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1. Allein! - Oder doch nicht so allein?


Einsam. Leer. Allein. Keiner da. Alle weg. Wo? Wo zur Hölle sind sie? Angst. Geräusche. Nein. Lärm. Schritte. Stille. Schreie. Stille. Erinnerungen. Alles nur Erinnerungen. Gefühle. Liebe. Schmerz. Enttäuschung. Hass. Angst. Noch mehr Schmerz. Verdammt. Nur Erinnerung. Einsam. Schmerz. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Allein. Vollkommen allein. Wo sind sie nur alle hin? Sie wissen doch, dass ich nicht allein sein kann. Wieso lassen sie mich allein? Was habe ich getan? Nichts. Ich bin doch nur einsam. Schwierig. Leblos. Traurig. Zerstört. Kaputt. Schlimmer als damals. Aber da haben sie mich nicht allein gelassen. Da waren sie für mich da. Wieso jetzt? Wieso lassen sie mich jetzt allein? Als ob ich nicht schon kaputt genug wäre, als ob ich nicht schon allein genug wäre. Allein. Vollkommen allein. Sie wissen doch, dass ich Angst im Dunkeln habe. Du weißt doch, dass ich Angst im Dunkeln habe. Aber du bist der einzige der eine Entschuldigung dafür hat, mich allein zu lassen. Dir habe ich weh getan. Aber trotzdem wünschte ich du hättest mich nicht alleine gelassen. Ich verstehe dich. Aber du hast es versprochen gehabt. Du hast es doch versprochen. Du hast gelogen. Aber das ist nicht deine Schuld. Ich wusste schon, dass es eine Lüge ist als du es gesagt hast. So ein Versprechen kann niemand halten. Nicht mal du. Aber, bitte, lass mich nicht allein. Es ist so dunkel. So leer. So schmerzhaft. Ich sehe es. Ich sehe wie mein Leben vor mir weg rennt. Mir zuruft, dass ich selber Schuld bin. Mir sagt, dass wenn ich nicht so egoistisch gewesen wäre, ich noch immer dich hätte. Aber war ich egoistisch. Nein. Ich war nur gemein. Abgrundtief gemein. Ich wollte es nicht so sagen. Ich wollte es anders sagen. Aber ich kann nicht mit Worten umgehen. Sie kommen unkontrolliert aus meinem Mund und tun den Menschen weh. Tun dir weh. Ich will dir nicht wehtun. Ich habe es doch versprochen. Ich habe gelogen. Ich bin Schuld. Ich habe es verkackt. Ich war sauer. Ich war verletzt. Ich habe dich angeschrien. Ich habe geschrien, dass du verschwinden sollst und ich dich nie wieder sehen will. Du hättest keinen Platz mehr in meinem Leben. Doch du wolltest nicht gehen. Dann hab ich geschrien, dass ich dich hasse. Ich habe es ganz langsam und deutlich gesagt. ICH. HASSE. DICH. Dann bist du gegangen ohne dich noch einmal umzudrehen. Du hast nicht die Tränen gesehen. Du hast nicht gesehen wie ich auf die Knie gefallen bin. Du hast nicht gesehen wie ich dir nachgerannt bin. Es war dir vielleicht egal. Ich habe dir weh getan. Ich habe ein Versprechen gebrochen. Gelogen und habe dich sehr verletzt. Und das alles nur weil ich überreagiert habe. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast dich nur mit einer Freundin getroffen. Ich war eifersüchtig. Dann haben wir gestritten. Haben uns angeschrien. Du hast verletzende Sachen gesagt. Ich auch. Du hast gesagt, ich klammere zu sehr und du brauchst mehr Freiraum. Ich glaube, dass hast du nur gesagt weil du sauer warst. Ich hoffe es. Aber das spielt jetzt ja auch keine Rolle mehr. Es ist vorbei. Du bist gegangen ohne dich auch nur noch einmal umzudrehen. Mir geht es nicht gut. Ich vermisse dich. Nein, ich darf dich nicht vermissen, das macht es nur noch schwerer zu vergessen. Ich kann nicht vergessen. Ich kann dich nicht vergessen. Bitte, bleib! Aber du bist gegangen ohne dich auch nur einmal umzudrehen. Ich versteh dich. Aber, war es so einfach für dich zu gehen? Vermisst du mich nicht? Es wirkte so einfach für dich. So unglaublich einfach. Tut es weh? Habe ich dir so sehr wehgetan. Wir haben es nicht gesagt. Wir haben nicht gesagt, dass es vorbei ist. Aber wir haben es gefühlt beide. Als ich sagte: ICH. HASSE. DICH. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Schmerz. Verzweiflung. Wut. Unfassbarkeit. Verwirrung. Angst. Unentschlossenheit. Schmerz. Dann bist du gegangen. Und all die Wut in mir verwandelte sich in Schmerz und Angst. Angst dich zu verlieren. Bis ich merkte das es zu spät ist. Du warst gegangen. Du warst weg. Weit weg. Ich bin dir nachgerannt. Habe deinen Namen gerufen. Immer wieder. Doch du hast es nicht gehört. Oder du wolltest es nicht hören. Es tut mir leid. Ich weiß, dass du mir nie vergeben wirst. Ich weiß, dass wenn wir uns das nächste Mal sehen ich nur Luft für dich sein werde. Aber ich weiß auch, dass du mich liebst. Oder zumindest mich geliebt hast. Und glaub mir, es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich will dich wieder sehen. Ich muss dich wieder sehen. Ich muss wenigstens versuchen dir zu sagen, dass es mir Leid tut. Dass ich dich vermisse. Ich will dich noch einmal in den Arm nehmen. Dir sagen, dass ich dich liebe. Wir haben beide unsere Versprechen gebrochen. Ich habe dich gezwungen zugehen und dich einfach gehen lassen. Und du. Du bist gegangen. Wir haben beide Fehler gemacht. Ich größere. Du kleinere. Ich hätte nie gedacht, dass sich unsere Wege trennen. Aber nun ist es passiert. Und ich bin Schuld. Leb wohl. Ich liebe dich.
Der Abgrund. Ich. Der Regen. Der Donner, der dich mit dem Blitz schon vereint. Die Nacht. Die Kälte. Ich. Allein. Einsam. Leer. Verlassen. Schmerz. Angst. Entschlossenheit. Verzweiflung. Hilflos. Allein. Ich will nicht mehr allein sein. Ich will nicht ohne dich leben. Ich kann nicht ohne dich leben. Ein Zettel. Ein Stift. Buchstaben. Krakelig.
Es tut mir leid. Bitte, verzeih mir. Ich liebe dich. Für immer.
Bereit. Ein paar Schritte und ich würde all das, all den Schmerz hinter mir lassen. All die Wochen ohne dich. Um genau zu sein. Die ganzen 3 Monate. Vielleicht bin ich schwach. Aber ich kann nicht mehr. Und dich bekomme ich nicht wieder. Niemand wusste, dass ich hier war. Niemand. Ich war allein. Nur noch drei Schritte. Der Regen prasselte auf mich ein. Es tat fasst ein bisschen weh. Ich hatte keine Ahnung, wie lang ich schon hier stand. Ein oder zwei Stunden vielleicht? Auf jeden Fall lange genug um bis auf die Knochen durchnässt zu sein. Bei jedem Blitz leuchtete der Himmel grell auf. Ich hatte schon immer Angst vor Gewitter. Aber für das was ich tun würde war es perfekt. Zwei Schritte. Würde es wehtun? Tut sterben weh? Verdammt. Nicht drüber nachdenken. Ein Schritt. Nur noch ein Schritt. Unter mir fahren die Autos 100, 200 ich habe keinen Plan. Sie würden mich eiskalt überfahren. Perfekt. Wenn ich den Sprung überlebte, würden die Autos den Rest übernehmen. Die Lichter zogen vorbei. Verschwammen. Wurden zu glitzernden Sternen. Ich blinzelte. Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich hatte mein Leben geliebt. Ich hatte dich geliebt. Ich tue es immer noch. Ich liebe meine Freunde, meine Familie. Aber ohne dich ist alles wertlos. Alles wertlos. Passt auf euch auf. Angst. Unsicherheit. Vernunft. Ich zögerte. Ich zögerte eine Sekunde zu lange. Eine Hand. Ein Griff. Ein Schmerz. Verwirrung. Hoffnung. Die Hand zog mich weg. Eine zweite Hand. Beide Hände an meine Hüfte. Sie hoben mich über die Leitplanken. Drehten mich. Ich stand dem Menschen dem die Hände gehörten direkt gegenüber. Ich traute mich nicht die Augen auf zu machen und zu schauen wer mich gerade gerettet meine Pläne kaputt gemacht hatte. Überall in meinem Körper war Adrenalin. Ich zitterte sogar. Aber das lag auch daran, dass ich fror. Ich hatte den Zettel den ich vorhin noch schnell geschrieben hatte in der Hand. Mir wurde schwindlig. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Und ich war froh, dass mich jemand festhielt. Langsam öffnete ich dich Augen. Zwei andere Augen starrten mich entsetzt an. Jemand den ich kannte. Jemand der mir wichtig war. Jemand den ich nicht erwartet hätte. Vor mir stand Noah.
„Was zur Hölle hattest du vor?“ ich starrte ihn an. Er war nicht sauer aber er hatte Angst.
„Lia, verdammt. Rede mit mir!“ Ich wollte nicht reden. Ich hatte die letzten 3 Monate mit niemandem geredet. Mit niemandem. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich starrte ihn weiter an. Er schüttelte mich. Erst sachte, dann fester.
„Was hast du dir dabei gedacht? Lia? Hallo? Rede doch mit mir. Bitte?“ Er klang verzweifelt. In seiner Stimme lag Angst. Es schüttelte mich wieder. Ich konnte nichts sagen. Ich konnte ihn nur anstarren.
„Ich fahre dich nach Hause, ok? Vielleicht redest du dann mit mir?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht nach Hause.
„Du kannst nicht hier bleiben. Ich fahre dich heim.“ Diesmal war es eine Aussage. Ich schüttelte wieder den Kopf. Er ließ mich los. Ich spürte wie meine Beine nachgeben. Dann waren sie wieder da, die Hände. Hielten mich. Er hob mich hoch und trug mich zum Auto. Meine Augenlider waren so schwer. Aber ich wollte nicht schlafen. Im Auto war es warm. Es war noch weit nach Hause. Noah setzte sich auf den Fahrersitz und starrte erst eine Weile aus dem Fenster. Ich starrte ihn an. Woher wusste er, dass ich hier war.
„Lia. Du musst nicht mit mir reden. Aber dann rede mit jemand anderem. Du kannst nicht einfach nicht mehr reden. Das macht dich nur noch mehr kaputt! Bitte.“ Er schaute mich immer noch nicht an.
„Bitte“ Ich würde nicht reden. Mit wem denn? Niemand konnte mir die Leere nehmen die in mir war. NIEMAND. Nicht Noah. Nicht meine beste Freundin. Nicht meine Familie. Niemand.
„Bitte, bring dein Leben wieder in Ordnung! Ich vermiss meine beste Freundin!“ Dann sagte er nichts mehr. Ich vermisste mein altes Leben. Mein so unglaublich glückliches Leben. Ich vermisste IHN.
Nach einer halben Stunde Schweigen hielt Noah vor meinem Haus und stieg aus. Öffnete meine Tür und trug mich zur Haustür. Meine Mutter öffnete und war entsetzt wie ich aussah.
„Was ist passiert?“, fragte sie entsetzt.
„Sie ist nur an einem Abhang ausgerutscht. Nichts Schlimmes. Ich hab sie noch halten können.“ Ich war so froh, dass er log. Dass er ihr nicht die Wahrheit sagte.
„Sie macht wieder etwas mit Freunden?“, fragte sie etwas verwundert.
„Ja. Ich hab sie überredet“, log Noah weiter.
„Das ist schön. Bleibst du hier?“
„Wenn es in Ordnung ist?“ Bitte, Mama sag nein.
„Natürlich. Kommt rein.“ Nein, ich wollte niemanden hier haben. Ich wollte alleine sein. Noah brachte mich in mein Zimmer.
„Du hast jetzt Zeit endlich mal deinen Mund aufzumachen oder du lässt es bleiben. Aber dann war das mein letzter Versuch. Du hast die Wahl. Aber dann wähle endlich.“
Das waren klare Worte. Eine Wahl. Konnte ich noch jemanden verlieren der mir wichtig war? Hatte ich nicht schon genug verloren mit Meiner Art. Ich hatte alle Menschen zurückgewiesen. Wollte allein sein. Aber kam ich damit überhaupt klar? Nein, offensichtlich nicht. Ich war allein. Ich war einsam. Ich war verletzt. Aber ich tat nichts dagegen es zu ändern, Dinge in meinem Leben zu finden die schön waren. Ich habe aufgehört zu hoffen, zu lieben, zu Leben. Meine komplette Welt ist in dem Nebel gefangen, indem ich stehen geblieben bin als ER ging. Dieser Nebel hat sich nicht mehr gelichtet. Er wird für immer da bleiben. Er wird nicht gehen. Auch wenn ich anfange zu reden. Zu leben. Zu lachen. Aber anfangen zu lieben? Das kann ich nicht. Es wird immer ER sein. Immer.
„Ich kann nicht“, meine ersten Worte seit 3 Monaten. Noah klappte die Kinnlade herunter. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich auch nur ein Wort sagen würde. Das ich auch nur den Versuch wagen würde.
„Du redest wirklich?“, fragte er etwas perplex.
„Ich kann nicht“, flüsterte ich.
„Was kannst du nicht?“
„Darüber reden“
„Das musst du auch nicht“
„Danke“
Tränen liefen mir über das Gesicht. Erinnerungen blitzten an mir vorbei. Kleine Fetzen davon. UNSER erster Kuss. UNSER erstes ICH LIEBE DICH. WIR. DU. DU. DU. Überall war nur ER. SEIN Name, SEIN Geruch, SEINE Worte. Wie sollte man jemanden vergessen, den man so sehr liebt. Aber wie kann man jemanden um Verzeihung bitten, wenn man IHM so sehr wehgetan hat. Das kann man nicht. Man will es nicht noch schlimmer machen. Schämt sich dafür. Hat Angst vor der Tatsache, dass man so grausam sein konnte.
„Er vermisst dich auch“, Noah sagte es einfach in die Stille. So plötzlich. So unerwartet.
„Woher. Willst. DU. Das. Wissen!“, mein Ton war viel aggressiver als ich es wollte.
„Lia, ich hab mit ihm geredet. Und bevor du jetzt ganz böse wirst, ich hab ihm nichts von dir erzählt.“
„Ah“
„Und er vermisst dich wirklich“
„Tut er nicht. Wieso auch“
„Verdammt Lia, weil er dich geliebt hat und es immer noch tut. Er ist doch nur gegangen weil du ihn weggeschickt hast!“
„Aber ER ist wieder gekommen“
„Du kannst nicht von jedem Menschen erwarten, dass er zu dir zurückkommt wenn du ihm weh tust. Du musst lernen auch einmal auf die Menschen zu zugehen. Ich weiß, dass das sehr schwer ist. Aber du musst dir eingestehen, dass du einen Fehler gemacht hast. Man muss sich nur anschauen wie du leidest. Du hast seit 3 Monaten mit niemandem mehr gesprochen. Du tust nicht nur dir selber weh. Du tust damit vielen weh. Du tust ihm weh, du tust mir weh. Du tust deiner Familie weh. Und du tust dir wahrscheinlich am aller meisten weh.“
„Ich weiß“
„Dann tue was dagegen. Fang wieder an zu leben. Du musst nicht mit ihm reden, aber dann musst du damit leben, dass es jetzt so bleibt. Er hat dir schon längst verziehen. Jetzt musst du dir noch verzeihen. Lia, es ist passiert und du kannst es nicht mehr rückgängig machen, aber du kannst die jetzige Situation ändern. Versuch es wenigstens.“
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst. Du musst es nur auch wollen.“
„Ich. Kann. Es. Nicht.“
„Gib dir doch wenigstens eine Chance. So kann es doch nicht weiter gehen.“
„Ich weiß“
„Erster Schritt ins Leben zurück. Wir gehen morgen ins Kino.“
„Nein, ich schau keine Filme mehr“
„Doch tust du. Morgen gehen wir ins Kino“
Er wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lächelte mich an. Als ich nicht zurück lächelte, zog er mit seinen Fingern meine Mundwickel leicht nach oben. Um ihm einen Gefallen zu tun lächelte ich eben kurz.
„Na also geht doch“, lachte er. Ich wurde also gezwungen ins Kino zu gehen. Na toll. Menschen. Am Ende noch Menschen die ich kenne. ER vermisst mich. Das konnte ich nicht glauben, auch wenn ich es glauben wollte. Ich durfte mir keine Hoffnungen machen. Noah hatte ja Recht: Ich muss wieder anfangen zu leben. Wenn das nur einfacher wäre. Naja, ich bekomme das schon wieder hin, oder besser Noah. Mit mir ist wohl nicht viel anzufangen. Ich bin es nicht mehr gewohnt mit Menschen klar zukommen. Allgemein mit irgendwas klar zu kommen. Aber eine gute Sache hatte das Ganze. Meine Noten in der Schule waren gut. Ich hatte eben nichts zu tun. Außer nachzudenken, auf keine Lösung kommen und lernen.

2. Unter Menschen - Oder wie entkomme ich?


Ich in der Nähe von anderen Menschen. Ich im Kino. ICH. Überhaupt die Tatsache das Haus zu verlassen um in Kino zu gehen. Sonst bin ich immer nur in die Schule gegangen. Woanders war ich seit drei Monaten nicht mehr. Wohin hätte ich auch gehen sollen. Keiner, wirklich keiner hätte es mit mir ausgehalten. Ich habe es ja selbst nicht einmal geschafft. Ich habe auch seit mit IHM Schluss ist keinen Gedanken mehr an mein Aussehen verschwendet. Der Blick in den Spiegel war erschreckend. Meine braunen Haare waren lang geworden und standen in alle Richtungen ab. Meinem Gesicht konnte man ansehen, dass ich die letzten Monate durchgeweint habe. Meine Augen waren rot und ich hatte riesige Augenringe. Wie konnte Noah mir antun so in ein Kino zu gehen in dem ich anderen Menschen über den Weg laufen musste. Menschen die mich kannten. Menschen die mich so niemals sehen sollten. Meine Laune war bereits in den Minusbereich gesunken. Wieso tat Noah sich das an? Wieso bin ich nicht einfach gesprungen. Wer würde mich schon vermissen. Niemand. Ich habe alle die letzten drei Monate wie Dreck behandelt. Ich habe sie nicht wahrgenommen. Es ist sogar den Lehrern aufgefallen. Und das heißt doch was. Je länger ich vor dem Spiegel stehe, desto mehr gefalle ich mir. So kaputt. So zerbrochen. So traurig. Das war ich. Das war mein Körper gerecht bestraft für seine Tat und meine Seele zu Recht zerbrochen. Zerbrochen wie eine Vase. Zersprungen in tausende Splitter. Verteilt in meinem Körper. Sie schneiden sich in mein Fleisch. Bohren sich in meine Organe und schmerzen. Der Schmerz lässt vergessen. Er lässt mich ruhig werden. Still. Bewegungslos. Er macht mich zu einer Halbtoten, die es nicht schafft sich von sich selbst zu erlösen. Die gefangen ist in ihrem, von Schmerzen gepeinigtem Körper. Gefangen in der Liebe. Zerbrochen in der Liebe. Verloren in der Liebe. Ich kann so nicht weiter leben. Aber anderes auch nicht. Ich kann ohne IHN nicht weiter leben. Wie auch. Meine Gedanken kreisen nur um IHN. Ursprünglich wollte ich mir etwas zu Anziehen suchen, aber schon werde ich wieder daran erinnert wer ich wirklich war. Zu wem ich wurde nachdem wir .. Nachdem ich alles kaputt gemacht habe. Es tut mir Leid, es tut mir so Leid. Ich kann nicht ins Kino. Ich bin nicht bereit. Ich bin nicht bereit dazu wieder mit Menschen klar zu kommen. Gestern wollte ich mich umbringen. Jetzt soll ich unter Menschen sein, mich normal zu verhalten. Mein altes Ich zu sein. Aber das kann ich nicht. Wie sollte ich das können. Wie soll ich verbergen wie zerrissen und zerbrochen ich bin. Niemand kann verstehen wie es sich anfühlt, sich so sehr zu hassen. Viele mögen sich nicht sonderlich. Aber ich. Ich HASSE mich dafür. Ich wollte IHM nicht wehtun. Gestern habe ich meine ersten Worte gesprochen. Zu denen ich gezwungen wurde. Es hat sich so falsch angefühlt. Es war als würden alle Worte nur dasselbe bedeuten, obwohl sie es nicht taten. Aber jedes Wort erinnerte mich an die Worte die ich in jener Nacht sagte: ICH HASSE DICH! Jedes verfluchte Wort hatte ab diesem Zeitpunkt diese Bedeutung. Die vernichtende, hässliche Bedeutung. Und die Bedeutung des furchtbaren Schmerzes der ab dieser Nacht in meinem Körper und vor allem in meiner Seele wohnte. Es sich dort gemütlich gemacht hat. Und nicht einmal dran denkt seinen Wirt zu verlassen. Er wird bleiben für immer. Vielleicht wird er mit der Zeit kleiner, aber er wird immer da sein. Er wird mich nicht verlassen. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte die Welt nicht mehr mit meinen grausamen Worten verpesten. Ich wollte sie für mich behalten. Keinen daran Teil haben lassen. Allein mit ihnen zu sein. Sie in meinem Körper gefangen zu halten. Und dann taucht gestern Noah auf und redet, versucht mich zu überzeugen, dass das nicht meine Welt sein kann. Das alles gut wird. Das ich wieder NORMAL werden muss. Er hat mich fast so weit gehabt. Ich habe sogar gesprochen. Ich wollte nicht. Ich musste. Ich durfte nicht. Wieso habe ich mich so leicht überreden lassen. Wieso habe ich mich zwingen lassen. Wieso will ich es ändern. Ich will nichts ändern. Ich will nur hier weg. Weit weg. Die Erde ist zu klein. Nirgendwo würde ich meinen Platz finden. Der einzige Weg war der Tod. Dann hatte ich die Möglichkeit weit genug weg zu sein. Aber Noah macht alles kaputt. Er rettet mich immer wieder. Nur ist diese Rettung nicht gut. Ich wollte sie nicht. Wieso kann er nicht akzeptieren, dass eine Welt ohne mich einfacher und schöner wär.
Das Klingeln meines Handys, riss mich aus meinen Gedanken. Langsam, fas t wie in Zeitlupe holte ich mein Handy aus der Tasche. Es war Noah. Jetzt gab es also kein Entkommen mehr.
„Lia, kommst du raus? Ich steh vor deinem Haus“
„Gib mir noch fünf Minuten“
„Wir sind eh schon spät dran“
„Jetzt warte doch“, sagte ich und legte auf. Ohne lange zu überlegen zog ich mir irgendeinen Pullover über und ging wirklich sehr langsam zur Tür hinaus und zu Noahs Auto. Ein alter VW, der nur mit ach und Krach durch den TÜV kam. Auch blätterte schon der Lack ab. Als ich die Tür aufmachte hatte ich schon fast Angst, ich könnte sie ausreisen.
„Na endlich! Mein Gott brauchst du lange“, sagte Noah genervt.
„Hm“
„Sehr gesprächig. Also da du ja nicht gesagt hast was du gerne sehen möchtest habe ich jetzt eben beschossen wir schauen Breaking Dawn Teil 2, die Twilight-Reihe mochtest du doch. Und ich denke der Film gefällt dir auch“
„EIN LIEBESFILM?!“
„Ja. Böses mit Bösem bekämpfen“
„WIR SCHAUEN EINEN LIEBESFILM?!?!“
„Beruhige dich“
„Nein. Ich will nicht ins Kino. Schon gar nicht in einen Liebesfilm. DAS IST DAS SCHLIMMSTE WAS DU MIR ANTUN KANNST.“
„Lia, ist ja gut. Dann gehen wir eben in was anderes.“
„JA!“
Wir fuhren die Straße entlang. Es hatte inzwischen angefangen zu schneien. Große Flocken fielen auf die Erde. Langsam. Still und Leise. Niemand kann Schneeflocken fallen hören. Man kann sie nur betrachten. Als Kind habe ich immer draußen gestanden und versucht die Flocken mit dem Mund zu fangen. Da war alles noch so einfach. Zu dieser Zeit waren wir glücklich. Wir alle. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr wer ich wirklich bin. Ich erkenne die Schneeflocken nur noch als verschwommene Weiße Punkte. Sie verschwimmen immer mehr und mehr. Bald erkenne ich nichts mehr. Ich wusste nicht einmal warum ich jetzt weine aber es fühlt sich befreiend an. Es war genauso wie damals als meine kleine Schwester starb. Da saßen wir auch im Auto und es schneite. Kathi und ich alberten herum. Wir saßen beide auf der Rückbank. Ich war 7 und Kathi war 5. Wir waren laut. Unsere Mutter drehte sich zu uns um und sagte wir sollen leise sein. Viel zu spät bemerkte sie das entgegenkommende Auto. Viel zu spät reagierte sie darauf. Viel zu spät wich sie aus und das andere Auto knallte in unser Auto. Es war die Seite auf der Kathi saß. Ihr Kopf krachte gegen den Sitz und sie blieb komisch verdreht liegen. Ihre Beine waren zwischen dem Vordersitz und der eingebeulten Tür eingeklemmt. Blut floss von ihrer Stirn. Viel Blut, zu viel Blut. Ich kann kein Blut sehen. Ich schaute die Flocken an. Sie verschwammen. Immer mehr und immer mehr. Tränen rannen mir über die Wange. Unendlich viele. Meine Mutter tat irgendetwas. Aber ich nahm es nicht war. Ich verstand es nicht. Ich weinte. Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Alles ist schwarz. Kathi war danach weg. Für immer. Wir beerdigten sie in der Erde. Ab diesem Tag weinten alle viel. Ich auch. Aber über Kathi geredet hatte seit dem keiner mehr. Wir haben versucht alle selbst damit klar zu kommen. Wie gesagt wir haben es versucht. Mein Vater ist damit nicht klargekommen und ist weggegangen. Da war ich 8. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Nur zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag schickt er ein Geschenk und einen Brief per Post. Beides lege ich dann immer in eine Truhe und beachte es nicht. Ich kann ihm nicht verzeihen, dass er Mama und mich allein gelassen hat. Allein gelassen hat mit dem Schmerz.
Jetzt vermisste ich Kathi. Ich vermisste sie immer. Aber diese Nacht, sie war so gleich. Nur das ich jetzt nicht meine Schwester verloren hatte sondern meinen Freund. Den Menschen der mir am aller wichtigsten war. Schneeflocken sind nicht nur wunderschön und still. Sie sind auch kalt und nass. Wie kann etwas so wunderschönes so kalt sein. So unerreichbar. Wieso kann man sie nicht festhalten. Nicht aufbewahren. Den Schmerz mit ihnen teilen?
Erst jetzt merkte ich, dass Noah etwas sagte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Was?“
„Ich habe dich gefragt, in welchen Film du denn gehen möchtest?“
„Weiß nicht“
„Ok“
Er sagte wieder nichts. Jetzt standen wir vor dem Kino. Es war viel zu groß und zu grau. Es wirkte wie ein gefräßiges Monster, dass nur darauf wartet mich zu Fressen. Ich wollte nicht Beute dieses Monsters sein. Ich wollte nicht dorthinein. Nicht zu den Menschen, die mich anstarren würden. Die sich fragen würden warum ich mich jetzt wieder unter Menschen aufhielt. Ich wollte sie nicht sehen. Noah ging an mir vorbei in die Eingangshalle. Ich stand immer noch da und starrte die Tür an. Als ich mich dann überwand hinein zu gehen wartete Noah schon mit den Karten. Es war mir eigentlich egal welchen Film wir schauten, es würde mich nicht interessieren. Es waren sogar noch mehr Menschen da als ich dachte. Sie waren laut und ein paar erkannten mich und glotzten mich an. Ein Junge mit dem ich relativ gut befreundet war kam auf mich zu. Er sah weder erfreut aus mich zu sehen noch erstaunt. Als er vor mir stand schaute er mich an. Dann sagte er: „Du bist also jetzt auch wieder unter den Lebenden?“
„Nein, nicht direkt. Ich wurde gezwungen“, sagte ich und deutete auf Noah.
„Du kannst auch gern wieder zum Bauwagen kommen, wenn du mal Lust hast. Wir vermissen dich schon“, ein Lächeln huschte über sein Gesicht, aber ich wusste er war sauer.
„Danke Matze, aber ich weiß nicht genau. Vielleicht“, log ich. Natürlich zog ich es nicht einmal in Betracht mich am Bauwagen blicken zu lassen. Der Bauwagen war immer der Treffpunkt meiner Clique, naja eigentlich war es die Clique von IHM, die mit der Zeit auch meine Freunde wurden. Wir hatten eine geniale Zeit immer am Bauwagen. Matze war Hobby-DJ und hatte dort immer für gute Musik gesorgt. Der Bauwagen war zwar alt aber er war gemütlich mit Sofas und einer Bar ausgestatten und eben Matzes Mischpult. Matze heißt eigentlich Manuel, aber keiner außer seiner Mutter nannte ihn so. Er selbst mochte den Namen auch nicht. Er sagte immer: Manuel klingt scheiße, wie ausgeschissen. Er konnte es gar nicht haben wenn man in so nannte.
„Überlege es dir. Wir würden uns freuen“, sagte er wieder.
„Nein, ER wird sich nicht freuen“, flüsterte ich. Ich war überrascht, dass ich fähig war diesen Satz zu sagen ohne zu weinen. Unerwarteter Weise nahm mich Matze in den Arm.
„Sogar er“, flüsterte er kaum hörbar. Drückte mich fest an sich und ging wieder zu seiner ehemals meiner Clique. Erst jetzt wurde mir bewusste, dass wenn Matze hier war, ER auch hier sein könnte. Meine Augen suchten jeden Winkel des Raumes panisch ab. Musterten jeden Menschen. Aber sie fanden IHN nicht. Ich war zugleich erleichtert und enttäuscht. Wie oft habe ich in diesen drei Monaten seine Bilder wieder und wieder angeschaut. Wie oft habe ich versucht mich daran zu erinnern wie es war von IHM geküsst zu werden. Aber die Erinnerungen wurden immer blasser. Ich würde so gerne noch einmal von IHM geküsst werden.
„Lia kommst du?“, Noah wartet ungeduldig mit den Karten wedelnd vor dem Eingang des Kinosaals. Ich ging zu ihm.
„Welcher Film es jetzt“
„Paranormal Activity, kein Liebesfilm!“
„Danke“, ich war erleichtert. Kein geküsste. Keine Pärchen die sich liebten.
„Wer war das?“
„Matze“
„Wer ist das?“
„Freund von IHM und ein .. Freund von mir“, mit dem zweiten Teil zögerte ich, denn ich war mir nicht sicher ob wir noch Freunde waren.
„Lia, darf ich dir was sagen?“
„Nein“, blockte ich sofort ab, „Ich rede darüber nicht“
„Verstanden! Aber wenn..ich bin immer für dich da!“
„Ich. Werde. Darüber. Niemals. Mit. Irgendjemandem. REDEN!“, sagte ich etwas zu laut. Noah schaute mich an und ging an mir vorbei in den Saal. Es tat mir leid. Ich wollte nicht so schorf klingen. Er gab sich wirklich Mühe mit mir. Und ich bewunderte ihn für seine Geduld. Ich ging hinter ihm her und setze mich auf den schrecklich roten Plüschsessel. Ich fühlte mich so fremd. So unwohl. Ich wollte nicht hier sein. An einem Ort an dem ich schon so über glücklich war.
„Es tut mir Leid“
„Ist schon okay. Du hast es nicht leicht. Ich weiß. Aber du kannst nicht immer alles in die rein fressen. Bitte, Lia. Lass dir helfen. Bitte lebe wieder. Ich vermiss die Alte Lia.“, er klang verzweifelt. Er hatte Recht. Nur wie sollte ich ohne ihn leben.
„Versuch es wenigstens unter Menschen zu gehen. Wenn du es schon nicht für dich tun kannst, dann tu es für mich. Bitte. Versuch es wenigstens“, so traurig war er noch nicht in meiner Anwesenheit gewesen und ich kannte ihn nun doch schon fast meine ganzen 16 Jahre. Ich wollte ihn nicht so traurig sehen. Ich hatte es schon wieder getan. Menschen enttäuscht. Verletzt. Allein gelassen.
„Ich werde es versuchen“, log ich.
„Versprochen?“ Seine Augen funkelten, wie die eines kleinen Kindes beim Geschenke auspacken.
„Versprochen!“, log ich wieder und versuchte zu lächeln. Lügen fiel mir so leicht. Viel zu leicht. Ich sah in Noahs Augen, dass er mir glaubte. Er glaubte mir zu schnell. Er wollte mir wahrscheinlich so sehr glauben.
Der Film fing an. Und ich ließ es über mich ergehen. Ich schloss die Augen und wartete bis das Licht wieder anging. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten. Ich zählte die Sekunden jeder einzelnen Minute. Inzwischen war ich bei der 73. Minute und 45. Sekunde angekommen. 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60. 74. Minute. Und so ging das weiter bis der Film aus war. Die Lichter gingen an und die Menschen strömten aus dem Saal. Noah fragte wie der Film war und antwortete Gut. Er lächelte und ich lächelte. Wir gingen zum Auto und stiegen ein. Er fuhr mich nach Hause und ich stieg aus bedankte mich für den Abend und verschwand in mein Haus. Alles rauschte an mir vorbei. Ich nahm nichts mehr war. Ich ging ins Bett und starrte die Decke an. Dann erst fing ich wieder an zu denken. An IHN zu denken. An meiner Wand hingen immer noch die ganzen Bilder von IHM. Er lächelte mich an. Seine blauen Augen leuchteten und er war glücklich. Als ich in das letzte Mal sah, leuchteten seine Augen nicht. Sie waren leer. Sie waren unendlich traurig. Sie starrten mich an. Durchbohrten mich. So sah ich seine Augen immer und immer wieder vor mir. So unbeschreiblich verletzt.
Seit drei Monaten war ich nicht mehr an meinem Computer in Facebook. Da ich heute ja schon gegen meine Regeln verstoßen habe und im Kino war. Konnte ich auch gleich schauen was ich alles verpasst hatte. Vielleicht hatte ER mir ja geschrieben. Eine Hoffnung stieg in mir auf. Und ich konnte nicht schnell genug meinen Laptop hochfahren. Bei meinem Passwort vertippte ich mich dreimal. So zittrig waren meine Finger. Dann sah ich den Desktop Hintergrund und ein mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte das Bild genommen auf dem er mich zärtlich auf die Nase küsste und lächelte. Ich strahlte über das ganze Gesicht und genoss seine Lippen auf meinen. Es war ein so schöner Tag. Einen den ich nie vergessen will. Einer meiner schönsten. Ich öffnete Facebook. Loggte mich ein und erschreckte. Ich hatte 17 neue Nachrichten

3. Post! - Wieso tue ich mir das an?


Ich öffnete die erste Nachricht. Ich hatte beschlossen ich würde die älteste zuerst lesen.

Nina Menke 1.10.2012 10:32pm
Lia, Lia, Lia!! Ich muss dir was erzählen. Ruf mich doch an, wenn du Lust hast. :*
3.10.2012 5:49pm
Ich versteh es nicht. Du ignorierst mich? Was hab ich getan. Wieso gehst du nicht an dein Telefon?
5.10.2012 3:04pm
Lia?? Sag mir doch wenigstens was los ist. Was ich falsch gemacht habe. Bitte. Ich finde es nicht gerade fair von dir. Naja. Ich dachte mal wir wären beste Freunde oder so. Das kannst du nicht einfach so weg werfen. Bitte!
23.10.2012 9:43pm
Das war jetzt Lia. Ich hab keinen Bock mehr darauf. Du kannst mich mal. Du redest mit keinem mehr. Bist du jetzt zu cool für uns oder was? Vergiss es Lia. Wir waren die längste Zeit beste Freunde! Bye!
4.12.2012 0:05am
Ich vermiss dich Lia. Bitte melde dich mal. Ich kann das nicht. Ich vermiss dich so sehr. Bitte ich brauch dich!


Der vierte Dezember war vor zwei Tagen. Ich vermisste Nina auch. Ich hatte die Chance alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich hatte sie. Ich musste sie nur nutzen. Ich ging weiter zur nächsten Nachricht.

Jenny Weber 4.10.2012 5:58pm
hey <3 ich wollte Fragen wie es jetzt aussieht mit dem Wochenende. Kommst du mit nach Berlin? So ein bisschen Party machen? Ich fände es echt toll wenn wir Mädels alle mitfahren würden. Also Du, Nina, Sammy, Melly, Selina, Nessi und ich. Die anderen haben schon zugesagt. Jetzt fehlst nur noch du?
Was hast du eigentlich? Du warst jetzt schon 4 Tage nicht mehr in der Schule? Ist alles klar bei dir?
ich hab dich so sehr lieb und ich freu mich schon wieder auf dich, Süße. Wird schnell gesund <3
20.10.2012 7.59pm
Es ist echt nicht in Ordnung wie du uns behandelst. Nina ist schon voll fertig. Klar das mit Jay tut uns Leid. Aber mein Gott, du hast doch noch uns. Lia, werd erwachsen!



Seinen Namen zu lesen versetzte mir einen tiefen Stich. Seit 3 Monaten hatte ich diesen Namen vermieden. Ich hatte ihn nicht gesagt und nicht gelesen. Es tat weniger weh, wenn ER einfach nur ER war. Die Nachrichten von meinen anderen Mädels las ich erst gar nicht. Von Noah war auch eine da.

Noah Burman 1.10.2012 8:34pm
Lia, alles klar? Wie geht es dir jetzt? Jay hat mir erzählt was passiert ist. Hey Lia, das wird wieder. Ihr liebt euch doch. Soll ich dich anrufen? Willst du reden?
Lia Edener 1.10.2012 8:55pm
Ja bitte!
Noah Burman 2.10.2012 6.47pm
Geht es dir besser? Ich verstehe dich. Aber du darfst jetzt nicht den Kopf einziehen. Wie sagst du immer so schön? Kopf hoch Prinzessin sonst fällt, das Krönchen runter <3
8.10.2012 2:45pm
Lia, jetzt warst du lange genug traurig. Zeit wieder unter Menschen zu gehen  Geh doch mal bitte an dein Handy!
12.10.2012 4:23pm
Hör auf dich zu verkriechen, dass bringt doch nichts. Deine Freunde sagen du redest nicht mehr mit ihnen. Mit mir redest du auch nicht mehr. Ich vermiss meine kleine süße Lia! <3 Ich mach mir wirklich Sorgen! Bitte Lia!
24.11.2012 0.06am
Lia, das ist nicht mehr normal. Geh unter Menschen. Lebe dein Leben. Mach irgendwas.
4.12.2012 9.56pm
Was sollte die SMS gerade? Was meinst du damit du hast keinen Bock mehr. Und es tut viel zu sehr weh. Lia, denke nicht einmal daran dir was anzutun. Ich mach mir wahnsinnige Sorgen. Wo bist du?
10.14pm
Ich gehe dich jetzt suchen! Bitte bring dich nicht um!


Noah antwortet ich sofort mit 4 Worten: Es tut mir Leid!
Sonst waren es nur abwertende Nachrichten von Freunden von IHM, die mich fertig machten und dann war es wie ein Schlag ins Gesicht. Es war eine Nachricht von IHM.

Jason Fermando 22.10.2012 2:03am
Hey Lia, ich will dich nicht lange nerven. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht will, dass es vorbei ist. Ich vermisse dich. Und das Leben ohne dich, ist so einsam so leer. Ich wollte dich nicht verlieren. Niemals. Aber naja. Es ist vorbei. Und nun ja ich schreibe diese Nachricht eigentlich nur weil ich dir sagen wollte wie sehr es weh tut und das .. Es spielt eh keine Rolle mehr. Werde glücklich so wie es jetzt ist. DU wolltest es ja so. Ich wünsche dir wirklich viel Erfolg in deinem Leben oder whatever. Leb wohl. Ich schätze man sieht sich eher nicht mehr. Machs gut.
P.S. Ich liebe dich immer noch! (das wollte ich noch loswerden)



Tränen rollten über meine Wangen. Meine Welt brach erneut zusammen. Ich hätte es noch retten können irgendwie ER hat sich gemeldet, ER hat geschrieben ER liebt mich noch. Es war IHM nicht egal. ER konnte mich auch nicht vergessen. ER vermisste mich. ER liebt mich! ER! Die Tränen rollten immer weiter und weiter. ER hatte mir geschrieben. Aber es ist zu lange her um zu antworten. Aber ich musste etwas sagen. Ich musste etwas schreiben. Irgendetwas.

Lia Edener 6.12.2012
Jay..



Ich brauchte nicht lange um diese Worte zu schreiben. Dafür brauchte ich viel zu lange um auf ‚Senden‘ zu drücken. Als ich sie abgeschickt hatte bereuhte ich es sofort. Wie dumm und naiv war ich eigentlich? Was würde er denken was das soll nach so langer Zeit? Würde er mich hassen? Würde er antworten? Liebte er mich immer noch? Nein bestimmt nicht. Er hatte es wahrscheinlich geschafft sein Leben zu leben. Im Gegensatz zu mir. Er schaffte immer alles. Immer. Wieso nicht auch das?

Ich wartete Tage. Es kam keine Antwort. Ich wartete Wochen. Immer noch keine Antwort. Ich schaute jeden Tag nach. Keine Antwort. Die Wochen vergingen. Es war Weihnachten. Es war Silvester. Es war 2013. Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Ich hatte nicht einmal ansatzweise versucht wieder unter Menschen zu kommen. Ich verbrachte die meiste Zeit weiterhin damit an IHN zu denken. Meine Noten wurden noch besser und meine Mutter war noch stolzer auf mich. Ich war inzwischen nur noch eine Hülle. Mein kompletter Schmerz war aufgebraucht. Ich hatte nichts mehr was mich hielt. Ich hatte aufgehört zu essen. Meine Unterarme waren wunderschön verziert mit roten Strichen. Ich nahm den Schmerz gar nicht mehr war wenn die scharfe Schneide des Messers durch die haut schnitt und nur ein kleine, dünne, rote Linie zu sehen war. So wunderschön. Ich hatte beschlossen sich umzubringen wäre zu einfach. Qualvoll zu sterben hatte viel mehr Sinn. Das wäre eine gerechte Strafe für meine Taten. Vielleicht konnte ich so irgendwann Ruhe finden. Mich vor dem Schmerz verstecken. Der Leere entkommen. Der Schmerz kam nur noch ab und zu. Ansonsten war da nichts. Nur Leere. In der ich langsam aber sicher verloren gehe. Ich verirre mich in ihr und finde den Weg nicht mehr nah draußen. Ich mag diese Leere sie ist so vollkommen, so unendlich. Ich kann mich in ihr verstecken vor dem Schmerz. Nur wenn die Leere für einen kurzen Moment verschwindet und der Schmerz die inzwischen verheilten Wunden wieder aufreißt. Nein sie sind nicht verheilt sie sind nur leblos geworden. Sie sind fast gestorben. Mein Herz ist fast gestorben. Es schlägt nur noch, weil ich es noch nicht verdient habe zu sterben. Weil es mir noch nicht gegönnt ist die Welt zu verlassen. Den Schmerz und die Leere zu verlassen. Die Leere erlöst mich. Sie lässt mich jeden Tag ein bisschen mehr von hier weggehen. Aber der Schmerz erinnert mich daran wie sehr ich Gefangen bin. Immer noch. Nach vier Monaten. Eine ewige Gefangene, der schlimmsten Krankheit. Gefangen in der Liebe. Ich habe es mir angewöhnt mich jeden Morgen vor den Spiegel zu stellen. Meinen Körper zu betrachten. Er ist wunderschön. So zerbrechlich. Verwundet, Zerstört. Aber er sieht bei weitem noch nicht so schlimm aus wie ich mich im inneren fühle. Mein Körper ist an der Welt zerbrochen. Mein Herz an der Liebe. Die sich wie ein Wurm immer tiefer hinein gefressen hat. Immer tiefer und tiefer um mich dann von innen heraus zu vernichten. Zu zerstören. Auch wiege ich mich jeden Morgen. Ich habe eine Liste gemacht. Und ich bin zufrieden mit dem Ergebnis. Die Zahlen werden kleiner. Und ich werde immer schöner. Ich wiege nur noch 46kg. Nicht mehr lange und ich habe mein Ziel erreicht. Nicht mehr lange und ich bin erlöst. Erlöst von der Liebe. Keiner merkte etwas. Meine Mutter merkte nicht, dass ich nichts aß weil sie den ganzen Tag arbeitete. In der Schule war ich nur Luft für alle. Also konnte machen was ich wollte. Und es würde nicht mehr lange dauern. Nicht mehr lange. Ich musste lächeln. Ich war kaputt. Vollkommen zerstört. Und ich gefiel mir so. Ich war so hübsch. So wunderschön. . Es erschreckte mich schon fast zu was ich hier geworden war. So anders. Ich habe mich verloren. Vollkommen verirrt in der Liebe zu dir. Die so stark ist, dass es schmerzt. Aber es schmerzt noch mehr dich zu vermissen und nicht vergessen zu können. Niemand sieht diesen Schmerz, dieses Loch das sich tief in mein Herz gebohrt hat und da nie auch nur für einen kleinen Moment schläft. Es wird nur vielleicht von der Leere überdeckt. Ich kann es nicht erreichen, kein Versuch es zu schließen funktioniert und ich habe schon lange aufgehört es zu versuchen. Mein Herz, es blutet, so stark, dass es mich töten wird.
Die Tage vergehen. Es verändert sich nichts. Nichts, bis auf mein Gewicht. Das wird weniger. Mein Zeugnis war besser als all die Jahre zuvor. Meine Mutter war stolz. Ihre Welt war in Ordnung. Während meine immer mehr zerbrach. Immer weiter zerfiel, die sie irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft endgültig zerbricht. Inzwischen ist es Februar. Es ist fünf Monate her. Und es tut immer noch so sehr weh. Das Messer ist mein neuer Freund. Es lässt mich für kurze Zeit vergessen. Mein Unterarm ist übersäht mit kleinen Narben, die wunderschön im Licht leuchten. Sie lassen mich wissen, dass ich noch lebe, jeden Tag aufs Neue wieder. Nicht mehr lang, nicht mehr lang, nicht mehr lang. Ich versuche es mir einzureden.
Als ich nur noch 40kg wog beschloss ich, noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor ich es nicht mehr konnte. Ich suchte einen Block und einen Stift. Ich fing an zu schreiben. Ich hatte es mir schon so oft überlegt.
TO DO LIST:
- Bei Noah entschuldigen
- Mit Noah reden
- Es wieder in Ordnung bringen
- (Meinen) Mädels antworten, mich entschuldigen
- Meine Mutter in den Arm nehmen!
- Die Briefe und Geschenke meines Vaters öffnen
- Meine Schwester einen Brief schreiben
- JAY!!!
- Ihn küssen, ein letztes mal
- Den Bauwagen nochmal besuchen
- BEI ALLEN VERABSCHIEDEN!
Bei dem letzten Punkt zögerte ich. Ich weiß nicht ob ich das konnte. Ich weiß nicht ob ich das wollte. Wenn ich das alles erledigt hatte, konnte ich gehen ohne, dass alles so offen blieb wie es jetzt ist. Ich wollte nichts verändern ich wollte es nur komplett abschließen. Mein Leben abschließen und die Dinge in Würde zu Ende bringen. Und ich würde es schnell tun, so schnell es nur ging. Dann hatte ich den ganzen Schmerz hinter mir. Hatte ich Jay hinter mir. Die Liebe! Dann würde ich endlich meine Augen schließen können ohne immer Angst haben zu müssen, die Realität sehen zu müssen. Ich würde in Würde diese Welt verlassen. Endlich!

4. To do list! - Das Ende naht!


Noah hatte sich schon seit Weihnachten nicht mehr gemeldet. Ich hatte auch ihn verletzt. Indem ich mein Versprechen gebrochen habe. Indem ich ihn angelogen habe schon als ich es versprach. Ob er mich nun aufgegeben hatte? Es wäre denkbar. Nachdem ich mich schon längst aufgegeben hatte. Schon viel zu lange. Ich habe nicht einmal versucht, den Schmerz zu vergessen. Ich wollte nicht. Ich wollte genau so sein wie ich jetzt bin. Ich wollte nicht ohne IHN leben. Ich konnte ohne alle Leben und ich würde Leben. Aber ich konnte nicht ohne Jay leben. Nun ja, ich konnte es schon fünf Monate und man sieht ja wo es hingeführt hatte. Ich hatte mich so weit, dass ich in weniger als 2 Monaten tot war. Weg von hier. Weg von ihm, der so viel Leere und Schmerz hinterlassen hatte. Früher dachte ich Leere und Schmerz wären ein Wiederspruch. Aber das stimmt nicht. Leere ist der Schlimmste Schmerz. Denn durch die Leere verschwindet der Lebensdrang und du gibt dich vollkommen dem Schmerz hin, der dich auffrisst immer weiter und weiter, bis er dich schließlich umbringt. Die Leere ist es die einen Menschen sterben lässt. Denn die Leere schaltet alles was man zum Überleben braucht aus. Das Hungergefühl. Den Willen zu leben. Letzen Endes sogar das Leben selbst.
Ohne noch lange zu überlegen nahm ich mein Handy und wählte Noahs Nummer. Es war ein seltsames Gefühl. Diese Gleichgültigkeit. Ich war es nicht gewohnt. Es war mir egal was er jetzt sagen würde. Es würde eh nichts ändern. Wenn ich in weniger als zwei Monaten, diese Welt verlassen, würde es auch keinen Unterschied machen ob er nun mein Freund war oder nicht. Allerdings wäre es nicht fair, zu sterben ohne es wenigstens versucht zu haben ihm zu erklären, wie ich fühle.
„Hallo?“, Noahs Stimmt klang so vertraut. Wie aus einer anderen Welt, die ich einmal gekannt hatte, aber verloren hatte. Genau genommen stimmte das ja. Ich hatte Noah verloren.
„Noah!“
„Lia? Was willst du?“
„Mit dir reden“
„Wieso willst du jetzt reden?“
„Bitte?“
„Okay!“
„Es tut mir Leid, Noah! Ich habe immer behauptet ich kann mich nicht ändern. Aber ich glaube, nein, ich weiß, dass ich mich nicht ändern will. Ich weiß auch, dass du denkst ich bin verrückt oder krank oder sonst was. Und vielleicht hast du Recht. Bitte gib mir noch eine letzte Chance?“
„DU BIST KRANK, LIA! Wo bist du?“, Panik schwang in seiner Stimmer mit.
„Zuhause“
„Tu dir nichts an!“
„Tu ich nicht wie kommst du darauf“
„Gut. War so ein Gefühl. Ich mach mir große Sorgen um dich. Und wenn ich ehrlich bin habe ich auf diesen Anruf gewartet.“
„Kannst du her kommen?“
„Klar!“
„..Weil ich würde gern die Briefe von meinem Vater lesen. Und ich hätte dich gerne dabei.“
„Ich bin gleich da!“
Ich wollte ihn sehen. Das war vermutlich das erste Mal seit 5 Monaten, dass ich einen Menschen sehen wollte. Ich wollte ihn noch so oft sehen bevor ich endlich gehen durfte. Der einzige Mensch der mir alles verzeiht. Der mich immer liebt! Dem ich wenn er jetzt kommt vermutlich einiges anvertrauen werde.
Keine 15 Minuten später stand Noah in meinem Zimmer. Ich sprang vom Bett auf lief auf ihn zu und umarmte ihn! Ganz fest. Er schob mich nach einiger Zeit von sich weg und musterte mich. Von Oben nach Unten und von Unten nach Oben. Dann schaute er mir in die Augen.
„Du hast dich verändert“, sagte er vollkommen nüchtern, aber in seinen Augen konnte ich seinen besorgten und verzweifelten Blick sehen.
„Ja, ein wenig“
„Ein WENIG? Du bist nur noch Haut und Knochen! Du bist viel zu dünn!! Wie viel wiegst du?“, er schrie fast. Aber es war keine Wut es war Angst. Er hatte Angst um mich.
„50“
„Du lügst! WIE VIEL?“, fragte er nochmal.
„48“
„Verdammt, sag die Wahrheit!“, Verzweifung war ihm ins Gesicht geschrieben.
„40“
„Nein, Lia. Bitte nicht. Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte“
Er nahm mich in den Arm, drückte mich weg, schüttelte mich, nahm mich wieder in den Arm.
„Wieso Lia, wieso?“
„Es wird dadurch besser“, gestand ich.
„WAS WIRD BESSER?“, schrie er?
„Der Schmerz“, flüsterte ich.
„Lia, das ist krank. Tu was dagegen!“
„Nein“
„Doch“
„Du kannst mich nicht zwingen!“
„Doch und wie ich das kann!“
Und er würde mich zwingen. Noah setzte immer seinen Kopf durch. IMMER. Aber wenn er mich in eine Klinik oder zu einem Psychologen bringen würde, würde ich nicht machen können was ich mir vorgenommen hatte.
„NEIN“, schrie ich ihn an!
„Doch. Gleich morgen.“
„Nein! Das darfst du nicht. Das ist mein Leben“, wimmerte ich.
„Doch das darf ich. Ich will nicht, dass sich mein beste Freundin umbringt.“
„Tu ich nicht“
„DOCH. TUST DU! UND DAS WEIßT DU GENAU!“, schrie er. Ich war froh, dass meine Mutter nicht zuhause war. Die würde sich wohlmöglich auch noch Sorgen machen.
„LASS MICH IN RUHE!“, schrie ich zurück.
„Ich werde nicht zulassen, dass du dich umbringst. Niemals. Hör endlich auf so feige zu sein!“
„Ich bin nicht feige“, wimmerte ich den Tränen nahe. Feige. Das Wort hallte in meinem Kopf wieder und wieder. Ich war feige. Nein, ich konnte nicht mehr. Ich renne vor nichts mehr ich stelle mich allem und gehen dann kaputt. Ich führe Krieg in mir. Mein Verstand gegen meine Gefühle. Die Gefühle besitzen die Atomwaffen und zerstören alles was ihnen in den Weg kommt. Mein Verstand hat nichts mehr zu sagen. Er wurde zurück gedrängt in mein Gehirn. Und bald, wird er dort vermutlich auch kapitulieren müssen, da sich nun noch der Körper in diesen verdammten Krieg eingemischt hat. Und gemeinsam sind mein Körper und meine Gefühle stark genug, den Verstand zu vernichten.
„Doch, Lia, bist du. Sonst würdest du damit klarkommen. Du bist mit so viel klar gekommen. Mit dem Tod von Kathi, danach die Trennung deiner Eltern. Seit du acht bist hast du weder mit deinem Vater geredet, noch ihn gesehen oder sonst was. Mit Trennungen konntest du doch immer umgehen, du bist sie gewohnt…“
„AN TRENNUNGEN KANNST DU DICH NICHT GEWÖHNEN!“, Ich schrie und brach gleichzeitig in Tränen aus. Er nahm mich unbeholfen in die Arme. Er schien erschrocken über das zu sein was er gesagt hatte. Nein an Trennungen konnte man sich nicht gewöhnen. Man kann versuchen damit klarzukommen, aber sich daran gewöhnen ist wohl unmöglich! Wie auch, sie kommen, schnell, unerwartet und rücksichtslos. Sie fragen nicht vorher ob es in Ordnung ist einem, den geliebten Menschen zu nehmen. Ihn aus meinem Leben zu reißen und eine Leere zu hinterlassen. Die Leere die Kathi in meine Seele gerissen hatte war lange Zeit gut verborgen hinter Mauern, die ich mühsam errichtet hatte. Mein Vater hatte nicht viel Leere hinterlassen nur Enttäuschung, Verzweiflung und Einsamkeit. Am schlimmsten war die Leere die meine Mutter hinterlassen hatte. Ich war acht als Kathi starb. Ein paar Tage nach ihrem Tod wurde ich neun. Es war kein schöner Geburtstag. In der vor dem Geburtstag schlüpfte ich zu meinen Eltern ins Bett. Mein Vater schnarchte laut. Meine Mutter wachte auch als ich mich zu ihr unter die Decke kuschelte. Sie fragte mich ob ich nicht schlafen könne. Nein ich konnte nicht schlafen. Ich träumte die ganze Zeit vom Unfall. Ich fragte meine Mutter wo Kathi jetzt wohl war. Sie sagte, weit weg. Ich wollte ihr erklären was ich dachte, aber ich traute mich nicht. Wünschte mir für sie, dass sie an einem Ort mit ganz vielen Hunden, Hasen und Keksen wäre. Das waren alles Dinge die sie vergötterte. Dann sagte ich zu meiner Mama, dass ich nicht Geburtstag feiern will. Sie fragte warum? Ich antworte weil ich ohne Kathi nicht Feiern will. Dann sagte keiner mehr etwas. Ich bekam Geschenke und Kuchen. Aber mehr machten wir nicht. Wir schauten nur noch Fotoalben an und weinten. Gemeinsam traurig zu sein gibt Einem neue Kraft, weil man weiß, dass man nicht allein ist. 3 Wochen später verschwand mein Vater. Einfach so. Ohne ein Wort. Meine Mutter zerbrach daran. Ging ein Jahr lang in mehrere Kliniken und ich wohnte solange bei meine Großmutter. Danach holte sie mich wieder zu sich. Aber wir leben nur nebeneinander her. Sie nahm mich nie mehr in den Arm gab mir einen Kuss oder tat sonst etwas. Wir redeten auch nicht viel. Sie war nie da für mich. Sie war beschäftigt mit ihrem eigenen Schmerz. Der sich wohl so angefühlt haben muss wie meiner jetzt. Inzwischen waren wir wie zwei Fremde die in einem Haus wohnten. Wir redeten nur noch wenn es sich nicht vermeiden lies. Ich vermisste sie manchmal. Und es tat weh, aber daran gewöhnt man sich. Das ist nun mal so passiert. Mein Vater hat mir meine Mutter gestohlen. Ich habe sie oft weinen gehört in der Nacht. Und jedes Mal habe ich auch geweint. Ich habe mich abends in den Schlaf geweint und auch tagsüber habe ich viel geweint, immer wenn ich alleine war. So lebte ich mein Leben vor mich hin. Ging in die Schule, traf Freunde, baute mir meine eigene Familie auf. Es war alles gut, bis jemand anfing mich über meine Familie auszufragen. Ich blockte jedes Mal ab. Ich hatte die Geschichte nur Jay und Noah erzählt. Die einzigen Menschen denen ich vertrauen kann. Besser konnte. Die Leere die Jay hinterlassen hatte riss alles wieder auf alle Leeren, sofern es davon einen Plural gibt. Und diese Leere, verbunden mit den andern machte mich kaputt zerstörte mich. Denn durch Jay hatten die Löcher angefangen zu heilen. Durch ihn fühlte ich mich lebendig und glücklich.
„Lia, es tut mir Leid!“
„Vergiss es. Ist schon okay. Lassen wir es gut sein!“
„Soll ich gehen?“
„Nein!“
Er wirkte erleichtert. Sehr erleichtert. Keiner sagte mehr etwas, wir starrten uns nur an und ich fragte mich, ob es wirklich das richtige war was ich vorhatte. Es war irgendwie zu einfach. Ich würde ohne große Dramatik sterben. Es würden nicht viele mitbekommen. Wer auch. Ich hatte keine Freunde mehr abgesehen von Noah. Aber wirklich vermissen würde er ich vielleicht noch anfangs. Ich denke ich bin kein Mensch an den man sich großartig erinnern wird. Warum auch? Ich habe nicht wichtiges oder bedeutendes gemacht. Ich war die meiste Zeit meines Lebens eine leere Hülle. Und der einzige Mensch der Leben in diese Hülle gebracht hat, hat mir dieses Leben auch wieder genommen. Er kann es ganz haben, ohne ihn will ich es nicht. Was soll ich mit einem Leben in dem ich nicht einmal annähernd glücklich bin. In dem ich die Kilos zähle bis es endlich vorbei ist. Und dieses eine verdammte mal dann für immer. Für immer ist eine sehr lange Zeit. Das wird einem manchmal erst klar wenn das kurze ‚für immer‘ vorbei ist. Wenn man das Versprechen ‚für immer‘ brich. Für immer Pinguine. Das war eine Zeit lang unser Motto, Jays und meins. Wir waren Pinguine. Er meiner und ich seiner. Es war so etwas wie ein Pakt, etwas, dass uns zusammen gehalten hat und uns immer zusammen halten sollte.
Ich wollte Noah fragen ob wir die Briefe und Pakete von meinem Vater gemeinsam aufmachen können, stattdessen hörte ich mich leise sagen:
„Noah, kannst du mich morgen Nachmittag zu Jay fahren?“ Ich war geschockt. Was zur Hölle hatte ich da gerade gesagt. Ich wollte doch eigentlich Jay nicht so schnell wieder sehen. Nicht jetzt und nicht morgen. Ich hatte viel zu viel Angst davor. Nein, ich wollte Jay nicht sehen!
„Äh…klar gern. Wieso jetzt doch?“
„Nein, nein. Ich will ihn nicht sehen. Das ist mir nur so rausgerutscht“, versuchte ich zu erklären.
„Ich finde du solltest es tun. Du..ach..glaub mir danach geht es dir besser“
„Oder schlechter“
„Er will dich doch auch sehen. Sofern er…dich noch wieder erkennt.“
„Was?“
„Naja du hast dich verändert, Lia, sehr sogar. Du bist nicht mehr das Mädchen, dass alle lieben, du bist ein einsamer, verlassener Geist, der sich nach Liebe sehnt, die er nur von einem Menschen annehmen kann und den Rest vergessen hat.“ Noah schaute traurig zu Boden und spielte mit seinem Lederarmband.
„Wie meinst du das?“
„Ich.. also.. Du hast es nicht gemerkt?“
„Was nicht gemerkt?“
„Dass du die ganze Zeit über geliebt wurdest?“
„Ach so. Ja, ich habe dich auch lieb, ich mein du bist mein bester und äh einziger Kumpel“, ich versuchte zu lächeln.
„Nein, das mein ich nicht“
„Was dann?“ Ich war verwirrt, was meinte er bitte?
„Ich denke ich..ach ist nicht so wichtig. Ich finde du solltest zu Jay gehen. Dann habt ihr das endlich hinter euch!“ Es war offensichtlich, dass er wieder das Thema wechseln wollte.
„Jetzt sag schon was los?“
„Nichts, ich will das hier nicht kaputt machen. Du bist kaputt genug“, sagte er und schaute an mir herunter.
„Okay, wenn du meinst.“
„Lia, du musst mir Jay reden, danach hast du Klarheit und kannst endlich aufhören dich kaputt zu machen oder zu hoffen, dass das wieder was wird.“
„Ich hoffe gar nicht, das mit…“
„Doch tust du! Vielleicht tut er das auch noch. Vielleicht ist es zu spät.Was auch immer es ist, willst du nicht endlich einmal wissen was ist?“
„Doch“
„Also stell die Frage nochmal und ich werde dich morgen fahren und für dich da sein.“
„Machst du es?“, murmelte ich.
„Ja!“

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Tag der Veröffentlichung: 04.12.2012

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