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Im Fenster spiegelte sich das schwache Licht der Nachttischlampe und hielt so die Welt da draußen vor unseren Blicken verborgen. Nur das Geräusch des Regens drang bis zu uns durch. Ein dünner Faden, der das Märchen mit der Wirklichkeit verband.
„Bereit?“, fragte mein Papa und zog mir die Bettdecke bis unter das Kinn. Er war ein starker und stolzer Mann, aber in seinen Augen glitzerte noch der Zauber seiner Kindheit.
Ich nickte und kuschelte mich ganz tief in die Kissen. Ich liebte diese Momente, diese Augenblicke das Wartens, das Buch noch geschlossen vor sich liegend zu haben, nur mit der Vorahnung einer Geschichte, die sich gleich entfalten und den Raum bis in den letzten und hintersten Winkel erfüllen würde.
„Na dann!“, mein Vater räusperte sich und begann mit seiner ruhigen, tiefen Erzählerstimme zu lesen.
„An einem Ort,
meist verborgen von Licht,
existiert eine Welt,
nur du siehst sie nicht.“

Das waren die Zeilen mit denen das Buch begann...

Einiges später, aber dennoch wie immer viel zu früh, klappe er das Buch zu.
„So, das reicht nun aber für heute“, meinte mein Vaterund legte das Buch auf den Nachttisch.
„Neinneinnein!“, maulte ich „Ich muss doch wissen wie es weitergeht, mit der kleinen Waldelfe und ob sie in der Zauberwelt bleiben darf!“, rief ich empört.
Doch er lachte nur, wie die Erwachsenen es so oft tun, als wüsste er es besser und gab mir einen Gutenachtkuss.
„Morgen mein Schatz, morgen“ Damit knipste er das Licht aus und zog die Tür hinter sich zu. Zurück blieb ich, ohne die leiseste Lust zu schlafen. Finster starrte ich in das Dunkel über mir, als würde dort die Geschichte der kleinen Elfe geschrieben stehen. Tat sie nicht. Aber dafür woanders... Verstohlen wanderte mein Blick zu dem abgegriffenen Geschichtenbuch auf meinem Nachttisch. „Die Welt der Feen und Elfen“ stand darauf geschrieben. Ich erwartete fast, ein leises Glimmen, Leuchten, Glitzern oder Klingeln daraus zu vernehmen. Aber das Buch blieb still. Natürlich, die Wunder waren ja auch alle darin geblieben, eingequetscht zwischen den zwei Buchdeckeln, gepresst und konserviert wie eine getrocknete Blume zwischen den Seiten.
Ich wusste, ich sollte ein gutes Mädchen sein und mich schlafen legen, aber ich konnte einfach nicht anders, als das Buch in die Hand zu nehmen und mir meine kleine Taschenlampe aus der Schublade zu angeln. Aus einer alten Gewohnheit zog ich mir die Decke über den Kopf und rutschte ganz nach unten, bis meine nackten Füßchen am Bettende hervorragten. Doch dann fielen mir die Monster ein,die unter meinem Bett wohnten und sich vielleicht einen Spaß daraus machen könnten an meinen Zehen zu ziehen und ich zog sie hastig wieder ein.
Wie ein kleiner Verbrecher lauschte ich in die Dunkelheit auf die Stimmen meiner Eltern. Sie waren in der Küche, der Fernseher lief. Von draußen klatschten dicke Regentropfen an mein Fenster. Meine Wangen waren rot von dem Hauch des Verbotenen, als ich die Taschenlampe anknipste, das Buch aufschlug und mich zwischen die Zeilen, in die Welt der kleinen Elfe begab.

Etwas krachte von außen an mein Fenster. Ich schreckte hoch und bemerkte, dass ich eingeschlafen war. Von draußen kam ein weiteres Geräusch, ein Flattern und Klirren. Das war nicht der nächtliche Regen und ich beschloss, dass es interessant genug klang um aus dem warmen Bett zu schlüpfen und nachzusehen. Meine nackten Füßchen machten einen tappenden Laut auf dem Holzboden, den ich gar nicht mochte, weil das immer klang, als würde mir jemand folgen. Aber daran durfte ich jetzt nicht denken, denn ich musste mutig sein um nachzusehen was da vor meinem Fenster war, durfte keine Angst bekommen und zu Mama laufen, denn dann würde sie wissen, dass ich heimlich aufgeblieben war. Also war ich mutig, so mutig, dass es mich selbst ein bisschen erstaunte, zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster, nur einen kleinen Spalt breit, denn wer weiß was da draußen lauerte...
Ich lausche angestrengt in die Nacht, wartete... und zuckte zurück. Mit irrsinniger Geschwindigkeit flitzte ein leuchtendes Etwas so dich an mir vorbei, dass ich den Lufthauch an meiner Wange spüren konnte! Ein Surren erfüllte den Raum von verlor sich dann in einem der finsteren Winkel.
Mit pochendem Herzen lauschte ich in das Dunkel, glaubte etwas zu hören, doch es war nur mein eigener Atem.
„Hallo?“, flüsterte, nein hauchte ich.
Ein Klingeln ertönte, so fein und leise, dass es sich im menschlichen Ohr zu Worten formte. „Möchtest du nicht endlich das Fenster zumachen? Es zieht ganz furchtbar!“
Erstaunt drehte ich mich um, schloss das Fenster und drückte den Riegen herunter. Das Stimmchen hatte ja auch recht! Eisiger Wind wehte herein und bauschte die Vorhänge, ließ sie wie Gespenster um sich selbst tanzen, während der Regen den Takt dazu spielte.
Dann blickte ich wieder zu der Stelle, aus der das Klingeln gekommen war.
„Hallo?“, fragte ich, diesmal schon etwas lauter. „Wo bist du?“
„Na hier!“, kam das Klingeln wieder, diesmal ganz nah an meinem Ohr.
„Warum versteckst du dich denn?“
„Tue ich doch gar nicht!“, das kam vom Fensterbrett! Doch als ich hinsah, war dieses leer...
„Ich kann dich aber nicht sehen!“
„Du siehst nur nicht richtig hin!“, antwortete es und schien dabei höchst amüsiert.
Aber wie sah man denn richtig hin? Seit ich denken konnte, hatte ich sehen können, das musste keiner von uns lernen, das konnte man einfach. Aber vielleicht musste man ja das Hinsehen erst lernen...
Ich konzentrierte mich auf die Stelle, aus der die Stimme kam und kniff die Augen zusammen. Da war etwas, ein Flimmern, als ob man direkt in die Sonne sieht und dann ganz schnell blinzelt. Ich starrte noch fester. Das Leuchten wurde stärker, fester, bekam Form, eine Grenze, trennte sich von der Dunkelheit, wurde Körper und Farbe. Ein Mädchen, nein, eine Fee. Da war mehr. Linien, Haare, Flügel, ein Kleid. Jetzt sah ich es ganz genau!
Da saß ein geflügeltes Mädchen auf meinem Fensterbrett. Mit baumelnden Beinen, gesponnen aus Licht. Das Kleidchen aus Blüten, die Augen aus den Tränen das Mondes und Haare aus den Strahlen der Sonne.
Ich kannte sie, da war ich sicher. Nein ich erkannte sie!
„Wer bist du?“, fragte ich, unverhohlenes Staunen in der Stimme.
„Wer glaubst du denn, das ich bin?“
Ich sah sie genau an, konzentrierte mich auf dem Punkt in meinem Gehirn, der wusste, wer sie war.
„Twinkel!“, rief ich plötzlich, ganz sicher die Waldelfe aus meinem Buch vor mir zu haben. „Ja ich kenne dich, ich habe von dir gelesen!“
Twinkel warf den Kopf zurück und lachte, ein Lachen so hell und klar, als würden zwei Sterne am Nachthimmel aneinanderstoßen.
„Ach deshalb bin ich also hier!“, kicherte sie. Die Elfe musterte mich mit schiefgelegtem Köpfchen und gerunzelter Stirn. „Und du bist?“
„Tessi“, rief ich hastig, erpicht darauf alles von ihr zu erfahren. „Wie kommst du denn hier her? Ich dachte du wärst im verwunschenen Wald bei dem Elfenkönig! Und brauchst du nicht den Duft der grauen Linde um zu Überleben? Wie kannst du hier nur atmen? Geht es dir gut? Warum bist du in meinem Buch? Du siehst echt ganz genauso aus! Und warum meintest du „Ach deshalb bin ich also hier!“? Und...“, ich musste, trotz der Aufregung einmal Luft holen. Zeit genug für die kleine, völlig überrumpelte Elfe, mir Einhalt zu gebieten.
„Da fragst du mich? Ich dachte du wüsstest, warum ich hier bin, schließlich hast du doch meine Geschichte gelesen...“
„Ich habe sie nicht zu Ende gelesen...“, gab ich kleinlaut zu. „Ich bin eingeschlafen, als der Elfenkönig dich aus dem Wald verbannt hat!“, rief ich und begann zu begreifen warum sie hier war. „Was hat er noch gesagt, was musst du tun um wieder zurückkehren zu können?“
„Ich weiß es doch auch nicht!“, rief die Elfe wütend. Das Thema schien sie sichtlich aufzuregen, ihr Gesicht verfärbte sich rot wie eine Erdbeere. „Aber was auch immer es ist, ich muss es schaffen in dieser furchtbaren, kalten und nassen Welt kann ich auf keinen Fall blei-ei-hei-HATSCHI!“ Twinkel musste niesen, sodass sie ihren ganzen Feenstaub verstreute, wie Salz über dem Essen.
„Oje du Arme, du bist ja völlig erkältet!“, rief ich, besorgt, dass der Kleinen etwas passieren könnte. Und ich wäre Schuld daran! Geschwind holte ich ihr eine meiner kleinen Puppendecken, die ihr aber immernoch um einiges zu groß war, und sie wie einen wintzigkleinen flatternden Zwerg aussehen lies. Das war so lustig, dass sie ihren Zorn vergaß und ihr Gesicht wieder die normale Farbe annahm.
Sie legte ihre kleine Stirn in Falten und sah mich an. „Du bist sehr hübsch kleine Tessi, weißt du das?“
Ich errötete. „Dankeschön“, murmelte ich und blickte auf meine eingerollten Zehen hinunter.
„Wofür?“, fragte sie, ehrlich erstaunt.
Unsere verwirrten Blicke trafen sich und wir mussten beide lachen. Die Gesetzte der Welten, aus denen wir kamen, waren einfach zu verschieden.
„Also was hältst du davon, wenn wir einfach gemeinsam deine Geschichte lesen und herausfinden wie es weitergeht? Ich habe sie gleich da drüben“, schlug ich vor und deutete auf das, noch immer aufgeschlagene, Geschichtenbuch.
Twinkel reckte den Hals um bis dahin sehen zu können. „Na worauf warten wir denn noch?“, rief sie, erfreut der Lösung ihres Problems vielleicht einen Schritt näher gekommen zu sein. Und schon schwirrte sie quer durch den Raum, wobei ich wieder lachen musste. Denn sie war noch immer in die Decke gewickelt und sah deshalb aus wie ein fliegender Putzfetzen oder so etwas.
Kichernd tappte ich hinter ihr her auf mein Bett. Sie hatte sich Mitten auf das Buch gesetzt und versuchte sich mit dem Dekchen trocken zu reiben. Doch dadurch sammelte sich nur ein weiteres Häufchen glitzernder Feenstaub in der Ritze des Buches, wo er hängen blieb.
„Möchtest du es lesen, oder soll ich?“, fragte ich sie, als sie fertig war.
„Du musst, ich kann doch gar nicht lesen!“, rief sie und war nun schon wieder so fröhlich wie zuvor.
„Also gut... Bereit?“
Twinkel zögerte, nickte dann aber tapfer.

Ich suchte die Zeile an der ich geendet hatte, fuhr dabei über die Buchstaben wie ich meinen Vater gesehen hatte, dass er es tat. Dann hatte ich die richtige Stelle gefunden, räusperte mih und begann mit wichtiger Miene zu lesen:

„In diesem Moment fand sich unsere kleine Waldelfe in dieser fremden, kalten und unfreundlichen Welt wieder, die sich ein älteres Geschlecht ihrer Art, der Mensch zueigen gemacht hatte.“, las ich. „Es tobte ein ganz furchtbares Unwetter in jener Nacht, denn der Himmel weinte um das Unglück der Elfe. Sie hatte Angst und war ganz allein, ein immer schwächer werdendes Glimmen in der Dunkelheit. „Komm zu uns!“, lockten sie die Eulen das schwarzen Waldes. „Lauf, kleines Ding, Lauf!“, antwortete ihr der Wind. Und das tat sie. Denn der Regen hatte ihr dünnen Flügelchen nass und schwer gemacht, sodass sie unmöglich fliegen konnte. Sie lief und lief, immer weiter. Und als sie schon fast nicht mehr konnte, erkannt sie, dass sie ein Haus erreicht hatte. Mit letzter Kraft schaffte sie es dann doch das letzte Stückchen bis zu dem erleuchteten Fenster hinaufzuschwirren. Und krachte ungebremst gegen die Scheibe!“ Ich stockte und sah Twinkel mit großen Augen an. Das war mein Haus, das Geräusch von dem ich geweckt wurde! War ich etwa auch in der Geschichte? Twinkel schien darüber reichlich wenig verwundert. Sie meinte nur: „Die Stelle kennen wir ja schon! Lies, was später passiert, wie ich wieder nach Hause komme!“, drängte sie und glitzerte wieder ein wenig vor Aufregung.
„Ist gut“, ich schluckte und blätterte ein paar Seiten weiter.

„Dort lagen sie also, das Mädchen und die Elfe, um herauszufinden, wie sie ausging, die Geschichte. Ihre Geschichte. Versuchten zwischen Zeilen und Buchstaben etwas über ihre Zukunft zu erfahren, die dummen, dummen Dinger. Dabei bemerkten sie noch nicht einmal, dass mit jedem Wort, jeder Zeile die sie lasen, die Geschichte erst geschrieben wurde.
Und wie sie so den Ausweg aus ihrem Schlamassel suchten, fiel ihnen auch nicht auf, dass sie die Lösung ihres Problems schon längst gefunden hatten. „Finde einen Menschen, der deine Geschichte mit dir zu Ende schreibt“, hatte der Elfenkönig zu Twinkel gesagt, als er sie aus dem Wald verbannt hatte. „Finde einen Menschen der sie für dich schreibt deine Geschichte und du wirst zu uns zurückkehren können. Zwischen die Seiten unseres Buches“
Twinkel hatte ihn gefunden, einen Menschen der ihre Geschichte liest. Und eine Geschichte zu lesen oder sie zu schreiben, das ist doch im Grunde dasselbe oder?
Und so ist Twinkel, unsere Elfe, schon längst wieder auf dem Weg zurück, dahin, wo sie hergekommen ist, ans Ende ihrer, unserer, dieser Geschichte...“
Ich hörte auf zu lesen, konnte nicht verstehen, was ich soeben erfahren hatte. Twinkel neben mir war ganz ruhig. Und als ich zu ihr hinunter sah, bemerkte ich, dass es stimmte. Sie war schon am Ende ihrer Geschichte angelangt. Ihr Licht wurde immer schwächer, das Klingeln immer leiser. Doch sie lächelte, schien zu verstehen was geschah, während ich es rein gar nicht tat.
„Nein! Du darfst nicht gehen Twinkel!“, rief ich und wollte sie halten, doch ich konnte nicht. Dafür war es bereits zu spät, das war es vielleicht immer gewesen.
Doch sie lachte nur. „Du wirst mir auch fehlen! Ganz bestimmt.“
„Stirbst du jetzt?“, ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Augen mit Tränen füllten. Twinkel war schon nicht mehr als ein Hauch.
„Aberaber Tessi. Ich bin doch nur ein Traum, schon vergessen? Nur eine Geschichte, die ihr Ende findet“, flüsterte sie im Verschwinden, so leise, als würde der Wind ihre Stimme von ganz weit her bringen.
„Nein!“, rief ich, „Du bist hier und du bist real!“
„Wer sagt denn, dass Geschichten nicht real sind, kleine Tessi? Wer sagt dass sie nicht real sind?“

„Guten Morgen mein Engelchen!“, weckte mich die sanfte Stimme meines Vaters. „Und? Hast du vielleicht von unserer kleinen Waldelfe geträumt? Möchtest du wissen wie sie endet die Geschichte?“, fragte er.
Er nahm das Buch vom Nachttisch und blätterte auf die Seite, auf der wir am Abend zuvor aufgehört hatten. Doch als er es aufschlug, rieselte, so fein, dass er es noch nicht einmal bemerkte, der glitzernde Staub einer uns nur allzu gut bekannten Elfe heraus und hinterließ eine dünne Spur auf dem Fußboden.
Ich lachte. „Aber das weiß ich doch schon längst, Papa!“

Impressum

Texte: Alle Rechte des Texstes liegen beim Autoren. Das Foto des Covers ist von http://0.asset.soup.io/asset/1766/8096_3f53.jpeg und wurde von mir unverändert übernommen.
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2011

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