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Zitat

Du weißt nichts, Dayna, gar nichts!

Die Witwe

Prolog

 

Alles wirbelt und dreht sich. Was ist oben? Was ist unten? Die Gesetze der Schwerkraft scheinen aufgehoben und nur der Sicherheitsgurt hindert mich daran, den Fahrzeuginnenraum freischwebend zu erkunden. Ich sehe Mums Kopf die Seitenscheibe zertrümmern, als wir das erste Mal aufschlagen, nachdem wir den Straßengraben als Sprungschanze benutzt haben. Die weiteren zwei Überschläge nehme ich nicht richtig wahr – es geht alles viel zu schnell. Das Bersten der Seiten- und Frontscheibe und das Knirschen des Stahls fräsen sich allerdings in mein Gehirn und hinterlassen tiefe Narben auf meiner Seele – Geräusche, die ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde und die mich nachts oft aufschrecken lassen, schweißgebadet, aufgewühlt, nach meinem Teddy rufend und nach Mum. Teddy antwortet dann immer mit einem tiefen Brummen, weil ich ihn so fest an mich gedrückt halte. Mum dagegen kann nicht mehr antworten.

 

1

 

Ich sitze am Schreibtisch und schaue mir gerade zum x-ten Mal den Entwurf für den Relaunch unseres E-Papers durch, als Gwenn ins Büro stürmt und die Tür hinter sich ins Schloss krachen lässt. Ich zucke heftig zusammen und schaue sie dann über die Ränder meiner Computerbrille an. Sie lehnt völlig aufgelöst und außer Atem an der schweren Eichentür und blickt mich mit ihren weit aufgerissenen Augen an. Irgendetwas an ihrem Blick gefällt mir gar nicht, auch wenn Gwenn des Öfteren etwas Wahnsinniges an sich hat, vor allem, wenn sie mir in der Mittagspause die neuesten Scheidungsfälle der New Yorker Society zu unserer Poké Bowl bei Caseys in der E 78th Street auftischt. Spätestens beim anschließenden Espresso weiß ich dann, in welchen Club wir am Abend sollten, um das neu auf dem Markt angekommene Frischfleisch abzugreifen. Meinen Einwurf so frisch kann das Steak doch gar nicht mehr sein kontert sie dann immer mit Hauptsache, gut abgehangen!

Mein Blick fällt auf ihre weißen Sneakers, die auf dem dunkelblauen Teppich geradezu hervorstechen, im Gegensatz zu ihrem taubenblauen Hosenanzug, der heute perfekt zum Bodenbelag gewählt ist.

»Ich weiß«, Gwenn wedelt mit ihrer rechten Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen, dunkelblauer Nagellack – nochmals perfekte Teppichharmonie, »hatte noch keine Zeit, die Schuhe zu wechseln.«

»Was ist denn los?«, frage ich jetzt mit leichter Anspannung und reibe mir die Augen.

»Dayna!« Ihr Blick gleicht dem eines Rehs auf der Flucht vor einem Berglöwen. »Ich habe gerade Milo Burt im Aufzug getroffen und…«

»Und wegen dem bist du jetzt so aufgeregt? Der ist doch gar nicht dein Typ.«

Gwenn schaut mich verständnislos an. »Was? Nein, doch…«

»Was jetzt?«, lache ich.

»Vergiss Milo! Der Chef ist tot!« Gwenn schaut mich an und ich sehe, wie ihr Tränen in die Augen schießen, und mir stockt der Atem. Vor einer Sekunde lachte ich noch über meine Kollegin, die so ungestüm in mein Büro gerauscht kam und mir so Gwenn-like irgendwas sagen wollte und jetzt…

»Was?«, frage ich verständnislos, weil mir das soeben Gehörte völlig unwirklich erscheint.

»Tot, Dayna! Maxwell ist tot. Wahrscheinlich Herzinfarkt! Heute Morgen, einfach so.« Gwenn lässt sich an der Tür nach unten sinken und hockt jetzt da wie ein taubenblaues Häufchen Elend.

»Aber das kann…« beginne ich den Satz und breche gleich wieder ab. »Wie? Warum und…?«, stammle ich.

»Anscheinend auf dem Weg hierher. Frank, sein Fahrer, hat es erst in der Tiefgarage bemerkt und dann war es zu spät.«

»Mein Gott!« Das konnte doch gar nicht wahr sein. Ich habe doch um 9.00 Uhr ein Meeting mit ihm. Und jetzt soll er tot sein? Ich kann’s nicht glauben! Ich stehe auf und nehme ein Taschentuch aus der Box, die auf dem Rollcontainer neben meinem Schreibtisch steht, gehe zu Gwenn und reiche es ihr wortlos, weil mir einfach die Worte fehlen. »Komm steh auf«, sage ich dann, »sonst gibt es noch das nächste Unglück, wenn jemand die Tür unvermittelt aufmacht.« Ich strecke die Hand aus und helfe ihr hoch. Händchen haltend ziehe ich Gwenn zu der kleinen Sitzgruppe neben dem Fenster und platziere sie in einen Sessel. »Gib mir mal das Taschentuch«, fordere ich sie auf und wische damit ihre verlaufene Wimperntusche von den Wangen.

»Danke«, sagt Gwenn mit zitternder Stimme, und die nächsten Tränen machen sich auf den Weg, ihr Make-up zu zerstören.

Ich werfe das Taschentuch in den Mülleimer, hole ein neues und setze mich ihr gegenüber auf die Zweisitzer-Couch. »Verdammt, verdammt!« Mein Blick schweift von Gwenns tränennassem Gesicht durch die deckenhohen Fenster hinunter auf die Park Avenue. Nach der umfangreichen Renovierung des Verlagsgebäudes der Manhattan Newspaper Company vor drei Jahren bin ich in dieses Eckbüro im 6. Stock gezogen, was nicht nur in diesem grandiosen Ausblick seinen Höhepunkt erreichte, sondern auch mit einer Beförderung einherging. Seitdem versuche ich, mit neunundzwanzig Jahren als eine der jüngsten Verlagsleiterinnen der USA, die Geschicke der Manhattan News zu steuern. »Das ist nicht gut«, murmele ich ganz in Gedanken.

»Was meinst du, Dayna?«, fragt Gwenn, die sich jetzt wieder etwas gefangen hat.

»Ich meine, dass das nicht gut ist«, antworte ich und bin mir bewusst, damit den Preis für die Untertreibung des Jahres abgeräumt zu haben.

»Das ist sogar so ziemlich das Schlimmste, was hätte passieren können«, pflichtet sie mir bei. »Das kann den ganzen Verlag in den Abgrund reißen«, ergänzt sie noch und malt damit genau das Schreckensszenario an die Wand, das mir ebenfalls im Kopf herumspukt.

»Dann kann uns wahrscheinlich nur noch Isaac helfen«, sage ich mehr zu mir selbst und versuche ernst zu bleiben, weil diese Möglichkeit vollkommen absurd ist. Isaac Fredrickson, zweiunddreißigjähriger Sohn von Maxwell, abgebrochenes Princeton-Studium, Dauergast in den Klatschspalten der Zeitungen, außer Manhattan News, Modellathlet und Playboy, Beruf: Sohn.

»Der war gut«, meint Gwenn und gönnt sich ein Lächeln. »Der schafft es ja wahrscheinlich noch nicht einmal unfallfrei, seine Schnürsenkel zuzubinden. Wie soll er da einen Verlag führen?«

»Das mach ja eh ich«, antworte ich. »Bis jetzt jedenfalls noch. Wer weiß, was kommt?«

»Ja, wer weiß, was kommt?« wiederholt Gwenn die Frage aller Fragen. Sie steht auf und geht zur Tür. »Ich geh jetzt mal rüber in mein Büro. Da glüht wahrscheinlich schon das Telefon. Muss dann auch ein paar Termine von Maxwell absagen…«

»Kennst du sein Passwort?«, frage ich noch.

»Natürlich nicht! Was denkst du?«

»Dann spreche ich mal mit der IT. Wir sollten, glaube ich, an seine Daten rankommen.«

»Dürfen wir das überhaupt?« Gwenn runzelt die Stirn.

»Berechtigte Frage! Ich frage mal Flannery, der sollte das wissen, aber ich hoffe, da geht das berechtige Interesse des Verlags vor.«

»Mach das, bevor du noch was Illegales anstellst - mit dem Hacken des Chef-Computers.«

Gwenn schließt die Tür diesmal ganz sanft und ich blicke wieder zum Fenster raus. Es hat angefangen zu regnen. Heute wird es wohl nichts mit einem schönen Herbsttag. Der Himmel hat es vorgezogen, dem Anlass entsprechend, zu weinen. Ich greife zum Telefon und wähle die Nummer unseres Anwalts Gordon Flannery von McFaddan Flannery Hager und Partner. Es gibt da ein paar Dinge abzuklären.

 

2

 

Flach oder hoch? Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte mich von oben bis unten. Eigentlich das perfekte Outfit, um einen schönen Abend in einem angesagten Restaurant zu verbringen, in das mich Paul aber nie ausführen wird. Liegt vielleicht daran, dass er sich das erstens als Redakteur in unserem Verlag nicht leisten kann und zweitens erst gar nicht auf die Idee kommen würde, mich in einen teuren Laden zu schleppen. Ich verdränge Paul aus meinen Gedanken und kehre zum aktuellen Problem zurück. Flache Schuhe oder High Heels? Natürlich würden einer meiner schwarzen Hochhackigen perfekt zum schwarzen gerippten Kleid aus Stretch-Jersey passen, das ich vor drei Monaten bei Macy’s für 250 $ ergattert hatte, allerdings weiß ich nicht, wie ich den ganzen Tag in High Heels überleben soll. Ich wechsle wieder zu meinen Ankle Boots und spüre eine sofortige Erleichterung, schaue zum Fenster raus, der Regen klatscht gegen die Scheibe, und habe meine Entscheidung getroffen. Mein Handy auf dem Nachtkästchen fängt an zu vibrieren. Bin da steht auf dem Display. Ich schnappe meinen dunkelgrauen Wollmantel und noch einen Regenschirm, riskiere einen letzten Blick in den Spiegel und verlasse mein Appartement.

Unten in der Lobby hält Ricardo mir die Tür auf, den ich im Vorübergehen grüße, und ich haste über den Gehweg zum Taxi, das glücklicherweise direkt vor dem Gebäude steht. Ich reiße die hintere Tür auf und bin wieder im Trockenen. »Hi Gwenn«, sage ich, umarme sie und drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Für was war der?«, fragt sie lachend.

»Für die Idee mit dem Taxi und für den Abholservice hier gerade.«

»Ach, das ist doch nichts«, wiegelt Gwenn ab und gibt dem Fahrer das Zeichen zum Losfahren. »Und, bist du bereit?«, fragt sie.

»Für so etwas ist man, glaube ich, nie bereit.« Ich schaue sie ernst an und auch ihr Blick verfinstert sich. »Beerdigungen gehen ja eigentlich«, ergänze ich und sehe, wie Gwenn mich erstaunt anschaut. »Na, du weißt schon, wie ich das meine«, sage ich, »man geht hin, hört sich die Lobhudeleien auf den oder die Verstorbene an, anschließend noch Leichenschmaus, und das war es dann. Traurig, aber nicht gerade hochemotional, wenn es sich nicht um Verwandte oder Freunde handelt. Aber jetzt…«

»Tja, jetzt geht es noch um die Zukunft unseres Verlages«, vervollständigt Gwenn meinen Satz.

»Ja, diese Unsicherheit hängt über allem, wie die Regenwolken über uns.« Ich blicke zum Seitenfenster hinaus, an dem das Wasser in Strömen hinabläuft, da es jetzt wie aus Kübeln schüttet. »Und dann natürlich noch die Testamentseröffnung morgen. Da bin ich ja mal richtig gespannt.«

»Du wirst mir dann hoffentlich gleich berichten, wenn du zurück bist.« Gwenn tätschelt mir die Hand.

»Versteht sich von selbst. Obwohl ich immer noch nicht genau weiß, warum ich da überhaupt dabei bin. Flannery hat etwas herumgedruckst und dann gemeint, das wäre nur eine Formalie, weil ich die Verlagsleiterin wäre und somit die aktuell ranghöchste Mitarbeiterin, aber trotzdem komisch.«

»Ich denke, du erbst den ganzen Laden, da Isaac ja offensichtlich keinerlei Interesse an Zeitungen, Verlagen, Lesern, Menschen, an irgendetwas hat.« Gwenn blickt mich mit todernster Miene an.

»Äh?«, ich schaue sie erstaunt an.

»Ja, ist so. Wer soll das Ding sonst übernehmen?«

»Äh, keine Ahnung. Aber…«.

»Eben! Bleibst nur du.« Gwenn schaut mich immer noch ernst an. »Ich seh schon die Schlagzeile: Dayna Fischer, von der jüngsten Verlagsleiterin zur jüngsten Zeitungsverlegerin der USA. Wie hat sie das geschafft?« Jetzt fängst sie doch an zu grinsen und ich merke, dass sie mich auf den Arm nimmt.

»Solange als Antwort dasteht, sie hat sich mit all ihrem Wissen hochgearbeitet, ist alles in Ordnung«, antworte ich und muss auch lachen.

»Aber das wäre schon was?«

»Was wäre was?«, frage ich zurück.

»Na, das mit dem Erbe.«

»Ach so.« Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Ich glaub an Isaac. Der rockt den Laden, wirst sehen.«

»Gott steh uns bei, wenn das passieren sollte. Der räumt erst mal die Redaktionsräume leer und lässt ein paar Fitnessgeräte aufbauen.«

»Dann wird nicht mehr geschrieben und gedruckt, sondern gepumpt und gedrückt. Und weißt du was?«, frage ich.

»Ich weiß nichts mehr«, Gwenn lächelt und zuckt die Schultern.

»Da wäre wahrscheinlich sogar mehr dran verdient als mit Zeitungen«, sage ich.

Gwenn stimmt mir nickend zu. »Nur rote Zahlen und alles rückläufig. Auflage, Anzeigen, nur minus.«

»Zitat Ende! Ich wundere mich auch immer, wie wir so gut vom Drauflegen leben können und vor allem wie lange«, ergänze ich und lasse das letzte Gespräch mit Maxwell am Montag noch mal in Gedanken Revue passieren. Unser Chef malte da ein düsteres Bild für die Verlagsbranche. Aber dafür muss man kein Prophet sein, diese Entwicklung ist ja leider nichts Neues und auch längst noch nicht abgeschlossen. Der Verlag hat auf jeden Fall schon bessere Zeiten gesehen und es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann die ersten Redakteure, Techniker und auch Verwaltungspersonal entlassen werden müssen.

Das Taxi nimmt jetzt die Auffahrt zur Interstate 278, nachdem wir über die Williamsburg Bridge Manhattan verlassen haben. Die Trauerfeier findet in der St. Paul’s Episcopal Church in Glen Cove, draußen auf Long Island, statt. Anschließend fahren wir aber gleich wieder zurück, da die Beisetzung im engsten Familienkreis erfolgt. Allerdings muss ich dann morgen noch mal nach Glen Cove, da die Testamentseröffnung nicht im Verlag, sondern am Familiensitz vorgenommen wird. Dort wohnten Maxwell und seine Frau Karen aber nur am Wochenende, da sie noch eine Suite an der Upper West Side besitzen.

Aber vielleicht ist der plötzliche Tod von Maxwell auch eine Chance für den Verlag, seine verkrustete Struktur aufzubrechen, mache ich mir weiter Gedanken um die Zukunft. Der Laden hätte es nämlich verdammt nötig, einmal komplett neu durchstrukturiert zu werden, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn ich doch nur so könnte, wie ich will, denke ich und murmle vor mich hin, »so eine Chance kommt nie wieder«, als wir gerade auf der Interstate 495, dem Long Island Expressway, an Flushing Meadows vorbeibrausen.

»Was für eine Chance kommt nicht mehr und wer hat sie?«, fragt Gwenn, die jetzt ihren Blick vom Seitenfenster abwendet.

Überrascht schaue ich sie an, da ich weder mitbekommen habe, dass ich laut nachgedacht habe, noch, dass Gwenn so aufmerksam ist.

»Unsere Chance«, antworte ich. »Hoffentlich.«

»Meinst du damit die Chance, pünktlich zur Beerdigung zu kommen?« Gwenn blickt nach vorne, wo Bremslichter nichts Gutes verheißen.

»Das wär’s noch, wenn wir zu spät kommen.«

»Ich sehe uns schon in die voll besetzte Kirche hineinstolpern, wenn der Pfarrer seine Predigt hält«, sagt Gwenn und lässt meinen Puls in die Höhe schnellen.

»Ein Albtraum!«

»Bei dieser Art von Beerdigung bestimmt.«

»Bei welcher Art von Beerdigung ist denn das Zuspätkommen nicht peinlich?«, frage ich erstaunt.

»Peinlich ist es immer, wenn es denn bemerkt wird. Bei der Beerdigung von meinem Onkel Hal vor ein paar Jahren bin ich auch erst zwanzig Minuten nach Beginn angekommen, aber es herrschte so ein Trubel bei der Trauerfeier, dass das gar nicht aufgefallen ist.«

»Das glaube ich. Das kannst du aber auch nicht vergleichen. Das wird heute bestimmt eine, im wahrsten Sinne des Wortes, traurige Veranstaltung.«

»Wahrscheinlich. Ich denke auch nicht, dass da ein Gospel-Chor auftritt und Leute aufspringen oder mitklatschen.«

»Ganz bestimmt nicht.« Ich klopfe an die Scheibe des Fahrers, als wir zum Stehen kommen. »Wie lange wird das ungefähr dauern?«, frage ich in der Hoffnung, dass der Fahrer den Verkehrsfunk angehört hat.

»Sind ungefähr zwei Meilen stockender Verkehr. Zwanzig Minuten, wenn es gut läuft.«

»Okay. Danke.« Das wird knapp, könnte aber reichen, wenn der Fahrer mit seiner Prognose recht hat.

»Wird ganz schön eng«, meint auch Gwenn. »Hätten doch früher fahren sollen.«

»Tja, wenn man’s immer wüsste.«

Siebenundzwanzig Minuten später verlassen wir die Interstate bei East Hills und fahren die Glen Cove Road nach Norden. »Noch sechs Meilen«, sagt unser Fahrer und ich blicke beruhigt auf meine Apple Watch. Das muss locker reichen. Gwenn hat sich während des Staus ein kleines Nickerchen gegönnt und ich wecke sie sanft, indem ich ihre Hand streichle. Mit verträumtem Blick öffnet sie die Augen und blickt sich um.

»Gut geschlafen?«, frage ich.

»Ja, doch.« Sie gähnt herzhaft. »Ein kleiner Schönheitsschlaf wirkt Wunder.«

»Den hast du doch gar nicht nötig.«

Sie grinst mich an. »Sind wir runter vom Freeway?«, wechselt sie das Thema.

»Ja, gerade. Und wir kommen pünktlich!«

»Gott sei Dank!« Gwenn öffnet ihre schwarze Givenchy Antigona Mini, die sie zu Weihnachten von ihrem Freund bekommen hatte, wie sie mir stolz erzählt hat, als wir zu viert, Gwenn, ihr Freund Marcus, ich und Paul bei Tamarind, unserem Lieblings-Inder in Tribeca, das neue Jahr begrüßten. Ich sagte ihr nicht, dass mir die Tasche nicht gefällt, musste aber neidlos anerkennen, dass Paul bis jetzt auf SO ETWAS noch nie gekommen war. Ist allerdings auch nicht seine Preisklasse. Ich habe mich trotzdem über die Theaterkarten gefreut, die er mir geschenkt hat.

Gwenn kramt einen kleinen Schminkspiegel aus der Tasche und checkt ihr Make-up. »Alles klar. Kann losgehen, bin bereit.«

»Kann ich auch mal«, frage ich und Gwenn reicht mir den Spiegel. Auch bei mir hat die Fahrt keine Spuren hinterlassen. »Hab mal wasserfestes Make-up aufgelegt. Mal sehen, ob es hält, was der Preis verspricht.«

»Es hat doch schon aufgehört zu regnen. Ich glaube da kommt nicht mehr viel nach.« Gwenn schaut zur Heckscheibe raus und wie auf Kommando blitzt die Sonne aus der jetzt lückenhafte Wolkendecke.

»Das ist auch nicht wegen dem Regen…«, antworte ich.

»Oh, ja. Tränenreich kann es natürlich auch werden. Bin bei so was auch nah am Wasser gebaut.«

»Ich heul wahrscheinlich Rotz und Wasser«, versuche ich gleich mal vorzubeugen, »und wenn dann vielleicht noch Enkel ins Spiel kommen, die für ihren Opa eine selbstverfasste Geschichte zum Besten geben, bin ich ganz raus.«

»Welche Enkel meinst du?«, fragt Gwenn und schaut mich überrascht an.

»Äh, gute Frage. Egal. Hab ich auf jeden Fall schon einmal erlebt und das war echt hart.«

»Dieses Risiko geht heute gegen null. Es sei denn, Isaac zaubert welche aus dem Hut.« Gwenn gluckst und vertreibt die trübe Stimmung.

»Wir sind gleich da«, kommt von vorne die Ansage des Fahrers und wir stecken die Köpfe so weit vor, dass unsere Nasenspitzen fast die Trennscheibe zum Fahrer berühren, um ja nichts zu verpassen. Dann sehen wir rechts die St. Paul’s Episcopal Church auftauchen und das Taxi hält an. Gwenn bezahlt den Fahrer und wir steigen uns. »Erinnere mich bitte daran, dass ich dir später die Hälfte gebe«, sage ich, während wir den vielleicht fünfzig Meter langen Weg zur Kirche ansteuern.

»Worauf du dich verlassen kannst«, grinst Gwenn und hakt sich bei mir unter, weil Sie mit ihren Hochhackigen sonst nicht mit mir Schritt halten kann. »Sieht aus wie eine Burgbelagerung im Mittelalter.«

Und tatsächlich hat der Kirchturm aus rötlichen Backsteinen mit seinen Zinnen oben als Abschluss eher etwas von einer englischen Burg als von einer Kirche. Und es findet definitiv auch so eine Art Belagerung statt, da ein Pulk schwarz gekleideter Menschen vor der Kirche steht und auf Einlass wartet. Mein Puls geht etwas nach oben, als wir uns den Wartenden nähern und uns ganz hinten anstellen. Ungefähr zehn Meter weiter vorne, etwas seitlich, sehe ich ein bekanntes Gesicht und mache Gwenn darauf aufmerksam. »Flannery ist auch schon da«, flüstere ich und deute mit dem Kinn in Richtung des Anwalts.

Gwenn, die mit ihren Mörderabsätzen etwas größer ist als ich, reckt sich noch etwas nach oben und späht über die Menschen. »Seh ihn nicht, aber dafür jemand anderen. Schau mal ganz nach vorne zum Eingang, wer da neben dem Pfarrer steht.«

Nach Gwenns Einlass dreht sich ein älteres Ehepaar zu uns nach hinten und schaut von oben herab und etwas pikiert, wie es mir vorkommt. Da ich die beiden nicht kenne, versuche ich die Blicke zu ignorieren und mache stattdessen ebenfalls meinen Hals lang. »Seh nix mehr«, flüstere ich Gwenn zu und linse zu unseren neuen Freunden vor uns. Sie lassen sich aber nichts mehr anmerken, wenn sie es denn gehört haben. »Da haben sich gerade zwei Riesen reingedrängelt. Wer ist es denn?«

»Unser verhinderter Kindsvater«, antwortet Gwenn und ich muss mich wirklich beherrschen, nicht loszulachen, lasse aber ein kleines Kichern hören. Jetzt dreht sich der Mann doch zu uns um und schaut uns streng an.

»Können Sie das bitte lassen! Das ist eine Beerdigung!«

»Selbstverständlich«, sage ich, »Bitte entschuldigen Sie.«

Gwenn rammt mir ihren Ellbogen in die Seite, als er sich wieder umgedreht hat. »Beherrsch dich mal ein bisschen, Dayna«, grinst sie mich an.

»Na, mischt ihr mal wieder die Veranstaltung auf?« Zwischen meinem und Gwenns Kopf taucht ein weiterer auf und verschwindet sofort wieder. Wir drehen uns beide um und starren zu Ray Pooler hoch, der uns um eine Haupteslänge überragt. Der Chefredakteur des Manhattan grinst breit und lässt seine makellosen Zahnreihen aufblitzen.

»Hey Dead«, begrüßt ihn Gwenn mit seinem Spitznamen und gibt ihm links und rechts ein Küsschen. Vor zwei Jahren hatten die beiden ein paar Wochen etwas miteinander und seitdem ein ausgesprochen gutes Verhältnis zueinander – trotz gescheiterter Beziehung, was ich aber auf den Altersunterschied von fünfzehn Jahren zurückführe.

»Hallo Ray, du kommst spät«, sage ich und spiele auf unser kleines Battle an, das zu jedem Meeting ansteht, an dem wir beide teilnehmen. Allerdings bin ich seit geraumer Zeit auf der Verliererstraße, da ich es leider selten pünktlich schaffe und dann meistens reinplatze. »Klarer Punktsieg für mich.«

»Aber nur heute, Dayna, und mein Vorsprung ist fast uneinholbar.«

»Wir werden sehen. Ich bleib dran.«

»Habt ihr schon gesehen, wer da vorne neben dem Pfarrer, seiner Mutter und Schwester steht?«, fragt Ray.

»Hast du auch irgendwelche Neuigkeiten?«, zieht Gwenn ihn auf. »Klar«, ergänzt sie noch. »Schauen wir mal, ob das jahrelange Fitnessstudio seinen Handschlag kräftig gemacht hat.«

»Der war gut«, sagt Ray, »dann halte mal schön dagegen. Pass aber mit deinen schwarzen Krallen auf.«

»Ich gebe ihm ja nur die Hand und kratze ihm nicht die Augen aus«, Gwenn überlegt kurz, »wobei – vielleicht doch.«

Jetzt bin ich diejenige, die meiner Freundin und Kollegin einen Klaps mitgibt.

»Aua!«, ruft sie viel zu laut aus, was sofort wieder einen bösen Blick des Mannes vor uns nach sich zieht. »Entschuldigung«, sagt sie noch und zieht eine Grimasse, als der Mann wieder nach vorne schaut.

»Was seid ihr denn so aufgedreht?«, fragt Ray, »ihr benehmt euch ja wie Teenager. Kommt mal wieder runter, wir sind gleich dran.« Er deutet nach vorne, und wirklich, wir stehen keine fünf Meter vor dem Empfangskomitee und ich setze eine neutrale Miene auf. Auch Gwenn schaut sofort ernst und unsere kurze ausgelassene Phase ist so schnell vorüber, wie sie aufgekommen war.

Und dann ist es so weit. Das Ehepaar vor uns hat den Kondolenzreigen beendet und die Frau trocknet sich die Tränen, während ihr Mann sie in die Kirche führt, und wir sind dran. Gwenn stöckelt nach vorne und drückt den vor ihr Stehenden ihr Beileid aus. Dann wird es ernst und ich schreite nach vorne. Der Pfarrer steht ganz rechts und ich nicke ihm nur kurz zu. Links neben ihm Karen Fredrickson und man sieht ihr an, dass die letzten Tage sie an die Grenze gebracht haben. Der Tod hat dreiundvierzig Jahre Bündnis zerrissen und ihr ihren Maxwell genommen. »Es tut mir so unendlich leid«, bringe ich gerade so heraus, bevor mir ein Kloß die Kehle zuschnürt.

»Danke, Dayna. Danke, dass sie gekommen sind«, sagt sie und ihre Stimme klingt sehr fest, was aber im Widerspruch zum Ausdruck in ihren Augen steht. Ich habe sie das letzte Mal beim traditionellen Sommerfest im Verlag getroffen. Dort machte sie mit ihren zweiundsechzig Jahren auf mich einen starken und fröhlichen Eindruck, als wir am Buffet standen und uns länger unterhalten haben. Davon war jetzt verständlicherweise nichts mehr zu spüren.

Ich nicke und wende mich an Iris, die zweiundzwanzigjährige Tochter, die ich heute zum ersten Mal treffe. »Mein Beileid«, sage ich.

»Danke«, antwortet sie mit ruhiger Stimme und zeigt sogar ein kleines Lächeln. Dann wendet sie ihren Blick schon ab und schaut an mir vorbei, wobei ich mir schon denken kann, wer da die Aufmerksamkeit der Verleger-Tochter so schnell auf sich gezogen hat. Hinter mir wartet schließlich Ray Pooler, der durch seine imposante Erscheinung und sein Aussehen, das am ehesten einer Mischung aus Idris Elba und Jamie Foxx entspricht, schon so manche Herzen gebrochen hat – wie man hört. Wenn Intelligenz auf ein blendendes Aussehen trifft, war das noch nie eine schlechte Kombination. Pass gut auf dich auf Mädchen, denke ich noch, gehe einen Schritt zur Seite und blicke in das Gesicht von Isaac. Ich habe ihn vor knapp vier Jahren das letzte Mal gesehen, als sein Vater mich ihm im Verlag kurz vorgestellt hatte und habe ihn deutlich schmäler in Erinnerung. »Mein Beileid«, sage ich und reiche ihm die Hand, was ich bei den restlichen Fredricksons nicht gemacht habe. Komisch.

»Danke.« Auch er lächelt kurz. »Wir kennen uns.«

»Ja, ihr Vater hat Sie mir vor ungefähr vier Jahren mal vorgestellt«, gebe ich meinen Gedankengang von gerade zum Besten.

»Genau. Sie sind unsere Verlagsleiterin.«

Ich erschrecke kurz und hoffe, dass Isaac das nicht merkt. Unsere Verlagsleiterin. Die Worte hallen bei mir nach. Warum unsere? Seit wann spricht Isaac so vom Manhattan. »Ja, die bin ich«, sage ich nur.

»Na, dann werden wir ja künftig einiges miteinander zu tun haben.« Er macht eine kurze Pause, in der mein Universum implodiert. »Danke, dass sie gekommen sind!« Das ist dann wohl mein Zeichen und ich gehe an ihm vorbei zum Kirchenportal. Hinter mir höre ich ihn, wie er unseren Chefredakteur begrüßt. »Hallo Ray, oder soll ich Dead sagen? Passt heute besser. Schön, dass du es einrichten konntest.« Wirklich, was für ein passender Spitzname bei einer Beerdigung, denke ich und stürze in die Kirche angesichts dieser verbalen Geschmacklosigkeit von Isaac. Ich sehe Gwenn winken, die rechts in einer Kirchenbank sitzt, und ich steuere auf sie zu, alles und jeden um mich herum ignorierend.

»Was machst du denn so lange da draußen?«, fragt sie mich leise, als ich mich neben sie setze. »Was ist denn los? Du schaust, als hättest du den Leibhaftigen gesehen – und das hier.«

»Das ist nah dran«, sage ich und rutsche näher zu ihr hin. »Wir haben ein Problem!« Ich erzähle ihr schnell und ganz leise, diese, in meinen Augen, Ungeheuerlichkeit, die ich aus den Worten Isaacs herausgehört zu haben glaube. »Der will sich den Verlag unter den Nagel reißen«, schließe ich meine Ausführungen, die Gwenn mit ungläubigem Staunen verfolgt.

»Halleluja«, kommentiert sie gewohnt treffend und schaut nach vorne zum Altar, neben dem der geschlossene Sarg unseres Verlegers steht. »Hörst du dieses rotierende Geräusch?«

Ich blicke sie von der Seite an, kurz ratlos angesichts dieses plötzlichen Themenwechsels. »Welches Geräusch?«

»Das ist Maxwell, er rotiert…«

»Gwenn!« Ich gebe ihr einen Klaps auf ihren Schenkel. »Das ist nicht witzig.«

Sie grinst mich an. »Doch, ist es. Und schau mal«, sie deutet mit dem Kinn nach links vorne und ich folge ihrem Blick. »Isaac sammelt seine Truppen.«

Ray Pooler entert gerade die zweite Kirchenbank und setzt sich neben Flannery, direkt hinter die für die Fredricksons reservierte Bank. »Anwalt, Chefredakteur, wer fehlt da sonst noch?«, frage ich, ohne auf eine Antwort zu hoffen.

»Na, ist doch klar, oder?«, fragt Gwenn mich und ich kann nur verständnislos dreinschauen. »Na, du fehlst«, sagt sie, »die Verlagsleiterin.«

»Niemals!« Entschlossen blicke ich meine Kollegin an. »Nicht mit diesen Vaterlandsverrätern!«

»Uhh, das ist hart.«

»Aber gerecht.« Ich ziehe eine Grimasse. »Kann das jetzt endlich mal losgehen? Sind ja hier nicht zum Vergnügen.«

»Amen!«

Wie auf Kommando schreitet Familie Fredrickson zusammen mit dem Pfarrer den Mittelgang entlang und setzt sich in die erste Reihe. Der Pfarrer geht am Sarg vorbei und verschwindet in der Sakristei. Keine Minute später erklingt die Orgel, der Pfarrer kommt wieder hervor und bleibt neben dem Sarg stehen. Er breitet seine Arme aus und fordert uns auf, uns zu erheben. »Wird auch langsam Zeit«, sage ich eigentlich viel zu laut, was aber im Gemurmel und Geraschel der Trauergemeinde untergeht. Zum Glück.

 

Nach einer Stunde trauriger Lieder, teils qualvoll langer Lobpreisungen auf den Verstorbenen und einer würdevollen Predigt des Pfarrers ist der Trauergottesdienst zu Ende. Wir strömen durch das Kirchenportal, während die Familie Fredrickson noch in der Kirche bleibt und anschließend den Sarg zum Grab geleiten wird. Die Stimmung ist insgesamt dem Anlass entsprechend gedrückt, und ich versuche Gwenn zu finden, die nach rechts die Kirchenbank verlassen hat, während ich links zum Mittelgang rutschte. Statt Gwenn laufe ich Stuart Coyle in die Arme, meinem Pendant bei der Times.

»Hi Dayna, lange her«, begrüßt er mich und reicht mir seine Hand.

»Allerdings! Ein oder zwei Jahre?«

»Zu lange, auf jeden Fall. Aber wir telefonieren ja gelegentlich. Geht es Ihnen gut?«

»Na ja, wie es einem so geht auf der Beerdigung seines Chefs«, antworte ich etwas irritiert.

»Ja, tragische Geschichte. Kein Alter – eigentlich.«

»Nein, und er hatte noch so viel vor, sagt man jetzt normalerweise.« Ich verziehe das Gesicht, weil ich nicht weiß, wie der Spruch bei meinem Gegenüber ankommt. Aber der winkt nur mit seiner linken Hand ab, denn, wie ich jetzt erst feststelle, hält er meine rechte immer noch fest umschlossen.

»Kommen Sie mal mit«, sagt er und zieht mich hinter sich her auf den grünen Rasen vor der Kirche. Da ich mich nicht losreißen möchte, folge ich ihm notgedrungen.

»Ich glaube, hier ist es verboten, den Rasen zu betreten«, sage ich und fühle mich wie auf dem Präsentierteller.

»Ach was!« Wieder winkt er ab, diesmal mit seiner rechten Hand, denn er hat mich tatsächlich losgelassen. »Wie sieht’s aus bei Ihnen? Zeit für einen Wechsel!?«

Daher weht also der Wind. Ein Abwerbungsgespräch, noch bevor mein Chef unter der Erde ist. »Was hätte ich davon? Außer unter Ihnen zu arbeiten, versteht sich.« Eigentlich mag ich solche Gespräche. Man ist in einer komfortablen Situation,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Shona Wolf
Cover: Covergestaltung: VercoDesign, Unna
Lektorat: Beate Rau
Korrektorat: Beate Rau
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1267-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dies ist eine fiktive Geschichte. Alle handelnden Personen, alle Begebenheiten und Dialoge sind, abgesehen von den gelegentlich erwähnten Markenprodukten und Unternehmen, frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten, sonstigen Begebenheiten oder die Schmähung der Produkte oder Dienstleistungen der genannten Firmen wären völlig unbeabsichtigt.

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