Es war eine recht kühle Nacht.
Sie spürte die Luft, wie sie langsam um ihr Gesicht, ihre Hände, Füße, ihren gesamten Körper schlich und sie damit wie eine Hülle umgab. Trotz der warmen Kleidung die sie trug durchfuhr sie ein kurzes Frösteln. Langsam wurde ihr Hintern kälter durch die Ziegelsteine auf denen sie saß, während sie die schwach leuchteten Lichter unter ihnen betrachtete.
Er saß einen halben Meter von ihr entfernt, die Beine ausgestreckt und sich auf seine großen Hände stützend, im Gegensatz zu ihr, die ihre Hände um ihre Beine schlang, um die restliche Wäre, die sie noch hatte, zu halten.
Trotz der Temperatur, verspürte sie nicht mal annähernd den Wunsch, sich zu bewegen oder gar rein zu gehen. Sie genoss diesen Augenblick, genauso wie sie es schon bei allen andern Nächten mit ihm auf den Dach genossen hatte.
Doch diesmal war es anders.
Sie wartete nur darauf, dass er zu sprechen begann. Seine Unruhe, seine innere Zerrissenheit, fühlte sie schon seit dem Augenblick, als sie das von ihm Getane erwähnte.
Es bedrückte ihn und sie merkte, wie seine unterdrückten, schmerzlichen Schuldgefühle auszubrechen drohten. Aber sie bedrängte ihn nicht. Sie ließ ihm seine Zeit nach den richtigen Formulierungen zu suchen und betrachtete stattdessen, den nächtlichen Verkehr unter ihren Füßen.
Ein Lufthauch umspielte ihr Gesicht, brachte ihr Locken zum tanzen und sie schloss für kurze Zeit die Augen, um sich genau dieses Gefühl, das Warten auf seine Worte, auf ewig einzuprägen.
Sie wusste, egal was er sagen würde, oder eben nicht sagen würde, es veränderte seine und ihre gesamte Zukunft.
Als er nach einigen Minuten tief Luft holte, blickte sie ihn liebevoll an um ihm den Mut zu geben, den er noch brauchte, um zu sprechen.
Als er ihren Blick erwiderte, gab es wieder diesen kurzen Moment, diese Verbindung, nicht länger als ein Augenblick, ein Herzschlag, der sein Innerstes, seine Seele, mit der ihre verband und sie fühlte ihren ganzen Körper warm werden, trotz der Kälte um sie herum.
Es war dieser Augenblick, in dem sie wusste, dass es Zeit war, das Schicksal entscheiden zu lassen wie es weiter ging.
Es war dieser Augenblick, in dem sie wusste, dass er das, was ihn ewig quälte, endlich aussprechen würde.
Und es war dieser Augenblick, in dem sie mit vollster Überzeugung wusste, dass egal was er sagen würde, sie ihn liebte.
„Der Gedanke zerfrisst mich. Er zerrt an jeder meiner Gliedmaßen, jeder meiner Muskeln, jeder meiner Sehnen, jeder noch so kleinsten Faser oder Zelle meines Körpers, die mich zum Ganzen macht. Er verspeist nicht nur meinen Körper. Er verschlingt auch meinen Kopf, mein Herz, meine Seele und all meine Gefühle für dich, die so mächtig sind, dass ich mir sicher bin, würde ich in diesem Moment sterben und man danach meinen Körper öffnen, um ihn von innen zu betrachten, dann würde man einen Gegenstand finden, so groß wie eben möglich, so beweglich wie Wasser, der meine Gefühle für dich darstellt. Er wäre nicht so leicht wie die Luft. Aber so duftend, wie der schönste Duft der Welt, aber nicht schöner als dein Duft. Er hat die Form von allem und nichts, in sich vereint und ergibt so das Schönste, was man als Mensch erblicken kann. Aber dennoch nicht so schön wie du. Wenn man ihn berührt, so würde man denken, man berühre das beste Stück Seide, was man sich erträumen möge. Aber es wäre nichts im Vergleich zu deiner Haut.
Man würde die besten Wissenschaftler und Forscher dieser Welt rufen, um herauszufinden, was für ein durch und durch schöner aber auch sonderbarer Gegenstand das ist. Und alle klügsten Menschen dieser Welt würden daraus nicht schlau werden. Sie würden davor sitzen, rätseln und am Ende ihrer Studien genauso ratlos blicken wie am Anfang.
Niemand, keine Menschenseele, könnten je erkennen, welch ein Gegenstand das ist.
Nur wir beide, du und ich, wir wüssten, dass nur solch ein schöner Gegenstand es wert sein würde, als Metapher für meine Gefühle für dich zu gelten.
Aber der Gedanke ist da. Und ich weiß, dass er, nachdem er den gesamten Rest vertilgt hat, sich auch daran machen wird.“
Bevor sie redete befeuchtete sie mit ihrer Zunge ihre Lippen, die während seines Gesagtem trocken geworden waren.
„Was ist es? Welcher Gedanke könnte so schrecklich sein auch nur annähernd solch ein Gefühl in dir auszulösen?“
Er gab ein kurzes, trockenes Lachen von sich, als er seine müden, verzweifelten Augen von der dunklen Nacht abwandte und stattdessen ihr Gesicht betrachtete.
Nachdem er kurz die Augen geschlossen hatte, sprach er mit rauer Stimme weiter.
„Wenn ich ab diesen Moment, in dem ich dir das antat, alles so gemacht hätte, dass es perfekt gewesen wäre, wenn ich dir jeden Augenblick danach zu dem angenehmsten deines Lebens gemacht hätte, wenn ich eine Zeitmaschine hätte und jeden einzelnen Fehler, der passieren würde wüsste und so jeden einzelnen verhindert hätte, würde es nicht ausreichen, das wieder gut zu machen, was ich getan habe.
Sogar wenn ich ab diesen Augenblick alles richtig machen würde, was niemals der Fall sein könnte, bis wir sterben. Nein, selbst wenn wir zwei Leben hätten, oder hunderte, nein, selbst wenn wir beide ewig leben würden, in alle Ewigkeit, bis die Unendlichkeit vorbei wäre und dann noch länger, selbst wenn ich in dieser Zeit, dein Leben zum lebenswertesten und schönsten Leben auf Erden machen würde, selbst dann wäre es nicht annähernd genug, dass du mir, und ich mir, das Getane verziehen hätte.
Und selbst wenn ich diese beiden Unmöglichkeiten in unsere möglichen Welt vereinen könnte und realisieren könnte, also wenn ich ab dem Moment an dem ich es getan habe bis zu diesem Moment und ab dann bis nach der Unendlichkeit alles Menschenmögliche zu deinem Gunsten getan hätte, würde es niemals reichen. Niemals.
Du siehst, es ist ausweglos, unmöglich, und so habe ich es verdient, das genau dieser Gedanke mich auf ewig zerfressen wird.“
Eine kurze Weile herrschte Stille zwischen ihnen. Keiner von ihnen wagte es diese zu unterbrechen. Sie ließen ihre Gedanke das Gehörte und Gesagte verarbeiten, während unter ihren Füßen die normale Welt, mit hupenden Autos, lärmenden Menschen und blickenden Lichtern nichts von diesem Weltbewegendem Gespräch mitzubekommen schien.
Er atmete schnell. Nach einer Weile hob er seine Hände und rieb sie aneinander, nur um irgendetwas tun zu können. Schließlich riss er sich zusammen, schaute sie an und bemerkte, dass sie ihn beobachtete. Sein Blick war ängstlich und fragend, so gestatte sie ihm endlich eine Reaktion.
„Ja.“, flüsterte sie langsam nickend und sein Gesicht verzog sich vor inneren Schmerz, der dieses kleine Wort in ihm auslöste. Er wandte sein Gesicht ab, verzweifelt und voller Schmerz blickte er in die Nacht, wissend, dass es vorbei war. Sie würde ihm nicht verzeihen und er wusste, dass sie absolutes Recht dazu hatte. Er bereute seine Worte keineswegs, sie mussten ausgesprochen werden, doch hatte er davor solche Angst gehabt. Mehr als er je irgendwem zugeben würde.
„Aber...“, fing sie an und sein Kopf schnellte zu ihr zurück.
„Genauso unmöglich es ist, dass du das was du getan hast je wieder gut machen kannst, genauso unmöglich ist es, die Stärke meiner Gefühle zu dir auch nur ansatzweise durch irgendetwas zu vermindern.“
Seine Lippen öffneten sich leicht, sein Gesicht zeigte Hoffnung und doch wagte er es nicht etwas zu sagen. Und so fuhr sie fort.
„Schon bevor du das getan hast was du getan hast und auch bevor das allem, was danach kam, war meine Liebe zu dir größer als alles jemals Erfasste. Größer als Raum, länger als Zeit, stärker als der Grundstoff alles Seiende.
Und größer, langer und stärker als die Unendlichkeit und Unmöglichkeit zusammen.
Hinter den Grenzen des Möglichen, da waren und sind meine Gefühle.
Und dadurch, dass unmöglich und unendlich waren, war es egal was folgt. Selbst wenn du ab sofort nur noch Fehler machst, wenn ab jetzt jeder Augenblick der schlimmste ist, den ein Mensch ertragen kann, selbst dann ist es mir nicht möglich dich weniger zu lieben.
Selbst wenn du mit deiner Zeitmaschine zurückreisen würdest und alles änderst, sodass mein Leben nur von Grausamkeit regiert worden wäre und selbst wenn ich wüsste, dass du daran Schuld bist, so hätte ich dich auch nie einen Deut weniger lieben können, als ich es vorher schon tat.
Und selbst wenn du diese beiden Unmöglichkeiten zusammentun würdest, also das der Augenblick in dem du dieses Grausame getan hast, der Anfang einer riesigen ewigen Kette Grausamkeiten wäre, die über diesen Augenblick hinausgeht und so weit geht, dass es die Grenzen der Zeit, die Grenzen des Möglichen überholt und so in der unmöglichen Unendlichkeit ruht, so wäre das alles nichtig, weil meine Liebe zu dir stärker ist als die größtmögliche, unendliche Grausamkeit deinerseits.
Und hier erkennst du es.
Die Grenzen deines Möglichen könnten meine unmögliche Liebe niemals davon abhalten unendlich zu sein.
Ich werde dir wohl nie verzeihen.
Aber das ist nicht wichtig.
Diese Liebe ist unendlich und unmöglich und kann so niemals zerstört, vermindert oder verletzt werden. Weder von der dem Rest der Welt, als auch von dir.“
Er atmete schneller, als sein Verstand langsam ihr Gesagtes verarbeitete. Kein Wort der Welt, so wohl ihrer als auch der normalen, könnte das ausdrücken, was er in jenem Augenblick verspürte. Und so stoppte er einfach, solch ein Wort zu suchen und rutschte zu ihr hinüber, griff mit beiden Händen sanft nach ihrem Gesicht während seine Hände zitterten, was ihn kurz beschämte, und drückte seine Stirn an ihre, sodass er alles um sich herum vergaß.
Der Mond beleuchtete sanft über ihnen die Szenerie und der Wind umspielte die beiden sich liebenden Körper. Und so atmeten sie dieselbe Luft, während die Verbindung zwischen ihnen nie stärker hätte sein können und fühlten den jeweils anderen, bis er die Stille mit seiner möglichst sanften Stimme durchbrach.
„Ich habe dich nicht verdient.“
Er atmete tief ein und flüsterte: „Nicht mal im Geringsten. Ich weiß es, du weißt es...“
Sie schüttelte sanft den Kopf in seinen Händen, sodass eine Locke auf seine Hand fiel, doch er fuhr unbeirrt fort.
„Aber ich bin grausam, skrupellos und vor allem selbstsüchtig.
Und deshalb nehme ich mir das, was ich kriegen kann, ohne auch nur noch einen Gedanken daran zu verschwenden, wie unmöglich das Ganze doch eigentlich ist.“
Sie lächelte zart und er hob seinen Kopf, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Dann kehrte seine Stirn an ihre zurück und er verweilte noch ein wenig so, bis er langsam und mit so viel Gefühl, wie eine Sprache und eine Stimme es zu ließen, die drei schönsten Worte ihrer Welt flüsterte.
„Ich liebe dich.“
Ein warmer Schauer ging durch beide Körper, obwohl er wusste, dass diese Worte und alle anderen Worte und alle Gesten dieser und jeder anderen Welt nur einen Bruchteil von dem ausdrücken konnten, was er wirklich fühlte. Doch diese Worte waren das für diese Welt das Beste was er sagen konnte und so beließ er es bei diesen.
Während sie sich noch immer an seinen Worten erwärmte und ihr doch gleichzeitig das Herz blutete, als sie daran dachte was sie gemeinsam alles durch machen musste nur um zu diesem Punkt zu gelangen, versuchte auch sie all ihre Gefühle in ihre nächsten Worte zu packen, damit sie ihrer wirklichen Liebe wenigstens annähernd gerecht werden konnten. Und nach einem wohligem Seufzer erwiderte sie seine Worte.
„Ich liebe dich.“
Und beide wussten, dass ihre Gefühle für einander größer waren als sie je ausdrücken könnten, weder mit Worten noch mit Gesten. Doch da sie es beide von einander wussten, gaben sie sich damit zu Frieden und fühlten einfach nur die Liebe ihres Gegenübers.
Und ihre Worte, welche leichter als Luft, schneller als Wind, geschmeidiger als Wasser und härter als Erde waren, begaben sich in diesem Moment, in dem sie gesagt wurden, auf eine Reise durch Welten, bis sie an die Grenze des Möglichen stießen, diese überwanden, so ins Unmögliche gelangten und dort unendlich weilten.
Auf ewig.
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2016
Alle Rechte vorbehalten