Guten Morgen, Phil! Hoch mit dir, Schlafmütze!
Ich starre auf mein iPhone, das mich gerade durch das Brummen der eingehenden Whatsapp-Nachricht geweckt hat. Eva. Sie scheint heute Morgen gute Laune zu haben. Ich überlege nur eine Sekunde und entscheide dann, ihr nicht zu antworten. Da mein Wecker erst in zehn Minuten klingelt, lege ich das Handy auf den Boden, in der Hoffnung, dass Eva eins und eins zusammenzählen kann. Aber natürlich hat sie auch gesehen, dass ich die Nachricht gelesen habe. Ich mache die Augen zu und versuche, nicht an Eva zu denken, was mir allerdings echt schwer fällt, da ich zurzeit immer an sie denke. Wir gehen seit der Achten in die gleiche Klasse, aber eigentlich nehme ich sie erst jetzt, in der Zwölften, so richtig wahr. Das liegt, wie ich vermute, einmal daran, dass wirklich alle Jungs aus unserer Stufe hinter ihr her sind, und natürlich, dass sie in einigen Kursen neben mir sitzt und das irgendwie auch noch toll findet. Und mir gefälltʼs auch, muss ich zugeben. Werde heute mal auf Tuchfühlung gehen.
Der Wecker reißt mich aus meinen Eva-Träumen. Wieder mal eine dieser Nächte, in der ich beschissen geschlafen habe. Wie so oft in letzter Zeit. Keine Ahnung, an was das liegt. Vielleicht am kommenden Abi-Stress. Obwohl ich gar keinen Stress verspüre. Noch nicht, jedenfalls. Meine Noten sind herausragend, meine Selbstkontrolle gerade in Ordnung (mehr aber auch nicht), das Verhältnis zu meiner Schwester optimal und das zu meinen Eltern normal. Also alles bestens. Eigentlich. Bis auf meine Probleme. Aber derjenige, der keine Probleme hat, der werfe den ersten Stein. Kann aber sein, dass ich ihn fange und zurückwerfe. Und ich versprechʼs – ich treffe.
Ich quäle mich aus dem Bett, schnappe mir meine Klamotten, die ich mir gestern Abend noch zurechtgelegt habe, und schlurfe ins Bad. Auf dem Gang treffe ich meinen Dad.
»Guten Morgen Phil!«
»Morgen!«
»Ciao! Bis heute Abend!«
»Bis denne.« Jeden Morgen der gleiche Dialog. Ich stehe auf und mein Vater verlässt das Haus. Schraubt am Band Autos zusammen. Und das seit Jahren. Immer die gleiche Uhrzeit. Immer Guten Morgen und dann Ciao. Abends ist es mit der Konversation meistens nicht viel besser. Ich gebe aber zu, dass das an mir liegt. Brauche abends einfach meine Ruhe und entziehe mich deshalb den Fragen meiner Eltern immer durch die konsequente Flucht in mein Zimmer. Ich glaube, sie haben es schon lange aufgegeben, mir Geheimnisse über mein Leben zu entlocken. In dem Punkt kann ich nämlich sehr verschlossen sein. Und in meiner Schwester Melle habe ich eine Verbündete, die mir nicht in den Rücken fällt und irgendwelche News aus der Schule, die mich betreffen, unseren Eltern erzählt. Da kann ich mich total auf sie verlassen. Und sie sich natürlich auch auf mich. Geht auch gar nicht anders, denn sonst würde hier ziemlich schnell mein Kartenhaus zusammenbrechen.
Im Bad brauche ich fast zwanzig Minuten, nachdem ich vor einem halben Jahr angefangen habe, mich nass zu rasieren. Das stieß bei den Damen des Hauses natürlich nicht auf Gegenliebe, da ich, ihrer Meinung nach, das Bad unnötig blockiere. Was soll’s. Manchmal muss ein Mann eben tun, was ein Mann tun muss. Als ich den Spruch an einem Wochenende am Frühstückstisch rausgehauen habe, verschluckte sich Melle fast an ihrem Müsli vor Lachen und meine Mutter meinte, dass sie den Spruch im Zusammenhang mit Rasieren noch nie gehört hätte. Ich fand ihn passend und mein Vater nickte anerkennend, obwohl er überzeugter Trockenrasierer war. Das Herumgemansche am Morgen würde ihm viel zu lange dauern. Wo wir wieder beim Badblockieren wären.
Nach dem Bad gibt es Frühstück, das mir meine Mutter richtet und dann wieder ins Bett kriecht. Sie arbeitet auf der Gemeinde und fängt erst um halb neun an. Ich brauche morgens was im Magen, sonst würde ich die Bus- und Bahnfahrt zur Schule wahrscheinlich nicht überleben. Meistens gibt es was mit Nutella, selten Müsli, Wurst oder Käse nie. Mein Zuckerhaushalt muss morgens gleich den nötigen Pegel erreichen.
Dann mache ich mich auf die Socken. Vorher strecke ich noch den Kopf zu Melle rein. Schläft. Ich flüstere einen Abschiedsgruß und schließe ihre Tür wieder ganz leise, damit ich sie nicht wecke. Sie hat heute erst zur dritten Stunde Schule und darf noch etwas länger schlafen, die Glückliche.
Der Ablauf meines Morgens steht fest. Sechs Minuten zu Fuß bis zur Bushaltestelle, zwölf Minuten mit dem Bus zum Bahnhof in die nächste Stadt und dann mit der S-Bahn in die City, Haltestelle Stadtmitte. Anschließend U-Bahn und noch mal fünf Minuten zu Fuß zum Hartmann-von-Aue-Gymnasium. Und das nun schon seit fast neun Jahren. Inklusive Ehrenrunde in Klasse 8, die ich mir auch gründlich erarbeitet hatte. Meine Eltern und meine Lehrer sind damals schier verzweifelt, aber mir war es egal. Damals.
Ich verzichte heute auf eine Jacke. Mein Hoodie ist warm genug und außerdem ist Frühling. Man muss die Sonne auch ein bisschen provozieren.
Eine Minute bevor der Bus kommt, erreiche ich die Haltestelle. Da um diese Uhrzeit nicht viel los ist, geht es ohne Gedränge durch die Vordertür in den Bus. Freundlich grüße ich den Busfahrer, der meinen Gruß erwidert und wieder gelangweilt nach vorne schaut. Man kennt sich schließlich seit Jahren.
Im Bus starre ich auf mein iPhone. Der Klassen-Chat ist schon in vollem Gange. Ich beteilige mich aber nicht, sondern lese nur mit. So früh am Morgen habe ich nämlich noch keinen Bock auf Lehrer-Bashing. Nach dem fünften Fuck Dr. Schmid, unser Chemielehrer und gleichzeitig mein Lieblingslehrer, betätige ich die Bildschirmsperre und schaue mich um. Die üblichen Verdächtigen sitzen im Bus, wie eh und je. Alle meistens am gleichen Platz. Ich auch. Stammplatz. Vierte Reihe rechts. Zwei Reihen vor mir die große Brünette. Vielleicht 25. Zu alt, verdammt! Steigt zwei S-Bahn-Stationen vor mir aus. Sekretärin oder so, was die immer für Klamotten anhat. Daneben, aber über dem Gang, der 45-jährige Typ, mit Mütze, Brille und immer im Spiegel lesend. Quetscht sich in den Sitz auf dem Radkasten, obwohl er da eigentlich überhaupt keinen Platz hat. Verrenkt sich die Glieder und liest und liest. Hinten im Bus sitzt dann noch der Lausbub. Den nenn ich so, seit ich einmal neben ihm gesessen bin, weil echt nichts anderes frei war. Schwerer Fehler! Mich juckt es schon, wenn ich den jetzt nur sehe. Total verfilzte Haare und ich will echt nicht wissen, was auf dem alles lebt. Planet Lausbub. Ich hab mal aus sicherer Entfernung beobachtet, wie sich so ein mega-hübsches Mädel neben den gesetzt hat. Ich wollt ihr noch was zurufen und sie warnen, dass das einen Grund hat, dass der Sitz neben ihm frei ist und alle anderen lieber stehen, aber es war zu spät. Na ja, sie ist nach zwei Haltestellen wieder ausgestiegen. Ich glaube sie hat gar nicht gemerkt, wie der sie immer von der Seite angegafft hat. Der hat sein Glück wahrscheinlich gar nicht fassen können. Ich mach auf jeden Fall immer einen großen Bogen um ihn. Will schließlich nicht an irgendeiner schon längst ausgerotteten Krankheit zugrunde gehen.
Und dann gibt es natürlich jede Menge Leidensgenossen. Fahren aber alle nicht so weit wie ich. Hab noch keinen gesehen, der von hier in die City reinfährt. Bin halt ein Exot. Außer es fährt Melle mit. Ich nenn sie Melle, weil Melanie ist irgendwie total out. Melle gefällt mir und ihr auch. Hat sich bei uns in der Familie auch so durchgesetzt. Sie ist drei Jahre jünger als ich und verdammt hübsch. Hab meinen Eltern versprechen müssen, auf sie aufzupassen. Heute muss sie es alleine in die Schule schaffen. Aber, kein Problem. Heimwärts fahren wir wieder zusammen. Und hier im Bus gab es noch nie Probleme. Sind alle noch viel zu müde.
So, jetzt sind wir da. Ich sehe im Vorbeifahren auf die Bahnhofsuhr. Scheiße! Wir sind mal wieder spät dran. Da in einer Minute die S-Bahn kommt, stehe ich schon mal auf und kämpfe mich zur hinteren Tür durch, was nicht allen passt. Sollte heute aber nicht zu spät kommen. Schreiben Mathe. Die Tür geht auf und das Gedränge beginnt. Jetzt hat es auch der Letzte begriffen, dass es zeitlich eng wird. Ich schaff es gerade noch, einen Typen zwischen mich und Lausbub zu drücken. Das hätte mir noch gefehlt, dass der mich jetzt kontaminiert. Da ist die hintere Treppe und ich steige die erste Stufe runter und bekomme von hinten mit voller Wucht einen Stoß. Die letzten beiden Stufen segel ich runter, fliege durch die offene Tür und ramme die Brünette auf dem Gehweg. Ging durch die Vordertür wohl doch schneller. Gemeinsam gehen wir zu Boden und sortieren unsere Körperteile.
»Sorry, nicht meine Schuld. Mich hat jemand gestoßen.« Ich rapple mich hoch und berühre, nicht ganz zufällig, mit meiner linken Hand ihr freigelegtes Knie. Oh Mann! Am liebsten würde ich mich auf sie werfen. Stattdessen helfe ich ihr auf die Beine.
»Schon gut. Kein Problem.« Sie lächelt mich kurz an und fängt dann auf ihren hohen Hacken an zu rennen, da die S-Bahn schon im Bahnhof steht. Tja, da sollte ich auch mal lieber los.
»Sorry, hey! War keine Absicht.« Ein Typ hinter mir hält mich fest. Gott sei Dank nicht Lausbub. Aber ich will eigentlich nur weg.
»Danke, Alter, mit der wollte ich schon lange mal ins Gespräch kommen.«
Ich reiß mich von ihm los und renn ebenfalls über die Straße, die Treppe runter, den Tunnel entlang, die nächste Treppe rauf und dann – Vollbremsung. Vor mir geht die beschissene S-Bahn-Tür zu und ich komme zu spät zur Matheklausur. Durch das Türfenster sieht mich die Brünette und lächelt mich heute schon zum zweiten Mal an. Okay, das war es wert. Komm ich halt zu spät. Morgen früh im Bus muss ich die mal fragen, ob sie irgendwelche Wunden von unserem Aufeinandertreffen davongetragen hat. Ich habe jedenfalls eine große Wunde. Mein Herz wurde gerade rausgerissen und fährt jetzt in der S-Bahn spazieren.
»Shit, doch zu spät!« Der Typ, der mich aus dem Bus befördert hat, steht hinter mir und keucht.
Eigentlich will ich ihm jetzt eine in die Fresse hauen, aber ich denke an das Lächeln der Brünetten und vergebe ihm. Vielleicht schmeiß ich ihn dafür morgen aus dem Bus. Oder stoße ihn vor einen heranrauschenden Zug. Oder umarme ihn, da er mich auf die Liebe meines Lebens gestoßen hat. Werde ich morgen entscheiden. Jetzt heißt es erst mal warten.
Der Bahnsteig ist nicht sehr voll, denn die meisten haben es doch in die S-Bahn geschafft. Mit ein paar anderen steh ich doof in der Gegend rum, und versuche mir eine viertel Stunde lang, die Zeit zu vertreiben. Ich will mir irgendeine Ausrede für das Zuspätkommen zur Matheklausur zurechtlegen, komm aber auf nix Sinnvolles, außer der Wahrheit: Beim Bus geht die Tür auf, ich werde gestoßen, segel auf den Gehweg, lande auf einem Chick und verpasse dadurch die S-Bahn. Ich sehe jetzt schon den skeptischen Blick meines Mathelehrers vor mir. Herr Richter, ich weiß, voll krasse Story, aber echt wahr. Ich schwör.
Will grad den Dialog weiterspinnen, als die 15 Minuten auch schon um sind. Die S-Bahn kommt und die Türen gehen auf. Ich checke schnell den Bereich auf freie Plätze und, wichtiger, freie Mädels. Von beiden gibt es leider gar nix und ich lehne mich an die Zwischenwand des Waggons. Neben mir steht ein Langhaariger mit einem Fahrrad (!!!), um diese Uhrzeit, und versucht seinen Bock irgendwie festzuhalten. Den kenn ich gar nicht. Aber wegen dem Fahrrad kann eine komplette Klappbank nicht runtergeklappt werden, was ja eigentlich okay ist, da er im Bereich für Fahrräder steht, aber doch nicht mitten in der Rushhour! Neben mir steht ein Büroheini und fixiert den Fahrradmann. Das könnte noch interessant werden, denke ich mir, als es auch schon losgeht.
»Sie dürfen um diese Uhrzeit kein Fahrrad mit in die S-Bahn nehmen«, sagt die Krawatte.
Der Angesprochene reagiert erst gar nicht und es vergeht fast eine Ewigkeit, bis er mal den Kopf dreht, allerdings nicht in die Richtung von Krawatte.
»Wegen Ihnen müssen jede Menge Leute stehen«, probiert es der Typ erneut. Der ist wohl am frühen Morgen schon auf Krawall gebürstet. Ich sehe, wie seine Adern am Hals, direkt über seinem Hemdkragen, anschwellen. Wieder keine Reaktion. Im Gegenteil, der Radfahrer dreht sich jetzt wieder weg und ich will ihm gerade die Coolness-Medaille verleihen, als ich den Grund für die Lockerheit sehe. Der hört nix. Unter seinem Fahrradhelm kommen Kabel raus, die in seiner Jackentasche enden.
»Hey, der Mann hier hat was zu Ihnen gesagt«, eröffne ich die zweite Runde im Kampf Öko vs. Banker und tippe dem Öko auf die Schulter. Ich sag das so laut, dass jetzt einige Köpfe herumfliegen und der rechten Ecke mit dem Banker die volle Aufmerksamkeit zuteil wird. Der schaut mich blöd an und versucht, mich einzuordnen. Derweil fängt der Öko an, sich auf das Verlassen seiner linken Ecke vorzubereiten, da wir an die nächste Haltestelle heranrauschen. Sieht ganz nach einem Sieg des Ökos aus, obwohl er mehr durch Passivität glänzt als durch Technik.
Die S-Bahn hält mit einem Ruck an und wir werden kurz durchgeschüttelt. Da der Öko sich aber nur an seinem Rad festhält und sonst nirgends, gerät er ins Straucheln und kippt mit dem Rad zur Seite, genau in die rechte Ecke. Krawatte lässt sich diesen unerwarteten Gegenangriff kurz vor dem Schlussgong natürlich nicht bieten und stößt den Angreifer zurück in die linke Ecke. Leider, leider übersieht er, dass sich seine Hose am Kettenkranz eingehakt hat. Der Rest geht in einem wilden Durcheinander und spitzer Schreie der anwesenden Nummerngirls unter. Irgendwie schafft es der Öko, sich aus dem Griff (eigentlich sind wir beim Boxen und nicht beim Catchen) zu befreien und durch die jetzt offene S-Bahn-Tür ins Freie zu gelangen. Die Tür geht wieder zu und der Kampf ist vorbei. Sieg nach Punkten geht an die linke Ecke. Die rechte leckt noch ihre Wunden.
Im ganzen Chaos sehe ich plötzlich einen freien Platz ein paar Meter weiter und steuere auch schon darauf zu. Zu spät. Ein Junge schnappt mir den Platz weg. Vielleicht sechste Klasse, Typ Muttersöhnchen. Das wird einfach. Ich geh ganz nah an ihn ran und schau böse auf ihn hinunter. Angsterfüllt schaut er mich an.
»Wollen Sie sich setzen?«, fragt er mich und siezt mich auch noch. Höchststrafe.
»Was glaubst du denn?« Ich zeige ihm mit dem Daumen, wo er sich hinverziehen soll.
Er packt seinen Ranzen und trollt sich.
Ich setze mich und blicke in finstere Gesichter. Mir gegenüber sitzt ein 50-Jähriger. Er hat seine Zeitung gesenkt, schaut mir direkt in die Augen und will anscheinend irgendetwas loswerden. Komm, auf geht’s! Sag schon was. Lass hören, was dir Bauchschmerzen bereitet. Halt mir eine Volksrede über schlechtes Benehmen. Versuche die anderen Anwesenden auch gegen mich aufzubringen. Komm schon. Mach was! Traust dich doch nicht, oder was?
Ich hätte ihm so viel zu sagen. Würde ihm meine ganze Wut entgegenschleudern, mich auf ihn stürzen und ihn diese Fahrt mit der S-Bahn nie mehr vergessen lassen.
Stattdessen lege ich meinen Zeigefinger an die Lippen und fixiere ihn so lange, bis er die Zeitung wieder anhebt und dahinter verschwindet. Auch die anderen Fahrgäste in unserem Sitzbereich wenden sich von mir ab. Schade eigentlich.
»Die Fahrkarten bitte«, höre ich da von hinten jemanden rufen. Ich dreh mich um und sehe fünf Meter von mir entfernt einen Kontrolleur durch die Leute gehen. Was ist heute eigentlich für ein beschissener Tag.
Aber kein Problem. Ich lange in meinen Rucksack und suche nach meiner Fahrkarte. Doch ein Problem. Da wo die Fahrkarte normalerweise steckt, ist – nichts. Damn! Während der Kontrolleur immer näher kommt, suche ich nach einem Ausweg. Wir sind vielleicht in einer Minute am nächsten Bahnhof. Das muss eigentlich reichen. Zur Überraschung meiner Mitfahrer stehe ich wieder auf und bewege mich von dem Kontrolleur weg in die andere Richtung. Dann höre ich aus der anderen Richtung den nächsten Kontrolleur. Ich bin eingekreist. Eine Durchsage kündigt den nächsten Halt an und die Bahn wird langsamer. Ich drängle Richtung Tür und stehe ganz vorne, als wir im Bahnhof zum Stillstand kommen. Hinter mir wird gerade der kleine Junge in die Mangel genommen. Pech gehabt. Man fährt auch nicht schwarz. Die Tür geht auf und ab durch die Mitte. Ich lass mich von der Menschenmasse, die aus der S-Bahn quillt, die Treppe runtertreiben und die andere ins Bahnhofsgebäude wieder rauf. Oben angelangt, schere ich nach rechts aus und halte kurz inne. Ich checke mein Handy und höre ein »Was machst du denn hier?«, im Vorbeihasten.
»Ne lange Geschichte«, gebe ich zur Antwort und schaue Moritz hinterher, der zum Busbahnhof läuft. Den kenn ich schon aus der Grundschule. Seit er aber umgezogen ist, sehen wir uns nur noch unterwegs.
Ich starre wieder auf mein Handy und suche den Chat mit Eva, meiner Nebensitzerin im Mathekurs. Sie ist online, klar. Die Schule hat ja noch nicht angefangen.
Schaff es nicht zur Klausur, schreibe ich.
Was!!! Was ist los?
Hab die S-Bahn verpasst.
Du spinnst! Und jetzt?
Keine Ahnung.
Was soll ich Richter sagen?
Die Wahrheit.
Das gibt Ärger.
Kann nix dafür. Außerdem ist Ärger mein zweiter Vorname.
Muss jetzt los.
Klar. Bis denne. Was für ein Scheißtag.
Ich schalte ab. Shit. Jetzt steh ich schon wieder dumm rum und sollte eigentlich in 30 Minuten Mathe schreiben. Die letzte Klausur vor dem Abi. Mann, ohne diese blöde Kontrolle hätte ich es vielleicht doch noch geschafft, trotz meinem Zusammenstoß mit der Brünetten.
Die Welt ist einfach ungerecht. Da ich neben einem Bäcker im Bahnhofsgebäude stehe, kaufe ich mir eine Brezel. Auch der Blick in meinen Geldbeutel kann mich nicht wirklich aufheitern. Ich leg meinen letzten Fünfer auf den Tresen und schnappe mir die noch warme Brezel. Brauch dringend Kohle. Will heute Eva zum Mittagessen einladen und mit ihr über unsere gemeinsame Zukunft reden. Davon weiß sie zwar noch nichts, also weder vom Mittagessen noch von unserer gemeinsamen Zukunft, aber hab es vor. Und dazu brauch ich ein paar Scheine. Mein Taschengeld für den Monat hat gerade mal drei Tage gereicht. Was glauben eigentlich meine Eltern, was man mit 75 Euro heute noch alles anfangen kann. Bestimmt keine Freizeit gestalten, wie ich mir das vorstelle. Aber klar, auch die 75 Flocken sind für meine Eltern viel Geld. Weiß ich schon. Deswegen freu ich mich auch immer und bedank mich, wenn es wieder so weit ist. Reichen tut’s trotzdem nicht. Hab aber meine Quellen, die ich anzapfen kann, um wieder flüssig zu werden.
Während ich die Brezel runterwürge, irgendwie hat mir der Morgen doch auf den Magen geschlagen, schaue ich mir die Anzeigentafel an. In acht Minuten kommt die nächste S-Bahn. Ich überlege ganz kurz, ob ich mit meinem restlichen Geld eine Fahrkarte kaufen soll. Das wäre dann aber total irre. Den Gedanken an diesen wirtschaftlichen Wahnsinn verwerfe ich also gleich wieder und riskiere es ohne Fahrkarte, in der Hoffnung, dass die Kontrolleure bis in die City die ganze S-Bahn auf den Kopf stellen und kein Zug-Hopping veranstalten.
Nach quälend langen Minuten, erreicht die Bahn endlich die Haltestelle Stadtmitte und es bleibt nur noch eine Etappe übrig, auf meiner ganz persönlichen Tour de Quälerei an diesem Morgen. Ich hetze die Treppe in der Haltestelle hoch und renne zur U-Bahn. Noch zwei Minuten, erkenne ich auf der Anzeigetafel. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich etwas ausgepumpt auf dem Bahnsteig stehe. Meine Kondition war auch schon mal besser. Aber klar, woher soll sie auch kommen? Mein letzter freiwilliger Sport war mit 14. Da bin ich mit meinem Vater ein paar Mal durch den Wald gejoggt. Das war dann auf Dauer aber total öde und außerdem immer am Sonntagmorgen um 10, wenn normale Menschen noch zwei Stunden im Bett liegen. Seitdem gab’s für mich nur noch Schulsport. Und da ich wahrscheinlich niemals fett werden würde, bei
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Thomas Gotthardt
Bildmaterialien: Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von beccarra; sumkinn / shutterstock.com
Lektorat: Beate Rau
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2747-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wolken ziehen über mich hinweg.
Ich höre jemanden rufen.
Weit weg.
Mein Herz schmerzt so sehr.