide zu machen.
„Was möchtest du frühstücken?“, rief er Ronnie durch die geschlossene Badezimmertür entgegen, nachdem er gehört hat wie sie das Wasser abgestellt hat. Während er auf eine Antwort wartete hörte er wie sie im engen Badezimmer gegen etwas stieß, daraufhin etwas zu Boden fiel und Ronnie lautstark fluchte. Auf seine Frage ob alles bei in Ordnung sei hat sie ihm nur erklärt, dass sie kein Morgenmensch sei und sie deshalb gerne Kaffe trinken würde. Sehr starken Kaffe.
Mit einem Grinsen im Gesicht schlenderte Jonathan wieder zurück in die kleine Küche, stellte die Kaffeemaschine an und trottete zurück in sein Zimmer um sich einen Trainingsanzug überzuziehen. Die dünnen Wände hielten nicht sonderlich gut die Wärme im Haus während draußen arktische Temperaturen ihr Unheil trieben.
Auf dem Flur traf er auf Ronnie, die mit nassen Haaren und einem Wollkleid mit einer dicken Strumpfhose aus dem Badezimmer kam. Nebelschwaden flüchteten aus dem Raum und Jonathan musterte Ronnie skeptisch, während sie sich die nassen Haare zu einem unordentlichen Zopf am Kopf zusammenband.
„Nicht, dass ich gleich kein heißes Wasser mehr habe“, murmelte er und trottete hinter Ronnie her, die schon längst in der Küche verschwunden war.

Auch im anderen Haus, am anderen Ende der Stadt, erwachte langsam das Leben wieder. Michael war schon seit einigen Stunden wach, wenn er überhaupt geschlafen hatte, und saß im Arbeitszimmer über zahllosen Dokumenten. Er sah nur kurz von dem Papierstapel auf als er hörte wie eine seiner Töchter aufgestanden war und schlaftrunken über den Flur ins Badezimmer stolperte.
Michael war stolz auf jedes seiner Kinder. Er war stolz auf Ronnie, weil sie den Mut hatte ihrem Vater die Stirn zu bieten. Er war stolz auf Sam, weil sie zwar nicht begeistert von Ronnies Auszug war, es aber akzeptierte. Sam hatte nach vielen Monaten gelernt ihre eigenen Bedürfnisse manchmal zu Gunsten anderer hinten anzustellen. Und er war stolz auf Fabian, den Jüngsten in der Familie, einfach weil er sein Sohn war und nach allem was passiert war, versuchte glücklich zu werden.
„Guten Morgen, mein Engel“, lächelte Michael seine zweitälteste Tochter an als sie verschlafen ihren Kopf ins Zimmer steckte. Sie war wach, allerdings sah man ihr an, dass der Schlaf noch immer ihren Verstand einnebelte und sie wahrscheinlich noch einige Minuten brauchen würde.
„Morgen. Machst du frühstück?“

Ronnie saß Jonathan gegenüber auf einem der Küchenstühle und hatte die Hacke ebenfalls auf die Sitzfläche gestellt. Müde bettete sie ihr Kinn auf das Knie und beobachtete wie Jonathan aufstand und anschließend durch die Küche wirbelte. Etwas neidisch musste sie zugeben, dass er wirklich ein Morgenmensch war. Sie selbst hingegen war ehr ein Nachtmensch.
„Wie kann man nur so fit sein, wenn selbst die Sonne sich nicht blicken lässt? Die Menschen müssten noch friedlich in ihren Betten liegen und du? Du stellst hier einfach alles auf den Kopf. Du darfst

noch nicht so wach sein!“
Ein breites Grinsen breitete sich auf Jonathans Gesicht aus, als er sich schließlich mit zwei Tassen Kaffe in der Hand sich wieder setzte. Eine Tasse schob er Ronnie rüber, die gierig ihre Finger um das heiße Getränk legte. Flüchtig erklärte Jonathan ihr, dass er viel Sport machen würde und er deswegen schon so früh auf den Beinen sei. Daraufhin kniff Ronnie ihre Augen zu dünnen Schlitzen zusammen und musterte ihren neuen Mitbewohner eingehend. Auch wenn Jonathan grade einen schlabberigen Pulli an hatte und seine Beine in einer weiten Jogginghose steckten, konnte sie sich seine Figur in etwas vorstellen. Und die Figur die sie sah, war nicht muskulös…ehr drahtig.
„Ich würde das ja nie freiwillig machen“, erklärte sie und nippte an ihrem Kaffe. Sie spürte wie die heiße Flüssigkeit ihren Rachen hinunter lief und sie von innen wärmte.
„Sei froh. Wir sitzen hier jetzt im selben Boot und stell dir mal vor, wir würden auf einer Seite stehen.“
Ausdruckslos starrte Ronnie ihn an. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was das im Bezug auf Jonathan zu bedeuten hatte, aber sie hatte sowieso keine Zeit sich großartig darüber Gedanken zu machen. Sie musste sich für die Schule fertig machen und war sowieso schon viel zu spät dran.

„Und du bist jetzt tatsächlich zu Hause ausgezogen?“, fragte Marie, Ronnies beste und vielleicht sogar einzige Freundin. Zusammen saßen sie in der Cafeteria der Schule, hockten mehr oder weniger konzentriert über ihren Aufgaben und hofften, dass sich der Tag irgendwann einmal zum Ende neigte.
Gedankenverloren lehnte Ronnie sich zurück und legte ihren Stift auf den Ordner, der drohte aus allen Nähten zu platzen.
„Ja, musste sein…“
Ronnie brach ab, als sich ein Mitschüler zu ihnen setzte. Es war Jan. Ein Schüler aus ihrer Stufe. Man sprach nicht viel, ehr kaum. Mehr als ein Hallo

und Tschüss

war selten drin und dennoch verurteilten sie ihn nicht, als er sich unaufgefordert setzte. Mit der Aussicht auf weniger als ein Jahr noch zusammen Unterricht zu haben war die Stufe ein wenig mehr zusammen gerutscht und die Feindschaften wurden einstimmig begraben.
„Störe ich?“, fragte Jan etwas außer Atem und Ronnie kam nicht umher, seine rötlichen Wangen zu betrachten und die roten Ohren, die die eisige Wind in ihre Mangel genommen hatte.
Synchron schüttelten Ronnie und Marie den Kopf. Sie würden später noch genügend Zeit haben die Dinge zu besprechen und mussten jetzt keinen großen Hype darum machen.
Entspannt lehnte Jan sich zurück und ließ seinen Blick durch die Cafeteria gleiten, die hauptsächlich von Oberstufenschülern besetzt worden war. Für jeden der älteren Schüler war dieser große Raum zur kleinen Oase der Schule geworden und lernte ihn spätestens in den vielen Freistunden zu schätzen und vor allem zu lieben.
„Wie auch immer“, lächelte Marie und nahm wieder den Kugelschreiber in die Hand, den sie wenige Minuten vorher frustriert auf ihren Block geschmissen hatte, „ich werde mich nicht mehr weiter mit Mathe quälen. Ist mir sowieso schleierhaft warum ich das noch lernen muss obwohl ich es nicht im Abi haben werde.“
Ronnie sah sie erst verstört, dann lachend an: „Du kannst ziemlich naiv sein, oder? Muss schön sein, wenn man einfach vor kleinen Wehwehchen weglaufen kann.“
Sie meinte es nicht böse. Sie meint mit dieser Stichelei noch nicht einmal Marie. Schließlich hatte Ronnie erst vor einem Tag ihre Sachen gepackt und war von zu Hause ausgezogen. Sie

war diejenige die naiv war und blindlings vor ihren Problemen davon lief.

Seufzend schaut Jonathan auf das Chaos, das Ronnie nach ihrem überstürzten Aufbruch zur Schule hinterlassen hatte. Kopfschüttelnd betrachtet er das Schlachtfeld im Badezimmer und unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. Bisher hatte seine neue Mitbewohnerin sich an keine ihrer Pflichten gehalten. Sie war weder leise wenn sie Musik hörte, noch war sie die gewünschte Haushaltshilfe oder sonst irgendwas. Aber sie war trotzdem eine Bereicherung gewesen. Sie ließ ihn direkt am ersten Morgen lachen und seine morgendliche Laufrunde kam ihm ungewöhnlich kurz vor. Einfach, weil er über ihr lebendiges Wesen nachgedacht hatte. Jonathan kannte Ronnie nicht, er konnte sich nur eine vage Vorstellung von dem, was Ronnie ausmachte.
Lachend stieg er über ihr achtlos auf dem Boden geworfenes Handtuch in die Duschwanne und rutschte beinahe aus, weil Ronnies Seifenreste einen schmierigen Film hinterlassen hatten.
„Oh Veronica, ich hoffe du wirst aufgrund deiner Persönlichkeit die beste Mitbewohnerin der Welt. Deine Haushaltskünste sind ja unter aller Sau!“

„Vielleicht solltest du deinem Vater doch besser sagen wo du wohnst“, sagte Marie leise als sie neben Ronnie zum Auto ging. Schnee knirschte unter ihren Füßen und der Atem verwandelte sich in leise, weiße Wölkchen. Ronnie, die den Schlüssel in ihrer Tasche suchte, hielt kurz inne und sah ihre Freundin mit einem ernsten Blick an. Dann schüttelte sie vehement den Kopf und hielt Sekunden später den Autoschlüssel triumphierend in die Höhe als wäre er der heilige Gral.
„Und warum nicht?“, harkte Marie schonungslos weiter nach und trat aus Sicherheitsgründen einen Schritt von Ronnie weg, als sie stehen blieb und sie böse anfunkelte. Doch ehe Ronnie etwas sagen konnte, riss Marie die Hände in die Luft und erklärte Ronnie ihren Gedanken: Dass es vielleicht gesunder sei wenn ihr Vater wüsste wo er sie zu finden hat bei Problemen.
„Ich hab wirklich kein Problem, Marie. Aber du wirst gleich eins haben wenn ich dich hier in der Eiseskälte stehen lasse und du zusehen musst wie du nach Hause kommst. Wo du doch so um meine Gesundheit besorgt bist kannst du doch gleich nach Hause joggen. Schluss mit dem Lottaleben“, knirschte Ronnie und setzte sich in Bewegung, bevor Marie auch nur irgendetwas sagen konnte. Eilig hastete Marie ihr hinterher. Sport war nicht ihr Ding.
„Du weißt, dass ich mir nur Sorgen mache“, setzte Marie hinterher, als sie auf dem Beifahrersitz saß und Ronnie bereits viel zu schnell die Straße runterjagte, um sie mit einem gekonnten Seitenhieb aus dem fahrenden Auto zu stoßen. Trotzdem ließ Ronnie es sich nicht nehmen sie wütend von der Seite anzustarren um schließlich ihr ein offizielles Sprachverbot für den Rest der Fahrt auszusprechen.

Michael Sanders saß in seinem Büro und blickte mürrisch auf die Unterlagen, die ihm wahrscheinlich den gesamten Abend noch versauen würden. Aber insgeheim war er auch glücklich über die viele Arbeit, die er tagtäglich mit nach Hause brachte. So konnte er sich zumindest begründet vor der Realität verstecken und musste nicht mit den unschönen Dingen seines Lebens ins Auge blicken.
Dabei meinte er auf gar keinen Fall seine Familie und seine Kinder. Er liebt jedes dieser Wesen mehr als sich selbst. So, wie es jeder Vater tun sollte.
Aber Michael hasste das, was aus seine Familie geworden war. Jeder ging seinen Weg, allein. Selbst Fabi, das Nesthäkchen der Familie, fuhr jeden Tag alleine zum Fußballtraining und erzählte seinem Vater kaum noch etwas von seiner Leidenschaft. Obwohl er bis vor fünf Jahren nur

über Fußball reden konnte. Aber seit fünf Jahren redete er kaum noch.
Auch Sam, sein zweitälteste Kind, hatte sich in den letzten fünf Jahren verändert. Sie hatte sich von ihren schillernden blonden Haaren verabschiedet und sie sich schwarz gefärbt. Vor einem Jahr, an ihrem sechzehnten Geburtstag, hatte sie die Unterschrift von ihrem Vater gefälscht und hatte sich ein Tattoo stechen lassen. Michael hatte das natürlich aufgeregt und hatte viel mit seiner Tochter geschimpft, aber all das änderte nichts an der Tatsache, dass seitdem Nosce te ipsum

auf ihren Rippen unter der Brust stand. Erkenne dich selbst

. Genau das, was seine Frau immer zu seinen Kindern gesagt hatte, als sie völlig am Boden zerstört waren und nicht mehr weiter wussten.
Ronnie hatte sich in den letzten fünf Jahren aber am stärksten verändert. Nicht sichtbar wie seine anderen beiden Kinder. Aber bedeutsamer. An dem Tag als sie ihre Mutter und seine Frau zu Grabe getragen haben, hatte Ronnie ihr kindliches Ich abgelegt und hat ohne ein Wort zu sagen die Rolle der Mutter für ihre kleinen Geschwister übernommen. Seine älteste Tochter war mehr ein Elternteil für seine Kinder gewesen als er selbst.
Seufzend drückte er seine Handballen gegen seine geschlossenen Augen und versuchte sich wieder zu sammeln bevor er in Tränen ausbrach.

Jonathan staunte nicht schlecht, als er in die Wohnung kam, es nach Essen roch und er den Fußboden erkennen konnte.
„Hallo?“, fragte er und schob mit den Zehen die Schuhe von den Hacken und hing seinen Winterparker an die Garderobe neben der Tür. Hungrig biss er sich auf die Unterlippe und folgte Ronnies Stimme, die ihn in die Küche zitierte.
„Das riecht gut“, lächelte Jonathan als er im Türrahmen lehnte und zusah wie Ronnie am Herd stand und irgendetwas in einen Topf schmiss und mit dem Holzlöffel es umrührte.
„Danke“, lächelte sie und wischte ihre Hände an der Schürze ab, die um ihre Hüften geschlungen war. Jonathan erinnerte er so an eine typische Hausfrau, aber ihre Ausstrahlung ließ es kurios wirken. Jonathan konnte sich nicht vorstellen, dass aus dieser Person irgendwann einmal eine typische Hausfrau werden würde. Vielleicht würde sie mal eine Familie gründen und sich mit ihren Kindern und ihrem Ehemann in einem schnieken Häuschen in einer ruhigen Gegend nieder lassen. Aber man würde nie Ronnie hinter einen Herd verdammen.
„Das werden meine berühmten Spagetti. Meine Familie fährt jedes Mal darauf ab wenn ich die mache. Vielleicht kann ich dich damit ja genauso um den Finger wickeln wie meine Sippe.“
Ohne zu antworten setzte sich Jonathan auf den Stuhl, der dem Spülbecken am nächsten war. In gewisser Weise vertraute er Ronnie und sie strahlte auch durchaus diese Professionalität aus die jeden Menschen in ihrer Umgebung sagte, dass sie wusste was sie tat. Und dennoch fürchtete er um seine Küche als Ronnie die Nudeln abgießen wollte und ihr der Topfdeckel scheppernd vom Topf rutschte und heiß wie er war auf ihren Fuß fiel. Krachend stellte sie die Nudeln auf den Herd zurück, dass er dachte die Ceranplatte einen dicken Riss davon tragen müsste. Ronnie hüpfte auf ihren gesunden Fuß hin und her, während sie den Geschundenen in der Hand hielt und laut vor sich hin fluchte. Innerlich hoffte Jonathan dass die umliegenden Nachbarn all die Worte ihrer Schimpftriade kannten. Und es waren einige.
„Brauchst du Eis?“, fragte Jonathan halb lachend, halb besorgt. Ronnie strafte ihn mit einem finsteren Blick und ließ sich geräuschvoll auf die Bank fallen.
„Eis wäre toll“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und legt vorsichtig den geschundenen Fuß auf den gegenüberliegenden Stuhl. Jonathan nickte, schritt mit langen Schritten durch die Küche und öffnete das Fach unter dem Kühlschrank, das Eisfach. Schubladen wurden aufgezogen und wieder zugeschoben und Sekunden später legte er einen Eisbeutel auf Ronnies Socke. Geräuschvoll entwich die Luft aus ihren Lungen und sie lehnte den Kopf gegen die Wand.
„Normal enden meine Kochkünste nicht in einem solchen Chaos“, versprach sie und beobachtete nun Jonathan, der gekonnt die Nudeln abschüttete. Lächelnd lehnte er sich gegen die Anrichte nachdem den Topf vorsichtig wieder zurück gestellt hatte und blickte Ronnie durchdringend an: „Wirklich?“ – „Na wenn ich es doch sage.“
Abschätzend kreuzte Jonathan die Arme vor der Brust und murmelte etwas von seinem Erste-Hilfe-Kasten den er unbedingt wieder auf den neusten Stand bringen sollte und nahm sich einen Teller aus einem der Hängeschränke. Mit einem stichelnden Blick erklärte er Ronnie, dass er testen würde, was sie da zusammengebraut hätte.
„Testen auf eigene Gefahr“, stieg sie völlig auf seine Sticheleien ein und bat ihn, ihr auch einen Teller fertig zu machen. Wie auf Bestätigung fing ihr Magen an zu knurren. Lachend reichte Jonathan ihr einen Teller und setzte sich Sekunden später ihr gegenüber. Vor ihm standen ebenfalls die dampfenden Nudeln, die Ronnie ihm als ihre Spezialität verkauft hatte.
„Die sind wirklich gut“, brachte er kauend direkt nach dem ersten Bissen hervor und Ronnie verzog angewidert das Gesicht.
„Kannst du nicht erst schlucken und dann reden? Ich will nicht sehen zu welcher Pampe deine Beißer die Nudeln verarbeiten!“ – „Du solltest nicht so zimperlich sein. Immerhin ist das hier ein Herrenhaushalt.“ – „Ach, wirklich? Und was bin ich?“ – „Ein Gast?“, lächelte Jonathan als er bemerkte, dass er sich ein Eigentor geschossen hatte. Ronnie erwiderte ebenfalls sein fälschliches Lächeln und schob den halb leeren Teller von sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wenn das so ist: Ich hab Durst. Deine Art Gäste zu bewirten lässt echt zu wünschen übrig.“
Jonathan klappte der Mund auf. So richtig weit auf. Ronnie fürchtete schon, dass die zerkauten Nudeln wieder auf dem Teller landen würden, als Jonathan sich kurz schüttelte und den Mund wieder schloss. Nachdem er geschluckt hatte lächelte er: „Das war ein Scherz, oder? Du bist jetzt nicht gekränkt!“ – „Natürlich nicht. Aber Durst hätte ich trotzdem!“
Seufzend stand Jonathan auf. Eigentlich spielte er nicht gerne Kellner und selbst seine Freunde warteten noch heute vergeblich darauf, dass er ihnen die Getränke brachte wenn sie ihn besuchten. Aber bei Ronnie musste er eine Ausnahme machen. Abgesehen davon dass sie momentan ein bisschen gehandicapt war, sah er auch darin eine Möglichkeit seine fiese Stichelei wieder wett zu machen.
„Im übrigen kommt mich nachher ein Freund besuchen“, erklärte er ihr als er ihr ein Glas mit sprudelnden Wasser auf den Tisch stellte und sich ebenfalls ein Glas einschüttete.
„Willst du jetzt nach Erlaubnis fragen oder was soll das werden?“ – „Quatsch. Ich will dich warnen. Er ist ein bisschen…wie drücke ich es vorsichtig aus?“, nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken und strich mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn entlang, „Gewöhnungsbedürftig. Das trifft es ganz gut. Nimm ihn einfach nicht allzu ernst, falls du ihm über den Weg läufst.“

Tell me if you need a lovin' hand to fall asleep tonight


Es vergingen einige Stunden die Ronnie eigentlich nur in ihrem Zimmer verbrachte und brav für die Schule lernte und Hausaufgaben machte. Jonathan und sein ominöser Freund waren im Wohnzimmer und neben dem Gebrüll und Videospielgeräuschen drang von Zeit zu Zeit auch 30 Seconds To Mars

zu ihr durch. Lächelnd verbuchte sie einen Pluspunkt auf ihrer Liste, auf der sie abwog ob sie ihn als Menschen gut oder schlecht fand. Bisher konnte sie sich jedoch kein hinreichendes Bild über ihren neuen Mitbewohner machen. Wie denn auch? Sie lebte kaum mehr als vierundzwanzig Stunden zusammen.
Seufzend musste Ronnie feststellen, dass ihr Kühlkissen schon wieder warm war und die kühlende Salbe, die Jonathan ihr freundlicher Weise von seinen Medikamenten abgegeben hatte, zusammen in der Küche waren. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen an diesem Abend nicht mehr aus dem Zimmer zu gehen. Schließlich hatte sie sich bereits in ihre Schlafsachen geschmissen, die Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden und jegliches Make-up von ihrem Gesicht entfernt.
„Ach, scheiß was drauf“, murmelte sie und erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl, „die sind schon seit einer halben Ewigkeit am zocken, da werden die nicht genau jetzt eine Pause machen und in die Küche stürmen.“
Etwas unbeholfen humpelte Ronnie zur Tür und riss sie schwungvoll auf. Kurz linste sie über den Flur und sah zwei Köpfe auf dem Sofa hocken, die in ihrem Computerspiel total versunken waren. Lächelnd nickte Ronnie und humpelte über den schmalen Flur zur Küche.

„Ich habe sie heute gar nicht in der Schule gesehen“, beschwerte Sam sich beim Abendessen und schaute ihren Vater vorwurfsvoll an, weil er den Blick nicht von den Akten nahm, die neben ihm auf dem Tisch lagen.
„Sie ist alt genug. Du musst nicht auf sie aufpassen“, erklärte Michael seiner Tochter und schob einige Blätter auf den Stuhl, auf dem Ronnie normal sitzt. Mit der Gabel in der linken Hand und der Kappe des Textmarkes zwischen den Zähnen markierte er einige Zeilen auf dem Blatt, bevor er den Textmarker wieder schloss und sorgfältig neben sich legte.
„Ich passe nicht auf sie auf. Aber scheinbar bin ich hier die einzige Person, die sich Sorgen macht. Das sieht ihr doch nicht ähnlich.“ – „Herrje, Sam. Du malst grade den Teufel an die Wand! Sicherlich habt ihr euch nur verpasst“, bemerkte er verärgert und sah zum ersten Mal von seiner Arbeit auf. Erschrocken vor seiner gewaltigen Stimme zuckte Sam zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Doch als sie den wilden Blick in den Augen ihres Vaters sah, packte sie die kalte Wut. Verärgert schmiss sie die Gabel auf den Teller, stand auf und mit einem heftigen Knall landete das Essen in der Spüle.
„Ich hasse dich, weißt du das eigentlich?“
Tränen rannten über Sams Gesicht, ehe sie aus der Küche rannte und die Treppe hoch polterte. Sekunden später hörte man ihre Tür knallen.
„Ich hab es ordentlich verbockt, oder?“, fragte Michael seinen Sohn Fabian, der nur einmal kurz von seinem Teller aufsah und ohne eine Gemütsregung den Blick wieder senkte und weiter aß, als wäre nichts gewesen. Das Schweigen war Antwort genug für den alleinerziehenden Vater.

Mit dem Eisbeutel in der einen Hand und dem kühlendem Gel in der anderen Hand stolperte Ronnie wenig geschickt aus der hell beleuchteten Küche in den wenig bis spärlich beleuchteten Flur. Normal hatte Ronnie keine gravierenden Probleme mit einem plötzlichen Lichtwechsel, sofern sie ihre Brille trug. Aber sie hatte sie neben dem Laptop liegen gelassen und stolperte somit blind durch den Flur. In die Richtung in der sie ihr Zimmer vermutete

.
Sie sollte aber nicht weit kommen. Ronnie hatte kaum mehr als zwei wacklige Schritte gemacht, als sie gegen jemand stieß und jeglichen Halt verlor.
Einsam polterten das Gel und das Kühlpack über den Boden. Ehe Ronnie selbst auf dem Boden landen konnte, hatte jemand ihren Arm gepackt und sie gehalten. Nur aus Schreck hatte die den Griff in ihren Händen gelockert. Zittrig presste sie Augen und Mund zusammen, als man sie wieder auf die Beine stellte, den Griff um ihren Arm lockerte und sie hörte, wie jemand mit den Fingerspitzen an der Wand entlang fuhr und schließlich den Lichtschalter betätigte.
„Hoppla“, sagte ihr Gegenüber amüsiert und vorsichtig öffnete Ronnie die Augen. Fast gleichzeitig kroch die verräterische Wärme in ihre Wangen und ein heißer Schmerz durchzuckte ihren Fuß, als sie ihn unüberlegt belastete. Leise fluchend sammelte sie die runter gefallenden Gegenstände auf. Sie erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf den Fremden, ehe sie sich leise bei ihm entschuldigte und in ihr Zimmer flüchtete.
Genau das hatte sie doch verhindern wollen. Sie wollte nicht, dass Jonathans angepriesener Freund sie so sah. Wenn sie schon Freundschaft mit den Freunden ihres Mitbewohners schließen musste, dann wollte sie wenigstens einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Aber bei diesem

Freund hatte sie das redlich vergeigt. Es gibt keine zweite Chance um einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen

, flüsterte ihre innere Stimme ihr zu und seufzend ließ Ronnie sich auf ihren Schreibtischstuhl zurück fallen. Ein dumpfer Knall hallte durch ihr Zimmer als sie auch noch mit der Stirn auf die Tischplatte knallte. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Kopf, aber Ronnie biss sich auf die Zunge und hielt einfach dem unangenehmen Gefühl stand. Denn das hatte sie jetzt verdient.
„Alter, deine neue Mitbewohnerin ist ziemlich schräg drauf“, drang gedämpft die Stimme aus dem Wohnzimmer zu ihr durch und ließ sie hellhörig werden. Es wurde Zeit für sie von dem ersten Eindruck zu erfahren, den sie bei dem Freund hinterlassen hatte. Gerne hätte sie diesen Moment noch ein wenig herausgezögert.
„Mhmm. Meinst du?“, hörte sie Jonathan fragen und biss sich auf die Unterlippe. Sie war schrecklich nervös vor der Antwort und ballte die Hände zu Fäusten. Angestrengt versuchte sie zwischen den Spielgeräuschen weitere Gesprächsfetzen zu verstehen, aber das Karma meinte es gut mit ihr. Einer der Beiden schien das Spiel unterbrochen zu haben, denn plötzlich herrschte Stille im Wohnzimmer.
„Ja. Sie ist mir in Boxershorts und Pferdeshirt im Flur begegnet. Sie hat mich total umgerannt, die Kleine. Aber als sie mich dann angeschaut hat, hat sie mich nicht angestarrt. Ich meine mich, hallo?“
Ronnie musste mit aller Kraft ihre Kiefer aufeinander drücken, damit sie nicht laut losprustete und sie sich letzten Endes doch verriet. Jonathans Freund schien ziemlich große Stücke auf sich zu halten und es schien ihn gekränkt zu haben, dass sie seinem Wesen kaum bis gar keine Beachtung geschenkt hatte.
„Aber ihr Pferdeshirt war echt der Knaller“, lachte der Freund und Bruchteile von Sekunden später drang wieder das Geräusch von quietschenden Reifen zu ihr durch. Sie hatten ihr Spiel fortgesetzt. Jedoch ging sein Kommentar nicht unbemerkt an ihr vorbei. Er hatte ihr Shirt gesehen und machte sich nun über sie lustig. Ronnie wünschte sich in dem Moment nichts mehr, als ein Erdloch in dem sie verschwinden könnte.
Mit angeknackster Selbstsicherheit schmierte sie sich das Gel auf den Fuß, humpelte ins Bett und legte das Eiskissen auf den Socken und schlug die Decke über den Kopf. Sie wollte nichts mehr hören. Nur noch schlafen. Für heute hatte sie mehr als genug gehört.

Nachdem Michael seinen einzigen Sohn ins Bett gebracht hatte, schlich er leise über den Flur und stoppte kurz an der verschlossenen Tür seiner Tochter Sam. Vorsichtig legte er ein Ohr an das helle Holz und lauschte, ob Sam schon schlief oder noch immer wach war. Jedoch verreit ihm ein Blick auf seine Armbanduhr, dass sie noch so hellwach sein musste wie er selbst.
Zaghaft klopfte er an ihrer Tür und als keine Reaktion von seiner Tochter kam, drückte er langsam die Klinke ein Stück runter und öffnete die Tür einen Spalt breit. Als er den Kopf in den Spalt steckte und ins dunkle Zimmer linste musste er unwillkürlich lächeln. Sam saß mit dem Rücken zu ihm an ihrem Schreibtisch unter dem Licht der kleinen Lampe und schrieb fleißig. Eine seiner ungeliebten Charakterzüge hatte er an dieses Kind abgetreten: Bei Problemen und Enttäuschungen flüchteten sich Beide in die Arbeit.
„Kann ich reinkommen?“, fragte Michael, als er lange genug zugesehen hatte und ihm klar wurde, dass seine Tochter ihn jetzt brauchte. Sie brauchte einen Elternteil und nachdem Ronnie die längste Zeit für sie den Mutterersatz gemimt hatte und diese nun nichts mehr von den Problemen in der Familie mitbekam, musste er sich jetzt seiner Verantwortung stellen. Nicht, dass er nicht gerne Ansprechpartner für seine Kinder war. Er liebte sie und würde sie für kein Geld der Welt hergeben wollen. Aber Michael wusste auch, dass er nicht so redegewandt war wie seine Frau früher oder so wie Ronnie jetzt. Er fand einfach nie die richtigen Worte um zu trösten und Pflaster auf die pochenden seelischen Wunden seiner Kinder zu kleben. Er hatte so viel Angst zu versagen, dass er sogar von sich glaubte es nur schlimmer zu machen wenn er helfen wollte.
Aber jetzt seine Tochter zu sehen wie sie vor ihren Gefühlen davon rannte, schmerzte ihn. Es ließ sein Herz bluten und schnürte ihn den Hals zu.
„Ich weiß nicht, ob du kannst“, antwortete Sam mit brüchiger Stimme und machte sich noch nicht einmal die Mühe von ihrem Schreibtisch aufzuschauen. Und als Michael die brüchige Stimme seiner Tochter hörte, wusste er, dass sie geweint hatte.
Langsam durchschritt er das Zimmer und kniete sich neben seiner Tochter auf den Boden. Es dauerte einige Augenblicke bis sie ihn von allein anschaute und es zeriss ihm das Herz, als er sah, dass Sam wirklich geweint hatte. Ihre Augen waren wässrig und seltsam glasig und auf ihren Wangen sah man noch die vertrockneten Spuren der Tränen.
„Du vermisst sie schrecklich, hm?“, fragte er und nahm die Hand seine Tochter in seine Hände. Sie wollte sie erst zurück ziehen, aber er hielt sie bestimmt fest. Er sah zu, wie Sam mit sich haderte. Sie biss auf ihre Unterlippe, kaute anschließend darauf herum und ihr Blick wich auffällig dem ihres Vaters aus. Für Michael war es keine schöne Erfahrung zu sehen wie seine Tochter sich schwer tat sich ihm gegenüber zu öffnen, aber verübeln konnte er es ihr nicht.
„Ich habe Angst, dass sie nicht mehr zurück kommt“, stolpern schließlich die entscheidenden Worte aus Sams Mund beinahe hätte Michael sie nicht verstanden, weil sie sich überschlugen. Wieder rannten Tränen über das Gesicht seiner Tochter und ehe Michael sich versah, hatte er seine Tochter zu sich auf den Boden gezogen und hielt sie nun in den Armen. Sam krallte sich an ihrem Vater fest und verbarg ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Er spürte, wie die Tränen seiner Tochter seine Haut benetzen und musste sich zusammen reißen nicht auch an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen. Damit wäre keinen von Beiden geholfen.
„Ronnie wird zurück kommen. Nicht heute und auch nicht morgen. Aber wenn sie bereit ist wird sie den Weg nach Hause finden. Man findet immer den Weg nach Hause“, wisperte er in ihr Ohr kaute unsicher auf seinen Lippen herum. Michael wartete auf irgendeine Reaktion seiner Tochter die ihm verraten würde, ob er die richtigen Worte gefunden hatte. Schweigend hielten sie sich einige Minuten in den Armen bis Sam einmal tief einatmete und dann zum ersten Mal an diesem Abend bewusst in das Gesicht ihres Vaters blickte.
„Und warum ist Mama dann nie zurück gekommen?“, fragte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen. In Michael brach alle Hoffnung zusammen. Genau das hatte er vermeiden wollen. Er mied es mit seinen Kindern über seine verstorbene Frau und ihre Mutter zu reden. Es war ein heikles Thema und führte über kurz oder lang dazu, dass sich alle Beteiligten nur noch schlechter fühlten. Kurz schloss Michael die Augen, wog die Worte in seinem Kopf ab und strich über die Haare von Sam, als er die Augen wieder öffnete.
„Sie ist nie gegangen, Sam“, fing er vorsichtig an und machte eine kurze Pause um die Regungen seiner Tochter abzuwarten. Doch als sie sich nicht regte, sondern nur gespannt auf seine eigentliche Antwort wartete, biss er sich kurz auf die Innenseite seiner Wange bevor er lächelte: „Sie steckt in dir, wie in Fabian und wie in Ronnie. Sie ist ein fester Teil eures Lebens und hat einen mindestens genauso festen Platz in euren Herzen.“
Vorsichtig legte er seine flache Hand auf die Stelle an Sams Brust, unter der er ihr kräftig schlagendes Herz spürte.
„Sie war nie fort“, flüsterte er, zog seine Hand zurück und seine Tochter wieder in eine enge Umarmung. Wieder klammerte sie sich an sein Hemd und verbarg das Gesicht. Liebevoll bettete er sein Kinn auf ihrem Kopf und drückte in regelmäßigen Abständen Küsse auf ihr Haar.
„Sie war nie fort“, wiederholte er und schien damit nicht nur seine Tochter, sondern auch sich beruhigen zu wollen, „Sie war nie fort.“
Michael hielt seine Tochter so lange in dem Armen und wiegte sie wie ein Kleinkind hin und her, bis sie eingeschlafen war. Mit einem Lächeln trug er seine siebzehnjährige Tochter ins Bett wie er seit über zehn Jahren nicht mehr getan hatte. Er deckte sie zu und drückte ihr einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn, woraufhin Sam zufrieden murrte. Auf leisen Sohlen schlich er aus dem Zimmer des Teenagers, stoppte noch einmal kurz an der Tür und drehte sich zur Schlafenden um. Einige Sekunden lauschte er ihren regelmäßigen Atemzügen, bevor er ihr sagte, dass er sie über alles in der Welt liebte und leise die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Gepackt von väterlicher Liebe schlich er sich zurück in das Zimmer seines Sohnes, der bereits seit über einer Stunde schlafen sollte. Aber als Michael einen Blick in den Raum warf, saß sein Sohn senkrecht im Bett und schaute aus dem Fenster in die Nacht. Der Mond warf seltsame Schatten auf Fabian und ehe Michael sich versah, saß er neben seinem Sohn im Bett und starrte ebenfalls in die Nacht, die in diesem Moment ungewöhnlich friedlich erschien.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte Michael schließlich und beobachtete wie sein Sohn mit dem Kopf schüttelte.
„Hast du Angst?“ – Wieder ein Nein von Fabian – „Hast du Hunger oder Durst?“ – Wieder schüttelte er den Kopf – „Oder willst du eine Geschichte hören?“
Für einige Sekunden blickt Michael in das Gesicht seines Sohnes ehe er lächelte und nickte. Liebevoll lächelte Michael und verfrachtete seinen Sohn unter die Bettdecke bevor er sich wieder auf die Matratze setzte.
„Worüber soll ich dir denn erzählen?“, fragte er und schaute abwartend in das Gesicht, das ihm so sehr ähnelte. Michael wusste, dass Fabian ein Abbild von ihm war und es machte ihn umso stolzer. Einige Momente schien der Junge noch zu überlegen, bevor Michael die beinahe vergessene Stimme seines Sohnes krächzen hörte: „Erzähl mir von Mama.“

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Tag der Veröffentlichung: 10.04.2012

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