Berlin, März 1993
1. MARCO
Unglaublich, wie meine Mutter manchmal nerven kann! Oft ist es einfach so, dass sie kein Wort sagt, wenn sie am Esstisch sitzt. Dabei weiß ich ganz genau, was sie denkt, während sie stumm ihre Suppe anstarrt. „Warum ist mein Sohn nur ein Skinhead?“ So hat sie früher dauernd rumgejammert. „Deswegen hat er auch keine Freundin“, ging es dann immer weiter.
Nachdem ich einmal aus Wut ein Glas an die Wand geschmissen hab’, ist sie stiller geworden und labert nicht mehr ständig von Demokratie und dass sich mein Vater für mich schämen würde, wenn er noch am Leben wär’.
Klar will ich von zu Hause ausziehen. Wer lebt mit fünfundzwanzig Jahren noch gerne mit seiner Mutter zusammen, die ihn dauernd stresst? Aber nachdem sie mir letzte Woche im Betrieb wegen meiner „politischen Einstellung“ gekündigt haben, muss ich wohl noch ein wenig bleiben, um Kohle zu sparen.
Für meine Kündigung wird noch jemand in der Betriebsleitung bezahlen, das ist schon in Planung. Das Judentum wird mich nicht kleinkriegen. Niemals!
Wie immer kommt nur Scheiße im Fernsehen, wenn es draußen regnet. Obwohl es jetzt mehr zu sehen gibt als noch vor der Wende vor drei Jahren. Das wissen die ganzen Wessis nicht, dass wir nur zwei Sender in der DDR hatten. Gut, wir Ost-Berliner haben auch ziemlich viel Westfernsehen geguckt, weil wir guten Empfang hatten.
Ich kann mich noch an einen ARD-Beitrag Ende der achtziger Jahre erinnern. Damals haben sie in Brasilien und Argentinien einige gute Männer besucht. Dort wo sich nach dem Krieg viele alte Helden niedergelassen haben, die dann ständig vor dem Mossad auf der Hut sein mussten. Da hat sich keiner im Westen drüber aufgeregt, dass das Judenpack einfach Menschen in der ganzen Welt entführt oder ermordet hat. Ohne Prozess. Ganz klare Doppelmoral! Adolf Eichmann zum Beispiel, den der Mossad in Argentinien geschnappt hat. Ein guter Mann war das. Den haben sie einfach in ein Flugzeug gesteckt und nach Israel gebracht, wo er dann gehängt wurde. Das war Mord!
Der Reporterin hätt’ ich sowieso am liebsten die Fresse poliert. Ständig hat sie versucht, den alten Männern Schuldgefühle einzuflößen. Und das nach all dem, was sie im Krieg durchgemacht haben. Dabei haben sie dem Vaterland treu gedient!
Einer von den Kriegshelden in der Reportage war ein ehemaliger SS-Angehöriger, der irgendwo im Süden von Brasilien gelebt hat. Die Stadt hieß Blumenau, gegründet von einem Deutschen im neunzehnten Jahrhundert, wenn ich mich richtig erinner’. Sein linkes Auge hatte er im Krieg verloren, als ein Granatsplitter an der Ostfront ihm fast den Kopf abgerissen hat. Nachdem seine Wunde verheilt war, ist er freiwillig noch mal mit Augenklappe an die Front gezogen. Unglaublich! Ein wahrer Held! Solche Männer braucht das Land.
Er meinte, dass es ’ne Menge Kameraden gäb’, dort, wo er lebt. Viele von denen waren nur kleine Fische in der Wehrmacht, die einfach ein neues Leben nach dem Krieg anfangen wollten. Man traf sich öfters auf’n Bier und sprach über die guten alten Zeiten, als das Deutsche Reich noch eine stolze Nation war.
Und heute? Absolute Schande, da kocht mir das Blut in den Adern! Ständig macht Deutschland anderen Ländern Zugeständnisse wegen dem Krieg. Ganz klar, weil Deutschland keinen starken Führer hat. Helmut Kohl und seine Mittäter, alles Landesverräter!
Aber es kommt noch schlimmer. Hunderttausende Asylanten haben sich in den letzten Jahren bei uns eingenistet wie Parasiten. Wir Deutschen arbeiten uns den Arsch ab und zahlen Steuern, nur damit wir den schmarotzenden Asylanten Kohle hinterherwerfen, anstatt es anständigen deutschen Familien zu geben!
Und dann kommen auch noch die ganzen anderen Ausländer dazu. Wie die Spätaussiedler. Von denen kommen jedes Jahr immer noch Hunderttausende an! Und das stört keine Sau. Alles Russen, die gemütlich in unser Land hereinspazieren mit ihren neuen deutschen Pässen. Dabei sprechen die kein Wort Deutsch.
Natürlich kommen die nur wegen dem Geld. Anscheinend ist eine Voraussetzung, um als Spätaussiedler anerkannt zu werden, das Bekenntnis zum deutschen Volkstum. Wollen die mich verarschen? Das ist denen scheißegal! Die reden doch nur Russisch und heulen der Sowjetunion hinterher.
Schlimmer noch: Die meisten von denen sind Drogendealer und vergiften unsere Kinder. Die schmuggeln Heroin ins Land und liefern sich Schießereien mit den Türkenbanden und den Scheißalbanern. Na, mir soll’s recht sein, wenn die sich gegenseitig abknallen.
Letztens haben sie bei uns im Betrieb so ’nen Russen eingestellt, hat man mir erzählt. Ich sag’s ja: Die nehmen uns nur die Arbeitsplätze weg. Und was kommt als Nächstes? Unsere Häuser? Unsere Frauen? Unsere Heimat? Nicht ohne Widerstand. Nicht ohne Krieg. Die Zeit zum Handeln ist gekommen!
2. DIMA
Wo sind meine Ohrstöpsel? Oh Mann, es ist echt unangenehm, Anastasias Gestöhne zu hören, wenn sie mit meinem Bruder schläft. Zum Glück hört man ihn nicht, das wäre nicht zum Aushalten.
Wenn sie dann fertig sind, was bei Yury ungefähr dreißig Sekunden dauert, manchmal auch eine Minute, dann muss ich immer so tun, als ob nichts gewesen sei, wenn ich ihr auf dem Weg ins Badezimmer begegne. Echt unangenehm. Auch wenn sie es nur kurz machen, reißt es mich trotzdem aus meiner Konzentration heraus. Dabei habe ich morgen eine wichtige Prüfung im Betrieb. Aber das interessiert Yury natürlich nicht.
Seit zwei Jahren sind meine Familie und ich jetzt schon in Deutschland. Wir sind typische Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion.
Anfang der neunziger Jahre, als die Sowjetunion zerfiel, bekam mein Vater mit, dass tausende Nachfahren von Russlanddeutschen in den Westen ausgewandert sind. Es herrschte geradezu Goldgräberstimmung. Allein 1990 kamen fast vierhunderttausend von uns nach Deutschland. Man musste nur irgendwie nachweisen, dass man deutscher Abstammung war, und schon bekam man die deutsche Staatsbürgerschaft.
Nach ein paar Monaten hatte mein Vater dann alle Unterlagen zusammen, um uns die Ausreise zu ermöglichen.
Als wir in Deutschland ankamen, wurden wir in Berlin untergebracht. Mein Vater bekam schon bald eine Stelle bei der Deutschen Bahn. Er wartet dort Züge, was jetzt nicht gerade der glamouröseste Job ist, aber besser, als arbeitslos zu sein. In Wolgograd, wo wir gelebt hatten, war er zuletzt leitender Ingenieur bei der Sowjetischen Eisenbahn gewesen. Weil sein Deutsch bei unserer Ankunft ziemlich schlecht war, musste er bei der Deutschen Bahn leider weit unten anfangen.
Meine Mutter hat es auch nicht viel besser erwischt. Sie ist Kassiererin in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Auch sie will eine bessere Stelle finden, nachdem sie fünfzehn Jahre im Rathaus von Wolgograd gearbeitet hat. Beide verdienen nicht viel, aber sie kommen einigermaßen über die Runden.
Trotz meiner deutschen Vorfahren bin ich im Herzen Russe. Wie mein Vater schon bin auch ich in Wolgograd geboren. Bevor ich in Deutschland ankam, habe ich kein Wort Deutsch gesprochen. Alle meine Freunde in Wolgograd, die ich ziemlich vermisse, sind Russen. Manchmal sehne ich mich schon sehr nach unserer Heimat.
Seit letzter Woche bin ich offiziell ein volljähriger Deutscher, aber bei der WM nächstes Jahr werde ich trotzdem Russland anfeuern!
Mein großer Bruder Yury überlegt manchmal, ob er nicht einfach zurück soll. Er versteht immer noch nicht, dass meine Eltern und ich Deutschland als Chance sehen, ein besseres Leben zu führen. Hier herrscht Wohlstand, es gibt Rechtssicherheit und Frieden. Was will man mehr?
Für Yury ist Deutschland ein Land mit schlechtem Wetter und unfreundlichen spießigen Menschen. Er hält mich für einen unverbesserlichen Optimisten, denn meiner Meinung nach kann alles besser werden, wenn man nur hart dafür arbeitet. Ich bin mir sicher, dass ich in ein paar Jahren fließend Deutsch spreche. Davon ist Yury noch meilenweit entfernt. Laut ihm ist „Lernen und all der Scheiß“ sowieso nur Zeitverschwendung.
Bis jetzt läuft bei mir alles ganz gut. Seit einem Monat arbeite ich jetzt in einem Betrieb. Wir stellen Kugellager für Maschinenbauer her. Da hat sich Yury nicht mehr eingekriegt, als ich ihm davon erzählt habe. Für ihn gibt es nichts Langweiligeres auf der Welt.
„Jeden Tag arbeitest du dir den Arsch ab, um so ein kleines Stück Metall zu produzieren, und verdienst dann nur ein paar Mark im Monat“, meinte Yury.
Wenigstens sind meine Eltern stolz auf mich. Yury dagegen sagt immer, dass ich mit meinem Ehrgeiz und Spießertum fast noch deutscher bin als die Deutschen selbst. Mag sein, aber am Anfang muss man sich halt durchbeißen, sonst kommt man nie im Leben voran. Trotz all seiner schlauen Sprüche liebe ich meinen großen Bruder natürlich. Er ist mein bester Freund.
In gewisser Weise sieht auch Yury Deutschland als Chance, um im Leben voranzukommen – aber auf seine Art. Er meinte letztens sogar, dass es das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten wäre.
„Vergiss die verfickten USA. In Deutschland kann man so schnell Geld verdienen wie in keinem anderen Land der Welt. Man muss nur schlau sein und ein gewisses Risiko eingehen. Und man muss die richtigen Leute kennen.“
Wir haben uns natürlich schnell mit anderen Spätaussiedlern angefreundet, nachdem wir hier angekommen waren. Einer davon ist Boris, der mit seiner Familie von der Ukraine nach Deutschland gezogen ist. Boris hat meinem Bruder gezeigt, wie man mit Drogen sehr schnell viel Geld verdienen kann.
Obwohl Boris erst Mitte zwanzig ist, hat er mit Haarausfall zu kämpfen, denn auf seinem Hinterkopf bildet sich langsam eine glänzende Platte. Dafür hat er im Gesicht umso mehr Haare. Der Vollbart verdeckt oft sogar seine Lippen. Vielleicht macht er das, um die kleinen Stumpen in seinem Mund zu verdecken, zwischen denen riesige Zahnzwischenräume klaffen. Obwohl er mittlerweile nur noch ein Handlanger meines Bruders ist, muss ich gestehen, dass ich Boris mag. Er ist einfach ein netter Typ, der wahrscheinlich nur aufgrund seines Umfelds in die ganze Drogensache reingerutscht ist. Vielleicht wäre er ansonsten Kindergärtner oder sogar Polizist geworden.
Durch weitere Kontakte hat Yury schnell gelernt, wie man Drogen noch günstiger einkauft und teurer verkauft. Erst hat er mit Haschisch angefangen, aber am besten scheint es mit Heroin zu laufen, denn damit verdient man am meisten Geld. Yury ist in kurzer Zeit zum Anführer der Drogenbande aufgestiegen, weil er seine Sache ziemlich gut macht.
Meine Eltern würden ihn natürlich sofort nach Wolgograd zu unseren russischen Großeltern zurückschicken, wenn sie das alles wüssten. Offiziell arbeitet er mit Freunden an einer „Geschäftsidee“. Irgendwann haben meine Eltern aufgehört nachzufragen, was sie genau machen.
Yurys Freundin Anastasia, mit der er jetzt seit drei Monaten zusammen ist, weiß davon auch nichts.
Ich habe es mittlerweile aufgegeben zu versuchen, ihm das Dealen auszureden. Beim letzten Mal ist er sogar ziemlich sauer geworden. Natürlich mache ich mir große Sorgen, aber was kann ich schon tun?
Yury hat mir geschworen, dass er irgendwann damit aufhört, sobald er genug Geld angehäuft hat, um nie wieder arbeiten zu müssen. Dann will er zurück nach Wolgograd und dort leben wie ein König. Aber genau da liegt das Problem: Er wird nie denken, dass er genug Geld hat.
Vor zwei Monaten sind mein Bruder und ich von zu Hause ausgezogen und leben jetzt in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Marzahn im Osten von Berlin. Wenn alles gut geht im Betrieb, werde ich mir vielleicht eines Tages meine eigene Wohnung leisten können. Im Augenblick bin ich aber noch auf Yurys Almosen angewiesen. Er wird sich aber noch wundern, wenn ich ihm irgendwann zeige, dass man mit Kugellagern gutes ehrliches Geld verdienen kann!
Obwohl Yury mit Drogen handelt, ist er trotzdem in mancherlei Hinsicht ein Vorbild für mich. Er hat dieses unglaubliche Selbstvertrauen und eine irgendwie ansteckende Ausstrahlung. Drei Mal pro Woche macht er Krafttraining, was seinen starken, muskulösen Körper erklärt. Im Gegensatz zu mir ist er immer gut gekleidet. Am liebsten trägt er hautenge schwarze Hemden und teure Levi’s-501-Jeans. Ich habe ihn, glaube ich, noch nie unrasiert gesehen, und dazu geht Yury mindestens einmal im Monat zum Friseur. Seine blonden Haare kämmt er dann immer nach hinten, was seinen hohen Haargelkonsum erklärt.
Schmuck darf natürlich auch nicht fehlen. Im linken Ohr trägt er wie viele andere Russen einen goldenen Ohrring. Und um den Hals baumelt ein großes glänzendes orthodoxes Kreuz. Nicht, dass Yury besonders gläubig wäre.
Das orthodoxe Kreuz unterscheidet sich von dem im Westen dadurch, dass es anstatt einem gleich drei Querbalken hat. Auf dem ersten, kurzen oberen Querbalken stand laut Überlieferung die Abkürzung „INRI“, was aus dem Lateinischen übersetzt so viel wie „Jesus von Nazareth, König der Juden“ bedeutet. Jesu Hände wurden auf den zweiten, den langen Querbalken genagelt, so wie man es auch vom westlichen Kreuz her kennt. Und der dritte, der kurze untere Querbalken, der etwas schief ist, diente als Fußstütze.
Aber zurück zu Yurys Eitelkeit. Meiner Meinung nach gibt er zu viel Geld für sein äußeres Erscheinungsbild aus, aber das ist seine Sache. Vielleicht bin ich insgeheim auch nur ein bisschen neidisch auf ihn. Er verdient ja immerhin um einiges mehr Geld als ich. Letztens hat er sich sogar einen 3er BMW zugelegt. Auch wenn es ein gebrauchter ist, ich könnte mir das nie leisten. Anastasia war von seinem guten Aussehen und dem teuren Auto bestimmt beeindruckt, als sie ihn kennenlernte, wobei ich ihr nicht unterstellen will, dass sie oberflächlich ist.
Sie ist so unglaublich schön, dass nahezu alle Russen in Berlin mit ihr ausgehen wollten, als sie vor einem halben Jahr von Sibirien nach Berlin gezogen ist. Lange blonde Haare, blaue Augen, relativ groß und schlank, perfekte Brüste und ein warmes, hinreißendes Lächeln. Doch nur mein Bruder konnte mit seinem Charme ihr Herz erobern. Zusammen sind sie ein umwerfendes Paar. Wenn man ihnen auf der Straße begegnet, könnte man denken, sie seien zwei Promis.
Ich bin das genaue Gegenteil von Yury: Brillenträger, uncool gekleidet, Bücherwurm, mäßiges Selbstvertrauen, kleiner als er, introvertiert und natürlich ohne Freundin. Obwohl ich jetzt achtzehn Jahre alt bin, plagen mich immer noch hier und da ein paar Pickel auf der Stirn. Wann, frage ich mich, hört das endlich auf?
Bis heute hatte ich nur eine kurze Beziehung mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft, als wir noch in Wolgograd lebten. Damals war ich noch ein pubertierender Teenager. Nach nur zwei Wochen hat sie mit mir Schluss gemacht. Anscheinend war ich ihr zu langweilig.
An manchen Abenden gehen Yury und ich ein paar Bier trinken. Spätestens nach dem zweiten fängt er dann an, mir Tipps zu geben, wie ich mich Frauen gegenüber verhalten soll. Anscheinend muss man immer so tun, als ob man kein Interesse hat. Das macht die Frauen ganz verrückt, meint er. Und cool sollte man sein, hier und da ein paar Witze reißen. Man dürfe die Frauen sogar ein wenig hänseln, um zu zeigen, wie viel Selbstvertrauen man hat.
Ich muss gestehen, dass ich immer noch nicht ganz herausgefunden habe, wie Frauen denken, aber was Yury mir da rät, scheint mir ziemlich unlogisch.
Kurz nachdem Yury und Anastasia ihren Beischlaf erledigt haben, kommt er zu mir rüber, um mich zu piesacken, bis ich einwillige, mit ihm auszugehen. Vermutlich muss ich mir den ganzen Abend wieder Ratschläge anhören.
„Nur zwei kleine Bierchen. Du hast schon genug gelernt für die bescheuerte Prüfung, du kleiner Streber. Vergiss die dämlichen Kugellager!“
Was soll man da noch sagen? Aus Bruderliebe packe ich meine Sachen und wir ziehen los. Dieses Mal wird es aber auch wirklich bei zwei Bierchen bleiben, das hat mir Yury versprochen!
3. MARCO
Raus hier, bevor meine Mutter wieder anfängt zu heulen. Seitdem mein Vater bei diesem verdammten Autounfall ums Leben kam, ist sie ziemlich labil. Wenn ich nur an die Zeit denk’, als sie noch an der Flasche hing ...
An den Tag, als mein Vater starb, kann ich mich noch erinnern, als wär’s gestern gewesen. Ich war in der sechsten Klasse und wir hatten gerade Biologieunterricht. Unser Schulleiter kam ins Klassenzimmer und bat mich nach draußen, wo meine Mutter heulend mit gesenktem Kopf im Flur stand. Ich wusste sofort, dass was Schlimmes passiert sein musste.
Obwohl mein Vater schon seit Langem tot ist, denk’ ich noch viel an ihn. Früher hab’ ich oft von ihm geträumt. Er war ein guter Vater. An manchen Tagen vermiss’ ich ihn schon sehr.
Jetzt nur nicht sentimental werden. Ich muss wirklich los, wenn ich mich noch mit Stefan treffen will. Schnell die Jacke und Stiefel anziehen und raus hier.
Stefan ist mein bester Kumpel. Auf ihn ist immer Verlass. Jeden Dienstag gehen wir in unsere Stammkneipe und besprechen, was wir als Nächstes planen. Manchmal kommen dienstags auch ein paar von den Jüngeren mit. Für die ist Stefan so was wie eine Vaterfigur. Bei seinem Aussehen ist das auch kein Wunder: groß, stämmig und durchtrainiert. Stark wie ein Grizzlybär, was gut ist, wenn wir losziehen, um Kanaken den Schädel einzuschlagen. Seine Glatze ist immer frisch rasiert. Nie ein Fleck auf seiner Bomberjacke. Das einzige Manko bei ihm sind die Aknenarben in seinem Mondgesicht. Eine echte Kraterlandschaft. Aber eigentlich ist das gut so. Denn wenn Stefan die Kanaken grimmig mit seiner hässlichen Visage anstarrt, scheißen die sich erst recht in die Hose.
Am Tresen wartet auch schon der kleine Thorsten. Er ist erst achtzehn und Mitglied der Jugendorganisation der NPD. Heute Abend will er mit uns besprechen, wie wir genügend Kameraden für die nächste NPD-Demo mobilisieren können. Das Sonnwendfeuer muss auch geplant werden. Letztes Jahr waren fast hundert Kameraden dabei. Sogar aus Bayern und Österreich sind welche angereist.
Gerade als ich uns die nächste Runde bestell’, kommen zwei komisch aussehende Typen in die Kneipe. Die hab’ ich hier vorher noch nie gesehen. Der jüngere und kleinere von beiden schaut sich unwohl um, als sie sich dem Tresen nähern. Er spürt wohl unsere Blicke. Dann erkenn’ ich ihn wieder.
„Der kleine Hurensohn da drüben: Spätaussiedler. Den haben sie letzten Monat bei mir im Betrieb eingestellt“, erklär’ ich Stefan und Thorsten.
Ich starr’ ihn hasserfüllt an. Mir kocht das Blut in den Adern. Die Zeit zum Handeln ist gekommen!
4. DIMA
Sobald wir in die Kneipe eintreten, merke ich, dass wir hier unerwünscht sind. Zwar sagt keiner was, aber ein paar Leute schauen uns komisch an, als ob wir uns verirrt hätten und in ihre Privatsphäre eingedrungen wären. Ich mache Yury darauf aufmerksam, dass drei Gestalten, von denen zwei Skinheads sind, uns schon die ganze Zeit ziemlich unhöflich anstarren, um es milde zu formulieren. Yury scheint das überhaupt nicht zu stören. Trotzdem schlage ich vor, dass wir vielleicht besser gehen sollten. Es gibt in Berlin tausend andere Kneipen.
„Typisch kleiner Bruder, kriegt sofort Schiss, nur weil uns ein paar Affen anstarren. Vielleicht sind sie neidisch, weil ich ziemlich schick ausseh’. Und wenn die erst sehen würden, was für ’ne geile Freundin ich hab’!“ Er prustet los.
Über seine schlechten Witze lacht Yury immer am meisten.
„Oder sie wissen, dass ich ’nen BMW fahr’, den sie sich nie leisten werden können. Scheiß Nazischweine! Wenn die Ärger wollen, dann sollen sie nur herkommen. Dann kriegen sie nicht nur eins in die Fresse, sondern lernen auch meine Walther PPK kennen. Die hab’ ich mir letztens besorgt. Zeig’ ich dir später. ’ne geile Wumme, sag’ ich dir.“
Ist Yury total verrückt? Ich kann es nicht fassen, dass mein Bruder eine Schusswaffe mit sich herumträgt! Und das macht mir gerade am meisten Angst. Vergiss die Skinheads!
Er erläutert noch, dass Walther eine deutsche Waffenmanufaktur ist, die im Zweiten Weltkrieg Pistolen für die Wehrmacht produziert hat, und dass die PPK ein populäres Modell aus deren Sortiment ist. Manchmal lerne ich auch Sachen von Yury, die ich nicht unbedingt wissen will.
„Spinnst du, Yury? Du hast eine Pistole? Warum zur Hölle hast du eine Pistole?“
Als ich ihn zur Rede stelle, meint er, dass er sie nur zum Schutz vor den Albanern bei sich tragen würde, aber „Naziwichser“ seien ihm auch recht. Anscheinend machen die Albaner ihm seit Kurzem das Revier streitig.
„Letztens haben die einen von unseren Jungs zusammengeschlagen. Noch mal passiert das nicht. Darauf kannste dich verlassen.“
Yury bezahlt für zwei Bier, nimmt sogleich einen kräftigen Schluck und schaut wieder zu den Skinheads rüber.
„Jetzt mach dir mal keine Sorgen, Dima. Ich hab’ alles unter Kontrolle. Wie gesagt, wenn die Skinheads Ärger wollen, dann sollen sie nur herkommen. Ich regle das dann.“
Ich versuche Yury zu erklären, dass wir hier nicht in Sibirien sind, wo man vielleicht Leute auf offener Straße erschießen kann, ohne verhaftet zu werden. In Deutschland wandert man dafür sofort ins Gefängnis – und zwar lebenslang.
„Dima, natürlich erschieß’ ich hier niemanden in der Kneipe vor all den Leuten. Hier oben im Kopf muss man auch stark sein. Vertrau mir, wenn’s sein muss, regle ich das auf meine Weise. Jetzt lass uns erst mal auf deine neue Lehrstelle und besonders auf die Kugellager anstoßen!“
Yury lacht erneut ausgiebig über seinen eigenen Witz.
„Danach geb’ ich dir ein paar neue Geheimtipps, wie man bei den Frauen gut ankommt!“
Mein Bruder gibt mir oftmals Rätsel auf. Wir sind in einer Kneipe, in der uns drei Typen böswillig anstarren, mein Bruder trägt eine Pistole bei sich, und er tut so, als wäre alles ganz normal.
„Wieso hast du eigentlich noch immer keine Freundin, nachdem ich dir schon so viele Tipps gegeben hab’? Sag mir bloß nicht, dass du schwul bist!“
5. MARCO
„Was meint ihr, sollen wir den Russen in die Fresse treten?“, frag’ ich in die Runde. Wenn es nach mir ginge, dann würde mein Schlagring jetzt schon russische Nasen brechen.
Stefan nimmt einen kräftigen Schluck Bier und dreht sich zu mir um.
„Lass mal, wegen den zwei Schwuchteln will ich nicht noch mal Knastzeit riskieren. Ich hab’ noch ein Jahr Bewährung. Du bist sowieso zu blau, um auch nur den Kleinen fertig zu machen.“
Von Stefan hab’ ich viel gelernt über das deutsche Volk, Politik und den Krieg. Er ist auch schon Anfang dreißig und länger dabei. Mit dem Krafttraining hab’ ich dank ihm auch wieder angefangen. Ab und zu bringt mir Stefan ein paar Tricks bei, wie man im Nahkampf austeilt und Schläge abwehrt. Mittlerweile bin ich ziemlich fit geworden, wenn ich mich zur Abwechslung mal selber loben darf. Ich kann es kaum abwarten, mit den Jungs ein paar Asylanten aufzumischen. Spätaussiedler wären mir aber genauso recht.
Auch wenn Stefan ein super Typ ist, regt er mich manchmal auf. So wie jetzt. Als ob irgendjemand die Bullen rufen würde, wenn wir draußen ein paar Russen zusammentreten. Die Leute würden uns eher anfeuern!
Thorsten schaut uns nur bescheuert an und nervt sowieso mit seinem NPD-Gelaber. Klar ist das halbe Hemd in der Politik aktiv. Im Straßenkampf würde der kleine Streber nämlich sofort den Kürzeren ziehen mit seinen dünnen Ärmchen. Ich wette, dass er sein Leben lang nur eingesteckt und nie ausgeteilt hat. Wahrscheinlich hat ihn früher sogar seine kleine Schwester verprügelt. Mit seiner braven Bubifrisur und dem spießigen Hemd, das seine Mama immer frisch für ihn bügelt, hat er es vielleicht auch gar nicht anders verdient.
Ich beschließ’, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und geh’ zu den beiden Witzfiguren rüber. Stefan meint ja selber immer, dass auf Worte auch Taten folgen müssen.
Ich bau’ mich mit verschränkten Armen demonstrativ vor ihnen auf und blick’ sie grimmig an. Während der kleinere Russe ängstlich schaut, grinst mich der größere von den beiden dumm an. Das Lachen wird ihm gleich vergehen!
„Na, ihr zwei Süßen, kann es sein, dass ihr euch verirrt habt? Ich glaub’, an der Tür ist ein Schild, auf dem steht, dass Hunde und Russen draußen bleiben müssen. Entweder ihr verpisst euch schnell oder wir tragen das draußen aus. Was ist euch lieber?“
Stefan ist doch ein guter Kamerad und steht nun mit seinen zwei Metern und diesem einschüchternden Blick hinter mir. Sogar Thorsten kommt dazu, was wahrscheinlich nicht viel ausmacht, aber mit dem kleinen Russen könnte er’s vielleicht aufnehmen. Der gehört aber mir.
Ich kann seine Angst spüren. Wie ein Hund, der den Schwanz einzieht, schaut er seinen Kumpel panisch an.
Der ältere Russe flüstert ihm irgendwas ins Ohr. Vermutlich, dass sie besser sofort von hier abhauen sollten.
Dann nimmt der ältere Russe noch einen Schluck und stellt sein Bier auf dem Tresen ab. Braver Hund! Verpiss dich nur schnell, dreckiger Köter, bevor ich dir die Zähne ausschlag’! Als er losgeht, stolpert er und streift mich dabei kurz. Dann schaut er mich an und sagt: „Sorry.“
Ich stoß’ ihn von mir weg und überleg’ noch, ob ich ihm gleich hier in der Kneipe ins Gesicht schlagen soll. So nah lass ich ungern Leute an mich heran, besonders wenn’s Russen sind. Aus Respekt vor dem Wirt, der uns Stammgästen öfters mal ’nen Schnaps ausgibt, lass ich sie aber ziehen. Ohne etwas zu sagen, gehen dann beide an uns vorbei zum Ausgang. Da haben sie noch mal Schwein gehabt. Ich war wirklich kurz davor auszuholen.
Die anderen Leute um uns rum und besonders der Kneipenwirt scheinen erleichtert zu sein, dass keine Schlägerei ausgebrochen ist. Stefan ruft ihnen noch hinterher, dass sie sich zurück nach Russland verpissen sollen, während Thorsten sich vor Lachen nicht mehr einkriegt.
„UDSSR – das steht für ‚Unter Dem Scheißhaufen Sind Russen‘!“, schreit Thorsten.
Obwohl das ein dämlicher Kinderspruch ist, passt er gerade ganz gut.
So macht man das eben. Man muss handeln, sonst ist Deutschland nicht mehr zu retten. Ob es nun Juden, Asylanten oder Spätaussiedler sind. Mit eiserner Faust muss man denen zeigen, dass sie hier unerwünscht sind!
Wir gehen zurück zu unserem Platz am Tresen, wo mir Stefan und Thorsten auf die Schulter klopfen.
„Die zwei Russkis lassen sich hier bestimmt nicht mehr so schnell blicken. Man muss nur konsequent sein. Dann packen die irgendwann ihre Sachen und gehen zurück nach Russland, wo sie hingehören“, sag’ ich laut zum Kneipenwirt, der mich am anderen Ende vom Tresen zustimmend angrinst und dabei ein paar Gläser abtrocknet.
Das letzte Mal, dass ich mich so gut gefühlt hab’, war bei der Jugendspartakiade, als ich im Weitsprung den ersten Platz geholt hab’. Sechs Meter einundzwanzig. Bezirksrekord.
Das war genau zwei Monate vor dem Tod von meinem Vater.
Ich bestell’ erst mal ’ne Runde Schnaps, um unseren Sieg zu feiern. Heute war erst der Anfang, von dem was kommen wird.
„Was für Feiglinge! Das Gesicht von dem kleinen Russen merk’ ich mir. Das nächste Mal kommt der mir nicht so leicht davon“, sag’ ich stolz.
Wir lachen, stoßen an, und weg ist der Schnaps. Thorsten, das Weichei, hustet natürlich. Anders hätt’ ich das auch nicht erwartet. Obwohl wir ihn oft verarschen, wissen wir, dass wir schlaue Köpfe wie Thorsten brauchen. Während Leute wie Stefan und ich den Straßenkampf anführen, versucht die NPD unsere gemeinsamen Ziele politisch zu erreichen. Es ist ’ne Zusammenarbeit wie bei den IRA-Kämpfern und der Sinn-Féin-Partei in Nordirland.
Als ich für den Schnaps zahlen will, überkommt mich Panik. Wo ist meine Geldbörse? Ich taste schnell alle Taschen ab. Es hilft nichts: Sie ist weg. Deswegen hat mich das Arschloch beim Hinausgehen angerempelt! Verfickte Scheiße!
„Die Russenschweine haben meine Geldbörse geklaut!“
Stefan und Thorsten schauen mich verdutzt an, während ich aufspring’ und nach draußen renn’. Es ist mittlerweile schon dunkel und von den Russen ist keine Spur zu sehen.
„He! Dumme Mädchen!“
Jemand ruft am Ende der Straße. Es ist der ältere Russe. Das Schwein wedelt mit meiner Geldbörse in der Hand und verschwindet dann in einem Innenhof. Dafür wird er bluten!
Stefan, Thorsten und ich rennen ihm hinterher. In der Mitte vom Innenhof angekommen wartet er schon mit diesem bescheuerten Grinsen im Gesicht, während sein kleiner Gefährte in der Ecke steht und zuguckt. Kleiner Feigling, du bist als Nächster dran, wenn wir mit dem anderen fertig sind!
„Du willst wohl sterben, du Russenschwein!“
Wir laufen auf den älteren Russen zu. Ich hab’ meinen Schlagring fest im Griff. Was für ein Vollidiot! Er denkt wohl, er kann es alleine mit drei Leuten aufnehmen. Das hab’ ich auch mal gedacht, als ich siebzehn war und mich vor einer Kneipe ganz alleine mit ein paar Typen angelegt hab’. Nachdem sie mir ziemlich heftig die Fresse poliert haben, bin ich im Krankenhaus wieder aufgewacht. So wird es dem Russenschwein gleich auch ergehen. Er wird Glück haben, wenn er unser Treffen überlebt. Und sein kleiner Freund auch.
Ein paar Meter bevor ich ihn erreich’ und ausholen kann, zieht er plötzlich eine Pistole. Wir bleiben schlagartig stehen. Das Arschloch fängt an hysterisch zu lachen.
„Dumme Nazis, dumme Nazis! Alle Idioten und denken sind so schlau!“, schreit er. Ich muss gestehen, dass ich Schiss hab’.
Der Kerl gestikuliert wild herum und gibt uns zu verstehen, dass wir vor ihm hinknien sollen. Uns bleibt nicht viel anderes übrig, als seinen Anweisungen zu folgen. Der kleine Russe redet nun auf den älteren ein. Ich hoffe, dass er der vernünftigere von beiden ist.
Leider lässt sich das Arschloch nicht beirren, geht auf Thorsten zu und schlägt ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Thorsten schreit auf, geht zu Boden und fängt an zu wimmern wie ein kleines Kind.
Steh auf, Kamerad, und sei ein Mann! Das ist ja peinlich mit anzusehen. Trotz der krassen Situation. Der Russe amüsiert sich und lacht wieder wie ein Irrer.
Als Nächstes ist Stefan dran. Auch er kriegt auf die Fresse. Stefan bleibt aber still und starrt ihn nur grimmig an, als wär’ nichts passiert. Bei seinem dicken Nacken hat der Schlag wahrscheinlich nicht viel angerichtet.
Dann kommt der Russe zu mir. Er nimmt die Geldscheine aus meiner Geldbörse, zerknüllt sie wie Papierabfall und wirft sie samt Geldbörse gleichgültig auf den Boden.
Das Schwein starrt mich an und grinst. Seine Faust ist schon geballt. So leicht wird er es bei mir aber nicht haben. Als er ausholt, stoß’ ich die Hand, in der er seine Pistole hält, zur Seite und schlag’ ihm mit der Faust in den Bauch. Damit hat das Arschloch nicht gerechnet. Er fällt hin, und sofort stürz’ ich mich auf ihn und versuch’ ihm die Waffe zu entreißen.
Bamm!
Verdammte Scheiße! Plötzlich ist es ganz still.
Ich merk’, dass ich die Pistole in der Hand halte. Der ältere Russe schaut mich geschockt an.
Die Stille wird von Gewimmer unterbrochen. Es kommt vom kleinen Russen. Er wälzt sich in der Ecke ein paar Meter von uns entfernt am Boden und hält sich den Bauch. Der ältere Russe springt sofort auf und rennt zu ihm rüber. Ich lass die Pistole fallen, heb’ meine Geldbörse und die zerknüllten Geldscheine auf und starr’ nur den kleinen Russen an, wie er daliegt und stöhnt. Stefan kommt als Erster zu Sinnen; er hilft Thorsten auf die Beine und packt mich an der Schulter.
„Weg hier, bevor die Bullen kommen!“
Stefan greift sich die Pistole und steckt sie schnell ein. Dann zerrt er Thorsten und mich aus dem Innenhof.
„Los jetzt! Weg hier!“
Wir sprinten die Straße hinab. Irgendwann biegen wir in eine Seitengasse, um zu verschnaufen. Eine ganze Zeit lang redet keiner was. Wir sind alle noch zu geschockt. Schließlich sagt Stefan: „Scheiße, Marco, du hast den Kleinen vielleicht umgelegt! Jetzt haben wir die Scheißbullen am Hals. Und ich bin noch auf Bewährung.“
Klar, Stefan denkt jetzt erst mal an sich selbst. Vielen Dank auch! Ich hab’ vielleicht jemanden getötet, verdammte Scheiße noch mal! Natürlich wollt’ ich den beiden die Zähne ausschlagen, besonders dem älteren, nachdem er meine Geldbörse geklaut hatte. Aber umbringen? Das war nicht der Plan.
Ich hab’ zum ersten Mal seit Langem ein Gefühl von Panik und Angst. Davor, dass die Bullen mich jetzt suchen und alle Spätaussiedler in Berlin noch dazu. Wenn mich die Russen finden, dann bin ich tot. Aber das ist nicht alles. Ich hab’ auch Angst davor, dass ich vielleicht wirklich jemanden abgemurkst hab’.
„Ich wollte den Kleinen nicht abknallen. Der Schuss hat sich einfach gelöst.“
Nach einer Weile wendet sich Stefan zu mir: „Wenn die Scheißbullen kommen, müssen wir denen alle ein und dieselbe Geschichte auftischen. Wir erzählen es so, wie es war, außer dass du ’nen Schlagring hattest. Sonst fängt der Scheißrusse noch an, was von Notwehr zu faseln. Es war einfach ein Unfall, verstanden? Der Russe hat dir deine Geldbörse geklaut und wir wollten sie uns einfach wiederholen.“
Thorsten schaut uns zweifelnd an.
„So war’s doch, oder?“, fährt Stefan fort. „Lasst uns morgen in der Zeitung nachschauen, ob die was über ’nen toten Spätaussiedler schreiben. Wenn wir Glück haben, liegt er auch nur im Krankenhaus.“
6. DIMA
Mein Bauch brennt wie verrückt. Es sind Schmerzen, wie ich sie noch nie erlebt habe. Ich kann mir nicht anders helfen, als zu schreien, was aber dazu führt, dass ich mit jedem Schrei noch mehr Schmerzen habe und irgendwann wimmere ich nur noch. Meine Hand, mit der ich mir den Bauch halte, ist voller Blut. Unter mir bildet sich eine kleine Lache. Ich höre meinen Bruder in Panik schnell reden, aber es ist, als ob er weit weg wäre.
„Dima! Dima! Ich bin hier, alles wird gut. Hör zu, wir müssen von hier weg, sofort. Halt’ durch, ich hol’ Hilfe.“
Yury rennt los. Es sind die längsten Minuten meines Lebens, während ich alleine am Boden liege und mehr und mehr Blut aus dem kleinen Loch in meinem Bauch austritt. Es sind auch die einsamsten Minuten meines Lebens.
Endlich. Yury ist zurück.
„Es wird alles gut, mach dir mal keine Sorgen. Hilfe ist auf dem Weg.“ Ich nehme seine Worte fast nicht mehr wahr. Zum Antworten bin ich zu schwach.
„Yury, mir ist kalt“, flüstere ich.
Er zieht seine Jacke aus und legt sie mir um. Dann hebt er mich auf, was weitere starke Schmerzen verursacht, doch für mehr als ein kurzes Stöhnen habe ich keine Kraft mehr.
„Wir müssen nur kurz um die Ecke. Boris ist schon unterwegs. Der bringt uns zu Doktor Kozlovsky. Er ist der Beste und bringt dich ganz schnell wieder auf Vordermann. Nächste Woche spielst du wieder Fußball. Du wirst schon sehen.“
Wir wissen beide, dass das nicht der Fall sein wird.
In der Ferne höre ich Reifen quietschen.
„Das muss Boris sein. Halt’ durch, Dima! Boris ist der beste und schnellste Fahrer, den ich kenne. In der Ukraine hat er jedes Straßenrennen gewonnen, das weißt du ja.“
Als Boris mich sieht, steht ihm der Schock ins Gesicht geschrieben. Er ist nicht der Hellste, aber Auto fahren kann er. Vor einem halben Jahr bin ich einmal bei ihm mitgefahren. Danach habe ich mir geschworen, dass ich nie wieder in ein Auto steige, bei dem Boris am Steuer sitzt. Wie schnell man seine Ansicht ändern kann. Jetzt gibt mir sein Auftauchen ein wenig Hoffnung.
„Um Gottes Willen, was ist mit Dima passiert?“, fragt Boris panisch.
Sie legen mich auf die Rückbank. Yury hält mich in seinen Armen.
„Los, los! Gib Gas, Boris! Zu Doktor Kozlovsky! Gib Gas, Mann!“
Als wir losfahren, höre ich in der Ferne Polizeisirenen. In jeder Kurve quietschen die Reifen. Manchmal fliegen wir fast vom Sitz.
„Kleiner, hey, bleib wach! Gleich sind wir beim Arzt.“
Mein Bruder versucht, mir weiter Mut zu machen, aber er spürt offenbar auch, wie das Leben langsam aus mir entweicht. Wir schauen uns in die Augen und ich schaffe es mit letzter Kraft, ihn noch einmal am Arm zu packen.
„Yury ... Es tut mir leid.“
Das sind die letzten Worte an meinen großen Bruder, der immer für mich da war. Mein Körper entspannt sich. Ich fühle mich schwerelos.
7. MARCO
Am nächsten Morgen treffen wir uns in Stefans Wohnung in Pankow. Auf dem Weg dorthin hab’ ich mich bestimmt zehn Mal umgedreht, um zu schauen, ob mich vielleicht jemand verfolgt. Thorsten wollte zuerst gar nicht kommen, der Schisser. Letztendlich hat er sich dann doch noch ein Taxi genommen.
„In den Zeitungen steht nichts über ’nen toten Russen. Vielleicht hat der Kleine ja nur ’nen Streifschuss abbekommen und alles ist okay.“
Das glaubt Thorsten doch wohl selber nicht, so wie der Junge geschrien hat.
Thorsten sieht übrigens aus, als wär’ eine Dampfwalze über sein Gesicht gefahren. Der Russe hat ihn gut erwischt. Bei Stefan dagegen ist nur eine kleine Rötung zu sehen, mehr nicht.
„Vielleicht sollten wir einfach zu den Bullen gehen und denen erzählen, was gestern passiert ist. Es war ja Notwehr, wie du schon gesagt hast, Stefan. Uns trifft keine Schuld. Und falls wir doch irgendwie in Schwierigkeiten kommen, dann können uns bestimmt ein paar Kameraden aus der Partei helfen. Der Vorsitzende der NPD in Sachsen ist Anwalt. Letztes Jahr hat er gleich zwei von uns vor dem Knast bewahrt.“
Stefan packt Thorsten ziemlich unsanft am Kragen und zieht ihn zu sich heran.
„Hör mal zu, du kleine Zecke. Ich bin noch auf Bewährung und hab’ keinen Bock auf Bullen, egal, was passiert ist. Und Marco muss vielleicht wegen Mord ins Kittchen. Du willst dich doch nur aus der Affäre ziehen und Marco alles ankreiden, damit deiner kleinen beschissenen Politikerlaufbahn nichts im Weg steht. So was machen anständige Kameraden nicht, verstanden? Das mit der Notwehr erzählen wir nur, falls die Bullen bei uns vorbeischauen. Aber wir gehen nicht zu denen, du kleiner Vollidiot!“ Er lässt von Thorsten ab, der jetzt eingeschüchtert einfach nur dasitzt und die Klappe hält.
„Stefan hat recht, Thorsten. Keine Bullen. Wenn morgen immer noch nichts in der Zeitung steht, dann müssen wir uns vielleicht wegen den Bullen keine Sorgen machen. Was eher ein Problem sein könnte, sind die verdammten Russen. Die haben Waffen und wollen sich bestimmt rächen. Selbst wenn’s dem Kleinen wieder einigermaßen gut gehen sollte. Vielleicht ist es besser, wenn wir die nächsten Tage alle zu Hause bleiben. Die suchen ganz bestimmt nach uns.“
Und genau so vereinbaren wir es. Keiner wird die nächsten sieben Tage das Haus verlassen. Thorsten fährt wieder mit dem Taxi nach Hause. Diesmal setzt er mich gnädigerweise auf halbem Weg ab.
Vor den Bullen hab’ ich jetzt weniger Angst, vor den Russen dafür umso mehr. Stefan hat mir erzählt, dass vor Kurzem drei Spätaussiedler mit Eisenstangen auf acht Kameraden losgegangen sind. Die meisten haben zum Glück nur Knochenbrüche und Platzwunden abbekommen. Mit den Scheißrussen ist anscheinend nicht zu spaßen. Vor allem wenn sie Pistolen haben. Die mischen bestimmt in der Drogenszene mit.
Vielleicht sollte ich Berlin sogar für ein paar Wochen verlassen. Je weiter weg, desto besser. Beim letzten Sonnwendfeuer hab’ ich ein paar Kameraden aus Kärnten kennengelernt. Dort findet mich niemand. Oder nach Südamerika. Vielleicht kann ich ja bei ehemaligen SS-Offizieren in Blumenau unterkommen. Von denen könnte ich bestimmt viel lernen. Zum Beispiel wie man sich vor dem Feind versteckt. Sie müssen heute ja immer noch vorsichtig sein wegen dem verdammten Mossad.
Ich könnte auch einfach zu den Bullen gehen, egal, was Stefan sagt. Es war ja wirklich Notwehr. Aber vor den Russen werden die Bullen mich deswegen bestimmt nicht beschützen. Vielleicht hängen sie mir das Ganze ja dann doch als Mord an. Wir sind bei vielen von denen ja nicht sonderlich beliebt. Wenigstens wär’ ich dann im Knast vor den Russen in Sicherheit. Oder vielleicht doch nicht? Wenn das Drogendealer sind, dann haben die Schweine bestimmt schon unsere Gefängnisse infiltriert. Am Ende sticht mich noch einer von denen ab.
Am besten, ich besorg’ mir auch ’ne Waffe. Stefan hat die Pistole vom Russen ja eingesteckt, als wir gestern Abend weggelaufen sind. Es wär’ besser, wenn er sie mir zur Selbstverteidigung gibt. Nach ihm suchen sie bestimmt nicht so sehr wie nach mir.
Wir Kameraden müssen generell aufrüsten. Wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat, muss ich das mit Stefan besprechen. Sollen wir etwa mit Fäusten gegen unsere Feinde kämpfen, wenn die Eisenstangen und Pistolen haben?
8. DIMA
In meinem jungen Leben habe ich mich niemals gefragt, was passiert, wenn man stirbt, und was danach kommt. So schnell wollte ich es eigentlich auch gar nicht wissen.
Meine letzte Erinnerung an mein Leben als Sterbender ist, dass ich in Yurys Armen liege. Und meine letzten Worte waren, dass es mir leid täte. Ich wusste nämlich, dass Yury sich schwere Vorwürfe machen würde und dass meine Eltern unendlich traurig wären.
Meinetwegen tat es mir nicht wirklich leid. Es sind schon unzählige junge Menschen vor mir gestorben, viele bereits im Kindesalter. Warum sollte mein Tod etwas Besonderes sein? Letztendlich erwischt es jeden, früher oder später.
Es ist gar nicht mal so übel im Jenseits. Alles Erlebte spielt sich vor einem noch einmal ab. In jedem Detail und mit allen Emotionen. Als wäre es gerade erst geschehen.
Man sieht auch das noch einmal, was man schon lange vergessen hatte. Und das Beste ist: Man kann das beliebig oft wiederholen. Man kann jeden Teil dieses Erinnerungsfilms so oft ablaufen lassen, wie man will. Die Emotionen bleiben gleich und verlieren nie an Intensität.
Angeblich kann das menschliche Gehirn unglaublich viele Erinnerungen speichern. Mag sein. Es ist aber noch unglaublicher, dass der Mensch den allergrößten Teil von dem, was er tagtäglich erlebt, wieder vergisst. Aus evolutionärer Sicht ergibt das vielleicht Sinn. Man speichert nur das, was zum Überleben wichtig ist. Alles andere wäre reine Ressourcenverschwendung.
Besonders die vielen glücklichen Erinnerungen aus meiner Kindheit lasse ich gerne Revue passieren. Wie konnte ich vergessen, dass ich an Neujahr immer so wahnsinnig aufgeregt war, weil ich mich so darauf gefreut habe, Geschenke auszupacken? Was für ein unglaubliches Gefühl! In der Sowjetunion hat man Weihnachten nicht wirklich gefeiert, dafür aber Neujahr umso mehr. Das Gefühl, so aufgeregt zu sein, hat man später im Leben fast nie mehr gehabt. Da bedurfte es schon etwas Außergewöhnlichem. Deswegen sagt man ja auch, dass jemand aufgeregt ist wie ein kleines Kind.
Ein anderes Gefühl, das man meist nur als Kind erlebt, ist das Staunen. Man staunt, wenn man zum ersten Mal einen Tiger im Zoo sieht. Oder wenn ein Zauberer eine Taube verschwinden lässt. Wie faszinierend fand ich es damals, als ich an meinem Geburtstag zum ersten Mal eine Wunderkerze halten durfte und zusah, wie sie langsam herunterbrannte, bis die Funken meine Hände erreichten, ohne dass es jedoch wehtat. Als Erwachsener hat man meist schon alles gesehen. Man staunt fast überhaupt nicht mehr. Das ist eigentlich sehr schade.
Die meisten meiner glücklichen Erinnerungen habe ich von Ereignissen, die sich in der Natur oder auf dem Land abgespielt haben. Früher sind wir öfters auf eine Kolchose außerhalb von Wolgograd gefahren, wo der Cousin meiner Mutter arbeitete. Das waren immer schöne Erlebnisse.
Yury und ich sind oft im Kuhstall auf und ab gegangen und haben dabei versucht, nicht von den Kühen abgeleckt zu werden. Ich saß damals auch zum ersten Mal auf einem Traktor. Ziemlich laut war das und eine holprige Angelegenheit, aber es hat richtig Spaß gemacht. Oft hatte auch eine der vielen Katzen geworfen. Wir haben dann stundenlang mit den Kätzchen gespielt und ihnen Milch gegeben.
Man schwelgt hier im Jenseits aber nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist auch irgendwie omnipräsent in der Welt der Sterblichen. Nichts entgeht einem und nichts bleibt einem verborgen – wenn man es denn so will. Man kann Menschen durchleuchten, ihre Gedanken lesen und tief in ihre Herzen blicken. Auch Yury kann sich nicht vor mir verstecken.
Um die Polizei fernzuhalten, will Yury mich nicht in Deutschland bestatten lassen, geschweige denn melden, dass ich dort gestorben bin. Er hat Angst, dass man während der Ermittlungen unangenehme Fragen stellt und womöglich auf seine Pistole stößt. Das wäre schlecht für sein Geschäft und seine Zulieferer hätten damit bestimmt ein Problem. Yury will meinen Körper nach Wolgograd bringen und mich dort bestatten lassen. In der geliebten Heimat. So hätte ich es auch gewollt. Dann will er den deutschen Behörden melden, dass ich dort gestorben bin. Vielleicht durch einen Treppensturz. Für ein paar Rubel kriegt man ohne Probleme den passenden Totenschein.
Das Außergewöhnlichste am Jenseits ist aber, dass man durch Träume mit einem Menschen, in dessen Leben man eine Rolle gespielt hat, kommunizieren kann. Ich erinnere mich jetzt, dass mir mein Großvater als Kind manchmal in meinen Träumen erschien, nachdem er gestorben war. Wir spielten oft in einer wunderbaren Traumwelt, die er gestaltet hatte, miteinander. Manchmal hielt er mich einfach nur in seinen Armen.
Demnächst werde ich Yury in seinen Träumen besuchen. Dabei werde ich versuchen, ihn zu trösten und ihm zu erklären, dass niemand Schuld an meinem Tod trägt. Vielleicht bringt ihn das von dem Rachefeldzug ab, den er gerade plant.
Auch Marco werde ich einige Besuche abstatten. Er wird sich bestimmt an unsere Begegnungen erinnern.
9. MARCO
Fast vierundzwanzig Stunden ist es jetzt her, dass ich den kleinen Russen versehentlich abgeknallt hab’. Ich schau’ oft aus dem Fenster, aber alles ist still wie immer. Es regnet zur Abwechslung mal nicht. Vielleicht warten die Russen draußen in den Büschen. Jetzt werd’ ich auch noch paranoid. Woher sollen die wissen, wo ich wohn’? Solange ich zu Hause bleib’, kann mir eigentlich nichts passieren.
Meine Mutter wundert sich allerdings langsam, warum ich ständig in meinem Zimmer hock’ und nur zum Essen oder Scheißen nach draußen komm’.
Jetzt, wo ich den ganzen Tag zusammen mit meiner Mutter in der Wohnung steck’, merk’ ich erst, wie sehr sie sich verändert hat.
Früher sah sie eigentlich mal ganz gut aus. Besonders morgens sieht sie jetzt aber ziemlich beschissen aus, wenn sie in ihrem alten dreckigen rosa Bademantel mit dicken Tränensäcken unter den Augen und Kippe im Mund aus ihrem Schlafzimmer kriecht. Wenn sie nicht meine Mutter wär’, würd’ ich sagen, dass sie manchmal wie eine pensionierte ausgelutschte Nutte aussieht. Ich kann mich noch erinnern, dass sie früher glänzende lange blonde Haare hatte. Heute sind es nur noch verfilzte fettige Strähnen. Immerhin hat sie aufgehört zu trinken.
Stiller geworden ist sie auch. Ich hab’ sie einmal darauf angesprochen und anscheinend ist’s meine Schuld, weil sie sich ständig um mich Sorgen macht und so viel arbeiten muss, damit wir über die Runden kommen. Ich bin mir aber sicher, dass sie auch noch oft an meinen Vater denkt und an der Sache zu knabbern hat.
Mir fällt ein, dass ich Stefan anrufen muss, und ich greif’ zum Telefon. Seine Nummer kann ich normalerweise blind wählen. Dieses Mal aber verwähl’ ich mich erst mal und muss überlegen. Es war also doch eine Neun und keine Sechs. Wahrscheinlich ist’s der Stress der letzten vierundzwanzig Stunden …
Stefan hebt ab. „Ja?“ Kurz und unhöflich, so ist er halt.
„Hey, Stefan. Du hast doch die Waffe, oder?“ Klar hat er sie. Weggeschmissen wird er sie ja wohl bestimmt nicht haben.
„Ja, warum? Willste auf Russenjagd gehen?“ Stefan lacht kurz. Auf schlechte Witze hab’ ich aber gerade null Bock.
„Ganz genau, Stefan, da brauchen wir aber noch ein paar mehr von den Dingern. Spaß beiseite, ich dachte, dass ich sie vielleicht eher brauch’ als du. Nach mir suchen die bestimmt am meisten. Wenn’s drauf ankommt, muss ich mich ja irgendwie gegen die Arschlöcher verteidigen.“
„Haste denn schon mal ’ne Pistole in der Hand gehabt?“
„Na ja, gestern Abend halt.“ Warum will er sie mir nicht geben? So schwer kann’s ja nicht sein, mit so ’nem Ding umzugehen. Einfach nur zielen und abdrücken.
„Na super, Marco, das ist ja auch richtig gut gegangen.“
„Du kannst mir ja kurz erklären, wie man mit der Wumme umgeht. Wenn die Kindersoldaten in Afrika mit ’ner Kalaschnikow rumballern, dann werd’ ich’s wohl gerade noch auf die Reihe kriegen, mit so ’ner kleinen Pistole zu hantieren, oder?“
Stefan meint wohl, er sei der Waffenexperte. Dabei hat er wahrscheinlich nur einmal in seinem Leben im Wald mit ’ner Luftpistole geschossen. Manchmal ist er schon ’ne Laberbacke.
„Wenn’s denn sein muss. Ist ja auch wirklich nicht so schwer: laden, entsichern und abdrücken. Dann liegt der Russe tot am Boden. Wie sie im Krieg damals schon gesagt haben: Jeder Schuss ein Russ’.“ Na also. Er willigt endlich ein.
„Und wie machen wir das mit der Übergabe?“
„Ganz einfach: Du holst sie dir bei mir ab, mein Junge.“ Meint Stefan das im Ernst?
„Ich dachte, wir haben ausgemacht, dass wir alle zu Hause bleiben. Wie wär’s, wenn wir ’nen Kameraden um ’nen kleinen Gefallen bitten? Der könnte die Pistole bei dir abholen und zu mir rüberbringen. Du kennst doch bestimmt ein paar Leute, denen wir vertrauen können.“
Oder ich nehm’ einfach ein Taxi. Das wär’ aber Geldverschwendung. Jetzt, wo ich nicht arbeite, hab’ ich keinen Bock Kohle auszugeben. Und Geldscheißer-Eltern wie Thorsten hab’ ich nicht. Die Idee mit dem Kurier ist wohl am besten.
„Da muss ich erst mal ein wenig rumtelefonieren, aber das dürfte klappen. Die nächste Runde geht dann auf dich, mein Lieber.“
Auch wenn er manchmal nervt, ist er letztendlich doch ein guter Mann.
„Gut, Stefan, ruf mich später an, wenn du jemanden gefunden hast. Heil Hitler, Kamerad!“
10. DIMA
Natürlich habe ich jetzt viel Zeit zum Nachdenken. Ich überlege oft, warum dies und jenes so ist, wie es ist, oder wie man beurteilen kann, ob man in unserer Gesellschaft ein guter oder schlechter Mensch ist. Eigentlich wollte ich immer Philosophie studieren, aber mein Vater hat mir dringendst davon abgeraten, weil man angeblich als Philosoph kein anständiges Geld verdienen kann. Wie sollte ich denn jemals eine Familie ernähren können, wenn ich nur in einem Zimmer hocke und über Gott und die Welt nachdenke. Das hat mich aber nicht davon abgehalten zu versuchen, die Schriften der großen Philosophen zu verstehen. Kant, Descartes, Spinoza … Mein Zimmer war voll von ihren Büchern!
Heute habe ich mich gefragt, wie es dazu kommt, dass Menschen zu Skinheads werden. Ich glaube, dass im Grunde genommen Menschen oft nichts für ihr Tun können, ob es nun gut ist oder schlecht.
Nehmen wir als Beispiel einen Mann, der bis jetzt eine beeindruckende Karriere hat. Dazu ist er noch ein fürsorglicher Vater und liebevoller Ehemann. Rundum perfekt. Es gibt wahrscheinlich mehrere Gründe, warum solch eine Person laut den Kriterien unserer Gesellschaft ein erfolgreicher und guter Mensch ist.
Eine gute Grundlage ist natürlich, dass seine Eltern ihre Intelligenz an ihn weitervererbt haben. Und während der Schwangerschaft hat seine Mutter selbstverständlich weder Alkohol getrunken noch geraucht. Weil seine Eltern gebildet sind, legten sie hohen Wert darauf, dass ihr Sohn auf eine gute Schule ging und Nachhilfeunterricht bekam, wenn es nötig war.
Klavierspielen gehörte zu einer guten Erziehung dazu, denn Musizieren ist für die Entwicklung des Gehirns immer gut. Und während seiner gesamten Kindheit und Jugend waren seine Eltern stets fördernd, fürsorglich und liebevoll. Das Leben war einfach gut zu ihm. Dafür konnte er selbst aber wenig. Um es kurz zu fassen: Er hatte im Gegensatz zu vielen anderen einfach Glück.
Andere haben von Anfang an kaum Chancen. Wie Marco zum Beispiel, in dessen Seele ich ein wenig gestöbert habe.
Er hat eine harte Jugend hinter sich und das Leben war nicht immer fair zu ihm. Sein Vater, zu dem er eine sehr enge Beziehung hatte, starb, als Marco dreizehn Jahre alt war, bei einem Unfall. Klar hat ihn das ziemlich traumatisiert. Seine Mutter war danach eine Zeit lang Alkoholikerin und vernachlässigte ihn oft. Hauptsächlich, weil sie als Alleinerziehende so viel arbeiten musste. Jeden Tag schleppte sie acht Stunden am Stück im Warenlager Kartons damit sie über die Runden kommen.
In der Schule hatte er miese Noten. Wahrscheinlich haben sie wegen dem, was mit seinem Vater passiert ist, noch einmal beide Augen zugedrückt und ihn irgendwie durch die Schule gelotst. Ansonsten wäre er bestimmt von der Schule geflogen. Schulden machen.
Es gab viele Schlägereien während Marcos Schulzeit. Als er siebzehn Jahre alt war, dachte er, dass er gleich drei stämmige Männer vor einer Kneipe auf einmal verprügeln könnte. Hauptsächlich aus dem Grund, weil er sich damals ein paar Hanteln zugelegt hatte und davon überzeugt war, dass er dank seiner dicken Bizepse unbesiegbar wäre. Die nächsten Tage verbrachte er dann mit einer Gehirnerschütterung und einer gebrochenen Nase im Krankenhaus. Seine Mutter hat nur noch geheult, als sie ihn mit seinem geschwollenen Gesicht gesehen hat. Nicht aus Mitleid. Eher aus Verzweiflung.
Nach seinem Schulabschluss hat er sich von Job zu Job gehangelt. Mal war er Kassierer im Supermarkt, mal Kellner oder Aushilfskraft. Freunde hatte er kaum.
Weil das Leben ihm gegenüber oft unfair war und dies seelische Schäden hinterliess, kann man nachvollziehen, dass er jetzt verbittert ist. In so einem Zustand macht man leicht andere für seine missliche Lage verantwortlich.
Manche sagen, dass der Mensch einen freien Willen hat und dass jeder seine eigenen Entscheidungen fällt. Was ist aber, wenn ein Mensch nicht die Grundlage oder die Auffassungsgabe hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen? Viele psychische Erkrankungen haben genetische Ursachen oder werden durch Kopfverletzungen verursacht. Wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen oder schlagen, hinterlässt dies ein Leben lang Spuren. Die Weichen werden früh gestellt. Traumatische Ereignisse, wie eine Vergewaltigung oder Missbrauch, können Verhaltensstörungen verursachen. Wie Isaac Newton schon gesagt hat: „Gegenüber jeder Aktion steht eine Reaktion.“ Ich finde, das gilt nicht nur in der Physik, auch wenn manche Reaktionen erst Jahre später auftreten.
Genug meiner Hobby-Philosophiererei, die mein Vater als pure Zeitverschwendung abtun würde. Es hilft mir jedoch zu verstehen und zu vergeben.
Zurück zu den realen Problemen auf der Erde. Natürlich kann ich nachvollziehen, dass Yury sich für meinen Tod rächen will, aber das würde mich auch nicht wieder zum Leben erwecken. Er hat sich geschworen, das „Nazischwein“ zu finden und Marco umzubringen, komme, was wolle. Egal ob er dafür Knastzeit riskiert.
Den ganzen Tag schon fährt er in Marzahn und den angrenzenden Stadtvierteln umher und sucht nach Marco, Stefan und Thorsten. Boris ist natürlich auch dabei. Mittlerweile hat sich Yury eine neue Pistole besorgt, was seit dem Jugoslawienkrieg nicht schwierig ist. Ironischerweise kaufen sie ihre Waffen bei einem Albaner.
Nachdem sie ein paar Stunden unterwegs sind, erblicken sie tatsächlich Thorsten vor einer Haustür. Seine übergewichtige Mutter hält es für nötig, dass er einkaufen geht, obwohl er sich vehement dagegen wehrt. Leider fehlen ihm die Argumente und auch die Statur, um sich davor erfolgreich zu drücken.
Boris erkundigt sich, ob Yury sich auch ganz sicher sei, dass Thorsten gestern Abend dabei war. Und Yury erwidert, das blaue Auge habe die „Heulsuse“ von ihm, daran bestehe kein Zweifel.
Sie warten, bis sich Thorsten ein paar Meter von seinem Haus entfernt hat. Er ist sichtlich nervös, da er sich schon zweimal umgeblickt hat. Dann schlagen sie zu.
Yury gibt Gas. Mit quietschenden Reifen hält der Wagen neben Thorsten. Der erschrickt so sehr, dass er den BMW wie gelähmt anstarrt und stehen bleibt, anstatt wegzulaufen. Ein großer Fehler.
Boris springt aus dem Auto, schlägt Thorsten ins Gesicht und stopft ihn brutal in den Kofferraum. Thorsten schreit wie am Spieß, weswegen Boris ihm mehrmals ins Gesicht schlägt, bis er ohnmächtig wird. Dann schließt er rasch die Kofferraumklappe.
Yury zündet sich erst einmal eine Zigarette an. Dann fahren sie in aller Ruhe los, um kein weiteres Aufsehen zu erregen, sollte jemand wegen Thorstens Geschrei aus dem Fenster gucken.
Nach einer halbstündigen Autofahrt erreichen sie einen Wald. Hier halten Yury und seine Jungs manchmal Schießübungen ab.
Thorsten ist mittlerweile aufgrund der holprigen Fahrt auf dem Waldweg aufgewacht. Als Boris den Kofferraum wieder aufmacht, schaut ihnen ein sichtlich verängstigter Junge entgegen, der stark aus der Nase blutet. Mit seinem dicken blauen Auge sah Thorsten vorher schon aus wie ein Boxer, der die zwölfte Runde nur knapp überstanden hat. Jetzt ähnelt er eher jemandem, der mit einem Presslufthammer malträtiert worden ist. Er kann kaum aus seinen geschwollenen Augen blicken.
Boris stößt ihn auf den Boden, während Yury eine Eisenstange vom Rücksitz holt.
„Wo wohnen Arschloch, das getötet meine Bruder?“, fragt Yury in seinem gebrochenem Deutsch. „Her mit Adresse! Sofort! Sonst du tot!“
Thorsten wimmert, dass er nichts weiß, was sich als der nächste schwerwiegende Fehler erweisen wird.
„Aufstehen! Ich frage letzte Mal: Wo wohnt Arschloch?“
Aber Thorsten nuschelt nur wirres Zeug vor sich hin, während ihm eine Mischung aus Blut, Rotze und Tränen über den Mund läuft.
Boris krümmt sich plötzlich vor Lachen und zeigt auf Thorstens Schritt. Als Yury dort den Urinfleck entdeckt, kann auch er sich kaum noch halten. Ob Thorsten eine Adresse ausspuckt, ist Yury jetzt fast schon egal. Allein das hier zu sehen, war die ganze Aktion schon wert.
Doch dann hält Yury abrupt inne, holt mit der Eisenstange aus und schlägt sie mit voller Wucht gegen Thorstens Oberschenkel. Sein Bein knickt ein und Thorsten geht zu Boden. Er stößt einen höllischen Schrei aus und beißt in den Waldboden, der mit Tannennadeln übersät ist.
Das Letzte, was ich höre, ist: „Lion-Feuchtwanger-Straße in Hellersdorf.“ Als sie nach der Hausnummer fragen, entschließe ich mich, das Geschehen nicht weiter zu verfolgen.
Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie, dass ein Skinhead ausgerechnet in einer Straße wohnt, die nach einem Juden benannt ist.
Was Yury mit dem Jungen im Wald anstellt, kann ich nicht gutheißen. Und was er danach vorhat, erst recht nicht. Ich mache mir Sorgen. Es wird mit Sicherheit böse enden, wenn er sich weiter von seinem Hass leiten lässt.
Mein Bruder und Marco sind sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich – äußerlich und auch von ihrer Art her.
Beide sind etwa gleich groß und durchtrainiert. Sie haben blaue Augen, markante Gesichtszüge und blondes Haar, was man bei Marco im Augenblick aufgrund der Glatze allerdings nur an den Augenbrauen erkennt. Wenn beide die gleiche Frisur hätten, könnte man fast denken, sie seien Geschwister. Und wenn Marco sich normal kleiden würde, dann wäre er sogar ein recht gutaussehender Typ, so wie mein Bruder.
Auch vom Intellekt her merkt man kaum Unterschiede. Sie bedienen sich einer direkten, einfachen Sprache. Was aber nicht heißen soll, dass sie dumm wären. Ganz im Gegenteil!
Was ihre Emotionen und ihren gegenseitigen Hass angeht, ähneln sie sich leider ebenfalls. Yury hasst Marco, weil er ihn dafür verantwortlich macht, dass ich tot bin. Marco ist verbittert, was ich nun nachvollziehen kann. Er hasst all diejenigen, denen es vermeintlich besser geht als ihm. Es reicht schon aus, wenn er Leute laut lachend auf der Straße sieht. Leute, die einfach nur Spaß haben im Leben. Für Marco ist das schon eine Provokation.
Aber er hasst auch diejenigen, denen es schlechter geht als ihm, die aber eine Gelegenheit bekommen haben, im Leben voranzukommen. Flüchtlinge und Asylanten zum Beispiel, die eine einmalige Chance haben, in Deutschland auf lange Sicht ein sicheres Leben zu führen. Oder wir Spätaussiedler. Mein Traum von einer Familie, einem eigenen Haus und einem guten Job wird sich leider nicht mehr erfüllen. Andere werden es aber schaffen!
11. MARCO
Mann, ist das langweilig, dauernd in seinem Zimmer zu hocken. Außer Glatze rasieren, fernschauen und wichsen gibt es nicht viel zu tun. Mittlerweile trink’ ich vor der Glotze schon das vierte Bier und es ist noch nicht mal dunkel draußen. Alkohol beruhigt mich. Bestens, um die Angst vor den Russen zu verdrängen. Ab und zu werd’ ich aber auch aggressiv. Dann will ich nur noch Kanaken zusammentreten. Morgen muss ich meine Mutter losschicken, um mehr Bier zu holen. Im Kühlschrank sind nur noch sechs Dosen.
Na endlich. Das Telefon klingelt. Mal schauen, wen Stefan für die Übergabe gefunden hat.
„Hallo, bist du der Marco?“
Seltsam, eine Kinderstimme.
„Ja, und wer bist du?“ Da ruft mich irgendein Junge aus dem Nichts an.
„Ich soll dir nur sagen...“
„Woher hast du meine Nummer?“, unterbrech’ ich ihn. Wenn er jetzt nicht mit einer anständigen Antwort rausrückt, leg’ ich auf. Telefonstreiche sind das Letzte, worauf ich jetzt Bock hab’.
„Von Thorsten. Ich soll dir was ausrichten.“
„Aha, von Thorsten, versteh’. Und warum ruft er nicht selber an?“
„Den hab’ ich am Waldrand beim Nachhausegehen gefunden. Der liegt dort und heult. Außerdem kann er nicht mehr gehen.“
Ich krieg’ langsam Schiss.
„Aha, das ist natürlich gar nicht gut … Äh, und was sollst du mir ausrichten?“
Als der Junge fortfährt, scheiß’ ich mir fast in die Hose: Die Russen kommen! Ich soll sofort abhauen, weil Thorsten ihnen meine Adresse geben musste.
Ich knall’ den Hörer auf die Gabel. Mein Herz klopft wie verrückt. Verdammte Scheiße, was mach ich jetzt? Die Wichser sind bestimmt gleich da! Ganz ruhig, mein Junge. Nachdenken. Soll ich schnell Stefan anrufen? Vielleicht kann ich ja zu ihm. Oder er kann mir sonst irgendwie helfen. Wenn ich nur die verdammte Pistole hätte!
Ich wähl’ panisch Stefans Nummer. Verfickt noch mal, schon wieder verwählt! Was war es jetzt, eine Sechs oder eine Neun? Meine Hände zittern wie verrückt und ich verwähl’ mich schon wieder. Dieses alte Scheißtelefon mit Wählscheibe! Da kann man sich ja nur verwählen! Warum hat meine Alte noch keines mit Tasten besorgt?
Warte mal, soll ich überhaupt zu Stefan? Was ist, wenn die auch Stefans Adresse aus Thorsten rausgeprügelt haben? Dann bin ich dort auch nicht in Sicherheit! Soll ich Stefan vielleicht warnen? Scheiß auf Stefan, ich hab’ keine Zeit mehr!
Fickt euch, ihr Russenwichser!
Ich schmeiß’ das verdammte Telefon gegen die Wand. Als Erstes den Reisepass einstecken. Dann hol’ ich all mein Bargeld aus meinem Versteck. Wer weiß, vielleicht brechen die Russen ein und finden die Kohle. Immerhin fast tausend Mark. Man kann über die Jahre schon ein wenig zur Seite legen, wenn man noch bei seiner Mutter lebt. Rein damit in die Sporttasche. Ein paar Klamotten brauch’ ich noch, und dann weg von hier. Sofort.
Meine Mutter guckt gerade „Der Preis ist heiß“, als ich ins Wohnzimmer stürm’. Harry Wijnvoord konnte ich noch nie leiden. Den sollten sie schleunigst wieder nach Holland zurückschicken. Und die bescheuerte Linda de Mol kann er gleich mitnehmen.
„Marco, was ist denn das für ein Lärm, der aus deinem Zimmer kommt?“
Keine Zeit für Erklärungen! In der Eile pack’ ich sie fast schon etwas unsanft an beiden Armen.
„Ich muss für ein paar Tage weg. Vielleicht auch ein oder zwei Wochen. Mach dir keine Sorgen, okay? Ich erzähl’ dir alles später.“
Sie merkt natürlich, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Kein Wunder, pures Adrenalin strömt gerade durch meinen Körper.
„Marco, was ist denn mit dir los?“
Was mit mir los ist? Ich kann mir gleich mein eigenes Grab schaufeln, wenn ich nicht sofort von hier abhau’! Obwohl ich in der Vergangenheit meine Probleme mit ihr hatte, will ich nicht riskieren, dass meiner Mutter was passiert.
„Hör mal, Mutter, das ist jetzt ganz wichtig: Wenn heute oder in den nächsten Tagen irgendwelche Leute nach mir fragen, dann sag denen, dass außer dir niemand hier wohnt. Verstehst du? Du hast keine Ahnung, wer Marco ist. Und du wohnst hier seit Jahren alleine. Sag denen ansonsten nichts. Kein Wort. Und wenn die in die Wohnung wollen, um nachzuschauen, dann ruf sofort die Polizei. Hast du verstanden?“
Ich umarm’ meine Mutter, die mich ziemlich entgeistert anglotzt, zieh’ meine Bomberjacke und Springerstiefel an und sag’ ihr noch, dass ich sie heute Abend anruf’. Dann stürm’ ich mit meiner Tasche aus der Wohnung.
Ich bin keine fünf Meter gelaufen, als ich hinter mir Reifen quietschen hör’. Ein Auto rast in hohem Tempo hinter mir her. Scheiße! Ich lauf’, so schnell ich kann, werd’ aber innerhalb von ein paar Sekunden eingeholt.
Der Fahrer der Karre legt neben mir ’ne Vollbremsung hin. Ich hör’, wie die Wagentüren aufgehen und jemand etwas auf Russisch brüllt. Verdammte Hurensöhne!
Ohne groß nachzudenken, spring’ ich über einen Zaun, lauf’ quer durch einen Innenhof und renn’ in den gegenüberliegenden Park.
Dicht hinter mir hör’ ich weiterhin zwei Männer auf Russisch herumschreien. Als ich mich umdreh’, seh ich ihn. Er blickt mir in die Augen, zeigt auf mich und ruft wieder etwas auf Russisch.
Nachdem ich den zweiten Zaun übersprungen hab’, merk’ ich, dass es mir immer schwerer fällt zu atmen und mein Gleichgewicht zu halten. Besonders mit der Tasche über meiner Schulter. Vielleicht hätt’ ich zu Hause doch nur ein Bier trinken sollen!
Ich versteck’ mich hinter einem Auto in einer offenstehenden Garage. Dort wart’ ich, und dann hör’ ich, wie sich Fußschritte nähern. Wenn sie mich hier erwischen, dann ist es aus für mich. Verfickte Scheiße noch mal, wenn ich nur die verdammte Pistole hätte!
Ich kriech’, so leise es geht, mit meiner Tasche unter das Auto. Scheiße, ist das eng hier! Dann seh’ ich, wie jemand mit Turnschuhen in die Garage kommt und am Auto entlanggeht. Ich halt’ meinen Atem an.
Nach ein paar Sekunden läuft der Russe zum Glück weiter. Dem lieben Herrgott sei Dank, wenn es ihn gibt.
Ich hör’ die Russen jetzt in der Ferne fluchen. Noch mal Schwein gehabt! Erst mal Luft holen.
Was nun?
Nach kurzem Überlegen beschließ’ ich, noch ’ne Weile unter dem Auto auszuharren. Draußen ist es im Moment zu gefährlich. Bald ist es dunkel und die Russen sind dann hoffentlich weitergezogen. Hier haben sie ja schon nach mir geguckt. Ein zweites Mal kommen sie bestimmt nicht in die Garage.
Ein paar Minuten lang herrscht Stille, doch dann nähern sich wieder Fußschritte. Erneut kommt jemand in die Garage. Das kann doch nicht wahr sein! Verfluchte Scheiße noch mal! Warum kommen die Wichser wieder zurück?
Diesmal sind es aber teure Lederschuhe, die sich dem Auto nähern. Verdammt, das muss der Besitzer sein.
Die Wagentür öffnet sich, der Kerl steigt ein und kurz darauf wird der Motor gestartet.
Jetzt werd’ ich hier auch noch überfahren! Ich versuch’, mich so flach wie möglich zu machen, und press’ meine Wange auf den Boden. Das Auto fährt los und rollt über mich hinweg. Ein weiteres Mal Schwein gehabt!
Ich steh’ langsam auf, klopf’ mir den Staub von der Jacke und heb’ meine Tasche auf.
Plötzlich piept irgendetwas. Das scheiß Garagentor geht zu!
Ich renn’ los, zieh’ meinen Kopf ein und schaff’ es gerade noch raus auf die Straße.
Bloß weg von hier! Die verdammte Garage ist gefährlicher als all die Fallen in den Indiana-Jones-Filmen.
Die Luft scheint jetzt rein zu sein. Bei jedem Auto, das vorbeifährt, geh’ ich in Deckung. Ich mach’ mich auf den Weg zur S5, die bis zur Friedrichstraße fährt. Von dort aus kann ich weiter mit der U6 und dem Bus zum Flughafen Tegel fahren. Je weiter weg, desto besser. Keine Ahnung, wohin. Hauptsache, ich bin die Scheißrussen los.
Nach einer Viertelstunde erreich’ ich endlich die S-Bahnstation Wuhletal. Wann kommt denn endlich die verdammte Bahn? Wie immer hat sie Verspätung.
Jede Minute, die ich warten muss, fühlt sich an wie eine Stunde. Ich geh’ ans Ende vom Bahnsteig. Sollten die Russen auftauchen, kann ich schnell übers Gleis springen und auf den gegenüberliegenden Friedhof flüchten.
Na endlich! Schnell rein in die Bahn und hoffen, dass die Russen nicht in den nächsten Stationen zusteigen.
Am Bahnhof Friedrichstraße angelangt, klappt das Umsteigen zum Flughafen ohne Probleme.
Um mich zu beruhigen, kauf’ ich mir noch ein Bier und ausgerechnet ein kleines Fläschchen Wodka. Und runter damit!
Ich bin nervös. Aber nicht nur wegen den Russen. Ich bin nämlich noch nie in meinem Leben geflogen. Und das mit fünfundzwanzig Jahren. Meine Mutter wollte im Sommer immer nur auf dem Land Urlaub machen. Und im Winter sind wir immer zu Hause geblieben. Wir hatten einfach nie die Kohle, um irgendwohin zu fliegen. Zu DDR-Zeiten war Fliegen ja sowieso ein absoluter Luxus.
Die Strände am Mittelmeer kenn’ ich nur aus dem Fernsehen. Dahin wollt’ ich früher schon immer mal, besonders als ich noch ein Kind war. Makkaronis haben wir aber jetzt schon genug im Land, da muss ich nicht noch extra hinfliegen, um mehr von denen zu sehen. Außerdem komm’ ich sonst noch als braungebrannter Neger zurück und werd’ von den Kameraden verarscht. Urlaub hat man in Deutschland oder Österreich zu machen. Alles andere ist nur der zionistische Einfluss der Globalisierung und des US-Kapitalismus.
Flughäfen verwirren mich. Zu viele Leute und zu viele Schilder. Dazu noch viele auf Englisch. „Departure Gates“ – was bedeutet der Scheiß? Wo zur Hölle soll ich hin?
„Flugtickets“, das hört sich schon mal besser an.
Ich tret’ an einen Schalter. So viele Angebote: London, Paris, Barcelona ... Ich weiß immer noch nicht, wohin es gehen soll. Hauptsache, nur schnell weg von hier!
„Haben Sie Tickets für Flüge, die heute Abend gehen?“, frag’ ich die Dame hinterm Schalter. Sie schaut mich erst verwundert an und mustert mich dann ausgiebig. Dabei sollte sie sich mal selber im Spiegel anschauen, mit ihrer dick aufgetragenen Schminke. Wie ein Papagei. Und ’ne Diät könnte ihr auch nicht schaden. Noch nie einen Skinhead gesehen, du kleine, fette Schlampe?
„Wo soll’s denn hingehen, der Herr? One-way oder mit Rückflug?“
Woher soll ich das wissen? Sie starrt meine Glatze an und schaut skeptisch.
„Was ist denn am günstigsten?“, antworte ich mit einer Gegenfrage. In die Karibik flieg’ ich bestimmt nicht. So viel Kohle hab’ ich sowieso nicht.
„Der billigste Flug für heute Abend ist ein Flug nach Frankfurt. Das wären hundertneunundachtzig Mark. Der geht um Viertel nach acht. Da müssten Sie sich allerdings ein wenig beeilen. Das ist ein offenes Ticket. Sie können also jederzeit innerhalb von einem Jahr zurückfliegen.“
Frankfurt, das klingt nicht schlecht. Was mach’ ich aber, wenn ich dort ankomm’? Ich könnte mich eine Zeit lang in einem Hotel einnisten und Däumchen drehen. Blöd, dass ich dort keine Sau kenn’.
Da kommt mir ein Gedanke. Wie wär’s mit Kärnten? Stefan könnte mir die Telefonnummern von den Kameraden besorgen, die wir letztes Jahr beim Sonnwendfeuer kennengelernt haben. Gute Männer waren das. Da hätt’ ich allerdings auch mit dem Zug hinfahren können. Zu spät, jetzt muss ich schnell raus aus Berlin.
„Und Kärnten?“, erkundige ich mich.
Sie lacht kurz. Was gibt’s da zu lachen? Glaubt sie, dass sie so viel schlauer ist als ich? Verdammtes Miststück!
„Wo genau wollen Sie denn da hinfliegen?“
Sie grinst mich weiter dämlich an. Klugscheißerin! Keine Ahnung, wo ich da hinfliegen soll. Das muss sie doch wissen.
Langsam verlier’ ich die Geduld. Vielleicht sollte ich einfach zum Bahnhof Zoo zurückfahren und mir ein Zugticket kaufen. Das wird mir hier alles zu bescheuert.
„Nach Österreich geht heute Abend leider kein Flug mehr. Erst morgen früh um sieben Uhr nach Wien.“
Vergiss die Scheiße hier! Alles Zeitverschwendung. Fliegen ist sowieso was für reiche Kapitalistenschweine.
„Vielleicht könnte Ihnen ein wenig Sonne guttun. Sie sehen recht blass aus.“
Jetzt wird sie auch noch unverschämt! Am liebsten würd’ ich sie an der Gurgel packen und ihren Kopf in einen Eimer Wasser tunken. Dann hält sie garantiert ihr dummes Maul – und dabei krieg’ ich auch noch die bescheuerte Schminke von ihrem Gesicht!
12. DIMA
Alle denken ja, dass es im Jenseits ruhig zugeht, und so ist es auch, aber gerade deshalb ist es immer spannend zu beobachten, was sich auf der Erde Aufregendes tut.
Yury ist ziemlich aufgebracht, dass ihm das „Nazischwein“ entkommen ist. Jetzt weiß er aber, wo Marco wohnt, und zwei von seinen Jungs stehen Wache, falls er wieder nach Hause kommt. Boris wurde zum Bahnhof Zoo abbestellt und hält dort Ausschau. Yury ahnt, dass Marco türmen will, und schaut sich deshalb am Flughafen Tegel um. Als hätte er einen sechsten Sinn.
Yurys Herz beginnt vor Aufregung zu klopfen. Er hat Marco an einem Schalter entdeckt, wo er mit seiner „hässlichen Bomberjacke und diesen behinderten Stiefeln“ steht.
Auch wenn er wie ein Idiot aussieht, ist er gar nicht mal so dumm, denkt Yury, denn am Flughafen wimmelt es nur so von „Scheißbullen“. Yury wartet, bis zwei Polizisten mit ihrem Hund weiterziehen, und hält vorsichtshalber ein wenig Abstand. Vielleicht ist es ja ein „Drogenköter“.
Er lässt Marco nicht aus den Augen und überlegt, wie er ihn daran hindern kann, Berlin zu verlassen. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn er ihn gleich hier am Schalter erschießt, denkt sich Yury. Dann wird ihm aber die Polizei hinterherlaufen und ihn vielleicht kurz danach selber erschießen. Schlechte Idee.
Yury kommt zu dem Schluss, dass eine Entführung das Beste wäre. Sobald Marco sein Ticket gekauft hat, will er ihn abfangen und ihn zwingen mitzukommen. Danach will er ihn im Wald foltern und ihm letztendlich den Gnadenschuss verpassen. So sieht sein momentaner Plan aus.
Es sind wahrhaftig dunkle Gedanken, was sich im Kopf meines Bruders abspielt. Gerade überlegt er sich, wie er es schafft, dass Marco nicht in Panik zu den Polizisten rennt, sobald Yury ihn sich schnappt.
Er muss ihn irgendwie erpressen. Jeder hat einen weichen Punkt. Meistens ist das die Familie – die Partnerin, die Geschwister, Kinder oder Eltern. Yurys weicher Punkt war ich. Marco hat ihn sprichwörtlich genau getroffen.
Entweder Marco kommt mit oder Yury und sein Trupp ermorden alle, die ihm nahestehen. Seine Familie und seine Freunde. Thorsten wäre heute fast der Erste gewesen. Marco weiß jetzt, dass Yury es ernst meint. Kein schlechter Plan. Nur hat Yury nicht daran gedacht, wie er Marco das alles mitteilen soll. Sein Deutsch ist dafür einfach zu schlecht.
Ich versuche zu verstehen, woher Yurys Besessenheit stammt, meinen Tod auf so grausame Weise zu rächen. Natürlich will jeder Gerechtigkeit. Was Yury aber vorhat, ist weit überzogen. Als ich in seiner Seele forsche, finde ich die Antwort.
In erster Linie geht es ihm natürlich darum, den Tod seines Bruders zu rächen. Es gibt aber noch zwei weitere Gründe, die seinen Rachefeldzug befeuern. Zum einen ist sein Selbstvertrauen angekratzt, weil Marco ihn so einfach an diesem Abend überrumpelt hat. Obwohl Yury eine Pistole hatte und Marco am Boden kniete. So leicht hätte die Situation nicht kippen dürfen. Für Männern, die wie Yury von Testosteron geleitet werden, sind solche Niederlagen schwer zu akzeptieren. Entweder suchen sie die Schuld für das eigene Versagen bei den anderen oder sie revanchieren sich eben.
Zum anderen gab es da ein Ereignis in unserer Kindheit, das ich fast schon vergessen hatte. Als ich neun Jahre alt war, hatte ich jede Woche Flötenunterricht. Meistens hat mich meine Mutter abgeholt, aber an einem Nachmittag hatte sie einen Arzttermin, weswegen mich Yury abholen sollte. Doch er hat es einfach vergessen.
Als nach zwanzig Minuten keiner kam, bin ich allein losgelaufen. Ich dachte, dass ich den Weg kenne, aber wie es kommen sollte, habe ich mich verlaufen.
Meine Mutter kam nach Hause und fand Yury allein vor dem Fernseher. Da bekam sie fast einen Herzinfarkt. Sie machten sich sofort auf den Weg und fanden mich letztendlich unter einem Baum stehend, weil es in der Zwischenzeit angefangen hatte zu regnen. Ich war komplett durchnässt.
Mein Bruder hatte danach einen Monat Hausarrest und Fernsehverbot, denn jeder große Bruder hat eine gewisse Verantwortung. Das Schuldgefühl von damals hat ihn seit gestern wieder eingeholt. Nur ist es jetzt hundert Mal stärker. Es scheint, als wäre Marcos Tod der einzige Weg, damit Yury seinen Frieden findet.
Marco steht immer noch am Schalter. Gerade als Yury losgehen will, dreht sich Marco zu ihm um. Beide schauen sich ein paar Sekunden lang in die Augen. Dann greift Yury nach seiner Waffe und geht auf Marco zu.
13. MARCO
Verdammt! Verdammt! Das Russenschwein ist hier! Verfluchte Scheiße! Wie kann das sein? Woher wusste er, dass ich am Flughafen bin? Er ist hinten in der Halle und kommt auf mich zu. Mir bleibt nicht viel Zeit, um das Ticket zu kaufen.
„Wir hätten noch ein Last-Minute-Angebot. Nur siebenhundert Mark. Nach São Paulo in Brasilien, Umsteigen in Frankfurt. Das ist der gleiche Flieger, um viertel nach acht, und der Rückflug geht in zwei Wochen. Sie können sich’s ja noch für ein paar Minuten überlegen. Ich müsste dann nur leider auch noch andere Kunden bedienen.“
Blöde Fotze, halt deine Fresse! Außer mir steht niemand am Schalter.
Ich muss überlegen. Ruhig bleiben. Verfickte Scheiße, was mach’ ich nur? Soll ich wirklich für zwei Wochen nach Brasilien fliegen? Auf jeden Fall wär’ ich dann weit weg von Berlin und den Russen.
„Gut, ich nehm’ den Flug nach São Paulo.“
Von dort kann ich dann weiter nach Blumenau fahren. Dann muss ich nur noch die Kriegshelden aus der Fernseh-Reportage finden. Hoffentlich sind die alten Säcke überhaupt noch am Leben.
Als der Russe noch zehn Meter von mir entfernt ist, biegen zwei Bullen mit ihrem Hund um die Ecke. Ein guter deutscher Schäferhund. Warum kann der den Russen nicht einfach anfallen und zerfleischen?
Es ist, glaub’ ich, das erste Mal, dass ich heilfroh bin, Bullen zu sehen, denn der Russe bleibt schlagartig stehen. Jetzt muss sich nur noch die dumme Kuh beeilen. Ich geb’ ihr das Geld und meinen Reisepass.
„Sind Sie sich sicher, dass Sie noch heute Abend fliegen möchten? Sie riechen stark nach Alkohol, wenn ich das so sagen darf, und wirken etwas … unpässlich.“
Ach was, ich wirk’ unpässlich? Was auch immer das heißt, mach hinne, du fette Qualle! Ich bin kurz davor, ihr an die Gurgel zu springen.
„Es ist alles okay. Können Sie mir jetzt bitte das Ticket geben, ich hab’s ziemlich eilig.“
Sie sagt mir noch, wo ich als Nächstes hin muss, was doch ganz hilfreich ist, da ich ja noch nie geflogen bin.
Der Russe starrt mich weiter aus sicherer Entfernung an und scheint nur darauf zu warten, dass die Bullen oder ich weiterziehen. Das ist es! Ich werd’ ihm die Bullen auf den Hals hetzen!
Als ich zu ihnen geh’, kläfft mich der blöde Köter an. Da drüben ist der Feind, du dummes Vieh!
„Entschuldigen Sie. Sehen Sie den Typen da drüben? Ich glaub’, dass er eine Pistole hat. Es sah zumindest danach aus. Etwas Metallenes im Hosenbund.“
Die Bullen schauen mich ziemlich verwundert an und gucken dann zum Russen rüber, der seinen Blick schnell abwendet.
„Sind Sie sich da ganz sicher?“
Na klar hat das Arschloch ’ne Waffe. Holt ihn euch!
„Von der Ferne sah es jedenfalls nach einer Pistole aus. Wollte ich Ihnen nur sagen. – Ich muss jetzt leider weiter. Mein Flieger geht gleich.“
Die Bullen gehen langsam auf den Russen zu, die Hände am Pistolenhalfter, und setzen dann ihren Köter auf ihn an. Der Hund bleibt wenige Zentimeter vor ihm stehen, bellt wie verrückt und fletscht die Zähne. Wie versteinert rührt sich der Russe keinen Zentimeter mehr. Er ignoriert den Hund und blickt mir hasserfüllt hinterher.
Leider hab’ ich keine Zeit mehr, um mitzubekommen, was die Bullen mit ihm machen. Ich bin nur unglaublich glücklich, dass ich das Arschloch los bin, und lauf’, so schnell es geht, zur Sicherheitskontrolle.
Was soll das hier? Die behandeln einen ja wie einen Kriminellen! Das Abtasten kenn’ ich nur von den Bullen. Die haben uns einmal auf der Straße angehalten und gefilzt. Ziemlich erniedrigend, dieses ganze Prozedere.
Jetzt muss ich anscheinend zu einem „Gate“. Sprechen die hier kein Deutsch oder was? Ist mir aber gerade scheißegal. Ich bin erleichtert, dass ich die Kontrolle hinter mir hab’. Jetzt bin ich das Russenschwein endgültig los. Zumindest für die nächste Zeit. Der Sicherheitsbeamte zeigt mir noch, wo dieses „Gate“ ist.
Das „Boarding“ beginnt. Noch so ein Scheißwort. Ein paar Leute stehen auf und begeben sich zu einem Schalter, wo sie noch mal irgendetwas kontrollieren. Haben die nicht schon genug kontrolliert? Von denen hätte sogar die Gestapo noch was lernen können. Danach dürfen wir endlich ins Flugzeug einsteigen. Am besten, ich stell’ mich auch mal an, nicht dass ich noch meinen Flieger verpass’.
Ein südländisch aussehender Typ lächelt mich an, als ich dran bin.
„Schönen Abend. Ihren Reisepass und das Flugticket bitte.“
Wenn’s sein muss, du Scheißtürke. Ich drück’ ihm wortlos mein Ticket und meinen Pass in die Hand. Damit hat der Kanake wohl nicht gerechnet, dass Skinheads jetzt auch fliegen. Bald sind wir überall!
„Vielen Dank … Könnten Sie noch einmal kurz Platz nehmen, wir boarden gerade nur First und Business-Class.“
Wie bitte? ’ne Klassengesellschaft? Hier auf dem Flughafen? Der will mich bestimmt verarschen. Das lass ich mir nicht gefallen. Besonders nicht von ’nem Türken.
„Darf ich fragen, warum? Ich hab’ gerade siebenhundert Mark für das Ticket gezahlt und würd’ jetzt gerne einsteigen. Oder bin ich hier ein Mensch zweiter Klasse?“
Gleich entschuldigt sich der Kanake.
„Sie haben ein Economy-Ticket, das ist so was wie dritte Klasse. Sie müssen leider noch etwas Geduld haben.“
Er grinst mich dämlich an und widmet sich dann dem nächsten Passagier. Was für ’ne Frechheit! Ich starr’ ihn hasserfüllt an und geh’ wortlos zur Seite. Das Gesicht merk’ ich mir. Er kann nur zu seinem Allah beten, dass er mir in Berlin nicht irgendwann zufällig auf der Straße begegnet.
So schlimm ist Fliegen gar nicht. Als das Flugzeug auf dem Rollfeld Gas gibt und es anfängt zu rütteln, hab’ ich allerdings schon ein wenig Schiss. Trotz dem ganzen Alkohol. Das Abheben ist dann aber ein bisschen wie Achterbahn fahren.
Das Beste am Fliegen ist aber der Service. Es gibt umsonst was zu saufen. Wenn ich das gewusst hätte, wär’ ich schon viel früher mal geflogen.
Ich muss mich nur daran gewöhnen, dass mich ein paar von den Passagieren hier komisch anstarren. Wohl noch nie ’nen Skinhead gesehen? Verdammte kapitalistische Marionetten in ihren schicken Kleidern; die verstehen alle nicht, was mit unserem Vaterland gerade passiert. Ist denen auch scheißegal. Den ganzen Geschäftsleuten um mich herum geht es doch sowieso nur ums Geld. Warum sind alle nur so blind und käuflich? Daran sind auch die korrupten Medien schuld, die nie von den Verbrechen berichten, die die Kanaken und Juden begehen. Verdammte Lügenpresse! Für den ehrenhaften Dienst, den ich dem Vaterland leiste, sollte ich eigentlich in der ersten Klasse sitzen. Ich bin wahrscheinlich der Einzige an Bord, der Deutschland gegen unsere Feinde verteidigt!
Am Frankfurter Flughafen angekommen trau’ ich meinen Augen nicht. Noch nie hab’ ich so viele Kanaken auf einem Haufen gesehen. Wo ich hinblick’, seh’ ich Neger, Türken, Schlitzaugen und weiß der Geier was. Das kann doch nicht wahr sein! Wo kommen die alle plötzlich her?
Wenn es hier nicht so viele Bullen gäb’, müssten Stefan und ich mal mit unseren Kameraden aufmarschieren und gewaltig aufräumen. Die kämen dann mit Sicherheit nicht mehr so schnell nach Deutschland.
Der Flug nach São Paulo ist fast noch besser als der Flug nach Frankfurt. Die Stewardess schaut mich zwar etwas verwundert an, als ich nach dem Start erst mal ein Bier und einen Whisky bestell’, aber das ist mir egal. Wenn’s das Zeug schon umsonst gibt, muss man auch zulangen.
Dann bringen sie einem sogar noch eine warme Mahlzeit. Besser als der Fraß, den ich zu Hause von meiner Alten bekomm’!
An der Decke sind dieses Mal sogar kleine Bildschirme angebracht, wo sie Kinofilme zeigen. ’nen Kopfhörer geben sie einem auch noch. Hoffentlich kann ich den behalten. Ich hab’ meinen nämlich letztes Jahr verloren. Als Erstes läuft „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Den wollt’ ich eigentlich nie schauen, weil ein paar Kameraden meinten, dass er stinklangweilig wär’. Typische Ami-Produktion halt. Ich muss aber gestehen, dass ich das ein oder andere Mal schmunzeln musste.
Als der Film zu Ende geht, will ich noch ein Bier und einen Schnaps bestellen. Aber ich glaub’, ich penn’ ein, bevor die Stewardess vorbeikommt. Nach all den Strapazen bin ich hundemüde.
14. DIMA
Seit Stunden warte ich jetzt schon darauf, dass Yury einschläft. Er muss die Tiefschlafphase erreichen, damit ich in seine Traumwelt eintauchen kann. Nur dann kann ich die Umgebung im Traum so gestalten, dass er sich beruhigt. Ich will ihm erklären, dass er sich keine Vorwürfe machen braucht.
Leider nickt er vor dem Fernseher immer nur kurz ein und wacht alle zehn Minuten wieder auf. Er wirkt abwesend und trinkt schon sein viertes Glas Wodka.
Mein Bruder scheint immer noch ziemlich sauer darüber zu sein, dass Marco vor seinen Augen entkommen konnte. Letztendlich hat Marco ihm auch noch eine Strafanzeige wegen unerlaubten Waffenbesitzes eingebracht. Fast sechs Stunden war er auf der Polizeiwache. Anscheinend kann man dafür in Deutschland ins Gefängnis wandern, besonders wenn man an einem Ort wie dem Flughafen erwischt wird.
Anastasia macht sich auch Sorgen, liegt im Bett und starrt an die Decke. Als sie nachfragte, wo ich denn die ganze Zeit sei, meinte Yury, dass ich für ein paar Tage bei unseren Eltern bin, weil man sich dort besser auf die Prüfungen vorbereiten kann. Er hat ihr auch nicht erzählt, dass er festgenommen wurde, aber sie scheint zu ahnen, dass etwas Schlimmes vorgefallen ist. So hat sie Yury nämlich noch nie erlebt. Ich auch nicht. Egal, was kommt, ich werde alles daran setzen, ihm zu helfen.
Dafür schläft Marco sturzbetrunken im Flugzeug. Sein Sitznachbar hat sich soeben bei der Stewardess über sein Schnarchen und seine vorherige übermäßige Trinkerei beschwert. Gnädigerweise siedelt man ihn in die Business-Class um.
Für Marco und Yury scheint Alkohol das Mittel der Wahl zu sein, um schwierige Situationen zu bewältigen. Auch hier sind sich die beiden wieder sehr ähnlich.
Ich weiß nicht genau, warum, aber aus irgendeinem Grund will ich auch Marco helfen. Tief im Inneren seines vernarbten Herzens spüre ich noch etwas anderes als nur Hass und Bitterkeit. Als gäbe es eine besondere Verbindung zwischen uns beiden. Ich weiß aber noch nicht genau, was es ist.
Der Zeitpunkt ist gekommen, zumindest bei Marco, der sich jetzt im Tiefschlaf befindet. Ich dringe in seine Traumwelt ein und sehe, dass er gerade auf einer Wiese jemanden, der seinem ehemaligen Sitznachbarn im Flugzeug ziemlich ähnelt, verfolgt.
„Scheiß Kapitalistenschwein!“
Marco bleibt stehen und schreit so sehr, dass sein Kopf rot anläuft und seine Adern am Hals anschwellen. Ein wuchtiger, großer Mann mit einem dicken Nacken und Aknenarben ist jetzt auch dabei und gibt Marco die Hand, als würde er ihm gratulieren. Jetzt erkenne ich ihn wieder: Es ist sein bester Freund, Stefan. Anscheinend ist ihm seine Anerkennung wichtig.
Zeit für einen neuen Schauplatz.
Das Zimmer ist schlicht. Weiße Wände, keine Türen oder Fenster und keine Möbel, außer einem Tisch, an dem wir gemeinsam auf Klappstühlen sitzen. Eine kleine Deckenlampe spendet ein wenig Licht. Es sieht fast aus wie ein Verhörraum, obwohl das nicht meine Absicht war.
Marco starrt mich an, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. In gewisser Weise hat er das auch.
„Wie … Was … Was soll das?“, fragt er verdutzt.
An seiner Stelle wäre ich auch verwirrt.
„Was willst du kleiner Penner von mir?“
Ich will ihm helfen, dass er in seinem Leben noch die Kurve kriegt. Aber es wäre nicht sinnvoll, ihm das jetzt zu offenbaren.
„Hallo, Marco. Was sind denn das für Manieren? Wie wäre es erst einmal mit einer Entschuldigung?“
Er starrt mich eine Weile misstrauisch an.
„Wofür?“
Oh je, das wird ein schwieriges Unterfangen.
„Du weißt ganz genau, wovon ich rede, Marco. Dank dir bin ich jetzt tot. Ich war erst achtzehn Jahre alt!“
Er zuckt mit den Achseln. „Das ist nicht meine Schuld. Dein Kumpel hätte nicht mit seiner Pistole rumfuchteln sollen. Wenn er nicht meine Geldbörse geklaut hätte, wär’ das alles nie passiert. Ihr hättet euch einfach aus der Kneipe verpissen sollen, so wie ich’s euch gesagt hab’.“
Zuerst bin ich über das Fehlen jeglicher Empathie erstaunt. Ich wollte ja nur ein „Tut mir leid“ von ihm hören, mehr nicht. Es war ja nicht wirklich seine Schuld, da hat er recht. Trotzdem: Es ist ein junger Mensch durch sein Handeln gestorben.
Ich erinnere mich wieder daran, dass alles, was Menschen tun oder nicht tun, die Folge von bestimmten Dingen ist, die oft nicht unter ihrer Kontrolle stehen. Und ich kenne Marcos Vergangenheit. Deshalb kann ich verstehen, warum er sich mir gegenüber so herzlos verhält. Trotz dieser Erkenntnis darf ich ihn jetzt nicht aus der Verantwortung entlassen.
„Weißt du, wie das war, als ich angeschossen am Boden lag und langsam verblutet bin? Was für Schmerzen und Ängste ich hatte?“
Marco starrt mich nur hasserfüllt mit seinen blauen Augen an. Da ich keine Antwort bekomme, stehe ich schnell auf und bohre meine Hand in seinen Unterleib.
„So fühlt sich das an, Marco. Genau so.“
Er schreit auf und versucht meine Hand wegzureißen, aber es gelingt ihm nicht. Jetzt sehe ich Panik in seinen Augen.
„Hör auf! Verdammte Scheiße! Hör auf!“
Es geht mir nicht darum, ihn zu quälen. Marco ist wie ein aufmüpfiges Kind oder ein Straßenhund, dem man erst einmal Respekt beibringen muss. Er muss verstehen, wer das Sagen hat, damit er mir zuhört. Nur dann können wir ein normales Gespräch führen. Ich bin jetzt nicht mehr der „kleine Russe“, den er einschüchtern kann.
15. MARCO
Fast hätt’ ich der Stewardess versehentlich eine gelangt, als sie an meiner Schulter gerüttelt hat. Aber Gott sei Dank, dass sie mich geweckt hat! Das war vielleicht ein beschissener Traum! Er erschien mir viel realer als andere Träume. Wird wohl am Alkohol und Stress gelegen haben.
Wir sind gelandet. Ich bin der letzte Passagier in der Maschine. Willkommen in Brasilien!
Ich erreich’ die Grenzkontrolle. Hier sind mehr Leute als auf einem Böhse-Onkelz-Konzert. Haben die noch nie was von Schlange bilden gehört?
Nach einer Stunde anstehen und drängeln bin ich als Nächster dran. Ich lande bei einem Neger. Als hätt’ ich nicht schon genug Bimbos am Frankfurter Flughafen gesehen. Er grinst mich an. Wahnsinn, hat der weiße Zähne!
„Hello. You’re from Germany! How long are you staying in Brazil?“
Ich zuck’ die Schultern. Mein Englisch beschränkt sich auf nur ein paar Wörter, die ich seit der Wende im Radio oder im Fernsehen gehört hab’. Wahrscheinlich ist sogar mein Russisch besser. Das mussten wir ja alle zu DDR-Zeiten in der Schule lernen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was er will. Außerdem bin ich ziemlich verkatert und hab’ keine Lust, mich groß zu unterhalten. Daher sag’ ich nichts und starr’ ihn nur an. Er seufzt, schüttelt seinen Kopf und verpasst meinem Reisepass einen Stempel. Die Welt steht hier Kopf. In Berlin würd’ ich ihn durch die Straßen jagen. Hier aber sitzt er am längeren Hebel.
Laut Anzeigetafel ist es fünf Uhr. Ich glaube, morgens. Keine Ahnung. Wohin nun? Es wimmelt überall von Leuten. Entweder werden alle Passagiere, die gerade angekommen sind, von Verwandten abgeholt oder sie machen sich allein zügig auf zum Ausgang. Nur ich steh’ dumm rum und überleg’, wie zur Hölle ich nach Blumenau komm’.
Wie weit weg ist Blumenau überhaupt? Muss ich noch mal fliegen? Oder kann ich ’nen Bus nehmen? Ich komm’ mir vor wie ein Schuljunge, der in eine neue Klasse kommt, in der er niemanden kennt. Ein beschissenes Gefühl von Unsicherheit. Alles ist neu.
Kurz nachdenken und ruhig bleiben. Kohle, das ist das Erste, was ich hier brauch’. Anscheinend heißt die Währung hier „Cruzeiro“. Ich tausch’ mein Restgeld um, fast dreihundert Mark, und bekomm’ ’nen Haufen Scheine. Wahnsinn, sind das viele Nullen! Vielleicht bin ich jetzt stinkreich und kann hier wie ein König leben.
Wie komm’ ich jetzt nach Blumenau? Perfekt, ein Infostand.
Eine Mulattin. Na toll! Ich muss aber gestehen, dass sie ziemlich gut aussieht. So gut, dass bestimmt der ein oder andere Kamerad ein Auge zudrücken würde, um mit ihr im Hinterzimmer zu verschwinden. Wenn’s keiner wüsste, natürlich nur, besonders die deutschen Mädels nicht. Sie ist wahrscheinlich einen guten Kopf kleiner als ich, aber ansonsten stimmt alles. Langes, welliges dunkles Haar, ein paar Sommersprossen auf der Nase und die typischen Neunzig-sechzig-neunzig-Maße. Noch dazu trägt sie hautenge Kleidung.
„Hello. I want go Blumenau.“ Vermutlich ist das mein erster vollständiger Satz, den ich jemals auf Englisch gesprochen hab’. Wer weiß, ob das richtig war? Scheißegal. Wenn ihr Englisch genauso beschissen ist wie meins, dann verstehen wir uns vielleicht sogar ganz gut.
„You want to go to Blumenau? That’s a long way to go for today. I assume you want to travel by bus?“
Irgendwas mit Bus und dass es lange dauert. Zeit hab’ ich ja jede Menge.
„Yes, bus. Blumenau, please.“
Sie holt eine Landkarte aus der Schublade. Wahrscheinlich, um mir zu zeigen, wie weit weg Blumenau ist.
„We are here in São Paulo. You have to travel down there to Blumenau. Are you sure?“
Ach du Scheiße, ist Brasilien groß! Wahrscheinlich mehr als zwanzig Mal so groß wie Deutschland. Aber Blumenau ist eigentlich gar nicht mal so weit weg von São Paulo. Ich schau’ mir den Maßstab der Karte an und schätz’, dass es ungefähr fünfhundert Kilometer Richtung Süden sind. Bei dem riesigen Land hätt’ es viel schlimmer kommen können.
„You first have to take a bus to Curitiba. From there you take another bus to Blumenau. You understand?“
Das muss sie noch mal wiederholen. Sie zeigt erst auf eine andere Stadt, dann auf Blumenau.
„São Paulo to Curitiba, then Curitiba to Blumenau.“
Versteh’. Sie scheint zu ahnen, was meine nächste Frage ist. Wie zur Hölle komm’ ich jetzt nach Curitiba? Hoffentlich fährt ein Bus vom Flughafen direkt dorthin.
„You need to take a bus or a taxi from here to the Tietê Bus Terminal in São Paulo. From there you take a bus to Curitiba.“
Uff, ich schätz’, das wird ’ne lange Reise.
Ich entscheid’ mich, ein Taxi zur Busstation zu nehmen. Um in einem fremden Land mit einem öffentlichen Bus zu fahren, hab’ ich noch zu viel Schiss. Am Ende land’ ich hier noch irgendwo im Dschungel.
Zum Glück hat sie alles gnädigerweise aufgeschrieben, sogar auf Portugiesisch, wie sie sagt. Das ist also die Sprache, die sie hier sprechen. Ich dachte, es wär’ Spanisch oder dass sie ihre eigene Sprache hätten, so was wie Brasilianisch.
Den Zettel mit ihrem Gekritzel muss ich dann nur noch an der Busstation vorzeigen. Es fällt mir schwer, dies zuzugeben, aber die Mulattin am Infostand war sehr hilfreich. Und das sag’ ich nicht nur wegen ihrem Aussehen.
Am Taxistand steig’ ich in den ersten Wagen und geb’ dem Fahrer den Zettel. Ich zeig’ mit dem Finger auf „Tietê Bus Terminal“. Kaum sind wir losgefahren, stecken wir auch schon im Stau.
São Paulo erinnert mich in mancherlei Hinsicht an Teile von Berlin: grau, heruntergekommen, viel Beton. Ich wusste nicht, was mich in Brasilien erwarten würde. Natürlich hab’ ich an Strände, Strohhütten und Palmen gedacht. Davon sieht man hier aber nichts. Immerhin ist’s in São Paulo um einiges wärmer als in Berlin.
Der Taxifahrer versucht natürlich mit mir zu reden. Sein Englisch ist wahrscheinlich noch schlechter als meins. Ich glaub’, er erzählt, dass seine Vorfahren aus Italien stammen. Nach einer Weile gibt er auf, weil ich nicht wirklich antworte. Auf sein Geschwätz hab’ ich gerade einfach keinen Bock. Und so stehen wir fast eine halbe Stunde schweigend im Stau.
Als ich an der Busstation aussteig’ und zahlen muss, hab’ ich natürlich keine Ahnung, wie viel die Fahrt gekostet hat. Ich halt’ ihm einfach mein Bündel Cruzeiros hin und hoff’, dass er mich nicht bescheißt. Mist, er nimmt zwei von den Scheinen mit den meisten Nullen! Entweder er haut mich gerade übers Ohr, oder man kann hier mit dreihundert Mark doch nicht wie ein König leben.
Egal, ich bin heil an der richtigen Busstation angekommen, was mir ein wenig Selbstvertrauen gibt.
Dank dem Zettel kauf’ ich mir dann einen Fahrschein nach Curitiba. Der nächste Bus geht erst in einer Stunde, was mir ganz gelegen kommt. Das gibt mir Zeit, etwas zu fressen. Ich hab’ einen Wahnsinnshunger.
Im Terminal gibt es ein Café, wo natürlich alles nur auf Portugiesisch angeschrieben steht. Die Leute starren mich an, als sei ich von einem anderen Planeten, was in gewisser Weise ja auch stimmt. Ich bin wohl der erste Skinhead, den sie jemals gesehen haben, ohne überhaupt zu wissen, was ein Skinhead ist. Das ist wahrscheinlich auch besser so, bis ich in Blumenau angekommen bin.
Die Brasilianer scheinen ein ziemlich bunter Haufen zu sein, wenn ich mir die Leute hier im Café so anschau’. Hier sieht man alle Hautfarben, vom Arier bis hin zum schwärzesten Neger. In der Ecke sitzen sogar zwei Typen, die wie Japaner aussehen. Sie scheinen aber Brasilianer zu sein, weil sie Portugiesisch sprechen und mit einigen südländisch aussehenden Typen am selben Tisch sitzen.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf das Essen von anderen Leuten zu zeigen, um etwas zu bestellen. Der Kellner grinst mich an und nickt. Ich fuchtle noch ein wenig mit den Händen rum, um zu signalisieren, dass ich auch Wasser brauch’.
Es hat geklappt. Anscheinend ess’ ich etwas, das „Feijoada“ heißt, und das nicht gerade appetitlich aussieht. Wie dunkler Durchfall, in dem Bohnen und Fleischstückchen schwimmen. Es schmeckt aber ziemlich gut. Vielleicht, weil ich so hungrig bin.
Es geht los. Die Fahrt verbring’ ich neben einem Typen, der sich mir als Eduardo vorstellt. Eigentlich bin ich zu müde, um mit ihm zu reden, aber ich will diesmal nicht unhöflich sein. Immerhin bin ich hier Gast. Wir versuchen uns daher mit Händen und Füßen zu unterhalten. Eduardo sieht aus wie ein typischer Südeuropäer und hat dunkle, kurze gekräuselte Haare. Er ist etwa Mitte vierzig, ziemlich pummelig und könnte wegen seiner Körperbehaarung als Werwolf durchgehen. Dem sprießen die Brusthaare nur so aus dem Kragen. Wahrscheinlich überlegt er jeden Morgen, wo er am Hals mit dem Rasieren aufhören soll. An seiner Stelle würd’ ich bis zum Brustbein alles abholzen. Und die Unterarme erst! Der Wahnsinn! Die sehen aus wie schwarze Schafe. Der arme Junge schwitzt in seinem Pelz bestimmt noch mehr als ich.
Wenn ich’s richtig verstanden hab’, verkauft Eduardo Autos. Wahrscheinlich war er deswegen ziemlich erfreut, als ich ihm erzählt hab’, dass ich aus Deutschland komm’. Danach hat er mir stolz alle deutschen Automarken aufgezählt. Am besten findet er Volkswagen. Das würde Hitler natürlich freuen. Die haben anscheinend in der Nähe von São Paulo seit dreißig Jahren ein Werk. Ich weiß nicht so ganz, was ich darauf antworten soll, da mir Autos ziemlich egal sind, auch weil ich nie den Führerschein gemacht hab’. Dafür hatte ich keine Kohle. Also nick’ ich nur und grins’ ihn an.
Er bietet mir noch was von seinen dicken Pommes an, die er „Mandioca“ nennt. Keine Ahnung, was ich da genau ess’, aber aus Kartoffeln sind die Dinger nicht.
Langsam lassen wir die Betonwüste hinter uns und es wird grüner. Die Sonne hat sich mittlerweile durchgesetzt und es ist jetzt ziemlich heiß im Bus. Die Klimaanlage gibt alles, aber wenn man in der Sonne sitzt, hilft es nicht viel, besonders wenn man enge Jeans und Springerstiefel trägt. Immerhin konnte ich meine Bomberjacke unter dem Sitz verstauen. Trotzdem schwitz’ ich wie ’ne Sau. Das ist aber immer noch besser, als ständig vor dem verrückten Russen auf der Hut zu sein. Hier wird er nie nach mir suchen.
Nach sieben Stunden Busfahrt kommen wir endlich in Curitiba an. Von Schweiß durchnässt, bin ich kurz davor, meine eigene Pisse zu trinken, so viel Durst hab’ ich. Und Hunger hab’ ich auch wie ein Irrer.
Immerhin scheint es hier angenehmer zu sein als in São Paulo. Weniger Müll, Beton und Verkehr.
Mittlerweile ist es vier Uhr nachmittags, aber es fühlt sich kein Stück kühler an. Als wir aus dem Bus aussteigen, brennt die Sonne immer noch auf uns herab.
Mein kleiner Zettel ist wirklich ein Lebensretter. Für die Mulattin vom Infostand würd’ ich jederzeit bei den Kameraden ein gutes Wort einlegen, sollte sie sich jemals nach Berlin verirren.
Anscheinend geht von dieser Station in eineinhalb Stunden ein Bus nach Blumenau. Bingo! Ich kauf’ sofort ’nen Fahrschein und seh’ mich um, wo ich was zu trinken und zu essen bekomm’. Vielleicht gibt’s hier auch den dunklen Durchfallbrei, den ich in São Paulo gegessen hab’. Im Augenblick würd’ ich echt alles verputzen. Sogar ’nen Döner, wenn es niemand weitererzählt.
Leider ist kein Café in Sicht. Dafür aber eine kleine Buchhandlung. Es wär’ wahrscheinlich nicht schlecht, wenn ich mir ein Wörterbuch kauf’, um wenigstens ein Wasser bestellen zu können.
Nach längerem erfolglosen Stöbern tritt eine kleine alte pummelige Dame an mich heran. Sie ist bestimmt fast achtzig und hat schneeweißes, kurzes gelocktes Haar. Ihre Augen werden durch ihre dicke Hornbrille so stark vergrößert, dass ich glaub’, vor mir würde ein Troll stehen.
„Posso ajudar?“
Wie erklär’ ich ihr, dass ich ein Deutsch-Portugiesisch-Wörterbuch brauch’?
„Hello, German-Portugal book, please?“ Das ist alles, was ich schaff’. Sie lacht nur freundlich.
„O que você quer?“
Ich probier’s noch mal. „German, äh, Deutsch book, learn Portugal.“ Wenn sie es jetzt nicht rafft, dann geb’ ich auf. Sie grinst mich wieder an.
„Sind Sie Deutscher?“
Mich haut es fast um. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals so glücklich sein würde, Deutsch zu hören. Auch wenn es von einer alten kleinen Schrulle kommt. Glück im Unglück, anders kann man das nicht nennen. Was für ein wahnsinniger Zufall! Am liebsten würd’ ich sie jetzt umarmen und ihr einen dicken Schmatzer verpassen!
16. DIMA
Die Sonne geht gerade auf und Yury ist schon bei Doktor Kozlovsky, bei dem mein Körper in einem Leichensack lagert. Zwei Tage ist mein Tod jetzt schon her. Sie packen mich schnell in den Kofferraum von Yurys BMW, wo noch vor nicht allzu langer Zeit Thorsten herumstrampelte. Dieser Kofferraum hat schon einiges gesehen.
Yury und Doktor Kozlovsky umarmen sich, dann fährt Yury zur nächsten Tankstelle und belädt den Kofferraum mit etlichen Plastiksäcken voll mit Eiswürfeln.
Die Fahrt nach Wolgograd wird ungefähr drei Tage dauern. Yury hat seiner Freundin Anastasia und unseren Eltern erzählt, dass ein alter Schulkamerad von uns Junggesellenabschied feiert und dass wir deswegen ganz spontan in die Heimat aufgebrochen sind. Sie waren darüber ziemlich verwundert, haben aber nicht weiter nachgefragt.
Nach dreizehn Stunden Autofahrt hält Yury in Minsk. Ich bin überrascht, dass er so lange durchgehalten hat. Bis auf ein paar Pausen und trotz Schlafmangel hat er Polen schnell durchquert und ist bereits vor Einbruch der Dunkelheit angekommen.
Ein altes schäbiges Hotel im Süden von Minsk ist für heute Nacht seine Bleibe. Die Leute auf der Straße bestaunen seinen BMW mit deutschem Nummernschild. Yury isst noch rasch etwas zu Abend und legt sich danach sofort ins Bett.
Endlich! Yury hat die Tiefschlafphase erreicht. In seinem Traum setze ich ihn an den Schreibtisch in meinem Zimmer, wo er mit Tränen in seinen Augen meine Bücher betrachtet. Ich trete ein und lege ihm meine Hand auf die Schulter. Er blickt zu mir auf, schaut verstört und steht dann blitzartig auf, um mich fest zu umarmen.
„Ich dachte, du bist tot, Dima. Was für ein furchtbarer Traum! Du kannst dir nicht vorstellen, wie traurig ich war.“
Nicht nur Yury ist in diesem Moment glücklich. Ich bin es auch. Am liebsten würde ich noch länger in dieser Umarmung verweilen und in dieser Traumwelt weiterleben.
„Alles ist okay, Yury. Alles ist gut.“
Ich löse mich aus seiner Umarmung und wir schauen uns eine Weile in die Augen.
„Yury, hör mir zu, ich bin tatsächlich tot, aber das heißt nicht, dass ich nicht bei dir bin.“ Mein Bruder starrt mich ungläubig an.
„Aber ...“
„Von nun an bin ich jeden Tag bei dir. Jede Minute. Für immer.“
Es bilden sich wieder Tränen in seinen Augen.
„Du hast dir nichts vorzuwerfen, Yury. Es war einfach ein Unglück. Versprich mir, dass du dir keine Selbstvorwürfe machst und nicht dem Hass verfällst. Lass dich nicht in den Wahnsinn treiben. Es ist passiert, und du musst nun dein Leben weiterleben. Du hast noch so viel vor dir. Versau dir dein Leben nicht wegen mir. Das ist doch genau das, was diese scheiß Skinheads wollen. Versprich es mir.“
Er blickt mich weiterhin mit seinen glasigen Augen an. Als er seinen Mund öffnet, um etwas zu sagen, erwacht er erschrocken in seinem Hotelbett.
Yury atmet tief durch, macht das Licht an und blickt sich um. Nachdem er sich vergewissert hat, dass er allein in seinem Hotelzimmer ist, legt er sich wieder schlafen. Hoffentlich ist von meiner Botschaft etwas bei ihm hängen geblieben.
Das Frühstück im Hotel am nächsten Morgen ist dürftig. Eine Tasse schwacher Kaffee, Butterbrot und ein Glas Orangensaft, den sie mit Wasser verdünnt haben.
Yury raucht eine Zigarette, dann fährt er weiter nach Moskau. An der russischen Grenze wird er, als der Grenzbeamte seinen Reisepass und sein deutsches Nummernschild skeptisch inspiziert, noch einmal nervös. Nur nicht in den Kofferraum gucken!
Er spricht Yury auf Russisch an. Ob er etwa schon genug vom Westen habe und zurückkomme. Yury lacht und antwortet, dass er nur Verwandte besucht.
„Willkommen in der Heimat.“
Yury bekommt seinen Reisepass zurück und wird durchgewunken.
Am späten Nachmittag kommt Yury in Moskau an, wo viele seiner früheren Schulkameraden heute leben. Mit den meisten hat er, seit er in Berlin wohnt, keinen Kontakt mehr gehabt. Als Jugendlicher wollte Yury nach der Schule immer nach Moskau ziehen, in die große Stadt, in der immer was los ist und die fast zehnmal so viele Einwohner hat wie Wolgograd.
Wie am Abend zuvor bleibt er auch dieses Mal nur eine Nacht in einem billigen Hotel. Als er eincheckt, begegnet ihm eine Prostituierte mit ihrem Freier, der vom Alter her ihr Großvater sein könnte.
Russisches Fernsehen! Das habe auch ich in Berlin vermisst. Yury schaut bis tief in die Nacht Spielfilme, auch um den Lärm zu übertönen, der von den Prostituierten in den Zimmern nebenan kommt. Es läuft gerade „Andrei Rublev“, einer meiner Lieblingsfilme. Ein Klassiker. Er handelt von einem russischen Maler, der gegen Ende des Mittelalters gelebt hat. Ich hätte nicht gedacht, dass Yury so etwas schaut. Normalerweise sind eher Hollywood-Action-Filme sein Ding.
Heute Nacht werde ich ihm keinen Besuch in seinen Träumen abstatten. Er braucht Ruhe und einen erholsamen Schlaf.
Am Morgen kauft Yury noch einmal Plastiksäcke und eine weitere Ladung Eis, damit mein Leichnam nicht anfängt zu gammeln. Hoffentlich wird er bald eingeäschert. Seltsamerweise betrübt mich der Gedanke nicht sonderlich. Ich bin mehr um meinen Bruder besorgt.
Spät abends kommt Yury endlich in Wolgograd an. Er übernachtet wieder in einem Hotel, das in der Nähe unseres alten Hauses liegt.
Als Erstes öffnet er auf seinem Zimmer eine Flasche Wodka. Das erste Glas hat er sich nach drei Tagen Autofahrt auch wirklich verdient, finde ich. Vielleicht sogar ein zweites. Nachdem er aber die halbe Flasche geleert hat, ergibt sich ein trauriges Bild: Er versinkt in Trauer und sinnt noch immer auf Rache.
Für mich ist es eine hochemotionale Sache, wieder in Wolgograd zu sein, auch wenn ich dieses Mal alles von einer anderen Perspektive aus betrachte. Alte Erinnerungen kommen wieder hoch. Wie aufgeregt war ich damals, als Yury mir beigebracht hat, Fahrrad zu fahren! Die ersten Meter ohne Stützräder. Ein unglaubliches Gefühl. Oder als wir in den heißen Sommermonaten Insekten gefangen haben, um sie in Gläsern besser beobachten zu können.
Yury schmunzelt, denn er erinnert sich gerade daran, wie er mir, wie so oft, einen Streich gespielt hat. Damals hat er mir nachts zwei Kröten unter die Bettdecke gesteckt. Als ich sie am Morgen entdeckte, bin ich laut schreiend zu meinen Eltern gerannt. Ich bin nie dazu gekommen, ihm das heimzuzahlen.
Am nächsten Tag wacht Yury mit einem dicken Kater auf. Und was tut er? Erst einmal eine Zigarette anzünden und einen Kaffee trinken. Das tägliche ungesunde Ritual.
Obwohl er den ganzen Tag ziemlich träge ist, erledigt er rasch all das, weswegen er nach Wolgograd gekommen ist. Nach ein paar Telefonaten und einem Treffen mit einem alten Schulfreund wird alles in die Wege geleitet, um einen Totenschein ausstellen zu lassen. Angebliche Todesursache: Ich habe zu viel getrunken und bin dann vor ein fahrendes Auto gelaufen, das nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Nicht sehr originell, aber vielleicht am glaubwürdigsten.
Dann folgt der wohl schwierigste Moment in Yurys Leben. Er muss meinen Eltern nicht nur die Nachricht von meinem Tod überbringen, sondern auch noch dabei lügen. Ich wünschte, ich könnte ihm Beistand leisten.
Natürlich haben meine Eltern gleich den ersten Flug nach Wolgograd genommen. Als ich ihren Schmerz spüre, zerbricht es mir fast das Herz. Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben müssen. Erst jetzt verstehe ich, was Tausende Eltern jeden Tag weltweit durchleben müssen. Denn jeden Tag sterben unzählige Kinder durch Krankheit, Unfälle und manchmal auch aufgrund von Verbrechen.
Ein Gedanke spendet ein wenig Trost: In der Geschichte der Menschheit ist solch eine Tragödie schon Millionen von Eltern widerfahren. Vor ein paar Jahrhunderten noch ist jedes dritte Kind in Europa nicht älter als fünf geworden. Damals war es ganz normal, dass viele Töchter und Söhne früh gestorben sind. Es ist unglaublich, wie sehr die Menschheit in dieser Hinsicht in relativ kurzer Zeit vorangekommen ist. Zumindest in den reichen Ländern.
Meine Beerdigung ist relativ schnell über die Bühne gegangen. Es war schön, alte Verwandte und Freunde zu sehen. So betrachtet haben Beerdigungen auch etwas Positives. Sie stärken den Familienverband.
Jetzt, am Abend, nachdem schon ein paar Flaschen Wodka geflossen sind, erinnert das Ganze fast an ein Familienfest. Das macht mich dann doch irgendwie glücklich. Besonders wenn ich Yury sehe, so wie ich ihn am liebsten in Erinnerung behalten möchte: Er umarmt unsere Verwandten und lacht, während er alte Geschichten über uns erzählt. Natürlich nur solche, in denen ich etwas angestellt habe oder mein Bruder mir wieder einmal einen Streich gespielt hat!
17. MARCO
„Klar bin ich Deutscher, Sie etwa auch?“, erwidere ich. Meine Aufregung darüber, mit einer alten Schachtel deutsch zu quatschen, mag übertrieben erscheinen, aber es ist wirklich so: Ich bin heilfroh, endlich mal wieder jemanden zu verstehen.
„Das bin ich, mein Bub! Aber ich bin schon seit langer, langer Zeit in Brasilien, und das ist jetzt meine neue Heimat. Was machst du denn in Curitiba? Hier sieht man selten Ausländer.“
Jetzt bin also ich offiziell ein Ausländer. Wer hätte das je gedacht? Aber im Gegensatz zu all den Ausländern in Deutschland will ich gar nicht hier sein. Ich bin nur wegen dem Scheißrussen hier. Und in zwei Wochen bin ich auch schon wieder weg.
Was antworte ich ihr jetzt?
„Ich mach’ ein wenig Recherche für die Uni über deutsche Auswanderer nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin eigentlich auf dem Weg nach Blumenau. Vielleicht könnte ich Sie ja für meine Recherche befragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht? Oder kennen Sie vielleicht andere Deutsche, die hier in Curitiba leben, die ich befragen könnte?“ Vielleicht lern’ ich ja durch sie den ein oder anderen Kriegshelden kennen, so wie ich es geplant hatte. Auch wenn es in Curitiba und nicht in Blumenau ist.
„Jungche, ich freu’ mich ja so, jemanden aus Deutschland kennenzulernen! Dazu noch in meiner Buchhandlung! Gerne kannst du mich befragen! Hast du heute Abend schon Pläne? Warum kommst du nicht zu uns zum Abendessen? Dann erzähl’ ich dir alles, was du wissen willst. Ich schließ’ in einer halben Stunde den Laden ab, dann können wir zusammen gehen, mein Büble.“
Na, das läuft doch gar nicht mal so schlecht. Hunger hab’ ich ja auch. Seit meiner Ankunft in Brasilien klappt wirklich alles!
„Ach, das ist aber zu gütig von Ihnen! Nur wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht. Ich wär’ dann so in dreißig Minuten wieder hier.“
Sie strahlt über beide Ohren.
„Ganz und gar nicht, mein Kind. Es wär’ mir eine Ehre! Ich freu’ mich ja so!“
Wie vereinbart kehr’ ich nach Ladenschluss wieder zurück. Als wir losgehen, hakt sie sich bei mir ein und grinst zu mir rauf. Ihr Gang erinnert mich an eine langsam watschelnde Ente. Liegt vielleicht auch an ihren dicken, geschwollenen Füßen, die fast ihre Schuhe zum Platzen bringen. Wahrscheinlich wegen der Hitze.
So ist es also, wenn man Großeltern hat, denk’ ich mir. Gemächlich im Schneckentempo mit einem alten Menschen den Bürgersteig entlangspazieren. Leider hatte ich nie wirklich Großeltern. Die Eltern meines Vaters sind beide kurz nach meiner Geburt gestorben. Krebs und Schlaganfall. Und die Eltern meiner Mutter hab’ ich nie kennengelernt. Sie hat es irgendwie geschafft, sich mit ihrer ganzen Familie zu verkrachen. Als ich meine Mutter mal gefragt hab’, was passiert ist, hat sie sich geweigert, mir irgendwelche Einzelheiten zu erzählen. „Es ist kompliziert“, hat sie immer nur gesagt. Wahrscheinlich hat sie irgendwann Scheiße gebaut und will es nur nicht zugeben.
„Und sag, mein Bub, wie heißt du denn eigentlich, und aus welcher Stadt kommst du?“
Diese Frage kann ich zur Abwechslung mal ehrlich beantworten. „Marco ist mein Name, und ich komm’ aus Berlin.“
Sie bleibt stehen, öffnet sprachlos ihren Mund und reißt erstaunt ihre Augen auf, die durch die dicke Hornbrille ja sowieso schon stark vergrößert sind, als hätte sie gerade beim Bingospielen gewonnen. Bei dem Anblick kriegt man ja fast Schiss. Dann packt sie mich fest am Arm.
„Nein, das gibt’s ja nicht! Da bin ich geboren und aufgewachsen! Das ist ja unglaublich, mein Jungche!“ Jetzt klatscht sie wie ein Kind in die Hände. Wenn sie nicht so alt wär’, würde sie dabei wahrscheinlich auch noch vor Aufregung in die Luft springen. „Du musst mir gleich erzählen, wie es in Berlin heute so ist. Gertraud heiß’ ich übrigens. Du kannst mich gerne duzen, mein Jungche. Meine Güte, was für ein aufregender Tag!“
Zugegeben, das ist schon ein krasser Zufall. Ich hoff’ nur, dass sie nicht gleich ’nen Herzinfarkt kriegt und vor mir umkippt.
Wir nähern uns endlich einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau. Im Flur hängt ein eingerahmtes, leicht vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto von einem Mann in deutscher Uniform. Hoch dekoriert. Ein Eisernes Kreuz! Wahrscheinlich ihr Ehemann. Volltreffer! Wahnsinn, was für ein weiterer Glücksfall. Ich kann es kaum fassen.
„So, mein lieber Marco. Ich wärm’ uns ‚Barreado‘ auf, ein leckeres traditionelles Gericht, das schmeckt dir bestimmt. Das hab’ ich gestern den ganzen Tag lang gekocht!“
Und gutes Essen gratis noch dazu! Vielleicht sollte ich in Brasilien bleiben und nur noch Lotto spielen. Die sechs Richtigen sind garantiert.
„In ein paar Minuten kommt auch mein Enkel João. Er bleibt für ein paar Wochen bei mir, um in der Buchhandlung auszuhelfen, weil ich diese dummen Rückenschmerzen hab’. Ansonsten studiert er in São Paulo. Er spricht auch Deutsch. Meine Tochter hat ihn in São Paulo aufs Colégio Humboldt geschickt. João wird sich bestimmt freuen, dich kennenzulernen!“
Ihr Enkel João ist mir scheißegal. Wo ist ihr Ehemann? Der würd’ mich viel mehr interessieren.
Sie bringt den Fraß auf den Tisch. Er sieht genauso aus, wie das braune Zeug, das ich heute Morgen schon in São Paulo gegessen hab’. Nur hatte es dort einen anderen Namen. Es schmeckt auch fast genauso. Haben die in Brasilien nur ein einziges Nationalgericht?
„Sehr lecker! Vielen Dank, Gertraud. Wer ist denn der nette Herr auf dem Foto im Flur? Ist das dein Ehemann?“
Es ist schon etwas komisch, eine alte Oma, die ich gerade erst kennengelernt hab’, zu duzen. Wenn sie aber darauf besteht. Wahrscheinlich ist es in Brasilien üblich, die scheinen hier nämlich alle ziemlich locker drauf zu sein.
Mal schauen, ob meine Glückssträhne weiter anhält. Wer weiß, vielleicht horten sie hier auch Waffen oder andere Sachen aus dem Dritten Reich. Stefan gibt seine ganze Kohle für so’n Zeug aus. Letztes Jahr hat er vierhundert Mark für einen alten Wehrmachtshelm und verschiedene Orden ausgegeben. Er trifft sich oft mit anderen Sammlern, dann reichen sie stolz ihre Neueinkäufe rum und machen manchmal auch Tauschgeschäfte. Vielleicht komm’ ich ja mit der ein oder anderen Rarität zurück nach Berlin. Dann werden mich bestimmt alle beneiden. Das alte Zeug könnte ich für anständig Kohle verkaufen.
„Heinrich? Das war mein geliebter Ehemann. Er ist leider schon vor vielen Jahren gestorben. Lungenkrebs. Ich hab’ ihm immer gesagt, dass er mit dem Rauchen aufhören soll, aber er hat nicht auf mich gehört!“
Scheiße! Das ist echt ärgerlich, mit ihrem Ehemann. Jetzt muss ich mich doch mit der alten Schrulle begnügen.
„Entschuldige, mein Bub, aber du rauchst doch nicht etwa auch?“ Sie schaut mich besorgt mit ihren großen Augen an. „Du hast doch nicht etwa Krebs und machst eine Chemotherapie?“, fragt sie ganz ernst, während sie meine Glatze betrachtet.
Wie bitte? Ist die total bescheuert?
„Nein, nein, ich rauch’ nicht, und ich hab’ auch keinen Krebs. Die Glatze hab’ ich mir wegen der Hitze rasiert. Wir sind das ja in Deutschland nicht gewohnt. Ich werd’ nie rauchen, das ist viel zu ungesund, da hast du vollkommen recht.“
Sie seufzt erleichtert.
„Das ist gut. Fang mir ja nicht damit an, mein Jungche.“
Zurück zu ihrem Ehemann, der muss hier doch andere Deutsche gekannt haben.
„Das tut mir sehr leid, mit deinem Ehemann. Wie war es eigentlich damals, als ihr nach Brasilien fliehen musstet, nach dem Zweiten Weltkrieg? Gibt es hier viele andere deutsche Familien?“
Ich hab’ immer noch die Hoffnung, dass ich gar nicht nach Blumenau weiterfahren muss, wenn ich auch hier in Curitiba bei dem ein oder anderen Kriegshelden unterkomm’. Da spar’ ich Kohle und aufs Schwitzen im Bus kann ich auch gerne verzichten. Gertraud kennt bestimmt andere deutsche Männer hier, die damals ebenfalls tapfer für das Deutsche Reich gekämpft haben. Ich muss sie nur dazu kriegen, sie mir vorzustellen.
„Wir sind schon vor dem Zweiten Weltkrieg nach Brasilien geflohen, mein lieber Bub, weil wir Juden sind. Ende der dreißiger Jahre wurde es ziemlich ungemütlich für uns in Deutschland, wie du dir vorstellen kannst.“
Ich trau’ meinen Ohren nicht. Juden!
„Die Eltern von Heinrich hatten eine wunderbare Buchhandlung in Berlin. Die haben die Nazis in der Reichskristallnacht komplett verwüstet.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ganz schlimm war das damals.“
Vor lauter Schreck verschluck’ ich mich und fang’ an wie wild zu husten. Sie klopft mir auf den Rücken, während ich wie der anlaufende Motor eines Staubsaugers röchle und fast vom Stuhl flieg’.
„Jungche, ist alles in Ordnung mit dir? Hier, trink etwas Wasser. Oh je, da hast du dich aber verschluckt, mein Bub.“
Das hab’ ich, du alte Schachtel! Ich nick’ und nehm’ einen Schluck aus dem Glas, um sie zu beruhigen.
„Die Buchhandlung haben wir dann zum Spottpreis verkaufen müssen. Damit haben wir uns dann eine Fahrkarte nach Brasilien gekauft. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie viele Wochen wir auf See verbracht haben. Aber unglaublich langweilig war es. Jeden Tag hat man nur das offene Meer gesehen, sonst nichts. Irgendwann haben wir angefangen, mit den anderen Passagieren Bücher zu tauschen, weil wir unsere eigenen schon zwei Mal durchgelesen hatten. Der Cousin von Heinrich ist schon ein paar Monate vor uns nach Curitiba ausgewandert, deswegen haben wir uns entschieden, auch hierher zu kommen.“
Sie schiebt sich einen Löffel von dem braunen Zeug in den Mund und kaut eine Weile drauf rum. Ich bin aber immer noch zu baff, um etwas zu sagen.
„Das war fürchterlich, als nach dem Krieg dann auch die ganzen Kriegsverbrecher rübergekommen sind. Da waren dann viele von den Nazis plötzlich freundlich und gaben sich uns gegenüber reumütig. Man habe ja nur Befehle befolgt und nichts vom Holocaust gewusst. Mit denen wollten wir natürlich nichts zu tun haben.“
Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass ich mich gerade mit einer alten Jüdin unterhalte. Eines versteh’ ich aber nicht: Wenn ihr Mann ein Judenschwein war, wieso trägt er dann Uniform und ein Eisernes Kreuz? In dem Augenblick steht Gertraud auf, watschelt in den Flur und bringt das Foto zum Esstisch.
„Da ist er, mein lieber Heinrich. Damals war er noch ganz jung. Im Ersten Weltkrieg hat er noch tapfer für Deutschland gekämpft. Dabei ist er schwer verwundet worden und fast gestorben! An der Front in Verdun hat ihn ein Granatsplitter im Gesicht verletzt, als er fast ganz alleine eine französische Stellung erstürmt hat. Schau mal hier, da kann man noch die Narbe über seinem rechten Auge sehen. Fast zwei Monate war er im Lazarett. Für seine Heldentat haben sie ihm dann das Eiserne Kreuz verliehen. Davon haben die Nazis zwanzig Jahre später aber nichts mehr wissen wollen, und anstatt Respekt und Anerkennung hat es dann nur noch Beleidigungen und Hiebe gegeben. Trotz dem Holocaust war Heinrich immer stolz auf seine Zeit beim Militär. Aber nach Deutschland sind wir nie wieder zurückgekehrt. Ich hätte Berlin ja so gerne mal besucht.“
Wer weiß, vielleicht gab es ja doch den ein oder anderen aufrichtigen Juden. Leute wie ihr Mann waren aber bestimmt die Ausnahme.
„So, mein lieber Marco, jetzt hab’ ich aber genug geredet. Erzähl’ du mir doch mal was von der Heimat. Was gibt’s denn Neues in Berlin? Das müssen ja aufregende Zeiten sein nach dem Mauerfall. Das haben wir alles mit großem Interesse verfolgt!“
Die Wohnungstür geht auf und ein junger Typ Anfang zwanzig kommt rein. Das muss ihr Enkel João sein. Er ist dunkelhäutig, relativ groß mit sportlicher Statur und er hat dunkle, lange lockige Haare. Bei der Hautfarbe hat seine Mutter wahrscheinlich ’nen Neger gefickt. Er trägt nur Gummisandalen, kurze Hosen und ein T-Shirt, als würd’ er gerade vom Strand kommen. Um den Hals trägt er ein schwarzes Lederband, an dem irgendwas dünnes Ovales aus Holz hängt. Jetzt, wo er näher kommt, seh’ ich, dass es ein kleines Surfbrett ist. Um seine Handgelenke hat er auch irgendwelches Zeug mit vielen Lederschnüren. So sehen die jungen Leute hier also aus. Da krieg’ ich echt Brechreiz.
„João, komm mal her! Schau mal, wer da ist. Das hier ist Marco. Er kommt auch aus Berlin! Ich hab’ ihn in der Buchhandlung kennengelernt. Ein unglaublicher Zufall, was? Er macht hier Recherchen für die Uni.“
Ihr Enkel schaut mich überrascht an und begutachtet meine weiße Glatze, die wirklich nicht viel Sonne abbekommen hat in den letzten Jahren. Wahrscheinlich hat auch er noch nie einen Skinhead gesehen. Deswegen grinst er mich jetzt freundlich an. Wahnsinn, was für unglaublich weiße Zähne! Gehen hier alle Neger jede Woche zum Zahnarzt, oder was?
„Hallo, ich bin João. Willkommen in Curitiba.“
Ein leichter Akzent. Ich schüttle seine Hand. Was für ein lascher Händedruck! Ganz klar ein Weichei.
„Marco heiß’ ich, freut mich.“ Dafür drück’ ich mit meiner Hand umso mehr zu. Damit er gleich weiß, dass mit mir nicht zu spaßen ist.
João setzt sich zu uns an den Tisch. Gertraud serviert auch ihm ’ne Schüssel von der braunen Gülle.
„Marco wollte mir gerade erzählen, wie es jetzt in Berlin ist nach dem Mauerfall“, berichtet Gertraud.
Womit soll ich da anfangen? Vielleicht damit, dass wir von Asylanten und Spätaussiedlern überrannt werden? Dass uns all die Ausländer auf der Tasche liegen und Sozialschmarotzer sind? Dass alle in der Bundesregierung Landesverräter sind?
„Na ja, das Wetter ist immer noch schlecht, nicht so schön, wie ihr es hier in Brasilien habt. Aber ansonsten ist alles gut.“
Beide schauen mich an, als würden sie darauf warten, dass ich noch etwas Aufregenderes erzähl’. Nun gut, wenn sie die Wahrheit hören wollen ...
„Wir haben jetzt nur ein paar Probleme mit den ganzen Ausländern, die nach der Wende nach Deutschland gekommen sind. Die ganzen Flüchtlinge aus Jugoslawien, die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und natürlich all die anderen Asylanten. Der Staat lässt die alle ins Land und gibt Millionen von Steuergeldern für die aus, anstatt sich um deutsche Arbeiter und deutsche Familien zu kümmern. Dazu sind die meisten Ausländer auch noch kriminell. Die stehlen unsere Autos, brechen in unsere Wohnungen ein und verkaufen an jeder Ecke Drogen.“
Als ich meinen Kurzbericht beendet hab’, herrscht eine unangenehme Stille.
Tja, die haben wohl erwartet, dass ich ihnen was von blühenden Landschaften erzähl’, so wie es Helmut Kohl versprochen hat. Das können sie vergessen. So, wie ich es ihnen berichte, geht es wirklich zu in Deutschland! Die Wahrheit muss verbreitet werden. Die ganze Lügenpresse in Deutschland schreibt ja nur über die armen Asylanten. Aber was die alle in Deutschland wirklich treiben, das wird verheimlicht!
Gertraud und João schauen mich verdutzt an.
„Jaja ... Wir haben auch viele Probleme hier in Brasilien. Letztens hat uns jemand im Vorgarten einfach den Blumentopf samt Blumen geklaut! Weißt du noch, João? Vor zwei Wochen war das. Der Topf war einfach weg!“
Wenn sie nicht so alt wär’, würd’ ich denken, dass sie mich verarschen will. Vielleicht tut sie das ja auch!
João kichert bescheuert vor sich hin. Am liebsten würd’ ich dem Weichei ’ne kräftige Ohrfeige verpassen. Klar, dass sie hier im sonnigen Brasilien nicht den Ernst der Lage in Deutschland begreifen. Die sorgen sich wahrscheinlich nur drum, ob es morgen etwa nur fünfundzwanzig anstatt der üblichen achtundzwanzig Grad hat. Ich verschwend’ nicht länger meine Zeit mit diesen Idioten und sag’ nichts zu Gertrauds dämlichem Kommentar.
„Jaja, Oma, das war schon furchtbar, mit dem Blumentopf … Und was recherchierst du hier genau, Marco?“
Neugieriges kleines Arschloch, dieser João. „Ich schreib’ eine Arbeit über das Leben von deutschen Auswanderern in Brasilien nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb wollte ich eigentlich heute nach Blumenau, bis ich deine Oma getroffen hab’.“
Hoffentlich war dies das letzte Mal, dass ich jemandem diese Lüge auftischen muss.
„Interessant, und was genau studierst du?“, hakt João nach.
Nervensäge! Langsam wird es ungemütlich hier.
Ich fang’ an zu stottern. „Also ... Einwanderung. Äh, ich meine ... Auswanderung!“
Verflucht! Vielleicht sollte ich mich langsam verabschieden und ein Hotel suchen. Der Halbneger ist mir etwas zu neugierig. Wenigstens gab’s hier umsonst was zum Fressen.
Bevor João mich weiter löchern kann, mischt sich seine Oma wieder ins Gespräch ein. „Marco, mein Junge, du bist ja bestimmt müde von deiner Reise. Willst du nicht eine Nacht bei uns bleiben? Dann kannst du morgen weiter nach Blumenau fahren. Es freut mich ja so, dass jemand aus Berlin zu Besuch ist!“
João schaut seine Großmutter perplex an. Ich bin auch ein wenig verwundert über ihre Gastfreundschaft. Die alte Oma kennt mich ja überhaupt nicht. Aber warum sollte ich das Angebot ausschlagen? Dann muss ich mir kein Hotel suchen und spar’ dazu noch Kohle.
„Ach, das muss wirklich nicht sein, das wär’ ja zu nett von dir, Gertraud.“ Ich kann ja nicht sofort annehmen, sonst denken die noch, dass ich ein verzweifelter Schmarotzer bin.
„Mein Bub, stell dich nicht so an. Es wäre uns eine Ehre, wenn du heute Nacht bei uns bleibst! Wir haben ein kleines Gästezimmer. Ist schon alles hergerichtet. – Kommt, Kinder, wollen wir noch ein wenig Mau-Mau spielen? Marco, kennst du Mau-Mau? Das ist so ein tolles Kartenspiel. Das lernt man in ein paar Minuten und es macht Riesenspaß!“
Ganz umsonst ist die Übernachtung also doch nicht. João ist bestimmt genauso begeistert wie ich, dass wir jetzt noch mit Gertraud Karten spielen müssen. Das wahre Martyrium. In Berlin würd’ mir das garantiert keiner glauben, dass ich hier in Brasilien in ’nem Judenhaushalt sitz’ und mit einer alten Oma und ihrem Mulattenenkel Mau-Mau spiel’!
18. DIMA
Marco hat schon eine Menge Glück, dass er bei Gertraud untergekommen ist. Obwohl es glasklar ist, dass er nicht zur Recherche in Brasilien ist, geschweige denn studiert. João hat das sofort durchschaut. Als Marco in das Gästezimmer verschwunden ist, zieht er seine Oma zur Seite.
„Oma, sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank? Du lässt einen wildfremden Typen in deine Wohnung, und dann bietest du ihm auch noch an, bei uns zu übernachten? Der raubt uns vielleicht aus!“
Gertraud hebt ihren Zeigefinger, als würde sie schimpfen. „Der Bub ist aus Berlin! Vergiss das nicht, João! Da komm’ ich auch her, und ich weiß, dass die jungen Männer aus Berlin Anstand haben. Der Marco ist ein richtiger Gentleman. Da könntest du dir mal ’ne Scheibe von abschneiden. Und studieren tut er auch. Das ist ein schlauer Bub. Vielleicht kannst du ihn ja auch mal an deine Uni in São Paulo mitnehmen?“
João schaut sie ungläubig an. „Wie bitte? Oma, der Typ ist ein Lügner! Hast du schon mal von ’nem Studiengang ‚Auswanderung‘ gehört? Und hast du dir mal seine komischen Klamotten angeguckt? Diese dicken schwarzen Stiefel und die engen Jeans, die er trägt. Und dann schert er sich auch noch ’ne Glatze. Wer macht das schon freiwillig?“ João scheint der Verzweiflung nahe zu sein.
„Das hat er wegen der Hitze gemacht! Vielleicht ist das auch der neueste Modetrend in Berlin. Die sind uns in solchen Dingen oft einen Schritt voraus“, erwidert Gertraud.
„Wie du willst, Oma. Sag aber später nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.“ Joãos Einwände stoßen bei Gertraud nur auf taube Ohren, und er geht verärgert auf sein Zimmer.
Marco weiß natürlich nichts von dieser Unterhaltung und schlummert schon seit einer Weile. Er hat ja auch einen ziemlich langen Tag hinter sich. Ich warte noch eine Weile ab, bis er tiefer schläft und die Traumphase beginnt. Es ist an der Zeit, ihm einen weiteren Besuch abzustatten.
Wie so oft auch im realen Leben sitzt Marco mit seinem hässlichen stämmigen Freund an einem Tisch in ihrer Stammkneipe. Gerade inspizieren sie einen Porzellanteller, dessen Unterseite mit einem kleinen Hakenkreuz bedruckt ist. Anscheinend ist dieser Teller Teil eines Service von einem hohen Nazitier. Marco freut sich ungemein, weil Stefan ihm den Teller schenken will. Er muss diesen Typen wirklich sehr verehren, sonst würde er nicht so oft von ihm träumen.
Die Freude vergeht Marco allerdings schnell, als anstatt Stefan plötzlich ich am Tisch sitze. Panik macht sich in ihm breit, so wie in unserem ersten gemeinsamen Traum, als ich ihm Schmerzen zugefügt habe.
„Hallo, Marco! Ich freu’ mich auch, dich wiederzusehen. Da hast du aber Glück gehabt, dass dich die Stewardess das letzte Mal geweckt hat. Wir hätten sonst noch ’ne Menge Spaß zusammen gehabt.“
Marco versucht aufzustehen und wegzurennen, aber das unterbinde ich mühelos. Mit einem Rumms landet er wieder mit seinem Hintern auf dem Stuhl. Seine Hände kleben auf der Tischfläche.
„Du kannst nicht abhauen, Marco. Und ich werde nicht verschwinden. Wenn es sein muss, werde ich jede Nacht in deinen Träumen erscheinen. Weißt du, warum ich hier bin?“
Vielleicht können wir ein anständiges Gespräch miteinander führen, wenn er sich ein wenig beruhigt hat. Denn ich will ihm noch immer helfen.
„Es tut mir leid, okay! Klar wollt’ ich dir ’nen Denkzettel verpassen, aber dass du ins Gras beißt, das wollt’ ich wirklich nicht“, schreit Marco.
Schon mal ein kleiner Fortschritt, denn ich weiß, dass er es wirklich so meint.
„Ich akzeptiere deine halbherzige Entschuldigung. Das ist aber nicht der Hauptgrund, warum ich hier bin, Marco. Uns verbindet noch etwas anderes.“
Gestern habe ich es in ihm gespürt, als er in Gertrauds Wohnung war. Unsere Verbindung. Marco lacht laut und unterbricht mich.
„Uns verbindet etwas? Lass mich raten. Dass wir beide denselben Arbeitgeber hatten, weil du mir meinen Job geklaut hast?“
Da hat er recht. Wir hatten denselben Arbeitgeber. Dass ich ihm den Job weggenommen habe, ist natürlich Schwachsinn. Ich hatte ja eine ganz andere Stelle. Und doch kann ich die Wut noch immer in ihm spüren.
„Du weißt ganz genau, weshalb sie dich gefeuert haben.“
Marco lehnt sich zurück und grinst mich an.
„Was verbindet uns denn dann? Dass wir beide deutsche Staatsbürger sind, obwohl du in echt ein Russe bist?“
Genug des Unsinns. Ein rasches Schnippen mit den Fingern und anstatt Worten entspringen Marcos Mund nur noch undefinierbare Töne, als hätte er einen Knebel im Mund. Er hält geschockt inne und starrt mich mit großen Augen an.
„Hör auf damit, albern zu sein, Marco! Ich kenne dein Geheimnis. Es war auch einmal meines. Das ist die Verbindung, die es zwischen uns gibt.“
Er reißt die Augen noch weiter auf. Nicht nur weil ich unterbunden habe, dass er sprechen kann, sondern auch weil ihm die Worte fehlen, denn er weiß genau, wovon ich rede.
„So, Marco, können wir jetzt normal miteinander reden wie zwei Erwachsene?“
Es dauert eine Weile, bis Marco wieder zum Sprechen zumute ist.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragt er.
Das ist doch schon mal ein guter Anfang. Ein normaler Satz! Keine Beleidigung, keine Feindseligkeit, kein Zynismus. Fast schon, als würde er mich als einen normalen Menschen akzeptieren. Halleluja! Ohne jetzt sarkastisch klingen zu wollen, aber es ist wirklich ein wichtiger Fortschritt.
„Dima heiße ich. Dima Schmidtgal. Du hast übrigens mit meinem älteren Bruder Yury um die Pistole gekämpft. Wie du gemerkt hast, hat er es jetzt auf dich abgesehen. – Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, nach Brasilien zu fliehen? Ich weiß, dass du zu dem Zeitpunkt, als du eine Entscheidung fällen musstest, ziemlich betrunken warst und unter Stress standest, aber trotzdem … Das ist schon ein ziemliches Ding!“
Ich sehe davon ab, ihm weiter ein schlechtes Gewissen zu machen, weil Yury jetzt keinen Bruder mehr hat. Wichtiger ist es, Vertrauen zwischen uns aufzubauen.
„Das hab’ ich mich heute auch schon das ein oder andere Mal gefragt. Wahrscheinlich war es ’ne ziemlich dämliche Entscheidung. Egal, zu spät. Jetzt bin ich hier und muss irgendwie die nächsten zwei Wochen ausharren. Auch wenn ich dafür bei Juden bleiben muss, um Kohle zu sparen.“
Wenigstens ist Marco ehrlich. Er gibt zu, dass er ein Idiot ist.
„Das macht dich aber zu einem Heuchler, oder? Du kannst nicht ständig schlecht über Juden reden und dann deren Gastfreundschaft ausnutzen.“
Marco schweigt.
„Gertraud ist ja auch echt ’ne nette Dame. Das mein’ ich wirklich so. Zufrieden?“
Immerhin. Marco findet eine jüdische Person nett. Noch ein Fortschritt, den es festzuhalten gilt.
„Hör mal, Dima, vielleicht kannst du ja deinen Bruder davon abbringen, mich umbringen zu wollen?“
Das ist natürlich Teil meines Plans: Yury wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Es wird aber nicht einfach sein, denn sein Hass sitzt sehr tief. So wie Marcos Hass gegenüber allen, die nicht seinen pervertierten Normen entsprechen.
„Vielleicht. Ich muss sehen, was ich machen kann. Das hängt in erster Linie auch von dir ab, Marco. Ich werde dich in den nächsten Tagen und Wochen genau beobachten.“
19. MARCO
Schon wieder so ein seltsamer Traum, in dem mir der kleine Russe erschienen ist. Dieses Mal war’s fast noch realer als im Flugzeug. Weil ich nicht betrunken war, kann ich mich auch an mehr erinnern als beim letzten Mal.
Im Traum hat sich der Kleine Dima genannt. Aus irgendeinem Grund kann er in meine Träume eindringen und sie steuern. Und er kennt mein Geheimnis. Daran hab’ ich jahrelang nicht gedacht. Bis gestern zumindest, bis ich hier in Brasilien angekommen bin. Ich frag’ mich, was dieser Dima noch alles über mich weiß. Wenn es ihn überhaupt gibt.
Vielleicht ist es einfach nur der Stress der letzten Tage oder es liegt am heißen Wetter und ich bild’ mir das alles nur ein. Diese seltsamen Träume werden bestimmt wieder verschwinden.
Wie sieht es mit meiner Kohle aus? Ich hab’ noch ein paar Cruzeiros, aber die reichen höchstens für ein paar Tage, falls ich in ein Hotel umziehen muss.
Vielleicht kann ich mich ja einfach in der deutschen Botschaft in São Paulo einnisten, wenn ich denen erklär’, dass ich pleite bin. Die Idee hätte mir aber auch schon gestern kommen können, als ich noch dort war. Verdammt, zu spät! Oder ich find’ schleunigst ein paar Deutsche in Blumenau, die mich aufnehmen. So wie ursprünglich geplant. Was soll ich aber machen, wenn ich dort ankomm’? Planlos Leute auf der Straße anquatschen? Erstens versteh’ ich die nicht und zweitens denken die bestimmt, dass ich ’nen Schatten hab’. Da muss ich mir noch was einfallen lassen. In Curitiba zu bleiben macht aber auch keinen Sinn. Scheiße, was mach’ ich nur?
Gertraud sitzt schon am Esstisch, wo ein großes Frühstück angerichtet ist. Viele exotische Früchte, die ich noch nie gesehen hab’.
„Marco, mein Jungche! Na, hast du gut geschlafen? Ich war einkaufen und hab ein paar Sachen zum Frühstücken besorgt. Hast du schon mal Papaya probiert? Und hier hast du Konfitüre, die man aus der Guave macht. Unseren Kaffee musst du natürlich auch probieren. Den trinkt man hier stark und mit viel Zucker.“
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Sieht echt ziemlich gut aus. Ich hab’ noch nie von Papaya oder Guave gehört. Bis jetzt dachte ich, dass Kiwis und Mangos das exotischste sind, was es an Früchten gibt. Die hab’ ich zum ersten Mal nach der Wende probiert. Zu DDR-Zeiten gab’s nämlich im Supermarkt nur heimisches Obst. Ab und zu auch mal Bananen, aber das war eher die Ausnahme.
„Das schmeckt alles wirklich ausgezeichnet! Vielen herzlichen Dank nochmals für deine Gastfreundschaft.“
João scheint noch zu schlafen. Gut so, auf die Nervensäge kann ich verzichten.
„Na, mein Jungche, was hast du heute vor? Willst du nicht noch einen Tag bleiben und dir Curitiba anschauen? João fänd’ es bestimmt ganz toll, dir die Stadt zu zeigen. Heute Nacht kannst du natürlich noch mal bei uns schlafen, wenn du willst.“
Warum nicht? Dann hab’ ich wenigstens heute was zu tun und etwas mehr Zeit zum Überlegen. Auch wenn ich den Tag mit João verbringen muss. Die Kohle fürs Hotel spar’ ich mir jedenfalls wieder.
„Das wär’ natürlich wunderbar, wenn es João nichts ausmacht.“
„Ganz und gar nicht! Er hat heute nichts zu tun. Die Buchhandlung ist sonntags ja geschlossen. Natürlich mach’ ich uns auch was Leckeres zum Abendessen, mein Jungche!“
Entweder ist Gertraud die netteste Oma auf der Welt, oder sie ist ziemlich einsam und freut sich über jeden Besuch. Egal, mir ist beides recht.
Wie von Gertraud beschlossen, zeigt mir João am Nachmittag Curitiba. Er hat sich bestimmt tierisch gefreut, dass er jetzt seinen freien Tag mit mir verbringen darf. Tja, Pech gehabt! Ich hab’ das Gefühl, dass er mich nicht sonderlich mag, aber er ist trotzdem freundlich und gut drauf.
Es ist verdammt heiß und als Erstes kauf’ ich mir kurze Hosen und Sandalen. Mir fällt auf, dass ich jetzt fast genauso lächerlich gekleidet bin wie João. Hinzu kommt, dass meine Beine noch nie einen Strahl Sonne abbekommen haben. Einige Passanten grinsen bescheuert, als sie an uns vorbeigehen und meine grellen weißen Füße sehen. Die haben sie bestimmt schon aus der Ferne geblendet.
Ein paar T-Shirts kauf’ ich mir auch. Wenn mich jetzt in Berlin einer von den Kameraden sehen würde ... Ich geh’ hier gemütlich mit einem Mulatten einkaufen und seh’ aus, als würd’ ich gerade vom Strand kommen.
Apropos Kameraden: Ich muss Stefan später anrufen, um zu fragen, ob es Neuigkeiten gibt.
Curitiba ist, wie São Paulo auch, nicht das, was ich von Brasilien erwartet hätte. Es sind immer noch keine Strohhütten oder Strände in Sicht. Ab und zu ragt mal eine Palme in den Himmel. Alles erinnert aber eher an langweilige Sechziger-Jahre-Architektur. Viel Beton wie in São Paulo, nur nicht so hoch.
Insgesamt hat Curitiba den Charakter einer Vorstadt. Es geht hier viel ruhiger zu als in São Paulo oder Berlin. Sehenswürdigkeiten gibt es nicht wirklich viele, hat mir João gerade erzählt. Anscheinend hat hier vor Kurzem ein botanischer Garten aufgemacht. Den sollte ich mir laut João unbedingt anschauen. Das ist bestimmt das Letzte, was ich mach’, und ich lehn’ höflich ab.
Die meisten Leute hier sehen aus wie Südeuropäer. Man sieht aber auch ein paar Mulatten in den unterschiedlichsten Brauntönen. João ist farblich irgendwo in der Mitte. Ich stech’ hier auf jeden Fall ziemlich heraus. Blaue Augen, Glatze und die Haut eines Vampirs.
Am späten Nachmittag bringt mich João zu einem kleinen Laden, wo Leute emsig am Telefonieren sind. Auf einem Schild steht „money transfers worldwide“. Irgendwas mit Geld transferieren. Das ist es: Vielleicht könnte Stefan mir ein bisschen Kohle leihen, damit ich notfalls in ’nem Hotel wohnen kann. Im Falle, dass ich doch bei keinem alten Kriegshelden unterkomm’ oder die Botschaft in São Paulo mir nicht hilft.
Da alle Telefone gerade besetzt sind, muss ich aber noch warten und mich gezwungenermaßen mit João unterhalten. Hoffentlich stellt er mir keine weiteren dämlichen Fragen über mein Studium.
„Tragen eigentlich alle jungen Leute in Deutschland solche Klamotten und Stiefel wie du? Und was ist mit deiner Glatze? Bist du krank oder ist das jetzt cool in Berlin?“
Witzbold! Natürlich hat nicht jeder ’ne Glatze und nicht alle tragen Springerstiefel. Ich bin ehrlich und erklär’ ihm, dass diese Dinge für etwas Bestimmtes stehen.
„Und wofür?“, fragt João weiter.
„Zum Beispiel sind wir gegen die Übervölkerung Deutschlands durch Zuwanderung.“
„Das wär’ in Brasilien undenkbar. Wir sind hier fast alle Nachkommen von Einwanderern. Brasilien ist weltoffen und multikulturell. Obwohl du so komisch ausschaust, haben wir dich trotzdem ins Land gelassen, oder?“ João kichert provokant.
Jetzt verarscht er mich auch noch! Ich muss allerdings zugeben, dass ich mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen kann.
João stellt viele Fragen über Deutschland, was ganz schön nervt. Aber an sich muss ich feststellen, dass er ein netter Typ ist. Er hat sich den ganzen Tag freigenommen, um sich um mich zu kümmern und hat nicht ein einziges Mal gemeckert. Irgendwie scheinen die meisten Menschen hier generell gut drauf zu sein. Wahrscheinlich liegt das am guten Wetter. In Berlin hätt’ ich bestimmt nicht den ganzen Tag mit João verbracht. Eher hätt’ ich ihn bespuckt, wenn er mir über den Weg gelaufen wär’.
Na endlich. Ein Telefon wird frei.
„Ja?“
Ich freu’ mich wahnsinnig, wieder Stefans unhöfliche Stimme zu hören. Wie immer klingt sie, als ob ich ihn gerade bei etwas Wichtigem stör’.
„Stefan, ich bin’s. Wie ist die Lage?“
Es ist schon mal ein gutes Zeichen, dass er überhaupt ans Telefon gegangen ist. Die Russen haben ihn also noch nicht erwischt.
„Marco! Sag mal, wo zur Hölle steckst du? Ich hab’ deine Olle schon drei Mal angerufen. Aber die hat auch keine Ahnung, wo du bist, und scheißt sich langsam vor Sorgen in die Hosen. Hast du schon gehört, was mit Thorsten passiert ist?“
Stimmt, meine Mutter muss ich auch noch anrufen. Das hätt’ ich fast vergessen.
„Bei mir ist alles okay. Das mit Thorsten weiß ich schon, deswegen bin ich ja abgehauen. Ich sag’ dir am besten nicht, wo ich steck’. Vielleicht erwischen dich die Russen auch noch, und dann quetschen sie’s aus dir raus, so wie’s bei Thorsten war. Apropos: Gibt’s was Neues von den Russen?“
Die Wahrheit ist, dass ich Stefan nicht eingestehen will, dass ich im Suff nach Brasilien geflogen bin. Auch wenn die Lage ernst war, würden mich alle in der Szene deshalb verarschen. ’ne kurze Zugfahrt nach Rostock oder Magdeburg hätt’ ja auch gereicht, um die Russen abzuwimmeln. Bevor ich aus Brasilien zurückkomm’, muss ich mir noch ’ne gute Geschichte einfallen lassen.
„Alles still, seitdem sie Thorsten das Bein gebrochen haben. Er liegt jetzt mit ’nem Gips und ein paar Platzwunden im Krankenhaus. Den Bullen will er nichts erzählen, weil er denkt, dass die Russen sich rächen könnten. Klar hat der Junge jetzt Schiss. – Wann kommst du eigentlich wieder?“
Thorsten hat es schon ziemlich übel erwischt. Hoffentlich härtet das die Memme ein bisschen ab.
„Ich bin bald wieder da ... Hey, Stefan, kurze Frage noch: Sag mal, kannst du mir ein bisschen Kohle leihen? Ich muss vielleicht für ein paar Tage in ’nem Hotel absteigen.“
„Wie viel brauchste denn?“
Gute Frage. Bis jetzt scheint hier das Essen recht günstig zu sein. Wobei, eigentlich hab’ ich keine Ahnung, wie viel ich gestern in dem Café in São Paulo ausgegeben hab’. Und was kostet hier ’ne Übernachtung in ’nem Hotel? Scheiß drauf. Wenn fünfzig Mark am Tag in Deutschland reichen, dann müsste das auch hier genug sein. Zwölf Tage muss ich hier noch ausharren. Also fünfzig mal zwölf, wie viel ist das insgesamt? Wenn ich nur besser im Matheunterricht aufgepasst hätte! Vergiss es, am besten ich frag’ ihn nicht nach zu viel Kohle, sonst leiht er mir am Ende gar nichts.
„Hmm … so … zweihundert Mark sollten eigentlich reichen. Ich bin gerade echt knapp bei Kasse.“
„Junge, so viel Kohle hab’ ich im Augenblick selber nicht, tut mir echt leid. Warum kommste nicht einfach wieder nach Berlin zurück und pennst bei mir? Oder frag’ doch deine Alte.“
Stefan hat keine zweihundert Mark? Na ja, kann gut sein. Er kriegt ja gerade mal Arbeitslosengeld.
Meine Mutter zu fragen wär’ mir ziemlich unangenehm. Das würd’ ich nur im absoluten Notfall tun. Da ich ja fast nie mit ihr rede, wär’ es schon ziemlich dreist. Ich wohn’ ja gerade schon umsonst bei ihr. Oft lässt sie Sprüche ab, dass es gut wär’, wenn ich auch mal meinen Anteil zur Miete beisteuern würde oder dass ich irgendwann auszieh’n soll.
„Kein Ding, ein bisschen was hab’ ich ja noch. Ich werd’ schon irgendwie über die Runden kommen. Stefan, ich muss los. Ich meld’ mich die Tage bei dir.“
Danach ruf’ ich noch schnell bei meiner Mutter an. Sie wirkt geradezu hysterisch, als sie meine Stimme hört. Eigentlich tut sie mir schon ein wenig leid. Sie hat sich ziemliche Sorgen gemacht, weil ich mich so lange nicht bei ihr gemeldet hab’. Mein Verhalten, bevor ich aus der Wohnung gestürmt bin, war ja auch alles andere als normal. Dazu hab’ ich ihr noch ’ne Menge Schiss eingejagt, dass irgendwelche Leute bei ihr vorbeischauen könnten, die nach mir suchen, was laut meiner Mutter aber zum Glück nicht passiert ist.
Nachdem ich sie beruhigt hab’, versprech’ ich ihr, die Wahrheit zu erzählen, sobald ich wieder zurück bin. Irgendjemandem muss ich ja alles mal anvertrauen, inklusive der ganzen Brasilienreise. Ob ich ihr aber von den schrägen Träumen erzähl’, weiß ich noch nicht. Ansonsten denkt sie noch, dass ich in die Klapse gehör’.
Wenn ich ihr mehr von meinen Problemen erzähl’, öffnet sie sich mir gegenüber vielleicht auch stärker und wir könnten es eventuell hinkriegen, eine einigermaßen normale Mutter-Sohn-Beziehung zu führen.
Mir fällt auf, dass ich sie seit Jahren nicht mehr gefragt hab’, wie es ihr eigentlich geht.
Mann, hab’ ich Kohldampf. Zum Glück kocht Gertraud gerade zum Abendessen reichlich Fraß. Während ich faul im Wohnzimmer hock’, hör’ ich sie in der Küche schuften.
„Meine Güte, ist der Topf schwer. Diese blöden Rückenschmerzen!“
Da kommt mir ’ne Idee. Umso mehr ihr der Rücken wehtut, umso besser stehen meine Chancen, dass ich mir um die Kohle bald keine Sorgen mehr machen muss. Am besten frag’ ich sie gleich, bevor João aus seinem Zimmer kommt und sich einmischt. Ich steh’ auf und geh’ zu ihr in die Küche.
„Das riecht aber wunderbar, Gertraud. Kann ich dir irgendwie helfen?“
Sie grinst mich an und rührt dabei im Topf herum.
„Mein Bub, das ist nett von dir. Du bist hier aber Gast! Setz dich schon mal an den Tisch. Abendessen ist gleich fertig. Ich hoffe, es schmeckt dir!“
Natürlich ist sie so gastfreundlich wie immer. Anders hätt’ ich das auch nicht erwartet.
„Das Essen ist bestimmt ganz wunderbar, so gut wie das hier riecht ... Eine kurze Frage hätte ich noch, Gertraud. Ich will mich ja nicht aufdrängen, aber ich hab’ überlegt, ob du vielleicht in der Buchhandlung noch etwas Hilfe brauchst. Bei deinen schlimmen Rückenschmerzen! Als Student hat man ja nicht viel Geld, und wenn ich noch ein paar Tage bei dir wohnen könnte, würde ich dafür umsonst in der Buchhandlung arbeiten.“
Mal schauen, wie sie reagiert. Mein Vorschlag ist ja schon ziemlich dreist, aber wen kümmert’s. Wenn sie Nein sagt, dann seh’ ich die alte Oma und ihren Mulattenenkel sowieso nie wieder. Ich hab’ nichts zu verlieren. Vielleicht, wenn’s nicht klappt, muss ich dann doch morgen nach Blumenau weiterfahren. Und wenn ich dort kein Glück hab’, dann bleibt immer noch die Option mit der deutschen Botschaft in São Paulo.
„Kind, das versteh’ ich, dass Studenten nicht viel Geld haben! Der João hilft mir ja schon in der Buchhandlung. Da brauch’ ich nicht noch jemanden, trotz der ganzen Rückenschmerzen. Das ist aber ganz lieb von dir, dass du mir das anbietest!“
Ficken! Egal, probieren musste ich’s.
„Aber lass mich kurz überlegen, mein Jungche.“
Sie starrt an die Decke, dann nimmt sie meine Hände und grinst mich mit ihren Glubschaugen an.
„Hast du schon mal in der Gastronomie gearbeitet? Eine gute Freundin von mir hat ein nettes Restaurant, wo du bestimmt in der Küche aushelfen könntest. Und bei uns kannst du natürlich so lange bleiben, wie du willst, mein Bub! Ich freu’ mich ja so, dass jemand aus Berlin hier ist!“
Bingo! Auch wenn’s nicht die Buchhandlung ist, was mir lieber gewesen wär’. Mann, bin ich erleichtert.
Nach dem Abendessen, was in der Tat ziemlich gut geschmeckt hat, telefoniert Gertraud mit ihrer Bekannten. Ich kann morgen schon anfangen. „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, sagt man ja oft. Solange in Berlin keiner mitbekommt, dass ich ’ne Jüdin um Arbeit angebettelt hab’ und dass ich mir in ’ner heißen Küche in Brasilien den Arsch abschwitz’, soll mir der Job recht sein. Die Bezahlung hört sich erst mal gut an: hunderttausend Cruzeiros – pro Tag. Laut Gertraud sind das umgerechnet aber nur ein bisschen mehr als fünfzehn Mark. ’ne ziemliche Verarschung. Aber vielleicht ist das ja genug, um hier über die Runden zu kommen. Zum Glück spar’ ich mir ja die Kohle fürs Hotel.
Nach dem Abendessen schlägt Gertraud vor, dass wir noch einen Spaziergang zu ihrem Sohn Pedro machen, der nicht weit weg wohnt. Anscheinend hat er viel Krams und vor allem Fotoalben, die Gertrauds Ehemann Heinrich gehörten, nach dessen Tod in seiner Wohnung verstaut.
„Ich hab’ Pedro schon von dir erzählt, mein Jungche. Er kann es nicht abwarten, dich kennenzulernen!“
Als wir losgehen, watschelt sie wieder wie eine lahme Ente. Und natürlich hakt sie sich wieder bei mir ein. Vielleicht sollte ich mich für ’nen Job als Altenpfleger bewerben, wenn ich wieder in Berlin bin.
Pedro ist ein großer Mann Mitte vierzig, der einen guten Appetit zu haben scheint, wenn man seine dicke Wampe so sieht. Wahrscheinlich isst er zu viel von dem braunen Durchfallzeug. Vom Namen her hätte ich jemanden erwartet, der wie ein Italiener aussieht. Pedro hat aber grüne Augen und hellbraune Haare. Im Vergleich zu João hat er einen kräftigen Händedruck.
„Du bist also Marco. Ich hab’ schon viel von dir gehört! Freut mich, komm rein.“
Wir setzen uns in sein Wohnzimmer. Ein großer Fernseher und eine Sony-Stereoanlange stehen in der Ecke. Scheint alles so zu sein wie bei uns in Deutschland.
„Gertraud meinte, du machst hier Recherchen über deutsche Auswanderer für die Uni.“
Ich kann diese bescheuerte Lüge nicht mehr hören. Vielleicht hätte ich mir was anderes einfallen lassen sollen. Zum Beispiel, dass ich nur ein dämlicher Tourist bin, der sich nach Curitiba verirrt hat. Das wär’ auch nur halb gelogen.
„Ganz genau. Die Auswanderung aus Deutschland hat mich schon immer interessiert. Besonders um die Zeit vom Zweiten Weltkrieg.“
Er kramt in einem Schrank und holt eine vergilbte Mappe heraus.
„Schau mal. Hier sind ein paar alte Fotos aus den dreißiger Jahren, als meine Eltern noch in Berlin gelebt haben. Meine Mutter kann dir wahrscheinlich besser erklären, wer das alles auf den Fotos ist.“
Gertrauds Augen leuchten auf, als Pedro ein Foto herauspickt, auf dem ungefähr vierzig Menschen zu sehen sind.
„Meine Güte, ist das lange her! Das war ein Familienfest, das Heinrich organisiert hat. Schau mal, Marco, wie jung ich auf dem Foto war. Und Heinrich erst!“
Ich kann nicht sonderlich viel erkennen, weil die Gesichter recht klein sind. Dazu ist die Aufnahme auch noch ziemlich unscharf.
„Sehr jung schaust du da aus, und ein schönes Kleid trägst du“, versuch ich ihr zu schmeicheln.
Gertraud grinst zufrieden und deutet dann auf einen Mann und eine Frau. Offenbar ein Ehepaar.
„Guck mal, hier ist Heinrichs Cousin mit seiner Frau. Wir sind ihnen ja nach Curitiba gefolgt. Ungefähr ein Drittel von den Leuten auf dem Foto ist wie wir vor Kriegsausbruch nach Südamerika geflohen. Nicht nur nach Brasilien; manche sind auch nach Venezuela gezogen. Die haben wir einmal in Caracas besucht. Ich glaub’, Anfang der siebziger Jahre war das. Damals war Venezuela noch ein wohlhabendes und stabiles Land. Pedro war auch dabei. – Erinnerst du dich noch, Pedro? Da warst du noch ganz jung!“
„Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, dass wir alle zum ersten Mal geflogen sind. Das war schon etwas Besonderes damals. Ansonsten hab’ ich leider keine Erinnerungen mehr daran.“
„Pedro war damals wohl noch zu klein, Marco. Ganz wunderbar war das damals, unsere Verwandten nach so langer Zeit wiederzusehen … Dann ist noch ein weiteres Drittel in die USA ausgewandert. Die meisten sind nach Philadelphia gezogen. Mit denen haben wir heute keinen Kontakt mehr. Das ist eigentlich schade. Ich bin mir aber sicher, dass es ihnen gut geht. Amerika ist schon ein tolles Land. Ich würde so gerne mal nach New York. Marco, warst du schon mal in Amerika?“
„Nee, da war ich leider auch noch nicht.“ Auch wenn ich die Kohle gehabt hätte, hat mich Amerika mit all seinem Kapitalismus nie gereizt. Aber jetzt, wo sie es sagt, und wenn ich es mir so überleg’, wär’ New York mit den ganzen Wolkenkratzern vielleicht doch mal ’ne Reise wert.
„Und dann gibt es noch diejenigen auf dem Foto, die die Gefahr leider zu spät erkannt haben und nicht mehr rechtzeitig auswandern konnten. Von denen hat niemand den Krieg überlebt. Hier, Heinrichs Bruder und seine Frau zum Beispiel oder viele seiner Cousins. Die sind alle im KZ gestorben.“
Wenn man hört, dass viele Juden ermordet wurden, dann ist das eine Sache. Aber wenn eine Überlebende einem persönlich von den Schicksalen vieler Familienangehöriger erzählt und man die Gesichter der Opfer sieht, dann ist das schon etwas anderes. Vielleicht sind damals wirklich so viele Juden verreckt, wie das immer behauptet wird.
„Obwohl, es gibt eine Person auf dem Foto, die in Berlin geblieben ist und überlebt hat. Das ist Heinrichs Cousine Maria. Sie hat sich in einen Mann verliebt, der in irgendeinem Ministerium gearbeitet hat und damals natürlich Parteimitglied war. Er hat sie beschützt und ihr irgendwie einen gefälschten Ariernachweis besorgt, damit sie auch heiraten konnten. Die beiden hatten Glück. Wenn man sie erwischt hätte, dann wären sie beide im KZ gelandet. Kurz nach dem Krieg kam ihr Sohn auf die Welt. Maria hat ihm nie erzählt, dass er aus einer jüdischen Familie stammt und dass er selber auch Jude ist, da unsere Glaubenszugehörigkeit ja vom Glauben der Mutter bestimmt wird.“
Pedro geht zurück zum Schrank und holt eine weitere Mappe hervor. Er wühlt sich durch mehrere Unterlagen und Briefe, bis er ein altes Schwarz-weiß-Foto herausfischt.
„Hier, Gertraud, schau mal, was ich gefunden hab’.“
Gertraud begutachtet das Foto und hält es mir dann vor die Nase.
„Das hier ist Heinrichs Cousine Maria mit ihrem Ehemann. Und das ist ihr Sohn. Meine Güte, an ihre Namen kann ich mich jetzt gerade nicht mehr erinnern.“
Woher kenn’ ich dieses Gesicht? Der Junge auf dem Foto ist vielleicht sechzehn Jahre alt, ziemlich groß und hat gewelltes braunes Haar.
„Das Foto ist jetzt bestimmt schon dreißig Jahre alt. Was aus Maria und dem Jungen geworden ist, weiß ich nicht. Irgendwann haben wir den Kontakt zu ihnen verloren. Vielleicht lebt Maria gar nicht mehr. Sie wäre ja jetzt schon ziemlich alt.“
An wen erinnert mich dieser Junge? Es wurmt mich, dass ich nicht darauf komm’.
„So, meine Lieben, jetzt haben wir aber lange genug Fotos angeschaut. Lasst uns doch noch ein wenig Mau-Mau spielen!“
Na super. Aber vielleicht ist Mau-Mau-Spielen gut fürs Hirn und hilft ihrem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge. Dann kann ich sie später noch mal zu dem Jungen befragen.
20. DIMA
Es ist schon interessant, Marco in Curitiba aus meiner jetzigen Perspektive zu beobachten. Seine Glückssträhne scheint weiter anzuhalten, auch wenn er jetzt in einer stickigen Küche arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Gertraud ist einfach viel zu nett zu ihm.
Auf seinen besten Freund Stefan dagegen scheint nicht viel Verlass zu sein. Es ist wahr, dass Stefan nur Arbeitslosengeld bezieht. Aber dass er keine zweihundert Mark auf dem Konto hat, ist glatt gelogen.
Am selben Tag, an dem sie telefonierten, traf sich Stefan mit anderen Sammlern im Hinterzimmer einer Kneipe. Dort hat er für fast tausend Mark einen seltenen Orden gekauft, nämlich ein Spanienkreuz in Silber mit Schwertern. Der Orden war für die Angehörigen des geheimen Luftwaffenverbandes Legion Condor bestimmt, der General Franco kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Spanischen Bürgerkrieg unterstützte.
Was Stefans Integrität anbelangt, gibt es aber noch mehr zu bemängeln. Vor einiger Zeit hat er einen ungarischen Neonazi auf einem Sammlertreffen kennengelernt. Sie verstanden sich auf Anhieb gut und begannen nach kurzer Zeit miteinander Geschäfte zu machen. Stefan stellte ihm potenzielle Kunden aus der rechten Szene vor und bekam beim Verkauf des alten Krams eine gute Provision. Irgendwann beschlossen sie, den Interessenten auch gefälschte Stücke anzudrehen. Stefan redet sich ein, dies mit seinem Gewissen vereinbaren zu können, weil er die Fälschungen nur Leuten anbietet, die er entweder nicht mag oder die so reich sind, dass sie den Betrug leicht verkraften können, sollte das Ganze jemals auffliegen.
Stefan hat außer dem Sammeln noch eine weitere Vorliebe, die aufs Portemonnaie drückt, nämlich einmal die Woche abends den Straßenstrich rund um die Kurfürstenstraße abzufahren, um nach Prostituierten Ausschau zu halten. Er ist bei keiner Stammkunde, denn er mag es, jede Woche eine Neue auszuprobieren. Eine Vorliebe hat er jedoch: brünette junge Frauen mit blauen Augen, von denen es auf dem Strich nicht allzu viele gibt. Dabei stört es ihn anscheinend überhaupt nicht, dass mittlerweile die meisten Prostituierten, wie sein Geschäftspartner auch, aus Osteuropa stammen.
Ich hoffe, dass Marco irgendwann erfährt, was sein bester Freund noch alles so treibt.
Yury ist wieder in Berlin. Viel unternommen hat er seit seiner Heimkehr leider nicht. Er sitzt meistens zu Hause und starrt aus dem Fenster, oft mit einer Wodkaflasche im Arm. Seine Gedanken kreisen immer wieder um Rache. Er stellt sich verschiedene Möglichkeiten vor, wie er Marco umbringt. Mal prügelt er ihn zu Tode, mal erschießt er ihn einfach.
Nicht einmal Anastasia dringt zu ihm durch. Sie muss oft zweimal nachfragen, bis er irgendwas antwortet. Klar, dass sie sich Sorgen macht, so wie ich auch, aber sie versteht zum Glück, dass es Zeit braucht, bis seelische Wunden verheilen.
Letzte Nacht habe ich erneut versucht, Yurys Trauer zu lindern, mit der Hoffnung, dass er Abstand von seinen Rachegedanken nimmt. Aber es war ähnlich wie beim ersten Traum, in dem ich ihm erschien. Yury wollte erst nicht wahrhaben, dass ich tot bin. Als es ihm dann doch dämmerte, war er wieder untröstlich, was schon bald in Wut umschlug.
Geduld ist eine Tugend. Ich werde offensichtlich noch ein paar Wochen brauchen, bis ich etwas verändern kann. Hoffentlich habe ich genügend Zeit, um etwas zu erreichen, bevor Marco aus Brasilien zurückkehrt.
Wenn Yury sich doch zu etwas motivieren kann, dann nur dazu, Boris und seiner Truppe Anweisungen zu geben. Yurys Bande ist gut organisiert. Jeder hat seine ihm zugewiesene Rolle. Die Jüngeren fangen als Straßendealer an. Die Älteren kümmern sich um den Einkauf und die Finanzen sowie um die Einschüchterung anderer Banden.
Heute sollen seine Jungs einen albanischen Dealer vermöbeln, der in letzter Zeit in Yurys Revier aufgetaucht ist. Boris musste eine Weile auf Yury einreden, damit er dem Jungen nur einen Denkzettel verpasst und ihn nicht gleich abknallen lässt.
Am nächsten Tag ergaunern sie sogar eine komplette Warenlieferung aus Holland. Das Ganze spielt sich folgendermaßen ab: Bei der Übergabe in einem Hotel in Düsseldorf fangen die Holländer plötzlich an, weit höhere Preise zu verlangen als vereinbart. Angeblich weil der deutsche Grenzpolizist, den die Holländer regelmäßig bestechen, mehr Geld haben wollte.
Für den Fall, dass es Probleme gibt, was hier eindeutig der Fall ist, hat Yury einen cleveren Plan ausgetüftelt. Nicht dass ich jetzt seine Drogengeschäfte gutheiße, aber man muss meinem Bruder lassen, dass er ein helles Köpfchen ist.
Als Boris merkt, dass die Sache brenzlig wird, ruft er in Gegenwart der Holländer Yury in Berlin an. Alles unter dem Vorwand, dass er den neuen Preis mit dem Chef abklären muss. Yury beklagt sich laut und für alle gut hörbar am Telefon, willigt aber ein, wobei er ein Codewort benutzt, das Boris signalisiert, dass er mitspielen soll. Boris erklärt sich daraufhin mit dem höheren Preis einverstanden. Er zahlt und nimmt das Heroin mit.
In der Zwischenzeit aktiviert Yury den Pager zwei seiner Leute, die draußen in unmittelbarer Nähe des Übergabeorts in einem parkenden Auto warten und nach der Polizei oder anderen ungewöhnlichen Aktivitäten Ausschau halten. Sie wissen nun, was zu tun ist.
Als etwas später die zwei Holländer das Hotel verlassen und mit dem Auto davonfahren, folgen Yurys Männer ihnen unauffällig. Die beiden Holländer zelebrieren gerade den Deal des Jahres, denn die Geschichte mit den erhöhten Bestechungsgeldern für die Grenzpolizei war natürlich frei erfunden. Sie witzeln, dass deutsche Beamte unbestechlich seien. Zu gut nur, dass das die dummen Russen nicht wüssten.
Nach einer Viertelstunde überholen die Verfolger das Auto der Holländer und schwenken eine Kelle. Beide Autos fahren rechts ran. Die holländischen Dealer sind extrem nervös, versuchen aber cool zu bleiben. Einer von Yurys Handlangern, der perfekt Deutsch spricht, tritt an die Fahrertür heran und gibt sich mit einem gefälschten Ausweis als Polizist in Zivil aus. Er lässt sich Führerschein und Fahrzeugpapiere geben und begibt sich zurück in sein Auto, wo er eine Weile bleibt, als würde er ihre Daten überprüfen lassen.
Als er zurückkommt, diesmal mit seinem Kollegen, bittet er die beiden Holländer auszusteigen und filzt sie. Siehe da, zwei braune Umschläge mit jeder Menge Geld kommen zum Vorschein. Das meiste davon hat Boris ihnen gerade im Hotel zugesteckt. Im Kofferraum werden sie dort, wo das Reserverad lagert, noch einmal fündig: zwei Dutzend Päckchen Heroin.
Die zwei Holländer werden nun vor die Wahl gestellt: Entweder sie übergeben brav das Geld sowie die Drogen und die Sache ist damit gegessen, oder sie kommen mit aufs Revier, wo alles nach Vorschrift geregelt wird.
Die Wahl fällt den Holländern nicht schwer.
Genug der Lobeshymnen auf die kriminellen Aktivitäten meines Bruders. Ich wünschte, Yury würde seine Intelligenz anderweitig einsetzen. Außerdem sollte er sich mehr um Anastasia kümmern.
Die höchste Priorität bleibt jedoch, dass er Marco nichts antut. Es dürfen nicht noch mehr Menschen sterben.
Dazu kommt: Auch wenn Marco ein Skinhead ist, würde die Polizei sorgfältig ermitteln. Da Yury schon eine Anzeige wegen illegalen Waffenbesitzes am Hals hat, kämen sie ihm sehr schnell auf die Schliche.
Dann hätten meine Eltern in kürzester Zeit beide Söhne verloren.
21. MARCO
In der Küche zu schuften ist nichts für mich. Es ist heiß, die Arbeit ist hart und die Bezahlung ist beschissen. Keine Ahnung, wie das die Jungs, mit denen ich die letzten Tage zusammen geschwitzt hab’, so lange aushalten.
Einer von denen heißt Douglas. Der Typ ist schwärzer als die Nacht, aber ich muss sagen, dass ich mit ihm am besten klarkomm’. Von seiner Statur her erinnert er mich an Stefan. Im Vergleich zu ihm ist Douglas aber ein sanfter Riese. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendjemandem etwas antun könnte. Er ist immer gut drauf, summt irgendwelche Lieder vor sich hin und gibt manchmal auch ’ne kleine Tanzeinlage zum Besten.
Er arbeitet trotzdem hart. Auf seiner Stirnglatze bilden sich alle fünf Minuten Schweißperlen, die er dann mit einem Tuch abwischt, das er immer in seinem Hosenbund griffbereit hält.
Douglas ist selber erst vor Kurzem von einer kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens nach Curitiba, das weiter im Süden liegt, gezogen, wenn ich das so richtig verstanden hab’. Anscheinend hat der Süden mehr Kohle und es gibt hier mehr Arbeit. Hört sich an wie bei uns mit Ost und West.
Obwohl ich ziemlich beschissen Englisch sprech’, hatten wir gestern ’ne längere Diskussion darüber, wer der beste Fußballer aller Zeiten ist. Für Douglas ist das natürlich Pelé. Klar war der nicht schlecht. Immerhin ist Pelé drei Mal Weltmeister geworden. Das hat Douglas ständig wiederholt, bis ich ihm gesagt hab’, dass ich’s verstanden hab’ und dass er mir jetzt mal zuhören soll.
Zugegeben, Pelé war ein guter Spieler. Aber der beste überhaupt? Was ist mit Diego Maradona? Ich hab’ ihn gefragt, ob er sein Tor bei der Weltmeisterschaft 1986 gegen England nicht gesehen hat. Douglas hat dann nur angefangen zu lachen und mit der Hand gewedelt. Depp!
Natürlich hab’ ich nicht das erste Tor gemeint, das Maradona mit seiner Hand reingemacht hat. Es war natürlich das zweite Tor, das einfach genial war. Der absolute Wahnsinn. Bei seinem Dribbling hat er mindestens fünf Engländer stehen lassen.
Weil ich weder Brasilianer noch Argentinier bin, find’ ich, dass meine Meinung mehr zählt. Ich bin nämlich ganz klar der Unparteiische. Am Ende haben wir uns aber darauf geeinigt, dass beide gleich gut waren. Als ich dann zum Spaß Lothar Matthäus erwähnte, lachte mich Douglas nur aus und ging zurück an die Arbeit.
Die Abende verbring’ ich oft mit João. Er löchert mich die ganze Zeit mit Fragen, wie dies und das in Deutschland ist. Deshalb wollte ich nicht unhöflich sein und hab’ ihm auch ein paar Fragen über Brasilien gestellt.
Anscheinend haben die Regionen hier nicht nur unterschiedlich viel Kohle. Die Akzente, das Essen, die Musik, also die gesamte Kultur, sind auch verschieden. So wie’s bei uns ist mit den Preußen und den bescheuerten Bayern.
Im Nordosten von Brasilien leben laut João fast nur Schwarze. Der gute alte Skinhead in mir hätte jetzt beinahe gesagt, dass ich zum Glück im Süden in Curitiba gelandet bin, wo es nicht so viele von denen gibt. Aus Respekt vor meinem Gastgeber halt’ ich aber ausnahmsweise mal die Klappe.
Apropos Skinhead: Demnächst muss ich mir mal wieder die Haare wegrasieren. So lang waren sie schon ewig nicht mehr.
Heute hat mich João zu einem Fußballspiel mitgenommen. Auch wenn sie hier nicht den besten Fußball spielen, war die Atmosphäre ziemlich beeindruckend. Der lokale Klub heißt „Coritiba“. Anscheinend hat man damals, als der Klub gegründet wurde, die Stadt mit einem „o“ anstatt einem „u“ geschrieben. Als der Name sich in „Curitiba“ wandelte, behielt man die alte Schreibweise für den Verein. In der letzten Saison hat die Mannschaft den Aufstieg in die erste Liga geschafft. João selber ist Fan von Palmeiras, einem erfolgreichen Verein aus São Paulo.
„Und, welche Mannschaft unterstützt du in Deutschland?“, fragt mich João.
Ganz klar Union Berlin! Von dem Klub hat João noch nie gehört. Das wundert mich natürlich nicht. Sportlich gesehen und auch abseits vom Platz geht es dem Klub ziemlich beschissen. Aber egal, was passiert, ich werd’ Union immer die Treue halten!
Klar muss ich dann noch über den FC Bayern lästern. Anders geht es gar nicht. Den Verein kennt João natürlich. Die machen die Bundesliga einfach nur langweilig, weil sie den anderen Vereinen die besten Spieler wegkaufen und deswegen ständig gewinnen, auch wenn sie die letzten zwei Jahre ausnahmsweise mal nicht die Meisterschaft geholt haben. João dagegen meint, dass ich mich anhör’ wie ein schlechter Verlierer. Wie auch immer, da beneid’ ich die Brasilianer schon ein wenig. Kein Klub dominiert hier. Es bleibt in der Liga immer spannend bis zum Ende.
João nimmt mich nach dem Spiel noch mit in eine Bar. Ich müsste einen „Caipirinha“ probieren. Ziemlich süß schmeckt das Zeug. Bei all dem braunen Zucker, den sie da reinhauen, wundert mich das nicht. Ist aber nicht schlecht.
Als wir nach Hause kommen, läuft in Gertrauds Wohnzimmer deutsches Radio. Keine Ahnung, wie sie das hier empfangen. „Deutsche Welle“ heißt der Sender. Noch nie von gehört. João meint, dass Gertraud oft stundenlang zuhört, obwohl das Gelaber stinklangweilig sei.
Gerade kommt ein Bericht über die Schweiz. Anscheinend jammern jetzt mehr und mehr Schweizer über die Deutschen, weil wir in Massen in die Schweiz ziehen und denen dort die Jobs wegnehmen. Kann ich mir gar nicht vorstellen. Wer will denn schon in der langweiligen Schweiz leben? Da gibt’s nur Kühe und Käse. Außerdem reden die dort so komisch Deutsch, das versteht ja keine Sau. Ich würd’ da höchsten hinziehen, wenn ich pensioniert bin und ein bisschen frische Bergluft brauch’, während ich an meinem Kreuzworträtsel arbeite.
João verarscht mich natürlich gleich wieder und meint, dass sie mich jetzt leider aus Brasilien abschieben müssten, weil ich einem brasilianischen Tellerwäscher den Job geklaut hätte. Scherzkeks!
Kurz vorm Schlafengehen mach’ ich ’ne nette Entdeckung. In meinem Gästezimmer steht das ein oder andere Buch auf Deutsch. Eines davon heißt „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Klar hab’ ich keine Ahnung, wer der Typ ist. Außer Comics hab’ ich nie was anderes gelesen. Das Buch selber ist mir ziemlich egal, aber als ich’s öffne, fallen jede Menge Geldscheine heraus. Es sind US-Dollar. Insgesamt etwa fünfhundert!
Gertraud hat bestimmt vergessen, dass sie in dem Buch Geld bunkert, und wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich mir die Kohle borg’. Ich brauch sie einfach dringender als sie. Mit dem Tellerwäscher-Job verdien’ ich ja fast nichts.
Vielleicht kann ich dann doch mit dem Bus nach Blumenau fahren und dort ein paar Tage in einem Hotel absteigen. Mal sehen. Das Buch leg’ ich mir neben das Bett. Vielleicht ist es ja schön langweilige Lektüre, gut zum Einpennen. Bestimmt besser, als jeden Abend mit Gertraud und João Mau-Mau zu spielen.
Am Morgen sitzen wir wieder zu dritt am Frühstückstisch. Wie immer sieht alles sehr lecker aus. Der Kaffee hier ist echt nicht schlecht, das muss man denen lassen.
„Na, Marco, mein Jungche, wie läuft es auf der Arbeit? Hältst du noch durch, mein Bub?“
Gute Frage, jetzt wo ich ihre Dollar gefunden hab’, könnte ich den Job ja vielleicht hinschmeißen.
„Es ist alles gut. Die Arbeit ist hart, aber macht Spaß. Und nette Kollegen hab’ ich auch. Vielen Dank noch mal für die Vermittlung, Gertraud.“
Ich kann ihr ja schlecht ins Gesicht sagen, dass der Job echt beschissen ist. Die letzten Tage hab’ ich so viel geschwitzt wie noch nie zuvor.
„Marco, du wolltest mich doch ein wenig befragen für dein Studium. Wann willst du das denn machen? Ich bin jederzeit bereit!“
Da muss ich mir noch was überlegen. Vielleicht frag’ ich sie einfach ab und zu spontan was. Obwohl, da fällt mir was ein.
„Ganz genau. Ich wollte dich eigentlich nächste Woche befragen. Aber erzähl’ doch schon mal. War es ein schwerer Neuanfang hier in Brasilien?“
Das interessiert mich sogar wirklich ein wenig. Ich selber komm’ mir hier nämlich vor wie ein Außerirdischer.
„Ach, Bub, es war nicht einfach. Das Schlimmste war mit anzusehen, wie sich Deutschland unter Hitler veränderte. Besonders für Heinrich. Deutschland war ja unsere Heimat. Unsere Familien haben seit Jahrhunderten in Berlin gelebt. Und plötzlich wird man schikaniert und bedroht. Dabei war Religion für Heinrich nie wirklich wichtig. Er ist fast nie in die Synagoge gegangen, es sei denn, jemand in unserer Familie hat geheiratet oder es gab eine Bar Mitzwa. Als wir hier angekommen sind, war ja zum Glück Heinrichs Cousin schon hier. Das hat ein bisschen geholfen. Aber es war trotzdem nicht leicht. Wir hatten erst mal keine Arbeit und fast kein Geld. Portugiesisch konnten wir auch nicht sprechen. Die Leute hier waren aber trotzdem alle sehr freundlich und hilfsbereit.“
In Gertrauds Augen bilden sich Tränen. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, um sich zu beruhigen, und fährt dann fort.
„Heinrich hat übrigens wie du auch erst einmal in einem Restaurant geschuftet. Fast fünf Jahre lang! Und ich hab’ in einem Café als Bedienung ausgeholfen. Irgendwann hatten wir dann genug Geld gespart, um eine Buchhandlung zu eröffnen. Bücher waren ja immer Heinrichs Leidenschaft. Wir sind übrigens eine der ältesten Buchhandlungen in Curitiba! Weißt du, ich kann das schon verstehen, dass heute so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Was bleibt denen denn sonst anderes übrig? Entweder man bleibt und stirbt im Krieg oder man wird für irgendetwas eingesperrt, wofür man nichts kann. So wie damals.“
Tja, manche Menschen trifft das Schicksal schon hart. Vielleicht ist es ja okay, wenn ab und zu ein paar Flüchtlinge für kurze Zeit nach Deutschland kommen, solange sie später wieder abhauen. Sonst gehen sie vielleicht wirklich drauf.
„So, mein Bub, ich muss jetzt leider schon los. Was machst du denn am Wochenende? João, warum fährst du nicht mit Marco auf die ‚Ilha do Mel‘ und zeigst ihm den schönen Strand? Und bleibt dort doch eine Nacht.“
Dieser Vorschlag kommt für uns beide vollkommen unvorbereitet. Wir schauen uns kurz an, es sagt aber erst mal keiner was. João scheint auf jeden Fall nicht wirklich darauf Bock zu haben.
„Oma, wie sollen wir denn da hinkommen? Du weißt, dass ich kein Auto hab’.“
Auf Strand hab’ ich eigentlich auch keine Lust. Schwimmen kann ich nämlich nicht. In der Schule hab’ ich’s irgendwie geschafft, mich immer vorm Schwimmunterricht zu drücken. Außerdem werden die Leute mich wegen meiner grellen weißen Haut bestimmt komisch anstarren. Als wär’ ich ’ne Zirkusattraktion. Auf die bescheuerte Insel kann ich gern verzichten. Da bringen mich keine zehn Pferde hin!
„Das ist ein netter Vorschlag, Gertraud, aber ich will mich João natürlich nicht aufdrängen. Und nach all der harten Arbeit in der Küche ist es vielleicht besser, wenn ich mich am Wochenende mal ausruh’.“
Sie winkt ab.
„Jungche, das macht der João doch gerne! Und ausruhen kann man sich am Strand am besten. Wenn du schon mal hier bist, dann musst du auch einen schönen Strand und Palmen sehen. Sonst ist dein einziger Eindruck von Brasilien die heiße Küche, in der du jeden Tag schuftest, mein Bub. – João, du nimmst einfach das Auto von Onkel Pedro. Du weißt, dass er es dir gerne leiht. So, Kinder, ich muss los. Bis später!“
Gertraud steht auf und verlässt die Wohnung. João und ich starren uns ratlos an. Er will offenbar nicht unhöflich sein und scheint das Beste daraus machen zu wollen.
„Gut … Übermorgen geht’s früh los. Wird dir bestimmt gefallen. Die haben auf der Insel erst seit ein paar Jahren Strom. Deswegen ist da alles ziemlich ruhig und bescheiden. Aber sehr schön. Wirst schon sehen.“
Solange es nicht der Botanische Garten ist.
22. DIMA
Yury kann es nicht lassen. Jeden Tag fährt er in seinem BMW ein paar Stunden in Hellersdorf herum, um nach Marco Ausschau zu halten. Seine Pistole immer griffbereit. Einmal ist ihm vor Aufregung fast das Herz aus der Brust gesprungen, als er dachte, Marco entdeckt zu haben. Aber es war nur ein anderer Skinhead, der Marco ähnlich sah.
Gestern ist Yury stinksauer geworden. Meiner Meinung nach vollkommen unbegründet. Anastasia ist das erste Mal seit meinem Tod in mein Zimmer gegangen. Sie wollte nur sehen, was ich dort so oft getrieben habe, was für Bilder an der Wand hingen und wofür ich mich interessierte.
Das Einzige, was sie dort gefunden hat, waren viele Bücher über Kugellager und Philosophen. Ich denke, das sagt einiges über mich aus. Dima, der langweilige Bücherwurm. Das genaue Gegenteil von Yury, der immer aktiv ist, gut aussieht, schicke Hemden trägt und durchtrainiert ist.
Auf meinem Schreibtisch lag noch ein Langenscheidt-Deutsch-Russisch-Wörterbuch. Sie nahm es mit und gab es später Yury, denn sie dachte, er könnte es vielleicht gebrauchen. Da stimme ich voll zu! Als er erfuhr, dass sie es in meinem Zimmer gefunden hat, wurde er fuchsteufelswild. Sie habe dort nichts zu suchen und solle dort nie wieder einen Fuß hineinsetzen.
Anastasia war über Yurys Wutausbruch ziemlich geschockt, entschuldigte sein Verhalten aber damit, dass er immer noch trauert und deswegen so gereizt ist. Wenn Yury das Wörterbuch nicht will, dann hoffe ich, dass Anastasia davon Gebrauch macht.
Viele Männer glauben, dass sie ein Dummchen ist – wegen ihres guten Aussehens und ihrer blonden Haare. Dabei würde sie bei einem Intelligenztest ganz sicher besser abschneiden als die meisten Männer um sie herum.
Obwohl sie erst seit sechs Monaten in Deutschland lebt, spricht sie schon viel besser Deutsch als Yury. Nun gut, Yurys Können ist vielleicht nicht die geeignete Messlatte, aber immerhin lebt er jetzt schon seit zwei Jahren in Berlin.
Außerdem ist sie ambitioniert. Im September wird sie anfangen Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität zu studieren. Ihr Traum ist es, eines Tages in Washington bei der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds zu arbeiten. Da fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Ihr Vater war in Russland ein renommierter Ökonom.
Yury hat keine Ahnung, was für einen unglaublichen Fang er mit ihr gemacht hat. Sie ist so bildhübsch und schlau. Das Wichtigste ist aber, dass sie ein gutes Herz hat. Hoffentlich hat sie weiterhin noch Geduld mit ihm.
In der Zwischenzeit vertreiben sich Yury und seine Jungs die Zeit damit, Skinheads zu verhauen. So wie Skinheads auf Ausländer Jagd machen.
In letzter Zeit ist es so schlimm geworden, dass sogar einige in der NPD meinen, dass Deutsche keine Deutschen schlagen sollten. Die Prügeleien sollten doch bitte aufhören. Jetzt also werden wir Spätaussiedler plötzlich doch noch als Deutsche anerkannt, dazu noch von der NPD! Wahrscheinlich hat sich rumgesprochen, was mit Thorsten passiert ist.
So wie jetzt in Deutschland haben wir Russlanddeutschen es auch früher in Russland nicht leicht gehabt. Wie zum Beispiel die Vorfahren meines Vaters, eine gewisse Familie Schmidtgal, wie heute ja noch unser Nachname lautet. Die Schmidtgals kamen aus der Nähe von Breslau, der früheren Hauptstadt der Provinz Schlesien, im heutigen Polen.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zogen sie wie Tausende andere Deutsche in die heutige Ukraine ans Schwarze Meer. Dort gab man ihnen Land und einen Sonderstatus als Kolonisten. Wie fast alle anderen Neuankömmlinge arbeiteten auch sie dort als Landwirte.
Wir Russlanddeutschen wurden oft diskriminiert, wie es nun Mal so ist mit Minderheiten. Viele Russen waren auf unseren relativen Wohlstand eifersüchtig. Richtig schlimm wurde es während des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche Reich der Feind war. Obwohl damals Tausende deutschstämmige Männer in der russischen Armee kämpften, so wie meine Urgroßväter, betrachtete man uns Russlanddeutsche als innere Feinde. Die deutsche Sprache wurde daraufhin in der Öffentlichkeit verboten, der Vertrieb deutscher Zeitungen wurde untersagt, und es durften keine deutschsprachigen Bücher mehr gedruckt werden. Es kam sogar zu Pogromen, Enteignungen und Deportationen nach Sibirien.
Nach Hitlers Machtergreifung und während des Zweiten Weltkriegs wurde es noch schlimmer. Es folgten Exekutionen und weitere Zwangsumsiedlungen nach Sibirien. Eines Tages nahm die Polizei im Dorf meines Großvaters fast die Hälfte der männlichen Schmidtgals mit. Man hat sie danach nie wiedergesehen.
Kurz nachdem die Nazis 1941 die Sowjetunion angriffen, besetzte die Wehrmacht viele Gebiete der Russlanddeutschen. Manche von uns wurden zu Kollaborateuren und beteiligten sich am Mord Tausender Juden.
Über dreihunderttausend Russlanddeutsche wurden dann gegen Ende des Krieges von den Nazis in den Westen zwangsumgesiedelt, weil die sowjetische Armee immer näher rückte, um ihre Gebiete zu befreien. Viele Russlanddeutsche, die es in den Westen geschafft hatten, wurden nach Kriegsende aber von den Alliierten wieder in die Sowjetunion abgeschoben, weil sie theoretisch sowjetische Staatsbürger waren. Stalin hatte darauf bestanden.
Mein Großvater väterlicherseits war einer von ihnen. Er hatte noch Glück und ist in Wolgograd gelandet. Viele wurden nach Sibirien geschickt oder einfach erschossen. So hat es zumindest mein Großvater erzählt. Möge er in Frieden ruhen!
Deswegen ist es ziemlich schade, dass wir Russlanddeutschen jetzt in Deutschland diskriminiert werden. Nach all dem, was meine Vorfahren durchgemacht haben, nur weil sie deutscher Abstammung waren. Der Mensch ist manchmal ein Kuriosum.
23. MARCO
Wenn ich ehrlich bin, dann freu’ ich mich jetzt doch auf das Wochenende auf der Insel. Nicht weil ich mich nach Strand sehn’, sondern weil im Augenblick alles andere besser ist, als in der beschissenen heißen Küche zu schuften. Heute war’s besonders schlimm. Dazu war auch viel mehr los als sonst. Schnell noch den letzten Teller trocknen und dann raus hier. Douglas wischt sich mal wieder den Schweiß von der Stirn und kommt zu mir rüber.
„What a fucking crazy day! Hey, do you want to see some ‚Capoeira‘ after work?“
Null Ahnung, was das ist. Als ich nachfrag’, meint Douglas nur, dass ich’s schon sehen werd’. Warum nicht? Vielleicht gibt’s dort Hängematten und kühles Bier zu saufen.
Als wir in einer stickigen Halle ankommen, stehen ein paar dunkelhäutige Typen, die alle Weiß tragen, in einem Kreis und singen irgendwelches rhythmisches Zeug, während sie in die Hände klatschen. Einer spielt sogar auf einer großen Trommel. Hört sich an wie Schamanengesang.
„Wait here for a minute.“
Douglas geht in eine Umkleidekabine und kommt nach kurzer Zeit mit nacktem Oberkörper und einer langen weißen Baumwollhose wieder heraus. Mann, hat der Junge Muskeln! Frisst der jeden Abend vorm Ins-Bett-Gehen Anabolika oder was?
Er geht in den Kreis und begrüßt die anderen Männer. Dann zeigt er auf mich und sagt irgendetwas auf Portugiesisch. Alle drehen sich zu mir um, lächeln und winken mich herbei.
„Don’t be so shy. Come over, Marco! They won’t eat you – for now. Maybe later!“
Da lass ich mich natürlich nicht lumpen und stell’ mich zu den anderen in den Kreis. Als sie wieder anfangen zu singen, klatsch’ ich auch in die Hände, wenn auch komplett aus dem Takt, wie ich selber merk’. Ein sportlich aussehender Typ, der auch nur eine weiße Baumwollhose trägt, tritt in die Mitte vom Kreis und gibt Douglas, der dort schon wartet, die Hand.
Dann geht es los: Sie scheinen zur Musik zu tanzen, schwingen dabei aber auch akrobatisch ihre Beine, als ob sie den anderen mit einem Drehkick um die eigene Achse treffen wollten. Es sieht aber eher wie ein Schaukampf aus, bei dem getanzt wird. Den Gegner berühren sie nämlich nicht. Das Ganze ist schon ziemlich beeindruckend, muss ich sagen.
Als Douglas mich in den Kreis zerren will, lehn’ ich dankend ab. Ich mach mich doch nicht zum Affen!
„I’m just kidding, Marco. Germans don’t have any rhythm! Let’s go and have a beer. You’re much better at drinking.“
Wo er recht hat, hat er recht.
In einer nahegelegenen Kneipe lädt mich Douglas also auf ein Bier ein. Er erzählt mir, dass sich „Capoeira“ aus afrikanischen Tänzen entwickelt hat. Anscheinend wurden damals die meisten Sklaven aus Afrika nach Brasilien gebracht – insgesamt um die vier Millionen. Das ist schon eine krasse Zahl.
Wir stoßen aufs Tellerwaschen an. Douglas meint, dass ich mich die letzten Tage ziemlich wacker geschlagen hab’.
„When I first saw you in the kitchen, I thought you would start crying like a baby!“
Anscheinend gibt es zwei Typen von Leuten, mit denen er in den letzten Jahren in der Küche gearbeitet hat. Manche kommen die ersten drei Tage und merken schnell, dass der Job ziemlich hart ist. Am vierten Tag tauchen sie dann einfach nicht mehr auf und man hört nie wieder was von ihnen. Die aber, die es bis zum vierten Tag schaffen, die bleiben dann auf Dauer. Ich bin da wohl eine Ausnahme. Denn viel länger werd’ ich’s dort bestimmt nicht mehr aushalten.
Am nächsten Morgen brummt mein Schädel doch ganz schön. Natürlich musste ich Douglas auch noch auf ein Bier einladen. Danach hat er darauf bestanden, noch eines zu trinken, und so ging es dann weiter.
João hat nicht übertrieben, als er meinte, dass wir früh morgens zur Insel aufbrechen. Wir stehen um halb sechs auf, frühstücken und fahren dann mit dem Auto von seinem Onkel los. Es ist ein „VW Gol“. Den hab’ ich noch nie in Deutschland gesehen. Etwas kleiner als ein Golf, aber man erkennt trotzdem sofort, dass es ein typischer Volkswagen ist. Dann erinner’ ich mich daran, dass Eduardo, der Autohändler, der neben mir im Bus nach Curitiba saß, ständig von seinem VW Gol gesprochen hatte. Ich dachte, er könnte das Wort „Golf“ nicht richtig aussprechen, aber jetzt raff’ ich, dass er mir erklären wollte, dass sie den Gol nur hier in Südamerika herstellen. Keine Ahnung, warum VW nicht überall auf der Welt die gleichen Autos verkauft. Egal, Hauptsache die kleine Kiste bringt uns in einem Stück ans Ziel.
Nach zwei Stunden Autofahrt kommen wir an der Küste an. Ein Boot bringt uns dann auf die Insel. Hier ist endlich das Brasilien, das ich mir vorgestellt hab’: weite Sandstrände, Wildnis und Strohhütten. Es gibt keine Straßen, geschweige denn Autos. Hohe Felsen ragen in den Himmel. Auf einem steht ein alter Leuchtturm. João zeigt mir ein altes Fort, das die Portugiesen im achtzehnten Jahrhundert gebaut haben. Danach vertreiben wir uns die Zeit am Strand.
Ein Verkäufer kommt vorbei und macht uns „Queijo Quente“. Zuerst kniet er sich mit seinem kleinen Metalleimer, der mit heißer Kohle gefüllt ist, vor uns hin. Darauf röstet er dann Käsestücke, die auf Holzstäbchen aufgespießt sind. Schmeckt gar nicht mal so schlecht.
Zum Glück sind außer uns nicht viele andere Besucher am Strand. Mein Aussehen ist mir nämlich echt peinlich. Mittlerweile haben mein Kopf, die Unterarme und die Unterschenkel genug Sonne abbekommen. Aber mein Oberkörper und meine Oberschenkel strahlen immer noch weißer als ein Schimmel. Dazu hat mir João noch eines von diesen kleinen knappen Badehöschen gegeben. Die scheinen hier alle zu tragen. Leider verstärkt dies nur noch den Kontrast.
Natürlich kann sich João nicht verkneifen, einen Witz zu reißen: Wenn ich öfter kommen sollte, könnten sie den alten Leuchtturm abreißen, weil ich viel besser sichtbar wär’.
Es ist übrigens das erstes Mal, dass ich im Meer bin. Als ich klein war, bin ich mit meinem Vater einmal an die Ostsee gefahren, aber das Wasser war viel zu kalt, um reinzugehen. Hier fühlt es sich im Vergleich dazu an wie in der Badewanne.
Ich geh’ nur bis zum Bauchnabel ins Wasser, weil ich ja nicht schwimmen kann. Das erzähl’ ich João bestimmt nicht, sonst lacht er sich noch tot. Ich lass’ mich kurz an der Wasseroberfläche treiben und blick’ in den blauen Himmel. Wahnsinn, kann man da gut entspannen! Besonders nach der ganzen Schufterei in der Küche fühlt sich das hier einfach verdammt angenehm an.
Als wir aus dem Wasser rausgehen und João in seiner Badehose vor mir steht, sind sie wieder da, diese schlimmen, verwirrenden Gefühle. Mein Geheimnis, das nur Dima kennt.
Am Abend kommen wir in einem kleinen Gästehaus unter. Wir essen „Moqueca“, was so was wie ein Fischeintopf ist, der aber um einiges besser schmeckt als die deutsche Version, die ich kenn’. João meint, es wär’ ein typisches Gericht aus dem Nordosten von Brasilien. Kühles Bier gibt es hier auch jede Menge. Seit ich letztes Wochenende aus dem Flieger gestiegen bin, hab’ ich für meine Verhältnisse, abgesehen vom vorigen Abend mit Douglas, kaum Alkohol getrunken. Eine Woche sind nicht die Welt, aber für einen angehenden Alkoholiker wie mich – ich mach mir da nichts vor – ist das schon eine ziemliche Durststrecke. Das kühle Bier hier schmeckt aber auch verdammt gut, besonders bei der Hitze. Anschließend bestellen wir noch „Cachaça“, einen Zuckerrohrschnaps. Ziemlich hartes Zeug!
Mittlerweile sitzen wir alleine draußen am Tisch. Es ist ziemlich dunkel, denn ab zehn Uhr abends stellen sie den Stromgenerator ab. Wir lassen uns jeder noch ein Bier bringen und gehen ein wenig am Strand spazieren. Das Einzige, was man hört, ist das Meeresrauschen. Nur der Mond leuchtet am Himmel und spendet etwas Licht.
„Und, verrätst du mir jetzt, warum du nach Curitiba gekommen bist? Und fang jetzt bloß nicht wieder mit deiner beknackten Recherche an. Das kannst du vielleicht meiner Oma erzählen, aber nicht mir.“
Was soll ich João jetzt antworten? Wir gehen ein paar Meter weiter, ohne dass ich auf seine Frage eingehe. Ich denke, er hat es verdient, die Wahrheit zu hören. Mein Schweigen hat mich sowieso schon als Lügner entlarvt. Die Details werd’ ich ihm aber ersparen.
„Ich hab’ in Berlin Scheiße gebaut. Es war aber nicht wirklich meine Schuld. Deswegen suchen mich gerade ein paar Leute, und vor denen hab’ ich mich verpisst. Ich war ziemlich besoffen, als ich das Flugticket nach Brasilien gekauft hab’. Dass ich in Curitiba gelandet bin, ist reiner Zufall. Das war nicht wirklich so geplant. Eigentlich wollte ich nach Blumenau, weil ich gehört hab’, dass dort Deutsche leben. Ist schon etwas verrückt, das alles. Irgendwann erzähl’ ich dir die ganze Geschichte.“
João starrt mich leicht schockiert an und muss erstmal verdauen, was er gerade gehört hat.
„Keine Sorge, ich bin kein Krimineller. Ich hatte noch nie was mit der Polizei zu tun. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, ich war ziemlich mies drauf, bevor ich nach Brasilien gekommen bin. Ich war einfach sauer auf Gott und die Welt. Und an einem Abend hab’ ich mich einfach mit den falschen Leuten angelegt. Jetzt bin ich hier.“
João stellt mir weitere Fragen über mein Leben. Manche sind mir etwas unangenehm, obwohl ich schon einen sitzen hab’. Nein, ich hab’ keine Freundin in Deutschland. Nein, ich hatte noch nie eine. Ja, mit fünfundzwanzig Jahren ist das schon etwas komisch. Aber João gibt sich mit meinen Antworten nicht zufrieden.
„Warum hattest du noch nie ’ne Freundin?“, hakt er nach.
Gute, aber wieder sehr unangenehme Frage. Was antwort’ ich jetzt bloß darauf? Langsam fang’ ich an zu schwitzen.
„Es hat sich einfach nie was ergeben. Mich hat bis jetzt noch keine Frau so richtig umgehauen.“
Warum interessiert ihn das so? Ich beschließ’, João ebenfalls zu löchern um mir eine Verschnaufpause zu gönnen, und bekomm’ fast die gleichen Antworten. Er hatte ebenfalls noch nie eine Freundin und fand bis jetzt einfach keine Frau attraktiv.
Dann passiert es. João nimmt mich sanft bei der Hand. Es fällt mir plötzlich schwer zu atmen und mein Herz springt mir fast aus der Brust. Diese schlimmen Gefühle – mein Geheimnis –, sie überwältigen mich. Verdammt, wie soll ich darauf reagieren?
Als João fragt, ob ich jemals einen Mann geküsst hab’, vernein’ ich. Wir bleiben stehen und João dreht sich zu mir. Er fängt an, meinen Hals sanft zu küssen. Ich schwitz’ jetzt wie verrückt und meine Knie werden weich.
Wie kann etwas, das so aufregend und schön ist, so falsch sein? Was ist, wenn mich diese Gefühle in Berlin einholen? Was ist, wenn die Kameraden jemals davon erfahren? Was würde Stefan sagen? Die würden nie wieder ein Wort mit mir reden. In der ganzen Szene würd’ sich sofort herumsprechen, dass ich ’ne widerliche Schwuchtel bin. Dann wär’ ich ganz allein, so wie früher.
Nie wieder! Die Scheiße muss sofort aufhören!
Ich weich’ zurück und erklär’ João, dass er die Sache falsch versteht. Ich bin nicht schwul, auf keinen Fall! Er schaut mich verwirrt an. Ich erklär’ ihm noch mal, dass das nichts für mich ist. Ich find’ Frauen geil. Außerdem ist mein Bier jetzt fast leer, und wir sollten besser pennen gehen.
Auf dem Weg zurück zum Gästehaus sprechen wir kein Wort miteinander.
Am nächsten Tag frühstücken wir schnell und beschließen sofort abzufahren, anstatt noch den Tag am Strand zu verbringen, so wie wir es eigentlich geplant hatten.
Fast die gesamte Rückfahrt sitzen wir schweigend nebeneinander. Nur ab und zu jammern wir über unseren Kater. Über das, was gestern Nacht am Strand passiert ist, verlieren wir kein Wort. Davon wird niemand jemals erfahren. Niemals.
24. DIMA
Gestern Nacht habe ich wieder mit Yury kommuniziert. Zuerst dachte ich, dass es so ablaufen würde wie immer. Erwartungsgemäß war er untröstlich, als er realisierte, dass ich wirklich tot bin. Dann fing er wieder damit an, dass er sich an Marco rächen würde. Dieses Mal habe ich ihn aber an beiden Händen gepackt und ihm tief in die Augen geschaut. Es folgte mein verzweifelter Versuch, ihm klar zu machen, dass dies der falsche Weg ist.
„Yury, hör mir zu. Du wirst nichts damit erreichen, wenn du diesen Skinhead umbringst. Du verbaust dir damit nur deine Zukunft. Versprich mir zwei Dinge: Erstens, du lässt den Skinhead in Ruhe. Wenn du ihn umbringst, landest du nur im Knast. Dann ist es auch zwischen dir und Anastasia aus. Sie wird bestimmt nicht zwanzig Jahre darauf warten, bis du wieder draußen bist. Zweitens, versprich mir, dass du dich besser um Anastasia kümmerst. Sie ist die Frau deines Lebens und du weißt offenbar gar nicht, was du an ihr hast.“
Daraufhin starrten wir uns wortlos an. Normalerweise enden unsere Begegnungen damit, dass Yury wieder anfängt über Marco zu fluchen. Diesmal blieb er aber stumm. Ich weiß immer noch nicht ganz, wie ich das interpretieren soll, aber ich werte es als Fortschritt. Vielleicht hat die Erwähnung von Anastasia den Ausschlag gegeben. Davor hatte ich nie über sie gesprochen.
Es ist also nicht alles hoffnungslos, was Yury angeht. Apropos Hoffnung: Heute hatte ich einen kuriosen Gedanken. Man hat ja im Jenseits viel Zeit zum Grübeln und zum Philosophieren. Wie würden wohl die Vertreter einer hochentwickelten außerirdischen Zivilisation über die Menschheit richten? Würden sie nicht denken, dass wir eine hoffnungslose Spezies sind? Wir bringen uns gegenseitig in Kriegen um, zerstören unsere Umwelt, und wir hegen Vorurteile gegenüber unseren Mitmenschen, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben, schwul sind oder einen anderen Gott anbeten. Auf den ersten Blick würden sie vermutlich denken: „Vergiss es! Die kann man abschreiben. In hundert Jahren gibt es die Menschheit nicht mehr.“
Würden sie sich aber die Entwicklung der Menschheit über die letzten Jahrhunderte anschauen, würden sie eventuell doch Hoffnung schöpfen.
Es gibt weniger Kriege zwischen einzelnen Staaten. Die beiden Weltkriege mit ungefähr achtzig Millionen Toten sind jetzt fast schon fünfzig Jahre her. Diese Zahl muss man erst mal begreifen. Achtzig Millionen! Das ist die Gesamtbevölkerung des wiedervereinigten Deutschlands. Seitdem gab es nie wieder einen Krieg von einem solchen Ausmaß. Bis auf den Jugoslawienkrieg herrschte in Europa sogar ununterbrochen Frieden.
Was die Umwelt angeht, da gibt es natürlich noch viel Handlungsbedarf. Aber auch hier gibt es Fortschritte. Fabriken, Kraftwerke oder Autos werden immer umweltfreundlicher. Dagegen herrschte noch im Dezember 1952 in London tagelang ein dichter toxischer Smog, weil ungewöhnlicherweise kein Lüftchen wehte, um wie üblich die giftige Suppe wegzublasen. Damals wurde noch eine Unmenge an Kohle verbrannt, weswegen die Luftverschmutzung extrem war. Im Verlauf von vier Tagen starben ungefähr viertausend Menschen an den Folgen der Smog-Katastrophe. Heute wäre das undenkbar. Klar stoßen jetzt Entwicklungsländer mehr und mehr CO2 aus. Aber auch sie werden sich wie der Westen weiterentwickeln und mit der Zeit umweltfreundlichere Technologien einsetzen.
Ähnlich sieht es bei den Menschenrechten aus. Nehmen wir die USA als Beispiel. Fast eine halbe Millionen Afrikaner wurden über Jahrhunderte eingefangen und unter den unmenschlichsten Bedingungen nach Nordamerika verfrachtet, um dort auf den Feldern als Sklaven zu arbeiten. Fast zwanzig Prozent der Afrikaner überlebten die gefährliche Überfahrt nicht. Ihre Leichen wurden einfach auf See über Bord geworfen, als wäre es verdorbene Ware.
Nach dem Bürgerkrieg wurde das Halten von Sklaven 1865 endlich verboten. Ab 1870 durften schwarze Bürger in den USA wählen. 1954 wurde die Rassentrennung in Schulen aufgehoben. Und 1964 wurde ein Bürgerrechtsgesetz verabschiedet, das die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder Religion in öffentlichen Einrichtungen wie Restaurants oder Hotels verbot.
Natürlich gibt es heute trotzdem noch jede Menge Rassismus in den USA. Aber insgesamt haben sich die Bedingungen mit der Zeit doch um einiges verbessert. Wer weiß, vielleicht wird Amerika ja eines Tages einen schwarzen Präsidenten haben!
Daher sage ich, liebe Außerirdische, kommt gerne in hundert Jahren wieder und ihr werdet staunen, was sich bei uns getan hat. Ich bin da ganz optimistisch. Aber von allein kommt nichts. Da braucht es viele Menschen, die etwas dafür tun. Menschen die Hoffnung haben. Denn ohne Hoffnung ist es viel schwerer sich zu engagieren. Das ist der Grund, warum ich weiterhin versuche, Yury und Marco zu helfen. Ich schöpfe Kraft aus der Hoffnung, dass beide noch einmal die Kurve kriegen.
25. MARCO
Nein, ich würd’ am Montag nicht mehr zur Arbeit zurückgehen. Das dachte ich zumindest auf der Insel, als ich sorgenlos im Meer trieb und die Sonne genoss. Und dass ich vielleicht meine verbleibende Zeit in Brasilien mit João verbringen könnte, anstatt mir in der Küche eine zweite Woche lang den Arsch abzuarbeiten.
Jetzt bin ich aber ganz froh hier zu sein. Nach dem, was am Samstagabend passiert ist, hab’ ich nicht wirklich Bock auf João. Ich hab’ mir nichts vorzuwerfen. Es war João, der mit der Scheiße angefangen hat. Ich werd’ mit reinem Gewissen nach Berlin zurückfahren.
Douglas fragt, ob alles okay ist. Anscheinend bin ich zu ruhig. Ich antworte ihm, dass das Wochenende gut war, nur dass ich nicht viel geschlafen hab’. Mehr muss er nicht wissen. Neugieriges Bürschchen!
Nach der Arbeit geh’ ich direkt auf mein Zimmer. Auf Mau-Mau spielen mit Gertraud hab’ ich erst recht keinen Bock.
Gerade hab’ ich die letzten Seiten von diesem Buch, „Im Westen Nichts Neues“, gelesen. Vielleicht hätt’ ich das ein anderes Mal tun sollen. Ziemlich deprimierend, die ganze Geschichte. Die sind damals im Ersten Weltkrieg an der Front anscheinend wie die Fliegen verreckt. Bestens für meine Stimmung, die ja sowieso schon beschissen ist. Ich muss an Gertrauds Ehemann Heinrich denken. Was der damals in Verdun durchgemacht haben muss. Armer Hund! Und ich denk’ wieder an den Sohn von Heinrichs Cousine Maria, den mir Gertraud auf dem Foto gezeigt hat. Woher kenn’ ich den Jungen? Vielleicht sollte ich Gertraud noch mal fragen, ob sie sich wieder an seinen Namen erinnern kann. Wenn man so alt ist, dann drehen sich die Räder im Gehirn vielleicht nur an manchen Tagen.
Mir fällt ein, dass die fünfhundert Dollar immer noch in meiner Sporttasche sind. Nach all dem, was Gertraud seit meiner Ankunft für mich getan hat, müsste ich schon ein ziemliches Arschloch sein, um die Kohle zu behalten. Auf Gewissensbisse, die ich später dann vielleicht haben werd’, kann ich verzichten. Deswegen steck’ ich die Kohle wieder ins Buch und tu’s dahin zurück, wo ich’s gefunden hab’.
Während ich im Bett lieg’, muss ich wieder an Samstagabend denken. Dieses Lustgefühl, das mich überkommen hat. Was für eine Schande! So etwas darf mir nie wieder passieren! Wie stell’ ich das nur ab? Man ist bestimmt nur schwul, wenn man es zulässt und schwach ist. Als ich João zum ersten Mal gesehen hab’ und er mir mit seiner weichen Hand einen sanften Händedruck gab, konnte ich mich ja auch kontrollieren. Bald bin ich sowieso wieder weg von hier.
Zum Glück gibt’s in meinem Umfeld in Berlin keine Schwuchteln. HIV haben die alle dazu auch noch. Ich hab’ ganz sicher keinen Bock, einen beschissenen AIDS-Tod zu sterben.
João hat aber schon einen unglaublich durchtrainierten Körper. Diese geschmeidige dunkle Haut. Kein einziges Körperhaar. Und seine vollen, sanften Lippen, die meinen Hals geküsst haben. Ich merk’, wie mein Schwanz steif wird, wenn ich daran denk’.
Verdammte Scheiße!
Na ja, vielleicht kann ich mir nur ein Mal einen runterholen und dabei an ihn denken. Nur ein einziges Mal!
Wo war ich? João küsst mich am Hals. Dann steckt er mir seine Zunge in den Mund. Ich stell’ mir vor, dass er sich jetzt splitternackt vor mir hinkniet und dass ich von hinten in ihn eindring’. Mein Herz rast. Ich bin kurz davor zu kommen. Diese Gedanken werden mein kleines Curitiba-Geheimnis bleiben. Nur dieses eine Mal, dann werd’ ich nie wieder an ihn denken!
Stopp! Nein! Es ist falsch. Einfach nur krank! Ich darf jetzt nicht schwach werden! Schnell an was anderes denken. Ich stell’ mir jetzt vor, dass Stefan und die anderen Kameraden vor mir stehen und mich anstarren. Als würd’ ich auf einer Anklagebank sitzen. Na also, mein Schwanz wird schlaff. Und ich denk’ an die guten alten Zeiten, wie wir um die Häuser ziehen und Bier saufen. Wie vor zwei Monaten, als ich auf dem Heimweg in einen Mülleimer gekotzt hab’. Mann, war das ein geiler Abend.
Allmählich werd’ ich auch müde. Gut so.
26. DIMA
„Schön, dich wiederzusehen, Marco. Da hattest du aber ein interessantes Wochenende.“
Wir sitzen auf einer Parkbank und beobachten, wie die Leute vorbeijoggen oder mit ihrem Hund spazieren gehen. Marco starrt schweigend auf den Boden und kaut an seinen Fingernägeln. Dann schaut er mich an und steht auf, als wolle er weggehen.
„Ich bin keine Schwuchtel, falls du darauf hinaus willst. Vergiss es! João hat mit der Scheiße angefangen.“
So defensiv habe ich Marco noch nicht erlebt.
„Warum schämst du dich, Marco? Du musst nichts leugnen und hast nichts falsch gemacht. Wobei, die ganze Sache hast du schon ziemlich verkackt, weil du in Panik geraten bist und Schiss hattest. Der Samstagabend hat ja ein ziemlich abruptes Ende genommen. Ich kann dir aber schlecht die Leviten lesen. Genau wie du habe ich auch niemandem davon erzählt, dass ich schwul bin. Was uns beide traurigerweise verbindet, ist ja, dass wir dieses Geheimnis unser Leben lang mit uns herumgeschleppt haben, ohne mit jemandem darüber zu reden. Diese Bürde wurde in den letzten Jahren meines Lebens immer schwerer. Wenigstens kann ich mich jetzt mit dir offen darüber unterhalten.“
Marco ist nun ganz Ohr. Ich stehe auf und wir spazieren ein wenig im Park umher. Vielleicht lockert das die Unterhaltung etwas auf.
„Ich hatte ja keine Ahnung, wie mein Bruder Yury oder meine Eltern reagieren würden. In der Sowjetunion war Schwulsein so etwas wie eine Todsünde, und man konnte dafür sogar im Knast landen. Deswegen bin ich nie jemandem nähergekommen. Das ist übrigens das Einzige, was ich in meinem Leben auf der Erde bereue. Verliebt war ich nur einmal. Leider war es eine einseitige Angelegenheit. Vor etwa einem Jahr habe ich einen Rumänen in meinem Deutschkurs kennengelernt. Nach kurzer Zeit trafen wir uns öfters an den Wochenenden, um zusammen zu Ausstellungen zu gehen oder andere Sachen zu unternehmen. Ich hab’ mich Hals über Kopf in ihn verguckt. Irgendwann hat er mir aber erzählt, dass er eine Freundin hat. Das hat er zumindest behauptet. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass er ebenfalls schwul war. Entweder er wollte es nicht zugeben, so wie ich es auch verheimlicht habe, oder er hat sich einfach nicht für mich interessiert und mir eine Notlüge aufgetischt. Pech gehabt, was? Wie gesagt, ich wünschte, ich hätte nur einmal jemanden geliebt und dass diese Person meine Liebe auch erwidert hätte. Und ich wünschte, ich hätte nicht verheimlichen müssen, dass ich schwul bin.“
Wir bleiben kurz stehen. Ich warte eine Weile auf eine Reaktion, aber es kommt nichts. Marco starrt nur in die Ferne. Immerhin besser, als weiterhin alles zu leugnen.
„Marco, willst du wirklich den Rest deines Lebens als heimlicher Schwuler verbringen? Ich hab’ da ’ne Idee. Warum wirst du nicht einfach Priester? Dann hast du immer eine gute Ausrede parat, warum du mit keiner Frau zusammen bist.
Nein, im Ernst: Sei kein Idiot! Du hast für João Gefühle, und weißt du was? Er hat auch Gefühle für dich. Nur hast du ihn am Samstagabend ziemlich verwirrt. Es ist deine Entscheidung. Du kannst natürlich weiter deine Gefühle unterdrücken und leugnen, dass du schwul bist. Auf Dauer wird dich das ziemlich unglücklich machen, das ahnst du ja wahrscheinlich schon. Oder du kannst endlich anfangen zu leben und dich so akzeptieren, wie du bist.
Wovor hast du eigentlich Schiss? Berlin ist eine weltoffene, tolerante Stadt. Absolut kein Vergleich zur Situation in der Sowjetunion. Und deine Familie besteht mittlerweile nur noch aus deiner Mutter, die es dir bestimmt nicht so übelnehmen würde wie meine Familie. Nur deine dämlichen Skinheadfreunde hätten ziemlich sicher ein Problem damit, was dir aber egal sein kann. Das sind alles arme Schweine, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen und dich nur mit runterziehen. Um es in deinen Worten zu sagen: Auf die kannst du scheißen!“
27. MARCO
Lärm, der aus dem Bad kommt, weckt mich auf. In Gertrauds Wohnung ist es unmöglich, sich in sein Zimmer zu schleichen, ohne dass es andere mitbekommen. Wir hängen hier nämlich ziemlich eng aufeinander und die Wände sind dünn. Es ist ein Uhr nachts. Wahrscheinlich kommt João gerade von einem Treffen mit Freunden. Die Tür zu seinem Zimmer schließt sich.
Gerade hatte ich schon wieder einen dieser seltsamen Träume. Vielleicht hat Dima recht. Wovor hab’ ich eigentlich Schiss? Wenn ich Stefan und den anderen Kameraden aber erzähl’, dass ich schwul bin, dann kann ich die echt abschreiben. Außer denen hab’ ich aber niemanden. Dima weiß einfach nicht, wie es ist, wenn man alleine ist und weder Freunde noch Familie hat. Einsamkeit – davor hab’ ich Schiss.
Aber wenigstens sollte ich João erklären, dass es mir leidtut und dass ich am Samstagabend Scheiße gebaut hab’. Das schuld’ ich ihm. Auch wenn er nicht gut darauf reagiert, werd’ ich’s später wenigstens nicht bereuen, dass ich nichts gesagt hab’.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich nach meinem guten Abschneiden im Weitsprung bei der Jugendspartakiade das Angebot bekam, dem Berliner Leichtathletik-Verband beizutreten. Man wollte mich fördern, aber ich hab’ abgelehnt. Ich hatte einfach keinen Bock auf hartes Trainieren.
Vielleicht ist’s nach all der Doping-Scheiße, die in der DDR gelaufen ist, auch gut so, dass ich abgelehnt hab’. Aber bis heute nagt die Reue an mir. Was wär’ passiert, wenn ich zugesagt hätte und aus mir wär’ ein Topathlet geworden? Wahrscheinlich wär’ mein Leben ganz anders verlaufen. Wer weiß, vielleicht wär’ ich sogar letztes Jahr für Deutschland bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona aufgelaufen. Ich werd’s nie wissen. Und jetzt ist’s zu spät. Pech gehabt.
Reue ist ein Scheißgefühl!
Ich steh’ auf, zieh’ mir schnell eine kurze Hose an und geh’ auf den Flur. Kurz bevor ich Joãos Tür erreich’, bleib’ ich stehen. Soll ich das wirklich jetzt machen? Vielleicht ist es schon zu spät und João ist gerade eingeschlafen? Morgen ist ja auch noch ein Tag.
Jetzt bloß keine Memme sein! Fick dich, du innerer Schweinehund!
Ich klopf‘ an seiner Tür.
„Herein.“
Mein Herz fängt an schneller zu schlagen. Tief Luft holen! Als ich die Tür aufmach’, sitzt João auf der Bettkante und zieht sich gerade die Socken aus. Er schaut mich erstaunt an. Vielleicht hat er Gertraud erwartet.
„Hey, João. Wie läuft’s?“
Seit wir am Sonntag in Curitiba angekommen sind, haben wir nicht wirklich miteinander gesprochen.
„Nicht schlecht. Ich war gerade mit einer Freundin im Kino. Wir haben uns ‚Aladdin‘ angeschaut. Disney-Filme sind normalerweise nicht so mein Ding, der war aber eigentlich ganz nett. Und du?“
Er tut so, als wär’ nichts gewesen. Was bleibt ihm auch anderes übrig.
„Das Übliche. Acht Stunden in der Küche geschwitzt. Danach war ich so platt, dass ich mich nach der Arbeit erst mal hingelegt hab’.“
João scheint meine Anwesenheit nicht zu stören. Er zieht sich einfach weiter aus und sitzt jetzt in Unterhose und T-Shirt vor mir.
„Meine Oma meinte, dass ihre Freundin ihr erzählt hat, dass du ’nen guten Job machst im Restaurant.“
Als Tellerwäscher ist es schwer, einen schlechten Job zu machen. Es geht eher darum, ob man überhaupt zur Arbeit erscheint oder nicht.
„Ich geb’ halt mein Bestes. Hey, João, wegen Samstagabend ... Ich wollt’ mich kurz bei dir entschuldigen, weil ich mich so beschissen verhalten hab’. In meinem Freundeskreis in Berlin sind Leute wie wir nicht gerade beliebt. Das war ’ne ganz neue Situation für mich. Ich wusste halt nicht, wie ich reagieren sollte.“
Mann, ist das unangenehm, ihm dies zu offenbaren. João grinst mich aber an.
„Du bist noch ’ne Jungfrau, oder? Du hast noch nie was mit ’nem Mann oder ’ner Frau gehabt, stimmt’s?“
Jetzt fängt er schon wieder mit diesen peinlichen Fragen an. Nein, ich hatte in meinem Leben noch mit keinem Menschen Sex. Außer mit mir selbst.
Ich schüttle leicht beschämt den Kopf.
„Als ich dich das erste Mal gesehen hab’, hast du so ’nen imposanten Eindruck auf mich gemacht. Mit deiner Glatze und deinen schweren Stiefeln. Der feste Händedruck. Ich dachte, du wärst ein echt krasser Typ, mit dem man sich besser nicht anlegen sollte. Wenn ich gewusst hätte, dass ich ’ne Jungfrau vor mir hab’ ...“
Natürlich muss er mich wieder hänseln.
„Mit dir könnt’ ich’s jederzeit aufnehmen, du Leichtgewicht“, erwidere ich.
Wir schauen uns in die Augen. Das sündhafte Gefühl ist wieder da. Ich kann es nicht abstellen! Mein Herz fängt an, wie wild zu pochen, als ob es jeden Moment explodieren könnte.
„Setz dich mal her, du krasser Typ.“
Nach kurzem Zögern folg’ ich seiner Anweisung und setz’ mich neben ihn. Ich komm’ mir vor wie ein schüchterner Schuljunge. João knipst die Lampe auf seinem Nachttisch aus. Mein Herz klopft weiter wie verrückt und ich fang’ an schwer zu atmen, genauso wie am Samstagabend, als João am Strand zum ersten Mal meine Hand hielt.
Dann spür’ ich wieder seine sanften Lippen an meinem Hals.
„Entspann dich mal“, flüstert er mir ins Ohr. „Du brauchst nicht nervös sein.“
Während er mich küsst, massiert er meinen Schwanz, der mit jeder Sekunde härter wird. Ich bin so aufgeregt, dass mir bestimmt schwarz vor Augen werden würde, wenn es nicht schon so dunkel in seinem Zimmer wär’. Er zieht mich langsam aus und legt mich flach auf sein Bett. Als sein Mund dann an mir herabwandert, versuch’ ich die Lust zu unterdrücken, aber es hilft nichts. Ich stöhn’ und komm’ sofort.
Kurz darauf liegen wir eng umschlungen in seinem Bett. Mein Herzschlag hat sich mittlerweile normalisiert, und ich merk’, dass sich nun ein anderes Gefühl in mir ausbreitet: Ich bin glücklich. So hab’ ich mich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Seit mein Vater gestorben ist, um genauer zu sein.
Jedes Mal, wenn ich in Berlin ein Pärchen gesehen hab’, das Arm in Arm umherschlenderte, hab’ ich mich gefragt, ob mir das jemals passieren würde. Einfach nur glücklich sein, egal, ob die Welt gerade untergeht. Und jetzt lieg’ ich hier bei João.
Wer hätte gedacht, dass das Leben so schön sein kann.
28. DIMA
Ich freue mich nicht nur für Marco, ich beneide ihn sogar. Er hat gerade eine wunderbare Erfahrung gemacht, die mir in meinem kurzen Leben verwehrt blieb. Meine Mission ist aber noch nicht zu Ende. Eine Sache muss ich Marco noch abverlangen. Danach kann ich, wie man so schön sagt, in Frieden ruhen.
Was Yury angeht, da habe ich noch eine Menge Arbeit vor mir. Unsere letzte Unterhaltung hat ihn vielleicht doch ein bisschen beeinflusst, denn er hat Anastasia zum Abendessen in ein schickes Restaurant eingeladen. Klar hat sie sich sehr darüber gefreut.
Trotzdem fährt Yury noch immer in Hellersdorf seine Runden, um nach Marco Ausschau zu halten. Mittlerweile ist er meistens allein unterwegs, weil Boris und die anderen Jungs keine Lust mehr haben, sinnlos in der Gegend rumzufahren. Hinter vorgehaltener Hand meinen einige, die über meine wahre Todesursache Bescheid wissen, dass Yury besessen ist und nicht mehr klar denken kann. Was ja nicht ganz unbegründet ist.
Anastasia beeindruckt mich wirklich. Eine tolle Frau! Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber sie hat Yury tatsächlich dazu gebracht, einmal pro Woche an einem Deutschkurs teilzunehmen. Zwei Stunden lang geht der sogar! Auch wenn er dabei manchmal nur aus dem Fenster starrt und über Gott und die Welt nachdenkt, genauso, wie ich es jetzt oft mache.
Außerdem beeindruckt mich ihr gutes Englisch. Ihr Vater hat schon Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion erkannt, dass der US-Kapitalismus die Welt erobern würde und dass es viel mehr Vorteile haben würde, Englisch zu sprechen, als jede andere Sprache, inklusive Russisch. Deswegen hat ihr Vater einen guten Teil seines Einkommens für Anastasias Privatunterricht ausgegeben. Gute Englischlehrer gab es ja nicht gerade en masse in Sibirien.
Das Beeindruckendste kommt aber noch. Sie hat nämlich ein Sommerpraktikum beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin ergattert. Und das, noch bevor ihr Studium im Herbst überhaupt begonnen hat. Sie hat sich gegen Dutzende andere Bewerber durchgesetzt, von denen die meisten schon studieren. Da zolle ich ihr einfach großen Respekt. Hut ab!
29. MARCO
Die Sonne geht gerade auf. João pennt noch und ich schleich’ mich aus seinem Zimmer. Gertraud ist zum Glück schon weg. Im Gegensatz zu João muss ich früh raus, denn ich soll um Punkt neun Uhr in der Küche stehen. In der Buchhandlung muss die faule Socke diese Woche nur nachmittags aushelfen.
Ich schweb’ immer noch auf Wolke sieben. Dabei bin ich nicht nur wegen João glücklich. Ich hab’ auch dieses geile Gefühl, wenn man den inneren Schweinehund überwunden hat und am Ende die Sache auch noch gut ausgegangen ist.
Wie immer ist Douglas schon bei der Arbeit und schneidet Gemüse, während er irgendwelche Lieder vor sich hin summt. Egal, was kommt, er scheint immer zu grinsen und gut drauf zu sein. Irgendwann muss ich ihn fragen, was sein Geheimnis ist. Es kann nicht nur einfach am Wetter liegen.
Nach der Arbeit treff’ ich mich mit João zum Abendessen in einer „Churrascaria“. Nur wir beide. Das erste Rendezvous meines Lebens.
Wenn man Fleisch mag, gibt es nichts Besseres als eine Churrascaria. Alle paar Minuten kommt jemand mit einem großen Fleischspieß vorbei, der vor Sekunden noch über heißer Kohle brutzelte. Mal ist es Rindfleisch, mal Schwein oder Wurst. Mit einem langen scharfen Messer schneiden sie einem dann ein paar Scheiben ab. Fast so wie bei ’nem Dönerspieß.
Als sie dann aber mit Hühnerherzen vorbeikommen, lehn’ ich ab. Widerlich! João hänselt mich natürlich gleich wieder und meint, dass ich nicht so ’ne Memme sein soll. Deshalb probier’ ich dann doch ’nen Happen. Schmeckt fast wie normales Hähnchen, nur zäher, und anscheinend mögen sie ihr Fleisch hier mit ziemlich viel Salz. Insgesamt würd’ ich sagen, dass die Herzen etwas gewöhnungsbedürftig sind, um es nett auszudrücken. Gut, dass es hier genug kühles Bier gibt, um das Zeug runterzuspülen.
Am nächsten Tag arbeite ich noch einmal in der stickigen Küche. Nach meiner Schicht kündige ich. Mein Chef nimmt’s mir nicht übel. Ob ich jetzt, wie vereinbart, zwei Tage länger bis Freitag gearbeitet hätte oder nicht, macht letztlich auch keinen großen Unterschied mehr.
João und ich wollen nämlich meine letzten Tage in Brasilien zusammen verbringen. Gertraud gibt ihm natürlich frei. Sie freut sich, dass wir uns so gut verstehen. Natürlich hat sie von unserer Beziehung keine Ahnung. Ich frag’ mich, ob sie überhaupt weiß, dass ihr Enkel schwul ist. Wie auch immer, Gertraud ist der netteste Mensch auf der Welt. Ich bin mir sicher, dass sie damit kein Problem hätte.
Nach Feierabend verabschied’ ich mich noch von Douglas. Als er mich umarmt und fest drückt, knacken bei mir ein paar Mal die Rückenwirbel. Manchmal ist es eben schwer für sanfte Riesen, auch wirklich sanft zu sein.
Dann bekomm’ ich mein letztes, mickriges Gehalt ausbezahlt. Unterm Strich hab’ ich bei der beschissenen Bezahlung nicht viel gespart, aber vielleicht reicht es ja, um Gertraud ein kleines Geschenk zu besorgen. Immerhin hab’ ich die letzten zwei Wochen bei ihr umsonst gepennt.
Obwohl ich im Grunde gar nicht mehr nach Blumenau fahren muss, bin ich dann doch neugierig, wie es dort so ist. Ich stell’ mir vor, dass der Ort wie ein kleines idyllisches deutsches Dorf ist. Mit Marktplatz, Blumen und alten Häusern. Irgendwie so, als wär’ dort die Zeit stehen geblieben. João war auch noch nie dort. Deswegen planen wir einen Tagesausflug nach Blumenau. Ich bin gespannt.
Onkel Pedro leiht uns noch mal seine alte Rostlaube. Ein bisschen enttäuscht bin ich dann doch, als wir nach über drei Stunden Autofahrt endlich ankommen. Wirklich deutsch sieht hier fast nichts mehr aus. Blumenau ist eine moderne Stadt, nur ab und zu sieht man ein Gebäude in altem deutschem Stil, das sie von früher erhalten haben. Aber das ist eher die Ausnahme. Das jährliche Oktoberfest, eines der größten der Welt außerhalb von München, scheint hier die Attraktion zu sein. Dumm nur, dass es gerade März ist. Und keine Sau spricht hier Deutsch. Gott sei Dank, dass ich in Curitiba hängen geblieben bin. Wir latschen noch ein wenig durch die Stadt, aber es gibt nicht wirklich viel zu sehen.
Anstatt enttäuscht wieder nach Curitiba zurückzufahren, schlägt João vor, nach „Florianópolis“ weiterzufahren. „Floripa“, wie sie die Insel auch nennen, ist eine relativ große Insel und nicht weit weg von Blumenau. Mit „Ilha do Mel“, wo wir letztes Wochenende waren, ist sie nicht zu vergleichen. Große Wohnblöcke ragen in den Himmel, als wir die Brücke zur Insel mit dem Auto überqueren. Überall sind Leute und man steht hier sogar im Stau.
Zum Glück kennt sich João auf der Insel aus. Wir kommen abends in einem kleinen ruhigen Fischerdorf an, wo wir in einer Herberge noch ein Zimmer kriegen. Und hier ist dann alles sehr idyllisch, mit dem Hafen und den kleinen Booten. Das Dorf haben Einwanderer von den Azoren im neunzehnten Jahrhundert gegründet. Wie so oft hab’ ich keine Ahnung, wo die Azoren liegen. Noch nie von gehört. João meint, dass es eine Inselgruppe im Atlantik ist, die zu Portugal gehört. Wieso weiß der Junge immer so viel?
Wir essen in einem kleinen Restaurant mit Blick auf den Hafen zu Abend. Die Sonne geht hinter den Hügeln auf dem Festland unter und taucht alles, die Boote und das Wasser, in rote Farbe. Der erste echte romantische Sonnenuntergang meines Lebens. Brasilien ist schon ein geiles Land.
Die Nacht verbringen wir wieder eng umschlungen. João schläft schon bald. Ich lieg’ wach und mach’ mir so meine Gedanken. Obwohl ich so glücklich bin wie noch nie in meinem Leben, hab’ ich Schiss übermorgen wieder nach Berlin zu fliegen, denn dann sind die zwei Wochen auch schon rum. Vielleicht wartet ja auch Dimas Bruder am Flughafen auf mich. Der Typ ist so ein Psychopath, dem würd’ ich alles zutrauen. Was erzähl’ ich den Kameraden, wenn sie mich braun gebrannt sehen? Will ich sie überhaupt wiedersehen? Und vor allem: Was wird aus João und mir?
Am liebsten würd’ ich einfach hier bleiben und mein Leben in Berlin hinter mir lassen. João und ich könnten an einem Strand eine Bar oder ein Restaurant aufmachen. Ich hab’ ja jetzt genug Erfahrung, um in der Küche zu arbeiten.
Leider ist das alles nur Träumerei. In ein paar Wochen fährt João wieder nach São Paulo zurück, um weiterzustudieren. Vielleicht könnte ich ja einfach mitkommen. Aber irgendwann läuft ja auch mein Visum aus.
Verdammt, ich hab’ keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Heute Nacht werd’ ich bestimmt keine Antworten mehr auf meine Fragen finden, aber morgen ist auch noch ein Tag.
30. DIMA
„Und, hat’s dein Bruder immer noch auf mich abgesehen?“, fragt mich Marco.
In der Tat, das hat er. Marco muss das aber jetzt nicht wissen. Ich hoffe nämlich, dass ich Yury in den nächsten Tagen noch umstimmen kann, sodass er von Marco ablässt.
„Mach dir wegen meinem Bruder keine Sorgen, Marco. Ich kriege die Sache langsam unter Kontrolle. Doch sag, wie sieht’s bei dir aus? Du scheinst ja gerade ziemlich glücklich zu sein. Das freut mich für dich. Was willst du eigentlich machen, wenn du wieder in Berlin bist? Geht’s zurück in dein altes Leben? Als verkappter Schwuler Jagd auf Ausländer machen?“
Marco starrt mich lange an und kaut an seinen Fingernägeln. Das scheint er immer zu tun, wenn ihm etwas unangenehm ist und er nicht weiterweiß.
„Das hab’ ich mich auch gefragt. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, was ich tun soll. Ich hab’ noch zwei Tage zum Überlegen. Dein Bruder macht mir gerade am meisten Sorgen“, erwidert Marco.
Ich verstehe nicht, was es da noch zu überlegen gibt. Klar wäre es eine große Veränderung in seinem Leben. Aber das Schwierigste, sich nämlich einzugestehen, dass er schwul ist, hat er schon hinter sich. Aber da gibt es ja noch die zweite Sache, die ich Marco abverlangen will: Er muss sich von der rechten Szene endgültig verabschieden.
„Falls es dir nichts ausmacht, würde ich gerne deine letzten zehn Tage in Brasilien resümieren: Als Erstes gestehst du dir ein, dass die junge dunkelhäutige Dame vom Infostand am Flughafen sehr nett und hilfreich ist. Ohne sie wärst du ziemlich aufgeschmissen gewesen, als du in Brasilien angekommen bist. Dann wohnst du bei Juden und willst deiner betagten Gastgeberin auch noch ein Geschenk für ihre Gastfreundschaft besorgen. Was ich übrigens für mehr als angebracht halte. Dein bester Freund bei der Arbeit ist Douglas, ein Schwarzer, mit dem du rein rechnerisch wohl die meiste Zeit in Brasilien verbracht hast. Objektiv betrachtet würde ich sogar sagen, dass Douglas nicht nur in Brasilien dein bester Freund ist. Stefan war ja letztens nicht gerade sehr hilfsbereit, und es gibt da ein paar Dinge, die du über ihn wissen solltest. Das erzähle ich dir aber ein andermal.
Dann bin da noch ich: ein Spätaussiedler, mit dem du dich in deinen Träumen unterhältst. Vielleicht sind wir nicht die dicksten Freunde, aber immerhin habe ich das Gefühl, dass du mich akzeptierst. Ach ja, und dann ist da natürlich noch die Kleinigkeit, dass du schwul bist und dass dein Geliebter für die Nazis der absolute Super-GAU gewesen wäre: ein dunkelhäutiger schwuler Jude. Da würde sich Hitler, falls er davon wüsste, bestimmt dreimal im Grab umdrehen, wenn er denn eines hätte. Kannst du mir verraten, wie du nach all dem wieder zurück in dein unglückliches, verbittertes, altes Leben willst?“
Jetzt sind die Fingernägel der anderen Hand dran. Er weiß, dass er den Punkt erreicht hat, an dem es kein Zurück mehr gibt. Er will es mir gegenüber nur nicht zugeben.
„Mal schauen“, ist das Einzige, was Marco trocken erwidert.
31. MARCO
Jetzt hab’ ich schon mindestens vier Mal von Dima geträumt. Ich kann mich aber wieder nicht erinnern, was genau passiert ist.
Wann hört das eigentlich auf? Nicht dass ich den Kleinen nicht mag. Aber normal ist das nicht. Wahrscheinlich endet der ganze Spuk erst, wenn ich wieder in Berlin bin. Falls nicht, sollte ich vielleicht doch mal beim Arzt vorbeischauen.
Nach dem Frühstück kaufen João und ich Badehosen und machen uns auf zu einem der schönsten Strände auf Florianópolis. Diese Insel ist wirklich der Hammer! Immerhin seh’ ich jetzt normaler aus und strahl’ nicht mehr weiß wie ein Leuchtturm, weil ich letztes Wochenende schon etwas Sonne abbekommen hab’. Meine längere Badehose verdeckt dieses Mal auch meine hellen Oberschenkel.
Im Meer fragt João mich, warum ich nie weiter als bis zum Bauchnabel ins Wasser geh’. Was soll’s? Früher oder später wird er es sowieso erfahren.
„Ich hab’ nie gelernt zu schwimmen“, gesteh’ ich.
João schaut geschockt. „Was sagst du?“
Klar, gleich darf ich mich wieder von ihm verarschen lassen. „Ich kann nicht schwimmen. Hab’ ich nie gelernt. Zufrieden?“
Er schüttelt ungläubig den Kopf und fängt an zu lachen. „Das gibt’s ja wohl nicht. Das kann nicht sein. Wie alt bist du? Komm mal her.“
Den Rest des Tages bekomm’ ich Schwimmunterricht. Ein paar Kinder, die neben uns im Meer spielen, zeigen mit dem Finger auf mich und fangen an zu lachen. Kleine Schlingel. Ich geb’ bestimmt ein erbärmliches Bild ab, denn weiter, als mich ein paar Meter im Wasser fortzubewegen, schaff’ ich einfach nicht. Danach geh’ ich unter wie ein Stein. Immerhin schmeckt nach all der Anstrengung das kühle Bier doppelt so gut.
Am Nachmittag machen wir uns wieder auf nach Curitiba. Onkel Pedro ist etwas angefressen, weil wir nicht schon gestern, wie vereinbart, mit seinem Auto zurückgekommen sind.
Wir verbringen meine letzte Nacht in Brasilien wieder in Joãos Bett und unterhalten und lieben uns bis tief in die Nacht. João verspricht mir, dass er mich auf jeden Fall in Berlin besuchen kommt. Ich erzähl’ ihm von den fünfhundert Dollar, die ich in meinem Zimmer in dem Buch gefunden hab’. Vielleicht kann Gertraud ihm das Geld für den Flug leihen.
Als kleines Dankeschön hab’ ich ihr übrigens eine verzierte Obstschale aus dem Fischerdorf auf Florianópolis mitgebracht. Nicht gerade sehr originell, aber immerhin hab’ ich an sie gedacht. Meine Mutter wär’ bestimmt stolz auf mich.
Am nächsten Tag muss ich früh aufstehen. Mein Bus nach São Paulo geht um acht Uhr morgens. Ich steh’ im Bad und starr’ in den Spiegel. Die Person, die ich vor mir seh’, erkenn’ ich fast nicht wieder: Meine Haare sind mittlerweile fast einen Zentimeter lang. Besonders mein Gesicht und meine Arme sind braun gebrannt. Rasiert hab’ ich mich seit ein paar Tagen auch nicht mehr. Nur meine blauen Augen sind gleich geblieben. Ich stopf’ meine Springerstiefel und meine Bomberjacke in die Sporttasche. Dafür ist es hier immer noch viel zu heiß.
Gertraud, João und ich frühstücken ein letztes Mal zusammen. Sie freut sich natürlich über die Obstschale.
„Jungche, meine Güte, das wär’ doch aber nicht nötig gewesen! Du kannst jederzeit wiederkommen und hierbleiben, das weißt du ja, mein Bub. Es war so eine schöne Zeit mit dir.“
Bevor sie mich umarmt, kneift sie mir in die Backe und rüttelt ein wenig. Irgendwie werd’ ich sie schon vermissen, mit ihrer dicken Hornbrille und den großen Glubschaugen.
Und João erst recht. Er bringt mich zur Busstation, wo er mir noch ein Armband aus Holzperlen schenkt. Er erklärt mir, dass das Holz von der sogenannten Kohlpalme stammt, an der Açai-Beeren wachsen, die man hier zu einem Saft oder Sorbet weiterverarbeitet. Das Geschenk macht mich unglaublich glücklich. Es ist mir aber auch ein bisschen peinlich, weil ich nichts für ihn hab’, außer einer langen Umarmung.
Als der Bus losfährt, winken wir uns noch einmal zu. Dann biegt der Bus um die Ecke. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen! Am liebsten würd’ ich jetzt so wie in den Filmen aus dem Bus springen und zu João zurückrennen, um ihn noch mal fest in den Armen zu halten. Vielleicht bin ich insgeheim doch ein Weichei. Ich seh’ eine Seite von mir, die ich davor nicht kannte.
Allzu lange werd’ ich ihn zum Glück nicht vermissen müssen, denn wir haben fest vereinbart, dass João mich in ein paar Wochen schon in Berlin besuchen kommt. Ich kann es kaum abwarten, sein Lächeln zu sehen und wieder eng umschlungen mit ihm im Bett zu liegen.
Die lange Busfahrt scheint diesmal schneller zu vergehen, denn anstatt wie bei der Hinfahrt vor zwei Wochen verunsichert zu sein, was mich in Brasilien erwarten wird, denk’ ich die ganze Rückfahrt über an João und die glückliche Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Angefangen vom ersten Mal, als João meine Hand am Strand hielt, bis hin zur letzten Nacht in Curitiba.
Im Bus ist es auch um einiges angenehmer, denn es ist heute etwas kühler und bewölkt. Mittlerweile ist es Ende März und hier hat gerade der Herbst angefangen. Dass hier die Jahreszeiten im Vergleich zu Deutschland umgekehrt sind, wusste ich natürlich auch nicht, als ich in Brasilien angekommen bin. Wobei der Winter in Curitiba immer noch ziemlich warm ist, wie João mir erzählt hat.
Am Nachmittag komm’ ich endlich an der Busstation in São Paulo an. Dieses Mal hab’ ich genug Selbstvertrauen, um den öffentlichen Bus zum Flughafen zu nehmen, was auch um einiges billiger ist als ein Taxi.
Das Einchecken klappt problemlos. Am Gate warte ich diesmal brav, bis die First- und Business-Class-Leute eingestiegen sind. Dann ist das Fußvolk an der Reihe und ich stell’ mich hinten an. Ich steig’ mit vielen widersprüchlichen Emotionen ins Flugzeug. Die letzten zwei Wochen waren unglaublich. Besonders die letzten Tage mit João. Es waren die glücklichsten in meinem Leben.
Irgendwie freu’ ich mich aber auch auf Berlin. Bald ist Sommer. Und ich hab’ mich dazu entschlossen, ein neues Leben anzufangen. Raus aus der rechten Szene. Anstatt ständig nur zu jammern, werd’ ich mir Arbeit suchen. Schlimmer, als in einer heißen Küche Teller zu waschen, kann es nicht werden.
Vielleicht kann ich sogar irgendwann von zu Hause ausziehen und mir eine eigene kleine Bude leisten. Zu meiner Mutter werd’ ich hoffentlich auch bald wieder eine normale Beziehung haben.
Natürlich bau’ ich auf Dima, dass er seinen Bruder unter Kontrolle bringt. Mein Schicksal liegt in seinen Händen.
Insgesamt bin ich aber optimistisch. Ich hab’ richtig Bock auf mein neues Leben und will sofort damit loslegen!
Im Flieger muss ich aber erst einmal die Anmachversuche einer Brasilianerin abwehren, die neben mir sitzt. Sie sieht sogar ganz gut aus. Schlank, lange braune Haare und ein üppiges Dekolleté, bei dem die meisten Männer nicht anders könnten, als ständig hinzustarren. Aber Frauen sind ja nicht mein Ding. Es ist, glaub’ ich, das erste Mal, dass sich eine Frau für mich interessiert. Dazu noch so eine gutaussehende. Muss wohl an der Sonne liegen. So schön braun war ich noch nie.
Wahnsinn, kann die schnell labern! Ich versteh’ nur jedes zweite Wort.
„You’re from Berlin? Oh, my god! I heard such amazing things about Berlin! I’m going to visit a friend in Munich now, but maybe I will go to Berlin next week. Are you going to be there? Maybe we can meet and party together? I heard that you can go crazy in Berlin!“
Ich nick’ nur kurz und grins’ sie an, da ich nicht alles versteh’. Dann greif’ ich notgedrungen in die Sitztasche vor mir und les’ mir die Broschüre über den A340 durch, um ihr zu zeigen, dass sie mich nervt. Es kann ja nicht schaden zu wissen, wo die Notausgänge sind, um aus dem Flieger zu springen, falls sie nicht bald ihre Klappe hält. Leider bringt es nichts. Sie labert weiter wie ein Wasserfall. Ob ich denn schon „Edward mit den Scherenhänden“ mit Johnny Depp in der Hauptrolle gesehen hätte, ihren absoluten Lieblingsfilm. Das ist ja fast nicht mehr zum Aushalten!
Apropos Filme: Sie zeigen wieder einen auf den kleinen Bildschirmen. Das ist die Rettung! Ich setz’ meine Kopfhörer auf und signalisier’ ihr, dass ich jetzt gerne den Film schauen möchte. Sie grinst nur dämlich, lässt mich aber diesmal zum Glück gewähren. Was für ein Segen, endlich Ruhe!
Der Film, den sie diesmal zeigen, ist „Kevin – Allein in New York“. Klar musste ich ein paar Mal lachen. Aber was mir wirklich an dem Film gefallen hat, sind die Szenen von der riesigen Stadt. Ich beschließ’, dass New York mein nächstes Reiseziel sein wird. Wenn ich Kohle hab’, versteht sich, und natürlich nur, wenn João neben mir im Flieger sitzt und nicht so eine durchgeknallte Tussi!
Das Umsteigen in Frankfurt verläuft ohne Probleme. Es wimmelt wieder von Passagieren aus aller Welt, was ich diesmal aber recht interessant find’.
In Berlin angekommen steh’ ich am Ausgang vom Flughafen Tegel. Der Himmel ist grau, es nieselt, und es sind höchstens zehn Grad. Willkommen in Deutschland! Immerhin gibt es von den Russen keine Spur. Das ist schon mal gut.
Ich ruf’ meine Mutter an und sag’ ihr, dass ich bald zu Hause bin. Sie hört sich ziemlich aufgeregt an. Vielleicht hätt’ ich mich in den letzten Tagen doch noch einmal bei ihr melden sollen. Von Brasilien nach Deutschland zu telefonieren ist aber so schweineteuer.
Als ich dann in der Wohnung vor ihr steh’, erkennt sie mich, wie sie sagt, fast nicht wieder. Was denn mit meinen Haaren los wär’, fragt sie. Und wo ich denn gewesen wär’, dass ich so braun bin.
Ich umarm’ sie und versprech’ ihr, dass ich ihr alles später erzählen werd’. Dann dusch’ ich noch schnell und hau mich sofort in die Falle. Ich hab’ ja auch ’ne verdammt lange Reise hinter mir.
Nach ein paar Tagen in der Wohnung hat sich meine Paranoia allmählich etwas gelegt. Ich schau’ seltener aus dem Fenster. Nichts Auffälliges zu sehen. Es scheint alles beim Alten zu sein und ich trau’ mich endlich wieder aus dem Haus. Auch beim Einkaufen schau’ ich mich jetzt nur noch ab und zu um. Von Dima hab’ ich auch nicht mehr geträumt. Muss wohl die Hitze in Brasilien gewesen sein, weswegen ich so seltsame Träume hatte.
Heute steht ein schweres Gespräch an. Natürlich könnt’ ich mich bei Stefan auch einfach nicht mehr melden. Aber irgendwie schuld’ ich ihm eine Erklärung. Er war bis jetzt mein bester Freund. Ob das nach der Unterhaltung in Zukunft auch noch der Fall sein wird, bin ich mir allerdings nicht sicher.
Ich wähl’ seine Nummer. Eine alte Oma antwortet. Na klar, mal wieder verwählt. Beim zweiten Anlauf klappt’s aber.
„Ja?“ Kurz und schroff. Es hat sich natürlich nichts geändert.
„Hey, Stefan. Ich bin’s, Marco. Wie läuft’s? Ich bin wieder hier.“ Ich fang’ an, an meinen Fingernägeln zu kauen.
„Junge, wir haben uns schon Sorgen gemacht! Wo zur Hölle warst du in den letzten Wochen? Biste zu Hause? Lass uns gleich mal ein paar Bier trinken gehen. Du musst mir dann alles erzählen. Meene Keule, det is jut, von dir zu hören, Alter! Ick freu mich.“ Stefan klingt noch aufgeregter als meine Mutter. Wenn er richtig aufgedreht ist, fängt er immer mit dem Berlinern an.
„Ick freu mich ooch, meene Atze ... Hör mal, Stefan, ich will nicht lang um den Brei herumreden. Ich hatte ja in den letzten Wochen ’ne Menge Zeit zum Nachdenken. Sei jetzt nicht sauer, aber ich hab’ mir überlegt, dass es besser für mich ist, wenn ich mich erst mal ’ne Zeit lang nicht mehr mit den Kameraden treff’. Lass mich das erst mal erklären, Alter, bevor du mich gleich anschreist. Das ganze Zeug, du weißt schon, die Hetze gegen Ausländer und Asylanten und so – das hat mir in letzter Zeit irgendwie nur Ärger eingebracht. Erst war’s schwer, überhaupt Arbeit zu finden, mit meinem Aussehen. Und nachdem ich dann was gefunden hatte, war ich den Job gleich wieder los, weil ich im Betrieb ’n paar Sprüche über Ausländer abgelassen hab’. Da kannste dich ja wahrscheinlich noch dran erinnern. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit den verdammten Russen. Vor denen hab’ ich immer noch Schiss. Vor allem nachdem sie Thorsten krankenhausreif geprügelt haben. Mich wollen die bestimmt immer noch umlegen. Irgendwie brock’ ich mir mit der ganzen Sache nur Scheiße ein, hab’ ich gemerkt.“ Ich warte kurz auf irgendeine Reaktion von Stefan, aber es kommt keine. „Jetzt will ich mich erst mal an den Eiern packen und Gas geben. Neue Arbeit suchen, von zu Hause ausziehen, einfach ein stinknormales Leben führen. Für die Kameraden hätt’ ich da sowieso keine Zeit mehr. Wenn du noch Bock auf ’n Bier hast, kann ich dir ja mal alles in Ruhe erzählen.“
Obwohl, ob das so ’ne gute Idee ist, wenn Stefan mich jetzt so „in zivil“ sieht? Braun gebrannt, keine Glatze mehr und Turnschuhe anstatt Springerstiefeln. Wahrscheinlich wär’ das zu viel für ihn. Am Ende geh’ ich noch mit ’nem Veilchen nach Hause.
„Was laberst du da für ’ne Scheiße, Alter? Haben die dir ’ne Gehirnwäsche verpasst, wo auch immer du da warst?“, fragt Stefan ungläubig.
Vielleicht waren das doch zu viele Neuigkeiten auf einmal. Dabei hab’ ich ihm noch nicht einmal erzählt, dass ich schwul bin.
„Stefan, hey, jetzt sei nicht sauer! Bei mir lief’s einfach beschissen die letzten Jahre. Zeit für ’nen Neuanfang. Hoffe, du verstehst das. Unsere Freundschaft ist mir echt wichtig, und ich weiß, ich hab’ dir viel zu verdanken, meene Atze.“
Er sagt ein paar Sekunden lang nichts.
„Biste total bescheuert oder was? Ruf mich an, wenn du wieder normal im Kopf bist.“ Kurz bevor er auflegt, hör’ ich Stefan noch mit sich selbst reden. „Was is’n mit dem Spasti passiert …?“
Wahrscheinlich war dies das letzte Mal, dass ich mit ihm telefoniert hab’.
Ich bin endgültig raus.
Meiner Mutter erzähl’ ich am nächsten Abend fast alles. Bis auf die Träume mit Dima. Sonst denkt sie noch, dass ich ’n Fall für die Klapse bin. Sie ist natürlich erstmal baff und braucht ein bisschen, um alles zu verarbeiten.
„Du musst sofort zur Polizei, Marco. Die beschützen dich vor den Russen. Und auf Stefan und seine Bewährung musst du jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Sei kein Dummkopf!“
Vielleicht hat sie recht. Ich hab’ aber immer noch die Hoffnung, dass Dima seinen Bruder umstimmen konnte. In den letzten Tagen hab’ ich nichts Verdächtiges gesehen und Dima ist mir auch nicht mehr im Traum erschienen. Wahrscheinlich ist das ein Zeichen, dass wieder alles in Ordnung ist.
„Jetzt versteh’ ich, warum du nie ’ne Freundin hattest. Mir soll’s egal sein, solange du glücklich bist. Pass mir aber mit diesem AIDS auf. Ich sag’s dir, das haben die alle, die Schwulen. Hoffentlich benutzt du Kondome! Und der Junge, den du da in Brasilien kennengelernt hast, der könnte ja auch noch andere Krankheiten haben. Besonders wo die da so viel Dschungel haben. Am Ende bringt der noch irgend so ’ne komische Tropenkrankheit mit nach Deutschland. Dann musste vielleicht in Quarantäne. Ich sag’s dir, pass mir ja auf!“
Innerlich lach’ ich natürlich über die Ratschläge meiner Mutter. Aber auslachen tu’ ich sie nicht. Noch vor Kurzem war ich genauso naiv wie sie.
Auch wenn meine Mutter die Sache ziemlich nüchtern aufnimmt, freu’ ich mich darüber, dass wir so offen über alles reden können. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal mehr als zwei Sätze miteinander ausgetauscht haben.
„Von mir aus kann der Junge gern zu Besuch kommen. Macht hier aber keine Sauereien in der Wohnung. Ich will nichts hören und nichts sehen, damit das klar ist! Das könnt ihr alles woanders machen, aber hier nicht.“
Ich lächle sie an. „Mach dir keine Sorgen. Die meiste Zeit sind wir dann sowieso unterwegs. In Berlin gibt’s so viel zu sehen, da werden wir fast nie zu Hause sein.“
„Es freut mich übrigens sehr, dass du wieder arbeiten willst, Marco. Dann kannste auch mal endlich deinen Beitrag zur Miete leisten. Na ja, ich glaub’s sowieso erst, wenn ich’s seh’.“
Sie drückt ihre Zigarette aus, steht auf und umarmt mich. Das hat sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Es fühlt sich ungewohnt an und wirkt etwas unbeholfen.
„Mein ganzes Leben lang machste mir nun schon Sorgen“, sagt sie, während sie mich weiterhin in ihren Armen hält und mir dabei wie bei einem kleinen Kind leicht auf den Rücken klopft.
Wie ich schon früher als Skinhead gesagt hab’: Auf Worte müssen Taten folgen. Es ist Zeit, einen neuen Job zu finden!
Ich kauf’ jeden Tag die Zeitung und durchforsch’ die Stellenanzeigen. Nach ungefähr zehn Bewerbungen bekomm’ ich endlich einen Job. Auch wenn’s nicht genau das ist, was ich wirklich machen will.
Mein neuer Arbeitsplatz ist eine Gärtnerei. Ich helf’ beim Liefern und Bepflanzen aus. Die Bezahlung ist mies, aber wenigstens bin ich an der frischen Luft.
Leider stellt sich schnell raus, dass mein Chef ’ne Pfeife ist und ständig nervt. Alles muss immer perfekt sein.
„Junge, guck mal, siehste das nicht? Der Strauch steht zu weit links“, hat er gestern gejammert. Manchmal muss ich einen Busch drei Mal einbuddeln, bis er einigermaßen zufrieden ist. Dann regt er sich auf, wenn ich einen Rosenstrauch zu weit zurückschneid’.
„Sach mal, Marco, biste total bekloppt oder was? Die Pflanze stirbt mir doch, wenn da keine Blätter mehr überbleiben! Denk’ doch mal nach!“
Und nur nicht zu viel düngen, sonst geht die Welt unter.
„Junge, warum hauste da wieder so viel Dünger in die Töppe? Für Menschen ist das doch auch nix, wenn die zu viel essen. Da kriegste ’n Herzinfarkt. Immer erst mal nachdenken!“
Ich mach’ einfach alles falsch, obwohl er’s mir angeblich schon hundert Mal erklärt hat.
Nach meiner ersten und letzten Gehaltszahlung kündige ich und such’ mir was Neues, bevor ich ihn noch aus Wut mit dem Spaten erschlag’.
Mein nächster Job ist bei einer Promotion-Agentur. Jetzt versteh’ ich, warum das Vorstellungsgespräch so einfach war. Für die meisten Veranstaltungen muss ich nur ein bescheuertes Kostüm tragen, dumm rumhampeln und irgendwelche Sachen verteilen.
„Die fünfstelligen Postleitzahlen kommen! Die Bundespost informiert – kommt alle her! Fünf ist Trümpf!“, musste ich gestern als Werbefigur „Rolf“ rumbrüllen und dabei Infoblätter verteilen. Rolf ist eine überdimensionale gelbe Hand, die auf dem Zeigefinger eine hippe schwarze Sonnenbrille trägt und dabei richtig bescheuert grinst. Anscheinend haben sich viele in Deutschland über das neue System aufgeregt. Wie soll man sich denn so was merken? Ganze fünf Zahlen! Und warum kriegt Berlin eine fünfstellige Postleitzahl, die mit einer eins beginnt, während sich die armen Franken in Bayern mit einer neun begnügen müssen? Die Welt ist schon ungerecht!
Heute war ich ein Bär, der Werbung für einen neuen Schokoriegel gemacht hat, auf dem groß „Natur Premium Bio-Vollmilch“ steht. Ob das Zeug deswegen gesünder ist? Dann steht da noch was mit „Fairtrade“, und das Gesicht eines glücklichen dunkelhäutigen Jungen, der an einem der Riegel knabbert, strahlt einen an. Anscheinend kauft der Hersteller nur Kakaobohnen von Plantagen, auf denen die kleinen Kinder, die dort arbeiten, anständig bezahlt werden.
Am Ende des Tages bleiben ein paar Kartons übrig, und ich beschließ’ das Zeug mit nach Hause zu schleppen. Mein Vorrat an Schokoriegeln sollte für die nächsten zehn Jahre reichen.
Außer dass man sich zum Affen macht, nerven auch noch andere Sachen gewaltig: Man schwitzt in den bescheuerten Kostümen wie die Sau. Es ist fast noch schlimmer als in der stickigen Küche in Brasilien. Ab und zu kommen auch ein paar Scherzkekse, meistens Kinder, vorbei und treten einem von hinten in den Arsch. Besonders Rolf hat es oft übel erwischt. Nach zwei Wochen hab’ ich auch hier die Schnauze voll.
„Aller guten Dinge sind drei“, sagt man ja. Na ja, fast. Spargelstechen stand jedenfalls nie sehr weit oben auf meiner Wunschliste. Die Arbeit ist richtig hart, aber wenigstens nervt mich niemand und die Bezahlung ist auch ein bisschen besser. Außerdem ist es ja nur was Kurzfristiges, um etwas Kohle zu verdienen. Mein Ziel ist es, wieder fest in einem Betrieb zu arbeiten. Bis jetzt hatte ich aber kein Glück. Immerhin hat es schon einmal zu einem Vorstellungsgespräch gereicht. Aufgeben werd’ ich bestimmt nicht.
Beim Spargelstechen lern’ ich Pawel kennen. Wie er sind die meisten Erntehelfer aus Polen. Sie kommen jedes Jahr zur Spargelsaison nach Deutschland, weil die Deutschen die harte Arbeit nicht machen wollen. Als bei mir vom ganzen Bücken die Rückenschmerzen anfangen, versteh’ ich auch, warum. Ohne die Polen wären die deutschen Bauern ziemlich aufgeschmissen. Bis jetzt waren Polen für mich immer nur Leute, die unsere Fahrräder und Autos klauen. Aber Männer wie Pawel, die sich den Arsch abarbeiten, um ihrer Familie Kohle nach Hause zu schicken, sind alles andere als Diebe, sondern echt fleißige Typen, die dazu noch ’nen richtig harten Job machen.
Im Grunde genommen ist Spargelstechen ’ne ziemlich einfache Sache, und irgendwann schaltet man auf Autopilot, wenn es die Rückenschmerzen zulassen. Dann erinner’ ich mich an Brasilien und die schöne Zeit mit João. Ich vermiss’ ihn sehr. Wir telefonieren alle paar Tage, wenn auch nur kurz. Er ist mittlerweile wieder in São Paulo und lernt für seine Prüfungen.
An Douglas muss ich auch manchmal denken. Es ist schade, dass ich seine Adresse nicht hab’. Ich würd’ ihm gern ein Foto von mir auf dem Feld schicken, mit dem scharfen Spargelmesser in der Hand, um ihm zu zeigen, was für ein echt harter Job das ist. In der Küche Teller zu waschen ist dagegen ein Kinderspiel!
Als es gerade wieder bei mir im Rücken zieht, muss ich an Gertraud denken und kann jetzt nachvollziehen, warum ihr die Rückenschmerzen solche Probleme bereiten. Ich hoffe, sie kommt auch alleine einigermaßen in der Buchhandlung zurecht.
João erkundigt sich gerade nach einem Auslandssemester in Deutschland. Manchmal beneid’ ich ihn schon dafür, dass er studiert. Klar muss man während des Studiums auch Kohle verdienen, aber der Ernst des Lebens scheint erst später anzufangen. In der Zwischenzeit kann man viele Erfahrungen sammeln. Und nach dem Studium kriegt man auch leichter ’nen guten Job. Ich bezweifle, dass er jemals in einer Küche oder auf dem Feld arbeiten wird.
In der Schule war ich einfach zu schlecht, um zu studieren. Wenn ich mich damals nur ein bisschen mehr angestrengt hätte! Tja, Pech gehabt. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer.
Trotzdem kann ich jetzt noch mein Leben auf die Reihe kriegen, wenn ich mich nur ins Zeug leg’. Ich muss das Beste daraus machen.
32. DIMA
Es freut mich unglaublich, Marcos Wandel mitzuverfolgen. Er ist ein komplett anderer Mensch geworden. Yurys Situation hat sich dagegen nur wenig verbessert. Der Drogenhandel beansprucht wieder den größten Teil seiner Zeit. Was an sich schlecht ist, aber immerhin besser, als stundenlang nach jemandem zu suchen, um ihn umzubringen. Nur ab und zu fährt Yury durch Hellersdorf, wenn es kein allzu großer Umweg ist, um nach Marco zu suchen. Bis jetzt hat er ihn zum Glück noch nicht gefunden.
Obwohl er sich wieder stärker anderen Dingen widmet, weiß ich nicht, wie er reagieren würde, sollte er tatsächlich Marco auf der Straße begegnen. Schlimmstenfalls schießt er ihn nieder. Bestenfalls bleibt es bei einer Schlägerei mit Knochenbrüchen.
Mittlerweile habe ich es aufgegeben, in seinen Träumen an ihn zu appellieren. Vorgestern war es wahrscheinlich das fünfzehnte Mal. Er reagiert immer gleich. Nämlich gar nicht. Und ich spüre noch immer seinen Frust.
Zurück zu Marco. Bei ihm scheint dagegen alles bestens zu laufen. Ich muss gestehen, dass ich von ihm überrascht bin. Man könnte sogar fast sagen: begeistert. Er erinnert mich jetzt mehr an Anastasia. Wer hätte jemals gedacht, dass die beiden aus demselben Holz geschnitzt sind?
Seit unserer letzten Begegnung, als er friedlich in Florianópolis schlummerte, habe ich ihn nicht mehr in seinen Träumen besucht. Warum auch? Er ist aus der rechten Szene raus und scheint glücklich zu sein, was auch daran liegt, dass João in Berlin angekommen ist.
Das Timing war perfekt, denn seit ein paar Tagen muss Marco nicht mehr arbeiten, weil die Spargelsaison offiziell zu Ende ist.
João ist natürlich gut vorbereitet und hat einen Berlin-Reiseführer mitgebracht. Eigentlich ist es eher so, dass João Marco die Stadt zeigt als umgekehrt. João erklärt ihm, wann was von wem gebaut wurde. Wie auch immer, beide haben ihren Spaß.
Als sie gerade zu einem Tagesausflug zum Schloss Sanssouci aufbrechen wollen, passiert es: Yury erblickt Marco vor seiner Wohnung, als der dort auf João wartet. Yurys Herz fängt an wie wild zu pochen. Nach all den Wochen hat sich die Sucherei ausgezahlt.
Er fährt unauffällig an Marco vorbei, parkt seinen BMW und öffnet das Handschuhfach. Dann entsichert er die Pistole und schiebt das Magazin rein.
Als er Marco noch einmal anschaut, kommen ihm jedoch Zweifel. Der Typ hat das gleiche Gesicht, aber ansonsten sieht er ganz anders aus. Jedenfalls ist er kein Skinhead. Yury überlegt, ob das vielleicht Tarnung sein könnte, weil der „Hurensohn“ weiß, dass Yury nach ihm sucht.
Was ist aber, wenn er einen unschuldigen Menschen umbringt? Es muss aber das „Naziarschloch“ sein. Er steht genau vor dem Wohnblock mit der Adresse, die ihm der Junge gab, nachdem er ihm im Wald das Bein gebrochen hatte. Außerdem ist es dieselbe Straße, in der sie ihn an dem Tag, als er getürmt ist, fast erwischt hätten.
Es gibt nur einen Weg, um herauszufinden, wer der Typ ist, überlegt sich Yury. Wenn er ihn direkt konfrontiert, wird Yury an seiner Reaktion merken, wen er da vor sich hat. Ist es das Nazischwein, wird er sicherlich in Panik geraten und weglaufen. Und dann kriegt er eine Kugel in den Rücken.
Soll er ihn aber wirklich einfach so umlegen, wenn es der Skinhead ist? Plötzlich hat er Gewissensbisse. Zeigt mein ständiges Appellieren und Flehen in seinen Träumen nun doch noch Wirkung? Er atmet laut aus, fasst sich an die Stirn und überlegt ein paar Sekunden. Ich spüre, dass Yury bei der ganzen Sache zwar unwohl ist, doch dann beschließt er, dass er Gerechtigkeit walten lassen muss.
Yury steigt aus dem Auto und geht langsam auf Marco zu, der gerade im Reiseführer liest und ihn nicht bemerkt.
Nur noch ein paar Meter.
Mit beiden Händen, die aufgrund seiner Nervosität wie verrückt schwitzen, umfasst er fest den Pistolengriff. Sein Herz schlägt immer schneller, je näher er kommt.
Als Yury nur noch wenige Schritte von ihm entfernt ist, geht plötzlich die Eingangstür auf. João kommt lächelnd heraus und legt seinen Arm um Marcos Schulter, um nachzuschauen, was der gerade liest. Im nächsten Moment umarmen sich die beiden und küssen sich innig.
Yury bleibt wie versteinert mit offenem Mund stehen. Marco und João gehen los, ohne Yury überhaupt zu bemerken. Der blickt ihnen verdutzt hinterher. Er steht immer noch reglos auf demselben Fleck, als sie um die Ecke biegen.
Noch nie hat Yury gesehen, dass sich zwei Männer küssen. Dazu noch ganz offen mitten auf der Straße! Ohne jegliche Skrupel und Scham! Das Nazischwein ist bestimmt keine ekelige Schwuchtel. So weit würde der niemals gehen, um sich zu tarnen. Das würde kein normaler Mensch tun, geschweige denn ein Nazi. Dazu war der andere Typ, der aus der Tür kam, auch noch ein Mulatte.
Nach einer Weile geht Yury, der völlig verwirrt ist, zurück zu seinem BMW, setzt sich auf den Fahrersitz und verstaut seine Waffe im Handschuhfach. Er überlegt noch immer, ob es vielleicht doch der Naziwichser war. Unmöglich! So was Widerliches würde kein Skinhead tun. Niemals. Das kann nicht das Arschloch gewesen sein. Da ist er sich jetzt ganz sicher. Er schnauft tief durch um sich zu beruhigen, startet den Motor und fährt los.
Marco hatte Glück im Unglück. Wahnsinniges Glück, muss man sagen. Aber eigentlich hatten wir alle drei Glück. Marco natürlich, weil er noch am Leben ist. Yury hatte Glück, weil er sich seine Zukunft nicht verbaut hat. Und ich hatte Glück, weil ich Marco versprochen habe, dass er sich keine Sorgen machen muss. Das war im Nachhinein ziemlich voreilig von mir und ein großer Fehler.
Eigentlich hat Marco sich letztendlich selbst gerettet.
Es fing damit an, dass er sich in jener Nacht in Curitiba dazu entschloss, in Joãos Zimmer zu gehen, um sich bei ihm zu entschuldigen. Und weil er sich selbst akzeptiert hat, so wie er ist, kam es zu der wunderbaren Beziehung zwischen den beiden. Ohne den Kuss vor Marcos Wohnung wäre die Sache ganz anders ausgegangen.
33. MARCO
Meine Mutter ist gnädigerweise für ein paar Tage zu einer Freundin nach Dresden gefahren, damit João und ich die Wohnung für uns allein haben. Wir sollen aber trotzdem in der Wohnung keine „ekligen Schweinereien“ veranstalten, während sie weg ist.
Dank João seh’ ich Berlin von einer ganz anderen Seite. Es ist schon ein bisschen peinlich, wie wenig ich über meine eigene Stadt weiß. Zum Beispiel hatte ich zwar schon einmal vom Schloss Sanssouci gehört, hatte aber keine Ahnung, wie man das schreibt und dass der Name französisch ist. Im Führer stand auch, dass Sanssouci übersetzt „ohne Sorge“ bedeutet. Das passt gut, denn jeden Tag, den ich mit João verbring’, bin ich komplett sorgenfrei. Ich bin einfach nur glücklich.
Wie ich von João erfahren hab’, gehört Sanssouci seit Kurzem zum UNESCO-Weltkulturerbe, was auch immer das bedeutet. Einen solchen Titel kriegen laut João nur wichtige historische Gebäude. Die ganze Anlage hier ist ja auch ziemlich schick, muss ich sagen.
Gestern hat João mich ins KZ Sachsenhausen geschleift. Ich hatte nicht wirklich Bock, muss ich gestehen. So was verdirbt einem nur die Stimmung. Im Nachhinein fand ich’s dann doch gut, dass wir hingegangen sind. Ich schäm’ mich mittlerweile gewaltig dafür, dass ich ein Skinhead war. Damals wär’ ich als Schwuler sofort im KZ gelandet. Man weiß nicht genau, wie viele Menschen im KZ Sachsenhausen ermordet wurden. Es sollen aber mehrere Zehntausend gewesen sein.
Um die Stimmung wieder aufzulockern, will João heute Abend mit mir in einen Club gehen. Da war ich auch noch nie, weil diese Clubs mit den vielen Touristen und all den Bonzenkindern noch nie mein Ding waren. Aber ich hab’ João versprochen, dass ich alles mitmach’. „Der Gast ist König“, sagt man ja.
Bevor wir losziehen, wollen wir noch zu Hause zu Abend essen. Ich beschließ’, Leber nach Berliner Art zu kochen, eines meiner Lieblingsgerichte. Damit will ich João ein wenig heimzahlen, dass ich in Curitiba Hühnerherzen essen musste. Obwohl Kalbsleber trotz dem sehr eigenen Geschmack bei Weitem nicht so schlimm ist.
João ist noch schnell los, um ein paar Bier zu besorgen. Kaum ist er weg, klingelt es. Wahrscheinlich hat er seine Kohle vergessen. Ich steck’ schnell zehn Mark ein und geh’ runter.
Als ich die Tür öffne, ist es aber gar nicht João, der vor mir steht, sondern ein alter Bekannter. Mit dem hab’ ich überhaupt nicht gerechnet.
Bevor ich weiß, was passiert, gibt es einen lauten Knall.
Bamm!
Dann noch zwei Mal.
Bamm! Bamm!
Ich sink’ zu Boden und blick’ dabei in Stefans hässliche Fratze. Er hält die Pistole, die er an dem Abend, als Dima starb, eingesteckt hat, in der Hand.
„Das warst also doch du mit dem Negerjungen im Park. Da habt ihr schön Händchen gehalten und geknutscht ... Du widerliche Schwuchtel!“ Er bückt sich zu mir runter und flüstert mir ins Ohr: „Judas! Jetzt weißt du, was wir mit Verrätern wie dir machen.“
Ich antworte nicht. Was würd’ das jetzt noch bringen? Stattdessen sitz’ ich in Frieden am Boden und schau’ mir ein letztes Mal das Armband an, das João mir in Curitiba geschenkt hat. Vor meinen Augen läuft ein Film ab: die wunderbare Zeit mit João. Aber so, als würd’ ich alles in Zeitraffer noch einmal erleben.
Als João zehn Minuten später wiederkommt, sind der Notarzt und die Polizei schon da. Meine Seele ist aber schon woanders, ich bin schwerelos und beobachte alles aus der Ferne.
34. DIMA
Kurz bevor ich starb, lieh ich mir einen Reiseführer über Italien aus. Hätte ich das Geld gehabt, wäre ich gerne dorthin verreist. Ein Ort in dem Buch blieb mir besonders in Erinnerung: „La Cripta dei Frati Cappuccini“ - die düstere Gruft der Kapuziner in Rom. In ihr sind die Knochen tausender Kapuzinerbrüder künstlerisch entlang der Mauern der Gruft angebracht. Ein schauriger und faszinierender Anblick zugleich. In einer Krypte liegen mehrere vollständige Skelette in staubigen braunen Gewändern gekleidet friedlich am Boden, als würden sie nur schlafen. Vor ihnen steckt ein kleines Schild mit lateinischer Inschrift im Boden, auf dem ins Deutsche übersetzt folgendes steht: „Was ihr seid, sind wir gewesen. Was wir sind, werdet ihr sein“.
Ich erschrak damals. Zum ersten Mal wurde mir meine eigene Sterblichkeit bewusst. Dieser Satz gilt für alle. Er ereilte mich – und nun auch Marco. Ich traure um einen guten Mann, der gerade angefangen hat, richtig zu leben. Natürlich bin ich nicht der Einzige, der am Boden zerstört ist. João steht unter Schock. Ich spüre dasselbe Leid im Herzen Marcos Mutter, so wie bei meinen Eltern, als sie von meinem Tod erfuhren. Der einzige unwesentliche Trost, der mir bleibt, ist, dass es nicht Yury war, der ihn erschossen hat.
In den folgenden Monaten ändert sich bei Yury letztendlich doch einiges. Irgendwann gibt er komplett auf, nach Marco zu suchen. Ohne es zu wissen, hat er nach dessen Tod sprichwörtlich einen Geist gejagt.
Andere Sachen beanspruchen jetzt seine Zeit. Zum Beispiel der Sozialdienst, den er ableisten muss, dafür, dass er mit einer Pistole am Flughafen erwischt wurde. Hundert Stunden gemeinnützige Arbeit. Er hilft in einem Pflegeheim hauptsächlich in der Administration aus und hat im Grunde sogar Glück: Sein Deutsch verbessert sich um einiges und er lernt mit einem Computer umzugehen. Das hat er hauptsächlich Frau Weigl zu verdanken, die seine Vorgesetzte ist und ihn unter ihre Fittiche nimmt.
Anfangs war es eher so, als würde Yury nur das Nötigste tun, um die hundert Stunden abzuarbeiten. Er kam ständig zu spät, schlampte bei der Arbeit und machte lange Zigarettenpausen, um mit Boris zu telefonieren, der in seiner Abwesenheit das Drogengeschäft leitet. Am dritten Tag sprach Frau Weigl Klartext mit ihm.
„Hör’ mal zu, mein Junge. Du denkst wohl, du kannst hier mit deinem schicken BMW vorfahren – noch dazu regelmäßig zu spät – und dich aufführen, wie du willst? Vielleicht bist du dort, wo du dich ansonsten rumtreibst, der große Macker, aber hier gibt es keine Sonderbehandlung. Wenn du hier so weitermachst, melde ich der Behörde, dass du hier mehr Last als Hilfe bist, und dann kannst du woanders weitermachen. Entweder du reißt dich zusammen und änderst deine Einstellung oder du bist raus. Verstanden?“
Die Standpauke scheint ihn beeindruckt zu haben. In dem Ton hat noch nie jemand zuvor mit Yury gesprochen. Und auf Ärger mit der Behörde hat Yury auch nicht viel Lust. Von da an jedenfalls legte sich Yury mächtig ins Zeug, was mich natürlich sehr erfreut.
Seit der Abmahnung ist mein Bruder kein einziges Mal zu spät gekommen. Er überprüft seine Arbeit jetzt immer ein zweites Mal, bevor er sich der nächsten Aufgabe widmet, und er hat sich doch tatsächlich von Anastasia das Langenscheidt-Wörterbuch geliehen, denn er realisierte schnell, dass sein Vokabular vielleicht dafür ausreicht, um ein Bier in der Kneipe zu bestellen, aber in einem Büro zu arbeiten, das ist etwas ganz anderes.
Frau Weigl hat all dies natürlich auch bemerkt und unterstützt ihn jetzt aufopferungsvoll, sei es, wenn er Fragen hat, wie man etwas im Computer eingibt, oder wenn er ein Wort auf Deutsch nicht weiß.
Gestern ist übrigens etwas Kurioses vorgefallen. Ohne dass er es bemerkt hätte, ist an Yurys Bürofenster ein humpelnder Junge vorbeigegangen, der seine Großmutter im Pflegeheim besuchen wollte. Thorsten dagegen – denn um ihn handelte es sich – erkannte Yury sofort; er wurde kreidebleich und machte sich fast wieder in die Hose, als er ihn am Schreibtisch sah. Ein paar Tage später wurde Thorstens Großmutter in ein anderes Pflegeheim verlegt. Darauf haben Thorsten und seine Mutter bestanden, ohne einen genauen Grund zu nennen.
Eigentlich muss Yury dafür dankbar sein, dass er ganz umsonst eine dreiwöchige Ausbildung erhalten hat. Seine neuen Kompetenzen erweisen sich nämlich kurz darauf in seinem ersten echten legalen Job als sehr hilfreich. Denn Yury hört am Ende des Jahres mit dem Dealen auf.
Dafür gibt es zwei Auslöser, beide verursacht durch Boris. Der erste Grund ist, dass Anastasia irgendwann Wind von all den kriminellen Machenschaften ihres Freundes bekommt. Schusselig, wie Boris nun mal so ist, vergisst er ein Paket Haschisch, das für einen ihrer Straßendealer bestimmt ist, in Yurys Auto. Als Anastasia einen verlorengegangenen Ohrring sucht, den sie in Yurys Auto vermutet, stößt sie auf das Paket, das unter dem Beifahrersitz versteckt ist. Sie konfrontiert Yury sofort damit.
Mit dem Paket in der Hand stellt sie ihn zur Rede. „Kannst du mir sagen, was das hier ist?“
Völlig überrascht sagt Yury erst einmal nichts. Dann fängt er an zu stammeln.
„Ähm … Wie … Was ist das denn? … Woher hast du das?“
„Mach jetzt nicht einen auf dumm! Es lag in deinem Auto. Das ist es also, was du den ganzen Tag treibst: Du verkaufst Drogen. Und mir hast du immer von deiner verdammten Geschäftsidee erzählt!“
Daraufhin schmeißt sie ihm das Paket an die Brust. Nach kurzem Überlegen muss er sich eingestehen, dass keine Ausrede auf der Welt den Fund in seinem Auto erklären kann und dass es wohl das Beste ist, ihr zu beichten, was es wirklich mit seinen Machenschaften auf sich hat.
Zuerst will Anastasia verständlicherweise sofort Schluss machen. Yury aber fleht sie auf Knien an, ihm noch eine Chance zu geben. Am Anfang, als wir in Deutschland ankamen und kein Wort Deutsch sprachen, sei es der einzige Weg gewesen, etwas Geld zu verdienen. Und er würde ja bald mit dem Dealen aufhören, sobald er genug Geld verdient hat. Es wären nur noch ein oder zwei Jahre.
Das Gleiche hab’ ich auch immer zu hören bekommen.
Trotz seiner faulen Ausreden stellt Anastasia ihm, anstatt sofort abzuhauen, ein Ultimatum: Entweder er hört bis zum Ende des Jahres auf oder sie ist weg. Wenn mein Bruder nicht diesen ganz speziellen Charme hätte, wäre die Sache bestimmt anders ausgegangen.
Etwa zur gleichen Zeit – und dies ist der zweite Grund, weshalb Yury aufhören will – wird Boris mit einem halben Kilogramm Heroin erwischt. Wie so oft ist er mal wieder zu schnell gefahren. Dummerweise ist eines der vielen Autos, das er überholt, eine Streife in Zivil. Dafür wandert er erst einmal für ein Jahr ins Gefängnis.
Glücklicherweise ist Boris loyal. Andere Männer plaudern auch schon mal den Namen ihres Chefs aus, um ihre Gefängnisstrafe zu verkürzen.
Boris’ Knastaufenthalt ist sozusagen ein Warnschuss und zeigt deutlich, dass man mit etwas Pech auch schnell im Kittchen landen kann.
Und so kommt es, dass Yury – wie er es Anastasia versprochen hat – Ende 1993 komplett mit dem Drogenhandel aufhört und ein paar Monate später einen Job beim Kundendienst eines großen Elektronikkonzerns anfängt.
Generell ist 1993 ein ereignisreiches Jahr, mal ganz abgesehen von Marcos und meinem Tod. Ohne Blutvergießen teilt sich die Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei auf.
Bill Clinton tritt als zweiundvierzigster Präsident der Vereinigten Staaten sein Amt an. Im selben Jahr erleben die USA in Mogadischu ein Desaster, als achtzehn US-Soldaten bei einer Geheimoperation sterben, weil man die dortige Miliz unterschätzt. Die Bilder der toten US-Soldaten, die wie Trophäen durch die Straßen von Mogadischu geschleift werden, gehen um die Welt. Das traumatische Ereignis wird später unter dem Titel „Black Hawk Down“ in Hollywood verfilmt.
Apropos Film: 1993 kommt „Philadelphia“, einer meiner Lieblingsfilme, in die Kinos. Es geht darin um die Stigmatisierung von AIDS-Kranken und Schwulen in den USA. Man muss sich daran erinnern, dass in den achtziger und neunziger Jahren eine Infektion mit HIV als sicheres Todesurteil galt. Tom Hanks bekommt für seine Hauptrolle in „Philadelphia“ ein Jahr später den Oscar.
Was den Rechtsextremismus angeht, gibt es 1993 leider zahlreiche Vorkommnisse.
In Solingen kommt es nach Mölln zu einem weiteren Brandanschlag, bei dem fünf Menschen türkischer Abstammung sterben. Die vier Täter aus der Neonaziszene werden zum Glück gefasst und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Das Jahr 1993 hält auch den traurigen Rekord, was die Anzahl von Mitgliedern rechtsextremer Parteien in Deutschland angeht, nämlich über fünfundfünfzigtausend, fast acht Mal so viele wie zwanzig Jahre später.
Ein weiteres trauriges Ereignis, das auf das Konto von Neonazis geht, schließt das Jahr 1993 ab. Im Dezember verschickt ein rechtsextremer Terrorist eine Briefbombe an den damaligen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk. Die Bombe reißt ihm zwei Finger von der linken Hand.
Wie die Gesellschaft auf die steigende Anzahl rechtsextremer Übergriffe Anfang der neunziger Jahre reagiert, gibt aber Hoffnung. In deutschen und österreichischen Städten bilden sich Lichterketten, um friedlich gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Allein in München gehen vierhunderttausend Menschen auf die Straße.
Hoffnung und Optimismus gehen Hand in Hand. Sie geben einem die Energie um – trotz aller Widrigkeiten – zu leben. In dem Sinne bin ich mir sicher, dass sich die Welt weiterhin unaufhaltbar zum Besseren verändern wird, so wie es auch schon in den letzten Jahrhunderten geschehen ist. Der Tag wird kommen, an dem jeder jeden gleich behandelt. Egal, ob man eine Frau ist, dunkle Haut hat, im Rollstuhl sitzt, ein Kopftuch trägt oder jemanden liebt, der das gleiche Geschlecht hat.
Wann dieser Tag kommen wird? Das hängt ganz allein von uns ab.
35. MARCO
Ich bereu’ nichts. Die Zeit seit meiner ersten gemeinsamen Nacht mit João war die glücklichste in meinem Leben. Stefan hat mir vielleicht mein Leben geraubt, aber nicht meine Erinnerungen. Die werden mir für immer bleiben. Auch wenn mein Leben nur kurz war, bin ich dankbar dafür, denn ich durfte die Liebe erfahren und hab’ wieder Lebensfreude in mir gespürt. Ein Happy End, wenn man so will.
Stefan hat man übrigens nie für seinen Mord an mir gefasst. Später ist er aber zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er mit einem anderen Skinhead einen Obdachlosen fast zu Tode getreten hat.
Es ist seltsam. Eigentlich müsste ich Stefan für seine Taten hassen. Doch ich hab’ vielmehr Mitleid mit ihm.
Wie ich erfuhr, als ich tief in seine Seele blickte, wurde er als Kind oft von seinem Vater geschlagen. Einmal hat er Stefan sogar zwei Rippen gebrochen. Und seine Mutter hat bei dem Ganzen immer nur weggeschaut. Wenn man Prostituierte nicht mitzählt, war Stefan noch nie mit einer Frau zusammen. Hauptsächlich, weil er einfach ein unfreundlicher, grimmiger Typ ist. Dazu ist er nicht gerade der Attraktivste, das kann ich als Schwuler immerhin ganz gut beurteilen.
Im Grunde genommen ist Stefan ein armes Schwein. Er hat nie jemanden geliebt und er wurde nie geliebt. Nicht einmal von seiner eigenen Familie. Die ganze Wut und der Frust, der sich in seinem Leben angestaut hat, muss dann irgendwo hin. Und das bekommen leider andere zu spüren.
Da wir gerade über alte Kameraden reden: Thorsten hat sich übrigens bestens von seinem Beinbruch erholt. Er schließt sein Abitur mit der Note 1,3 ab, studiert BWL in Berlin und wird Mitglied einer schlagenden Burschenschaft, wo er auf Kommilitonen trifft, die seine Ansichten teilen. Über die Jahre arbeitet er sich dann bis zum Schatzmeister in der NPD hinauf. Irgendwann merkt Thorsten aber, dass er nie ein großer Politiker sein wird, was schon immer seine größte Ambition war und der Hauptgrund dafür, überhaupt bei der NPD mitzumachen. Doch diese Partei ist einfach zu radikal, um bei den Wahlen besser abzuschneiden. Obwohl er inhaltlich der NPD am nächsten steht, schließt er sich Jahre später einer neu formierten Partei an, die nicht ganz so weit rechts steht und deshalb bei vielen frustrierten Wählern besser punktet. Diese Partei ist vor allem für ihre strikte Einwanderungspolitik bekannt. Ironischerweise ist sie auch bei überdurchschnittlich vielen Russlanddeutschen beliebt.
Für meine Mutter tut mir mein Tod am meisten leid. Gerade erst sind wir uns seit Langem wieder nähergekommen, da werd’ ich ihr auch schon wieder genommen. Viel zu früh, so wie es bei meinem Vater Jahre zuvor bereits war.
Einen positiven Nebeneffekt hat mein Ableben für sie aber doch: Da mein Tod und auch meine Mutter in den Zeitungen erwähnt werden, erfahren meine Großeltern von meinem Schicksal und melden sich überraschend bei ihr. Und so kommt es nach über fünfundzwanzig Jahren zum ersten Wiedersehen in Berlin.
Ich erfahr’ auch endlich, weswegen sie sich damals verkracht haben. Meine Mutter ist kurz nach dem Schulabschluss mit achtzehn Jahren schwanger geworden, was meine Großeltern gar nicht toll fanden. Sie drängten auf eine Abtreibung und darauf, dass sie meinen Vater nicht mehr wiedersieht, von dem sie nicht einmal den Namen wussten. Deswegen sind meine Eltern durchgebrannt und durch halb Osteuropa gereist. Als sie in die DDR zurückkamen, ließen sie sich in Berlin nieder. Kurz danach kam ich auf die Welt. Weil meine Mutter dachte, sie wär’ jetzt das verstoßene Kind, hat sie sich bei meinen Großeltern nie wieder gemeldet. Die lebten weiterhin in Halle und hatten keine Ahnung, wo ihre Tochter steckt.
Meine Mutter überlegte in den Folgejahren oft, ob sie nicht doch mal anrufen sollte. Die Angst, zurückgewiesen zu werden, war dann aber zu groß. Letztendlich kann man von einer späten Versöhnung sprechen, und sie haben vereinbart, sich einmal im Monat zu treffen, abwechselnd in Berlin und Halle.
João war nach meinem Tod natürlich auch erst einmal komplett geschockt und hat lange gebraucht, um ihn zu verkraften. Das war schon schwer, mit anzusehen. Gertraud hat ihn aber dazu ermutigt, nichtsdestotrotz für ein Auslandssemester im Herbst nach Deutschland zu kommen. So hätt’ ich’s mir gewünscht, meinte sie, und damit hat sie auch vollkommen recht! Anstatt für Berlin hat sich João aber für Münster entschieden. Noch mal nach Berlin zu kommen, das hätte er nicht gepackt, was ich voll verstehen kann.
Klar verfolg’ ich jetzt mit Spannung, was João aus seinem Leben macht. Ich bin sein größter Fan.
Zwei Jahre nach meinem Tod schließt João erfolgreich sein Studium in São Paulo ab. Über die Jahre steigt er dann zum leitenden Direktor einer Marketing-Agentur auf.
Dass er eine gute Karriere hinlegt, überrascht mich nicht. Als wir damals die ganzen Sehenswürdigkeiten in Berlin abgeklappert haben, war João immer bestens vorbereitet und organisiert. In ihm steckt halt einfach ein kleiner Streber.
Irgendwann hängt João dann seinen gutbezahlten Job an den Nagel, da die Arbeit ihn nicht mehr erfüllt. Es fehlt ihm ein Sinn im Leben, auch wenn es sich mit all der Kohle gut leben lässt. Deshalb gründet er eine Wohltätigkeitsorganisation, die Jugendliche in den Favelas dabei unterstützt, den Schulabschluss zu machen.
Ganz vergessen hat er mich aber nie, wie es scheint. Jahre später lernt João nämlich einen Amerikaner aus Atlanta kennen, und nachdem sie schon einige Zeit zusammen sind, beschließen sie einen kleinen Jungen zu adoptieren. Sie nennen ihn Marco.
Natürlich entgeht mir auch nicht, was der liebsten Oma auf der Welt widerfährt. Kurz nach meinem Besuch muss Gertraud die Buchhandlung schließen, da sie aufgrund der Rückenschmerzen irgendwann nur noch mit einer Gehhilfe weiterkommt und ihr Sohn Pedro keine Lust hat, den Laden zu übernehmen. Ihre neugewonnene Zeit verbringt sie damit, noch mehr Deutsche-Welle-Radio zu hören und mit anderen betagten Freundinnen Mau-Mau zu spielen. Kurz vor der Jahrtausendwende schläft sie nach einem sehr ereignisreichen und erfüllten Leben friedlich in ihrer Wohnung ein.
Ich weiß nun auch, wer der Sohn von Heinrichs Cousine Maria ist, der auf dem Foto zu sehen ist, das mir Gertraud in Pedros Wohnung gezeigt hat. Ich hätt’ eigentlich schon damals wissen müssen, um wen es sich bei dem Jungen handelt. Diese Vertrautheit, die ich jetzt spür’, wenn ich mir das Gesicht anschau’ ... Da ist auch ein Gefühl der Geborgenheit und der Sehnsucht mit dabei.
Der einzige Mensch, der diese Emotionen hervorrufen kann und den ich jeden Tag nach seinem Tod so sehr vermisst hab’, das war mein Vater.
Dieses Buch ist den hunderten Todesopfern rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland gewidmet.
Da ich nicht „deutsch“ aussehe, musste ich mir in meiner Jugend und später im Erwachsenenalter oftmals rassistische Kommentare anhören. Diese schmerzen zum Teil heute noch. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Intoleranz liegt mir daher sehr am Herzen. Mit diesem Buch versuche ich einen kleinen Beitrag zu leisten. Falls es dir gefallen hat, würde ich mich freuen, wenn du es mit Freunden und Verwandten teilst. Das Buch steht umsonst auf MarcoUndDima.weebly.com zum Download zur Verfügung (ePub, mobi, PDF sowie links zum kostenlosen ebook auf Amazon (Kindle), Google Play etc). Danke für deine Unterstützung! - Bela Vivo
Auf Anfrage: belavivo.belavivo@gmail.com
(der/die Autor*in Bela Vivo lebt auf einer Insel fernab von Deutschland)
Lektorat und Korrektorat: Mike Schröder, Berlin
https://mike-schroeder-korrektorat.jimdo.com/
Cover: Vladimir Kovacic
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Tag der Veröffentlichung: 26.02.2022
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Widmung:
Dieses Buch ist den hunderten Todesopfern rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland gewidmet.