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Alana

Alana – Ein besonderes Mädchen


Sie sitzt da, Alana. Sie kommt gerade nach Hause und schaut aus dem Fenster. Sie denkt über ihre Kindheit und Schulzeit nach, so wäre sie gerne immer noch, doch sie ist verschlossen. Sie ist angespannt, alleine, traurig. Sie denkt nach, legt sich hin und fängt an zu träumen. Zu träumen von früher. Das kann sie noch. Sie träumt… Über 40 Jahre ist es her, doch es kommt ihr vor, als wäre es gestern gewesen...

Und wieder ein neuer, öder Schultag. Seufzend setzt Julia unter diesen Satz einen Kasten, in welchem Kinderköpfe eingesperrt hinter vergitterten Fenstern zu sehen sind und schreibt „Schule" darauf. Schrill klingelt die Glocke. Julia knüllt ihr Blatt zusammen, zielt und trifft den Papierkorb nicht- mal wieder. Spöttisches Gelächter ist zu hören als die Jungs ihre nicht vorhandenen Treffkünste sehen. Lachend heben sie das Papier auf und heften es an die Pinnwand, während sie die ganze Zeit ihre Zeichnung verspotten ohne den Sinn dahinter zu verstehen. Natürlich verstehen sie diese nicht! Gut, Schule mag manchmal nerven und man geht nicht wirklich gerne hin, aber sie ist doch wichtig, um später mal etwas gescheites aus ihrem Leben zu machen- jedenfalls denkt so der Rest aus der Klasse.
Julia hingegen kommt sich wie eingesperrt vor: oftmals heißt es von ihren Deutschaufsätzen Themaverfehlung oder, dass sie doch bitte sachlich bleiben soll. Doch das kann sie einfach nicht, so sehr sie sich auch bemüht, aber sie liebt es nun mal ihre Aufsätze auszuschmücken! Gut sind ihre Aufsätze schon, das wird ihr auch immer wieder gesagt, aber es passt einfach nicht zu dem Unterrichtsstoff!
Ein weiteres „Problem“ – wie ihre Lehrer sagen- ist, dass sie zum Träumen neigt, immer und überall. Das war auch schon als kleines Kind so: Während die anderen Kinder rumtobten und vor Vergnügen kreischten, lag sie in der Wiese, beobachtete die vorbeiziehenden Wolken und lebte in ihrer Welt. Schlimmer wurde es dann in der Schule. Gleich bei ihrer Einschulung hatte sie sich einen Platz am Fenster geangelt. Die Aussicht war einfach viel schöner als die blöde, langweilige, grüne Tafel. Sie hatte als kleines Kind nicht verstanden, warum sie ständig nach vorne zur Tafel schauen sollte und nicht zuschauen durfte, wie die Vögel in dem großen, kräftigen Baum da draußen ihre Eier ausbrüteten.
Am schlimmsten wurde es, als sie eine neue Lehrerin bekamen: Frau Zhimt. Julia hat noch nie eine so schreckliche Person kennengelernt: Gleich am ersten Tag musste Julia sich vom Fenster weg setzen. Und Frau Zhimt schien sie zu quälen: sobald auch nur einen Anflug von Träumerei in Julias Augen lag, wurde sie von Frau Zhimt vor der ganzen Klasse gedemütigt und verspottet. Julia weigerte sich seit diesem schrecklichen Tag weiter in die Schule zu gehen, doch das haben ihre Eltern nicht zugelassen. Sie freuten sich sogar, dass es endlich eine Person gab, die ihrem Kind das Träumen austreiben konnte.
Damals war sie erst zehn.
Julia hingegen versuchte seitdem bloß nicht mehr aufzufallen und ihre panische Angst vor Frau Zhimt zu verbergen. Sie ließ einfach einen Tag nach dem anderen an sich vorbeirauschen, was sie die vergangenen sechs Jahre mehr schlecht als recht geschafft hatte.
„Miese, blöde Schule, dumme Jungs", denkt Julia sich und bereitet sich schon darauf vor wieder einen unendlich langweiligen Schultag hinter sich zu bringen. Doch diese Vorbereitung hätte sie nicht nötig gehabt.

Schlagartig wird es in der Klasse still und alle huschen auf ihre Plätze. Frau Zhimt betritt den Raum. Hochaufgerichtet lässt sie ihren strengen Blick durch die Klasse schweifen. Noch nie hat diese auch nur ein kleines Lächeln auf ihren verkniffenen Mund gesehen und jeden Tag trägt sie eine so strenge Frisur, dass sich niemals auch nur ein Härchen von ihr löst und ihr frech ins Gesicht spielt. Die Klasse hält die Luft an, jedoch nicht wegen ihrer Lehrerin, diesen Anblick sind sie schon gewohnt, nein, wegen des Mädchens, das hinter der Lehrerin kommt. Sie ist so unglaublich schön! Julia hat noch nie ein so schönes Mädchen gesehen und sie ist immerhin schon sechzehn Jahre alt! Als sie sieht, wie der Rest der Klasse das Mädchen anschaut wird ihr klar, dass es nicht nur ihr so geht: Die Mädchen schauen sie neidisch und bewundernd an und die Jungs schwärmerisch. Seufzend verdreht Julia die Augen. „Gut, die Neue ist schön, aber das ist doch noch lange kein Grund sie so anzustarren!", doch noch während sie das denkt, ertappt sie sich dabei, dass sie das Gleiche tut.
Das Mädchen ist groß, mindestens 1,75 Meter und hat eine wunderschöne Figur. Ihre langen kastanienbraunen Haare reichen ihr fast bis zur Taille. Ihr Mund verzieht sich zu einem so warmen Lächeln, dass sie damit bestimmt Eisberge zum Schmelzen bringen kann. Gleichzeitig wirkt es aber auch verschmitzt wegen ihrer beiden Grübchen. Doch am faszinierendsten sind ohne Zweifel ihre Augen: grün-braun blitzen sie unter ihren dichten Wimpern hervor und mit Blitzen ist auch wirklich blitzen gemeint, denn ihre Augen leuchten so stark, dass Julia das Gefühl hat, sie könne das Licht ausmachen und diese Augen trotzdem sehen: klar und fest.
„Das ist Alana.", sagt nun endlich Frau Zhimt und fährt mit einem gelangweilten Blick auf Alana fort: „Möchtest du uns vielleicht etwas über dich erzählen?"
Alana blickt sie an: „Nein."
Julia zieht scharf die Luft ein und ihr Blick rast zur Lehrerin. Wie alle anderen in der Klasse weiß sie, dass diese Frage rein rhetorisch gemeint war. Natürlich geht sie davon aus, dass Alana etwas über sich erzählt. „So ist es üblich, so wird´s gemacht!" Ein Satz den die Lehrerin ständig zitiert, wenn die Klasse mal wieder will, dass sich etwas ändert und Frau Zhimt strikt dagegen ist.
Frau Zhimt dreht sich betont langsam zu Alana um und geht auf sie zu bis sie nur noch eine Nasenlänge von ihr entfernt ist und starrt sie zornig an. Alana zuckt keinen Zentimeter zurück. Julia hat von den Gerüchten gehört, dass Frau Zhimts Augen pechschwarz seien, jedoch konnte keiner dieses Gerücht bestätigen, da noch keiner den Mut hatte ihr lange genug in die Augen zu schauen. Julia nimmt sich vor, Alana danach zu fragen. Diese steht immer noch vor der Lehrerin und schaut ihr lächelnd in die Augen, so, als würde sie einem zahmen Hündchen in die Augen schauen und keinem wild gewordenen Drachen. Mit einem gefährlichem Unterton in der Stimme sagt Frau Zhimt: „Diese Frage war rhetorisch gemeint und es ist besser, wenn du uns jetzt sofort etwas über dich erzählst oder..." Bedrohlich lässt Frau Zhimt das Ende offen, wie immer.
Doch Alana kennt Frau Zhimt nicht: „Oder was?"
Empört schnappt Frau Zhimt nach Luft und ihre Augen funkeln Alana so böse an, dass Julia Angst hat, gleich Blitze schießen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschieht. Irgendetwas geht da vorne vor, etwas von dem nur Alana und Frau Zhimt wissen. Wie gebannt beobachtet die ganze Klasse das, was sie vorher noch nie zu sehen bekommen hat: Frau Zhimt wendet den Blick ab und sagt, jedoch ohne die Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen: „Belassen wir es dabei, du bist neu und kennst die Regeln noch nicht. Setz dich zu Julia!" Barsch zeigt sie mit ihrem langen knochigen Finger auf den verwaisten Stuhl neben Julia.
Julia ist aufgeregt als die Neue auf sie zukommt. „Von wegen langweiliger Schultag!", denkt sie sich vergnügt und schenkt Alana ein nettes Lächeln, das sie mindestens zehnfach zurückbekommt. Und schon jetzt ist ihr klar, dass die Zeit mit Alana unglaublich werden wird! Und diesmal soll sie sich nicht irren.

Die Zeit bis zur Pause scheint nicht zu vergehen. Alle aus der Klasse wollen mehr über Alana erfahren. Keiner kann sich so recht konzentrieren und auch Julia fällt es heute besonders schwer, wozu auch noch Frau Zhimts schlechte Laune kommt, woran ohne Zweifel Alana Schuld ist. Doch selbst der schlimmste Unterricht geht einmal zu Ende und endlich ist Pause. Unter dem strengen Blick von Frau Zhimt stürmen alle raus und zerren Alana einfach mit.
Lachend steht Alana auf dem Pausenhof, umringt von ihrer ganzen Klasse. Alle reden durcheinander auf sie ein und Julia bemüht sich um Ruhe. Doch was sie nicht schafft, schafft Alana: sie strahlt einfach eine solche Ruhe aus, dass auf einmal alle ruhig werden. Alana schaut Julia an: „Du hast doch die ganze Zeit schon etwas auf dem Herzen. Was willst du wissen?"
Julia wird knallrot, ist sie so leicht durchschaubar? Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Sie atmet tief durch und überlegt. Was soll sie nur fragen? Sie kann doch schlecht fragen, ob Frau Zhimt wirklich schwarze Augen hat. Ein Mädchen, das man gar nicht kennt, fragt man doch etwas anderes: Nach ihren Hobbies, wo sie wohnt, wann sie Geburtstag hat. Einfach lauter solche Sachen. Julia kaut auf ihrer Unterlippe herum, immer noch unentschieden, was sie tun soll. Alana schaut sie an, schaut in Julias blaue Augen und plötzlich hat Julia das Gefühl, dass Alana alles über sie weiß und dadurch auch, was sie wirklich fragen will. Und sie sieht noch etwas: Alana verurteilt sie nicht! Das würde die niemals tun! Julia schenkt Alana ein dankbares Lächeln und fragt: „Hat Frau Zhimt schwarze Augen? Gerüchte behaupten das, aber du bist bis jetzt die einzige, die ihr wirklich in die Augen schauen konnte."
Julia bemerkt die Überraschung ihrer Mitschüler, die jedoch sofort in Neugier um schwankt.
Alana lacht leise und schaut sich um: „Das wollt ihr wirklich wissen?" Das eifrige Nicken um sich herum bemerkend fragt sie weiter: „Warum habt ihr dann noch nicht selber nachgeschaut?"
Julia zuckt zusammen, wie peinlich. Die anderen Schüler drängen weiter auf Alana ein, sie haben noch nicht verstanden, was Julia inzwischen kapiert hat: Alana würde es ihnen nicht sagen, niemals! Nicht aus Bosheit, sondern, weil sie ihnen helfen möchte ihre eigene Erfahrung zu machen. Allmählich scheint dies auch den anderen zu dämmern und eine betretende Stille breitet sich aus. Julia holt tief Luft und sagt: „Ich mach´s, ich werde ihr in die Augen zu schauen!" Sie versucht sich tapfer zu halten, doch innerlich zittert sie vor Angst. Sie bemerkt, wie alle Blicke auf sie gerichtet sind. Sie weiß nicht, wie viel ihre Mitschüler von ihrer panischen Angst vor Frau Zhimt wissen, aber es scheint genug zu sein, um sie bewundernd anzuschauen.
„Ich mach es auch!“ Staunend schaut Julia Tobi an. Tobi ist der Klassenclown und gleichzeitig Liebling aller Mädchen, mit seinen großen, braunen Augen und seinem charmanten Lächeln, das alle dahin schmelzen lässt, außer Frau Zhimt natürlich. Aber Julia bezweifelt, dass Alana dieses Lächeln dahin schmelzen lassen würde, nun, das wird sie schon noch herausfinden. Alana nickt ihm anerkennend zu.
„Ihr solltet es alle versuchen. Ich verspreche euch, dass ihr etwas Überraschendes entdecken werdet!“, meint Alana.
Und da bemerkt Julia, wie etwas in ihren Mitschülern vorgeht: Wer es nicht tun würde, würde als Feigling dastehen, nicht vor Alana, wohl aber vor dem Rest der Klasse.
Viel zu schnell geht die Pause vorbei und die nächste Stunde fängt an: Mathe bei Frau Zhimt. Zögernd betritt ein Schüler nach dem anderen die Klasse. Julia ist ziemlich schlecht in Mathe, aber wahrscheinlich liegt das nur an ihrer Angst vor Frau Zhimt. Und natürlich wird Julia gleich als erste aufgerufen, um die Hausaufgaben an der Tafel vorzurechnen. Frau Zhimt wurde von Alana gedemütigt und das muss sie jetzt an einem anderen, schwächeren auslassen und wer würde sich da besser eignen als Julia?
Alana lächelt sie aufmunternd an, während Julia sich langsam erhebt und den Gang entlang nach vorne zur Tafel geht. Sie hat noch nie bemerkt, wie kurz der Weg ist und viel zu schnell kommt sie vorne an. Ihre Knie sind so schwach, dass sie Angst hat, jeden Augenblick hinzufallen. Tapfer nimmt sie die Kreide in die Hand. Bestimmt würde sie alles nur verschmieren, so schwitzig sind ihre Hände. Bevor sie die Kreide auch nur ansetzen kann, bemerkt sie Frau Zhimt neben sich. Julia zuckt zusammen. Wieso hat sie nicht gemerkt, dass Frau Zhimt aufgestanden ist? Sie bemerkt, wie Frau Zhimt den Mund bewegt, wohl, um ihr etwas zu sagen, aber Julia hört sie nicht, sie hört gar nichts mehr, außer diesen verflucht lauten Alarmglocken, die in ihrem Kopf zu schrillen beginnen. Sie wird zum Gespött der Klasse, alle werden sie auslachen und einen Feigling nennen. Den Blicken der ganzen Klasse auf sich bewusst, schaut sie auf Frau Zhimts Mund und lässt ihren Blick langsam höher wandern, über die spitze Nase… ist das da Rouge auf ihren Wangen oder sind sie vor lauter Zorn so rot? Nicht ablenken lassen, schau in ihre Augen, SCHAU IN IHRE AUGEN! Doch im letzten Moment schaut Julia weg. Sie schafft es nicht, sie ist ein Feigling. Irgendwo hatte sie mal gehört, dass schwarze Augen Seelen aufsaugen! Wird sie ihre Seele verlieren, wenn sie Frau Zhimt in die Augen schaut? Panisch schwirren ihre Augen umher, nur nicht zu Frau Zhimt. REISS DICH ZUSAMMEN! Diesmal versucht sie es von Frau Zhimts schwarzen Haaransatz ab abwärts, über die hohe Stirn, die schnurgeraden Augenbrauen, den Wimpern und wieder schaut sie im letzten Moment weg. Sie kann sich nicht mehr in der Klasse blicken lassen, nie wieder!
Doch da macht etwas klick in Julia: Plötzlich ist sie allein mit Frau Zhimt, es geht hier nur um sie und Frau Zhimt, ging es die ganze Zeit schon. Auch was die Klasse denkt ist egal, das ist eine Sache, in der es nur um sie geht. Sie muss endlich etwas gegen ihre Angst unternehmen, sonst wird diese sie ihr ganzes Leben lang verfolgen! Und plötzlich ist alle ganz einfach: Julia richtet sich auf und schaut Frau Zhimt direkt in die Augen. Ihre Seele wird nicht aufgesaugt und keine Blitze schießen aus Frau Zhimts Augen. Ihre Augen haben einen warmen, dunklen Braun Ton. Warm? Julia schaut noch einmal genauer hin und da merkt sie etwas, was sie vor lauter Angst ganz vergessen hat: Frau Zhimt ist ein Mensch wie sie, mit Stärken und Schwächen und sogar mit Güte und Liebe. Und da muss sie an Alanas Satz denken: „Ihr solltet es alle versuchen. Ich verspreche euch, dass ihr etwas Überraschendes entdecken werdet!“, wie Recht sie damit hatte! Wie konnte sie jemals Angst vor der Frau haben, die ihre Probleme an Schülern raus lässt? Plötzlich muss Julia gegen den Drang ankämpfen hysterisch aufzulachen: Sechs lange Jahre lang hat Julia sich von dieser Frau tyrannisieren lassen, von einer Frau, die eigentlich gar nichts gegen sie hat, wäre da nicht die Tatsache, dass sie etwas kann, was Frau Zhimt vor langer Zeit verloren hat. Julia erkennt es plötzlich ganz deutlich: Frau Zhimt hat die Fähigkeit zu träumen verloren und meint nun, es jedem nehmen zu müssen, der das Glück hat, es zu können!
Und endlich hört sie auch Frau Zhimts Stimme wieder: „… taub oder was? Ich bringe dich zum Direktor!“
Eine Drohung, mit der sie Julia vielleicht früher einmal hatte Angst einjagen können, aber jetzt nicht mehr. Lächelnd dreht sie sich zur Klasse um, doch da wird sie schon auch von Frau Zhimt hinaus gezerrt.
Julia weiß in diesem Moment, dass das der beste Augenblick ihres Lebens ist und, dass sie eine neue, faszinierende Freundin gefunden hat: Alana.


Julia steht mit ihrer besten Freundin Alana auf dem Pausenhof und redet mit ihr über den letzten Tag, das heißt, eigentlich redet nur Julia und Alana hört wie immer geduldig zu. Plötzlich wird Alana unaufmerksam und Julia kennt sie inzwischen gut genug um zu wissen, dass irgendetwas sehr schlimmes oder wichtiges passiert und schaut in dieselbe Richtung wie Alana, sieht jedoch nur, wie ein paar Jungs wieder die fette Emma ärgern.
„Was ist denn los?“, fragt Julia Alana.
Alana schaut sie sonderbar an: „Siehst du nicht, wie die Jungs da drüben die arme Emma ärgern?“
„Aber das ist doch nur die fette Emma, die wird immer geärgert. Schau doch mal alleine wie sie aussieht: richtig schwammig. Hey, wo gehst du denn hin?“
Doch Alana ignoriert Julia einfach. Julia wusste bis jetzt nicht, dass Alana überhaupt in der Lage ist jemanden zu ignorieren. Tolle Freundin, lässt mich hier einfach stehen. Julia ist sauer. Wutentbrannt dreht sie sich um und rennt weg. Diese blöde Alana. Von wegen besonderes Mädchen! Sie schnaubt: gut, sie kennt Alana erst seit gestern, aber sie hat sich mit ihr befreundet, mit ihr der Träumerin, die keine Freunde hat! Und jetzt geht sie einfach ohne eine Begründung! Julia nimmt sich vor, Alana nachher mächtig die Meinung zu sagen!

Alana bemerkt Julias verschwinden, geht aber trotzdem weiter auf Emma zu oder besser gesagt auf die Gruppe Jungs, die sie ärgern. Und wer führt die Gruppe an? Tobi, wie kann es anders sein?
Emma ist ziemlich klein und gut gebaut, aber sie hat wunderschöne orangerote Haare, die sogar noch länger sind als Alanas! Gequält versucht sie ihr Brot zu greifen, das Tobi in die Luft hält: „Fang es doch. Fang es doch!“
Alana geht an Tobi vorbei, schnappt sich das Brot und reicht es Emma: „Komm wir gehen.“ Alana legt Emma einen Arm um die Schulter und führt sie weg, während sie hinter sich die verzweifelten Schreie von Tobi hört: „Aber ich wollte ihr nur helfen! Damit sie sich bewegt und abnehmen kann, das war doch keine Absicht!“
Alana dreht sich kurz zu ihm um: „Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen!“
Nach der Schule begleitet Alana Emma nach Hause und nimmt Julia so die Chance, sie mächtig auszuschimpfen.
„Warum tust du das? Warum willst du mich nach Hause bringen? Sie mich doch an! Ich bin nur die fette Emma und du… du bist die geniale, fabelhafte und bezaubernde Alana. Alle bewundern dich, aber werden sie dich auch noch bewundern, wenn du etwas mit mir machst?“, fragt Emma Alana schon fast verzweifelt und fährt schnell fort: „Aber du musst nichts mit mir machen, weißt du? Ich komme sehr gut alleine zu Recht… Mich stört es nicht, wenn ich geärgert werde, ich bin das schon gewohnt. Und außerdem bin ich sowieso ein Nichts, ein Niemand.“ Alana hört schweigend zu, ohne sie zu unterbrechen. „Das war ich mein ganzes Leben schon! Könnte ich mich unsichtbar machen, würdest du mich gar nicht sehen, ach, es sieht mich ja auch so schon fast keiner! Und Freunde brauch ich nicht, ich wäre nur eine Last! Ich bin für nichts zu gebrauchen! Schluchzend sinkt Emma auf den Boden. Alana setzt sich neben sie in die Wiese und nimmt sie in den Arm. Jetzt kann Emma sich nicht mehr halten: sie weint los, wie sie schon lange nicht mehr geweint hat! Alana sagt immer noch nichts, sie ist da und beruhigt Emma.
Diese schluchzt weiter: „Sogar eine Heulsuse bin ich, eine jämmerlich Heulsuse!“ Und plötzlich sprudelt alles aus hier heraus, alles, was sie noch niemand erzählt hat. Etwas, worüber sie mit noch keinem reden konnte: Sie erzählt ihre ganze Geschichte von Anfang an: wie sie im Waisenhaus aufgewachsen ist, ohne Liebe zu erfahren. Dreizehn Jahre verbrachte sie dort bevor sie in eine Pflegefamilie kam. Diese hatten die höchsten Erwartungen an ihr Pflegekind, steckten sie in eine Schauspielschule und ließen sie nebenbei als Model arbeiten. Damals war sie nämlich noch gar nicht dick! Sie war schlank, hatte ein bezauberndes Lächeln und ihre grünen Augen blitzten stets schelmisch unter dem orangeroten Pony hervor, jedenfalls anfänglich. Sie durfte nicht einfach das tun, worauf sie Lust hatte. Sie wollte mit anderen Kindern in ihrem Viertel spielen, im Wald toben, schwimmen gehen und wandern. Stattdessen musste sie den ganzen Tag brav lächeln, durfte nie übermütig werden, musste stets darauf achten, dass ihre Kleidung sitzt und diese ekelhafte Schminke tragen, die furchtbar juckt!
Anfangs machte sie alles mit- schließlich musste sie ihrer Pflegefamilie dankbar sein: sie hat sie immerhin von diesem schrecklichen Heim erlöst! Doch es war zu viel für sie: öfters am Tag kippte sie einfach mal um und konnte nachts kein Auge mehr zu tun. Ihre Pflegeeltern schienen es nicht zu merken und Emma sah nur einen Ausweg: hässlich werden. Sie nahm zu, bekam Pickel und wurde deshalb von ihren Pflegeeltern verachtet. Ein gutmütiges Ehepaar nahm sich Emmas an und seitdem wohnt sie hier.
Als sie neu in die Klasse kam, hatte sie nicht einmal die Chance Freundschaften zu schließen, denn sie wurde gleich ausgeschlossen. Julia, die bisher die Außenseiterin war, war dann nicht mehr ganz so schlimm dran und um nicht mehr zurückzufallen, verspottete sie Emma genauso wie die anderen!
Schweigend wartet Emma darauf, was Alana antworten würde. Wahrscheinlich würde sie das sagen, was bisher alle gesagt haben, die ihre Geschichte gehört haben- nicht, dass das viele waren! Im Grunde genommen waren das nur ihre neuen Pflegeeltern und diese hatten sie bemitleidet und immer wieder betont, dass sie es von jetzt an besser haben würde und wurde nur noch verwöhnt! Einerseits tat es Emma gut, aber andererseits kam sie sich damit wie ein kleines Kind vor, das nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Kann sie es denn?
Verwundert schaut Emma die noch immer schweigende Alana an: „Du sagst ja gar nichts.“
„Soll ich denn was sagen?“
„Ähm, ja oder ne doch nicht. Ach, keine Ahnung. Ich hatte erwartet, dass du mich trösten willst oder so. Oder mich darin bestätigen, was für eine schlimme Kindheit ich hatte und wie arm ich dran bin.“, verlegen schaut Emma weg: „Tut mir Leid… manchmal denk ich nicht drüber nach, was ich sag und dann kommt so ein Mist dabei heraus!“, fast flüsternd fährt sie fort, „Ich wollte dich nicht beschuldigen!“
„Willst du denn, dass ich dich bemitleide?“, fragt Alana und schaut Emma dabei sonderbar an.
„Mmmh, nein eigentlich nicht. Ich war nur verwundert… du bist nicht gerade eine, die viel redet oder?“
„Wenn jemand Worte braucht, dann rede ich, aber du brauchst keine Worte, die hattest du schon genug!“
Emma schaut sie erstaunt an: „Woher weißt du das? Ich meine, woran bemerkst du es, ob eine Person Worte braucht oder nicht?“
Alana schmunzelt: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht, ich weiß es einfach! Aber ich werde mal darüber nachdenken.“
„Danke.“, sagt Emma jetzt schon sicherer.
Lächelnd steht Alana auf und zieht Emma mit hoch: „Komm ich zeige dir was!“
Sie führt Emma aus der Stadt zu dem nahe gelegenen Wald. Alana führt sie immer tiefer in den Wald, weg von allen Wegen. Schließlich weiß nicht einmal mehr Emma, wo sie sind und dass, obwohl sie den Wald die letzten Jahre ausgiebig erforscht hat! Sie kommen an einen kleinen Weiher. Emma wusste gar nicht, dass es hier überhaupt Gewässer gibt! Eine große Trauerweide steht am Wasser. Alana zieht Emma unter den hängenden Zweigen hindurch unter das schützende Blätterdach.
Emma staunt: „Es ist wunderschön hier!“
Alana strahlt sie an: „Ich liebe diesen Ort hier! Von diesem Ort weiß keiner außer uns zweien, hoffentlich bleibt das auch so!“
Lachend zieht Alana sich aus und stürmt in den Weiher: „Nun komm schon! Es ist herrlich kühl hier drinnen!“
Beschämt schaut Emma weg: „Du hast ja gar nichts an.“
Plätschernd taucht Alana ins Wasser, kommt prustend wieder hoch und spritzt Emma einfach nass! Emma schreit erschrocken: „Hey was soll das!“
Sie schaut an sich herunter und sieht, wie ihr weißes Oberteil durchsichtig geworden ist. Na toll, dann kann sie sich ja genauso gut ausziehen. Langsam schlüpft sie aus ihren Klamotten, wobei sie sorgfältig darauf achtet, mit dem Rücken zu Alana zu stehen!
„Dreh dich um Alana, sonst komme ich nicht zu dir ins Wasser!“, droht Emma.
Kichernd dreht Alana sich um. Doch kaum ist Emma im Wasser schaut sie sie schelmisch an und spritzt sie nass. Empört holt Emma Luft und zahlt es Alana heim. Wie zwei Kinder toben sie da, während Emma immer mehr und mehr ihre Hemmung verliert. Völlig außer Atem steigen sie schließlich aus dem Wasser und lassen sich von der Sonne wärmen und trocknen. Irgendwie findet Emma es gar nicht schlimm nackt neben Alana zu liegen. Alana sieht in jedem Menschen etwas Schönes und das zeigt sie allen. Emma lacht. Vor ein paar Stunden hatte sie noch Angst gehabt, sie könne das Lachen verlernt haben, aber das ist wohl unmöglich! Und in diesem Moment reift in Emma ein Wunsch: Der Wunsch, sich wieder wohlfühlen zu können in ihrem Körper und sich nicht mehr zu verstecken, sondern aller Welt zeigen wer sie ist: Emma!
Alana dreht ihren Kopf zu Emma und grinst sie an: „Du siehst wunderschön aus und das sag ich nicht nur so! Sicher wirst du morgen in der Schule sehen, dass alle das bemerken werden!“
Erst will Emma widersprechen, doch dann merkt sie, dass das völlig unangebracht ist! Alana hat Recht! Sie merkt, dass in ihrem Inneren eine enorme Veränderung vorgegangen ist und wenn Alana sagt, dass man sie sieht, dann ist das auch so!
Alana seufzt: „Ich liebe diesen Ort! Als ich ihn das erste Mal entdeckt habe, habe ich ein Gedicht über ihn geschrieben. Willst du es hören?“
Sie sieht Emma emsig nicken und zitiert:
„Plätschernd wiegen Wellen
An den Meeresstrand.
Tanzen sie im Hellen,
Wie von Geisterhand!

Die kräftige Weide
Hebt sich empor:
Sanft wie Geschmeide,
Ein raschelnder Chor.

Die Sonne lässt tanzen
Die Schatten darin.
Komm zum Verschanzen
Gerne hierhin!

Weiches Moos bedeckt
Den Boden so fein:
In Grüntönen gescheckt,
Lädt es zum Schlafen ein.

Nebelschwaden steigen
Zum Himmel hinauf,
Tanzen lustige Reigen,
Bewahren Geheimnisse auf!

Deine Träume sind es-
Schlummernd und sacht-
Verfolgen sie indes,
An was du hast gedacht!“
Wie zum Applaus fangen auf einmal Vögel an zu Zwitschern. Emma kichert: „Der Weiher ist doch kein Meer!“
„Oh doch, hörst du nicht die Wellen rauschen? Schau: nur Wasser bis zum Horizont!“, erwidert Alana voller Ernst.
Emma knufft sie: „Du spinnst doch!“
Alana springt auf und rennt weg: „Nein, ich habe nur eine Fähigkeit, die leider viele verlieren! Ich habe Fantasie!“, ruft sie lachend.
„Hey warte!“, kreischt Emma und rennt Alana hinterher. Doch etwas geht ihr nicht aus den Kopf: Alana kommt hier her um sich zu verschanzen? Vor wem? Emma kann sich einfach nicht vorstellen, dass so ein nettes Mädchen wie Alana es ist, sich vor irgendwem verschanzen muss! Aber die Frage kann warten beschließt Emma: heute will sie keine traurigen Geschichten mehr hören!

Alana hat Recht gehabt: Als Emma am nächsten Tag in die Schule kommt, starren sie alle ungläubig an. Emma hatte am Abend zuvor schon herausgefunden, warum sie wieder hübsch ist: ihre funkelnden Augen sind wieder zurückgekehrt und sie wirkt irgendwie größer als zuvor!
Emma geht es jeden Tag besser. Ihre Freundschaft zu Alana hilft ihr sehr dabei! Alana hat ihr gesagt, dass sie so oft zu dem Weiher im Wald gehen darf, wie sie will, aber ohne Alana war sie bisher noch nie dort. Sie haben dem Ort auch einen Namen gegeben: „Lebenselixier“. Klingt zwar nicht so nach einem Namen für einen Ort, aber irgendwie ist er doch recht passend, hat er Emma doch geholfen ihre Lebensgeister wieder zu erwecken! Und Alana natürlich!
Emma beschließt nun endlich mit Bauchtanzen anzufangen. Das wollte sie schon seit längerem, hatte sich aber wegen ihres Körpers geschämt und sich deshalb nicht getraut einen Unterricht zu besuchen. Jetzt ist sie aber bereit dafür! Sie gewinnt auch neue Freunde und wird nicht mehr geärgert. Kurz um: Emma führt nun endlich ein rundum glückliches und erfülltes Leben!
Nicht jedoch Julia, die sich von Alana betrogen fühlt und richtig wütend auf diese ist!

Julia lehnt sich an die kalte Backsteinmauer und beobachtet Alana, wie sie fröhlich mit Emma redet und den ganzen anderen um ihr herum. Ihr scheint das völlig egal zu sein, was aus Julia wird. Wieso wird sie wie eine Heilige behandelt? Nur weil Emma auf einmal etwas hat, was sie beliebt macht? Warum hat sie nicht dieses Etwas? Sie ist schließlich etwas Besonderes! Sie kann träumen! Alana hat gesagt, dass das eine wunderschöne Fähigkeit ist! Kann Emma das etwa? Kann sie träumen? Bestimmt nicht! Und schreiben kann sie bestimmt lange nicht so gut wie sie, Julia!
Oh, Fräulein Alana scheint sie doch endlich zu bemerken, jedenfalls lächelt sie Julia an und fordert sie winkend auf, sich doch zu ihnen zu gesellen. Das kann sie vergessen! So leicht kommt sie nicht davon! Julia ignoriert das Winken und geht, halb erwartend, dass Alana hinter ihr hergelaufen kommt, doch das tut sie nicht! Natürlich nicht, sie hat ja jetzt ihre besondere Emma. Julia ist schlecht vor lauter Wut und Enttäuschung. Schließlich rennt sie ins Schulbüro und gibt blass und murmelnd die Entschuldigung ab, dass es ihr nicht gut ginge und schleicht sich dann nach Hause. Ja, sie schleicht wirklich, sie will nicht, dass irgendjemand ihr Verschwinden merkt!
Zuhause angekommen verkriecht sie sich sofort ins Bett und ignoriert die besorgten Rufe ihrer Mutter, was jedoch nicht lange gut geht, denn diese steht schon mitten in ihrem Zimmer.
„Lass mich einfach in Ruhe! Ich will jetzt alleine sein! Hau sofort ab!“, Julia wird immer lauter und schließlich schreit sie, weil ihre Mutter alle Einwände einfach ignoriert und immer näher kommt. Doch dann hält diese erschrocken inne: sie hat ihre kleine verträumte Tochter noch nie so schreien gehört! Zögernd verlässt sie das Zimmer.
Julia verkriecht sich sofort unter ihrer Decke und versucht in ihre „Traumwelt“ einzutauchen, da ist jedenfalls alles besser als hier! Dass ihr das heute so schwer fällt, macht sie nur noch wütender! Sie schreit in ihr Kissen, atmet tief durch und endlich gelingt es ihr abzutauchen, in ihre eigene Welt, wo niemand ihr hin folgen kann:

Sie wird federleicht und fliegt aus dem Fenster hinaus in ihr Land, das sie geschaffen hat: weit erstreckt es sich unter ihr hin; sie fliegt über die zart weiß blühenden Kirschbäume, der Wind zerzaust ihr Haar und umweht sie sanft mit Blütenblättern. Eigentlich landet sie immer an dem tosenden Wasserfall und lässt erst mal alles von sich abspülen: ihre Sorgen, ihr Ängste, ihren Ärger, einfach alles, was sie in ihrem Land nicht haben will, aber heute ignoriert sie den Wasserfall, ebenso die Vögel, die sie begleiten, den orangerotem Mondaufgang, die hügelige schneebedeckte Landschaft unter ihr und alle Freunde, die ihr da unten winken. Sie braucht jetzt einen Ort, an dem sie völlig allein sein kann und so einen hat sie hier noch nicht, hatte sie nie gewollt! Sie stellt sich den Ort vor, da taucht auch schon ein großer Berg mit einer riesigen Höhle vor ihr auf. Sie landet und spürt den scharfen Felsen unter ihren Fußsohlen. Zögernd betritt sie die Höhle. Sie hatte noch nie Angst in ihrem Land gehabt, aber jetzt überfällt sie ein leichtes Unbehagen, das tief aus ihrem Inneren kommt und sie erschauern lässt. Plötzlich weiß sie nicht einmal mehr, warum sie überhaupt in diese Höhle will, doch irgendetwas zwingt sie voran zu gehen, einen Fuß nach dem anderen zu setzen… tip, tap, tip, tap… ihre Schritte schneiden scharf in die Stille… tip, tap… beherrschen ihre Gedanken… tip, tap… sie bewegt sich weiter, immer weiter in die Dunkelheit hinein, bis sie nichts mehr sieht und nichts mehr hört! Erschrocken versucht sie stehen zu bleiben, aber ihre Füße gehen weiter, immer weiter und sie hört ihre Schritte nicht mehr. Sie bekommt Panik und will raus aus ihrer Welt, zum ersten Mal ganz freiwillig. Alles um sie herum ganz still, ihre Gedanken im Kopf rasen: Wieso kann sie nichts mehr selber bestimmen? Irgendeine fremde Kraft steuert sie, aber wie ist das möglich? Das ist doch ihre Welt, ihre eigene, zu der kein anderer Zutritt hat, hier sollte sie bestimmten dürfen! Sie versucht in ihrem Kopf das Bild der blühenden Kirschbäume herauf zu beschwören, klammert sich daran fest wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring, doch sie bleibt, wo sie ist, geht weiter, immer weiter ohne zu hören, ohne zu sehen… Vielleicht hört sie ja jemand, wenn sie schreit und holt sie dann aus ihrer Traumwelt heraus! Sie öffnet den Mund, aber kein Ton kommt über ihre Lippen und obwohl sie nichts hören kann, ist sie sich ganz sicher, dass sie auch nicht mehr sprechen kann! Was kann sie überhaupt noch außer gehen? Und das tut sie ja nicht einmal selber! Sie achtet auf all ihre Sinne: spüren, kann sie noch spüren? Sie sendet ihren Willen zu ihren Fußsohlen, die am Anfang noch den scharfen Felsen gespürt haben, aber sie spürt nichts mehr! Doch, eine Sache spürt sie noch: wie sie geht, immer weiter geht, ohne anzuhalten!
Plötzlich kommt sie an einen rot pulsierenden Stein, seine Schönheit jedoch ist getrübt und dunkle Schatten breiten sich aus und versuchen ihn ganz einzunehmen! Sie bleibt stehen und starrt wie gebannt auf den Stein vor ihr! Und plötzlich weiß sie, wo sie ist, sie weiß es ganz genau und eine tiefe Traurigkeit überfällt sie. Sie ist nicht weit weg in „ihrer Welt“, sie ist ganz tief in ihr selber, ebenso wie „ihre Welt“ hier ist und doch wieder nicht. Ein stechender Schmerz durchzuckt sie. Sie schaut an sich hinab, sieht jedoch nichts. Sie schaut noch einmal zu dem Stein, aber sie sieht ihn nach wie vor klar vor sich. Doch dann merkt sie, dass sie anders sieht als sonst, es ist eher ein Wahrnehmen. Und da weiß sie plötzlich, warum sie vorhin nichts mehr sehen und hören konnte oder besser gesagt, immer noch nicht kann: sie ist hier körperlos. Aber das bedeutet doch, dass der Schmerz nicht von ihr kommen konnte! Langsam nähert sie sich dem Stein und berührt ihn vorsichtig… diesmal ist der Schmerz so heftig, dass es sie weit vom Stein wegschleudert!
„Julia“ Ein Wispern weht durch die Höhle… „Julia“ wird immer lauter. Sie kann wieder hören! Sie klammert sich an die Stimme, sie will weg von diesem Ort! „Julia“ Ihr Körper nimmt wieder Gestalt an und plötzlich wird sie mit einem Zischen von dem roten Stein weggerissen, immer weiter fort bis sie ihn nicht mehr sieht. Es geht immer schneller, immer schneller weiter…

„Julia, wach auf!“ Julia schlägt benommen die Augen auf und spürt, wie ihr haltlos Tränen entfließen. Etwas orientierungslos schaut sie sich um und sieht auf einmal Alana neben sich sitzen. Alana ist hier? Und sieht, wie sie weint? Sie sieht wie schwach sie gerade ist und hat ernsthaft die Frechheit sie nach allem was sie ihr angetan hat, auch noch anzulächeln? Das ist zu viel für Julia.
„Hau ab!“, zischt Julia Alana böse an.
Alana schaut sie verwundert an: „Was ist denn los mit dir?“
„Was mit mir los ist?“, Julia bricht in ein hysterisches Lachen aus, „Du fragst ernsthaft, was mit mir los ist? Du bist hier diejenige, die einfach zu doof ist um zu verstehen, dass sie ihre beste Freundin aufs tiefste verletzt hat!“
„Du warst in deiner Traumwelt, nicht wahr? Was hast du dort gesehen? Vielleicht kann ich dir ja helfen!“, meint Alana besorgt, als hätte sie Julia gar nicht zugehört.
„Lenk nicht ab!“, herrscht Julia Alana an. „Und hör auf dem deinem blöden ich-will-dir-doch-nur-helfen-du-tust-mir-leid-Blick, der zieht bei mir nicht!“
Eine Gewitterwolke scheint über Alanas Gesicht zu ziehen: „Du bist so egoistisch, weißt du das? Was ist dein Problem? Ist es etwa wegen Emma? Ich mag dich, aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich nicht auch andere Freunde haben kann! Du bist wie eine Klette! Ich kann gar nicht…“
„Wie eine Klette?“, fährt Julia scharf dazwischen, „oh, dir werde ich dein überhabendes Getue schon noch austreiben! Und hab ich jemals gesagt, dass du keine andere Freundin haben darfst? Natürlich darfst du das, aber du brauchst mich doch deswegen nicht gleich ignorieren!“
„Aber dir ging es doch gut! Emma war diejenige, die Hilfe brauchte!“, verteidigt sich Alana.
„Ich weiß ja nicht, wo du herkommst- und glaub mir, das will ich auch gar nicht wissen- aber bei uns lässt man eine Freundin nicht hängen, um einer anderen zu helfen! Das kann man ja auch gemeinsam tun, ich hätte dir helfen können mit Emma!“
Alana verzieht das Gesicht und sagt bitter: „So wie du sie beleidigt hast, hättest du mir bestimmt nicht geholfen!“
Sie streiten immer weiter und schreien sich schließlich so laut an, dass sie sich nicht einmal mehr verstehen. Es grenzt an ein Wunder, dass Julias Mutter nicht besorgt angerannt kommt! Julia weint vor lauter Wut und Traurigkeit und Alana hat einen ganz roten Kopf bekommen und spielt hektisch an ihrer Jacke herum. Doch schließlich ist bei beiden die Puste draußen.
Erschöpft stupst Julia Alana an: „Ich hätte nie gedacht, dass eine so sanftmütige Person, wie du sie bist, so streiten kann!“
Alana lächelt schwach und hätte beinahe geantwortet, dass Julia das gebraucht und sie nur deshalb mit ihr gestritten hätte, aber sie beißt sich im letzten Moment auf die Zunge: sie sieht sehr wohl, dass diese Antwort jetzt mehr als unpassend wäre!
Also sagt sie einfach nur: „Ich war halt wütend auch dich!“
„Und ich auf dich!“, lachend nimmt Julia Alana in den Arm, „Aber mal ernsthaft! Was Freundschaften angeht musst du noch viel lernen!“
„Genauso wie du!“, lacht Alana. Dann wird sie ernst: „Und jetzt erzähl mir bitte, was in deiner Traumwelt vorgefallen ist! In einer… in seiner Traumwelt sollte man doch glücklich sein und nicht angstvoll und traurig!“
Julia senkt den Blick und nestelt nervös an ihrer Bettdecke herum: „Ach, so schlimm war’s gar nicht! Ist schon on Ordnung, du brauchst dir keine Sorgen um mich machen!“
Alana schaut sie stirnrunzelnd an: „Gut, komm, wir gehen raus!“
Julia schaut Alana nur verdattert an, auf einen so plötzlichen Themawechsel war sie nicht gefasst!
„Ähm, und wo genau gehen wir hin?“
Alana schmunzelt: „Zum „Lebenselixier“!“
Lachend springt Alana auf und zieht Julia mit. Ein paar Minuten später stehen sie an dem Ort, von dem bisher außer Alana nur Emma weiß. Julia kommt aus dem Staunen nicht mehr raus! So ein schöner Ort und sie darf hier sein! Das weiche Moos sieht so einladend aus, sie kann nicht anders und legt sich hin. Sofort ist Julia in ihrer Welt:

Sie befindet sich wieder vor dem Stein, körperlos, wie beim ersten Mal. Diesmal spürt sie Wärme vom Stein ausgehen. Von der Wärme angezogen gleitet sie näher heran. Der Stein leuchtet viel heller, die schwarzen Schatten jedoch sind immer noch da. Zeit ist hier so bedeutungslos und gleichzeitig wichtig! Julia spürt, dass, wenn die Schatten den Stein ganz einnehmen, dieser kaputt geht. Irgendetwas tief in ihrem Inneren ist dabei zerstört zu werden! Diesmal spürt sie keinen Schmerz sondern tiefe Trauer. Sie kommt vom Stein, diese Trauer kommt vom Stein! Der Stein wird immer kälter und schwerer, diese Schwere drückt sie auf den Boden, die Trauer erdrückt sie. Ihr fällt das Atmen so schwer! Was ist hier los? Irgendetwas zieht sie an den Stein heran, immer näher. Immer größer wird der Druck, immer unerträglicher! Sie darf den Stein nicht berühren! Auf gar keinen Fall! Das wird sie umbringen!
„Julia“ da ist es wieder dieses Wispern. „Julia“ erleichtert beobachtet sie, wie ihr Körper wieder Gestalt annimmt. Diesmal ist sie auf das Wegzerren vorbereitet und es ist nicht so schlimm wie beim ersten Mal.

„Julia, Gott sei Dank!“, hört Julia Alanas erleichterte Stimme.
Julia spürt, wie Alana sie in den Arm genommen hat und sie hin und her schaukelt, wie ein kleines Kind. Sie zittert am ganzen Körper und ihre Wangen sind ganz nass von ihren Tränen, die ihr wieder haltlos entfließen.
„Julia, du musst mir erzählen, was da los ist! Hast du überhaupt eine Ahnung wie gefährlich das sein kann?“
Verwirrt schaut Julia sie an: „Was weißt du schon? Du warst nicht dort! Vielleicht weine ich ja Freudetränen!“, doch sie weiß genau, dass man ihr ansieht wie betroffen und ängstlich sie ist.
„Julia, wir sind Freundinnen! Du kannst es mir erzählen, du kannst mir alles erzählen! Komm schon, vertrau mir.“
Fast schon hätte Julia nachgegeben. Dieses sanfte Lächeln, die geborgene Umarmung, dieser ruhiger Ort, das alles tut ihr so gut, aber sie fühlt sich so verwundbar! Wenn sie Alana davon erzählt, ist sie noch viel leichter verwundbar! Außerdem hat sie Angst davor zu erfahren, was sie gesehen hat! Sie muss nachdenken, sie braucht Zeit für sich. Gleichzeitig graut es ihr davor, alleine zu sein!
Sie schiebt Alana sanft von sich: „Ich muss nachdenken!“

Alana beobachtet Julia, wie diese sich auszieht und in den Weiher steigt. Anscheinend scheint sie das Schwimmen zu beruhigen. Alana lässt Julia keine Sekunde aus den Augen. Sie hat Angst um ihre Freundin! Wenn sie wieder träumt, muss sie sofort bei ihr sein, wer weiß, was sonst noch geschieht! Sie kann sich schon denken, was Julia gesehen hat. Um ihr helfen zu können, muss sie selber erst mal zur Ruhe kommen! Sie achtet auf ihren Atem und merkt, dass er viel zu hektisch ist. Sie beruhigt ihn ohne den Blick von Julia zu wenden. Mit jedem Atemzug lässt sie ihre Gedanken fallen. Ihr Kopf wird allmählich leer und ihr Körper ist entspannt. Sie ist bereit Julia zu helfen, doch ist sie es?
Sie spürt die warme Sonne auf dem Gesicht und gönnt sich diesem Moment der Ruhe: ohne Sorgen, ohne Ängste. Sie ist einfach nur, lässt sich treiben von ein paar einzelnen Gedanken und Gefühlen. Ein lautes Plätschern reißt sie aus diesen Zustand und sie sieht wie Julia auf sie zukommt: entschlossen. Rasch zieht Julia sich wieder an. Alana atmet tief durch und lächelt Julia warm an.

Julia fühlt sich unbehaglich, aber sie weiß, dass Alana ihr helfen kann. Sie lässt sich neben Alana ins weiche Moos fallen und erzählt ihre leise von dem roten Stein. Alana hört aufmerksam zu, aber ihr Gesichtsausdruck wird immer besorgter. Schließlich ist Julia fertig. Eine lange Stille folgt, es ist als hätte die Welt den Atem angehalten. Kein einziges Knacken im Wald, kein Vogelgesang, kein Plätschern, kein Rascheln, kein Rauschen; richtig unheimlich. Endlich stößt Alana die Luft aus und wie auf Kommando beginnt auch die restliche Welt wieder sich zu regen. Alana kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe und wiegt sich dabei, auf den Fersen sitzend, vor und zurück.
Schließlich scheint Alana zu einem Ergebnis gekommen zu sein: „Du willst wissen, was du gesehen hast. Ich werde versuchen, es dir so gut wie möglich zu erklären: Wie du schon richtig bemerkt hast, geht es um etwas ganz tief in deinem Inneren! Es gibt verschiedene Meinungen dazu, was es wirklich ist, es gibt da immer wieder Diskussionen darüber, aber in einem sind sich alle einig: es macht dein Sein aus, es macht DICH aus! Ob es jetzt dein Herz ist oder deine Seele, ist jetzt relativ unwichtig, es geht darum es zu heilen! Dein roter Stein hat nicht seine volle Leuchtkraft und wird von Schatten durchzogen, das heißt irgendetwas zerstört dein Leben!“
Julia hat bis jetzt aufmerksam zugehört, doch jetzt kann sie sich nicht mehr zurückhalten: „Was meinst du mit „Etwas“? Woher weißt du das alles? Was passiert, wenn ich den Stein… mich… nicht heilen kann? Wie kann ich ihn heilen? Wie finde ich heraus was…“
„Halt warte mal!“, unterbricht sie Alana, „Ich beantworte dir all deine Fragen, soweit ich kann jedenfalls, aber nacheinander! Also zuerst: Mit „Etwas“ kann vieles gemeint sein: eine Krankheit, Kummer, Unzufriedenheit, Müdigkeit, keine Lebensfreude, Eifersucht und so weiter. Ich könnte dir beibringen die Schatten oder die Trübheit auf Merkmale hin zu identifizieren, sodass du dich selber heilen kannst.
Das Ganze weiß ich von meinen Lehrern. Nicht die von unserer Schule… andere. Naja, das ist eigentlich nicht so wichtig solange ich dir helfen kann, stimmt’s?
Du kannst den Stein heilen, also brauch ich dir nicht zu sagen, was passiert, wenn du dich nicht heilen kannst… du würdest dir nur unnötig Sorgen machen und das Wie wirst du jetzt lernen! Wenn du bereit bist dafür“, fährt Alana mit einem zögerlichen Seitenblick auf Julia fort, „Bist du bereit dafür?“
Julia hat tausende Fragen auf der Zunge, aber irgendetwas an Alana weist darauf hin, dass Julia es so schnell wie möglich lernen muss! Sie knetet ihre Hände so nervös und schaut sie immer mit einem so besorgten Blick an als wäre Julia ein rohes Ei.
„Gut, ich bin bereit. Was muss ich tun?“, Julia kann nichts dagegen tun, dass ihre Stimme so stark zittert.
Erleichtert atmet Alana auf und führt mit Julia die gleiche Atemübung durch, die sie zuvor selber gemacht hat, um sich zu beruhigen und zu entspannen. Es dauert bei Julia länger, aber schließlich kommt auch sie zur Ruhe und lauscht Alanas sanfter, warmer Stimme: „Schließe jetzt die Augen. Ich nehme deine Hände, damit du mich spürst. Ich komme jetzt mit dir zu deinem Stein. An dem Ort können wir miteinander reden… es ist eher wie ein Gedankenaustausch. Deshalb merke ich wie du dich fühlst, ich werde sofort eingreifen können, sollte irgendetwas passieren. Trotzdem solltest du dir selber helfen können, wenn du dich unwohl fühlst! Mach dann einfach die Atemübung. Jetzt führe mich zu deinem Stein.“

Julia hat keine Ahnung wie, aber auf einmal steht sie dort, vor ihrem rot pulsierenden Stein. Diesmal ist jedoch etwas anders: sie spürt jemanden Fremden bei sich.
„Es ist alles gut! Ich bin bei dir, hab keine Angst. Jetzt schauen wir uns deinen Stein mal genauer an.“ Alanas Stimme, soweit sie es wirklich Stimme nennen kann, klingt hier ganz anders: wie Blätterrauschen oder wie das Plätschern eines Baches, richtig erfrischend. Doch sie spürt, dass Alana beunruhigt ist angesichts der vielen Schatten auf ihrem Stein. Sie versucht es zu verbergen, vielleicht wäre ihr das auch außerhalb ihrer Traumwelt gelungen, aber hier kann Julia jede noch so kleine Gefühlregung wahrnehmen. Plötzlich kommt ihr das furchtbar intim vor, aber gleichzeitig auch aufregend!
Mit aller Macht versucht sie sich auf den Stein zu konzentrieren, dem Alanas ganze Aufmerksam gilt. Julia ist erleichtert, weil sie diesmal weder Schmerz noch Trauer spürt. Neugierig geht sie näher an den Stein heran. Alana weißt Julia auf einen kleinen knotenartigen Schatten hin: „Siehst du diesen geballten Knoten? Das ist dein Blinddarm. Möglicherweise muss er dir raus operiert werden.“
„Aber ich spür gar nichts, also ich hab da doch gar keine Schmerzen!“, meint Julia zweifelnd.
„Das ist der Vorteil, wenn man zu seinem Innersten reisen kann: Du kannst Krankheiten vorzeitig erkennen und teilweise schon bevor sie einsetzen behandeln… das erfordert aber jede Menge Übung!“
Schließlich erfolgt ein langer Prozess indem Alana Julia erklärt, welche Merkmale worauf hindeuten. Es ist ziemlich kompliziert für Julia. Jedoch erleichtert die Tatsache, dass Alana Julia mit ihren Gedanken alles zeigen kann, die ganze Sache deutlich. Julia versucht erst gar nicht daran zu denken, wie es wäre, wenn Alana all diese kleinen Merkmale mit ihren Worten beschreiben müsste!
Die größten Schatten deuten auf Julias riesige Eifersucht auf andere hin, sowie ihr Angst etwas oder jemand, der ihr wichtig ist, verlieren zu können.
„Komm es ist Zeit zu gehen, deine Mutter wird sich Sorgen machen, wenn du zu spät nach Hause kommst!“, meint Alana, „aber vorher zeige ich dir noch, wie dein Stein aussehen sollte, wenn er ganz gesund ist.“
„Wie das?“, fragt Julia neugierig.
„Ich zeige dir meinen!“
Und plötzlich stehen beide vor einem ganz anderem Stein: Alanas Stein ist weiß, schimmert jedoch in allen Regenbogenfarben und er scheint unendlich viel größer als Julias. Julia ist erstaunt, aber gleichzeitig fühlt sie sich hier unwohl: wie eine Fremde.
„Siehst du…“, sagt Alana, „er sieht ganz anders aus als deiner. Er ist jedoch ein bisschen trüb… das liegt daran, dass ich mir sehr viel Sorgen um dich gemacht habe. Sich zu viele Sorgen zu machen ist nicht gut, jedenfalls dann nicht, wenn man dabei sich selber vergisst… das ist mir ein bisschen passiert.“
Während Alana redet wird der Stein klar: er ist durchsichtig nicht weiß! Und die Regenbogenfarben werden viel kräftiger!
„Der Stein, er ändert sich!“, sagt Julia erstaunt.
„Ja, ich muss mir keine Sorgen mehr um dich machen! Wie du siehst kannst du den Heilungsprozess auch selber verfolgen. Aber nun müssen wir echt gehen!“
Alana führt Julia unter einen Wasserfall. „Mein Ein- und Ausgang.“, sagt sie lächelnd. Julia spürt durch Alana, dass dieser Wasserfall aus dem gleichen Grund hier ist, wie ihr eigener: um alles abzuspülen!

„Siehst du? Die Sonne geht unter!“
Julia schaut in die Richtung, in welche Alana zeigt und sieht, wie sich orange rotes Licht durch die Blätter der Trauerweide ergießt. Julia seufzt zufrieden. Es ist so schön zu leben! Noch nie hatte sie es deutlicher gespürt! Sie dreht sich spontan zu Alana um und umarmt sie. Sie bleiben einige Zeit so stehen, spüren den Herzschlag des anderen und sind einfach da.
Schließlich räuspert sich Julia: „Ich glaub, ich sollte langsam nach Hause.“
„Ich bringe dich heim und erkläre dir unterwegs, wie du dich selber heilen kannst!“
„Gut!“, freudestrahlend hängt Julia sich bei Alana ein und gemeinsam gehen sie.
„Die Atemübung darfst du nie vergessen! Du wirst sie immer brauchen! Egal, ob du zu deinem Stein willst, dich heilen willst oder einfach auch nur zur Entspannung!
Du nimmst dir dann eine Sache vor, die du heilen willst… zum Beispiel deine Eifersucht. Du führst dir vor Augen, auf wen du eifersüchtig bist und welchen Grund die Eifersucht überhaupt hat. Ist es, weil die andere Person deiner Meinung nach schöner ist oder sportlicher oder weil sie mehr Freunde hat als du? Es gibt viele Gründe zur Eifersucht! Es muss dir wirklich richtig klar sein, warum du eifersüchtig bist! Soweit alles klar?“
Julia nickt. „Gut, jetzt kommt die Heilung! Wenn es an den Freunden liegt, dann überleg dir, woran es liegen kann, dass du keine Freunde hast! Dabei gehst du jetzt nur von dir aus! Du darfst auf gar keinen Fall denken, dass es an den anderen liegt! Es ist dein Anliegen Freunde zu haben! Also musst du es ihnen auch zeigen! Du musst auch offen sein für Freundschaften. Lass diesen Wunsch nicht durch irgendwelche Ängste drüben! Mit Ängsten meine ich: Angst vor Verrat, Heuchelei und so weiter!
Du darfst deine Freunde auch nicht verurteilen wegen ihres Aussehens oder ihrer Art, wenn du nicht willst, dass sie es bei dir tun! Ich weiß, das ist gar nicht so leicht, aber du kannst es schaffen, wenn du den Willen dazu hast! Und schon wirst du merken, dass du selber viele gute Freunde hast und brauchst nicht mehr auf eine andere Person eifersüchtig sein!“
Lächelnd strahlt Alana Julia an.
„Und wenn ich Eifersüchtig wegen des Aussehens bin?“, fragt Julia zögernd.
„Ich kann gar nicht verstehen, warum du deswegen eifersüchtig sein solltest! Du bist so hübsch: du wirkst wie aus dem Elfenland mit deiner zarten Figur. Und wenn du jetzt nur deine Augen sehen könntest: sie leuchten strahlend hell und sind so klar wie der Himmel im Winter! Und deine sanften Haare sind so hell und scheinen wie so leicht wie Federn um deinen Kopf zu schweben! Dein Aussehen passt so sehr zu deiner Art! Zu deinem verträumten Wesen!“
„Findest du echt?“
„Aber ja!“
„Danke!“, sagt Julia aufrichtig, „es tut so gut mal ein Kompliment zu bekommen. Das baut richtig auf! Ich schau mich heute Abend vor dem Schlafengehen nochmal aufmerksam an… wenn dann ich das gleiche sehe, wie du es beschrieben hast, dann habe ich wirklich keinen Grund mehr, eifersüchtig zu sein!“
Seufzend schüttelt Alana den Kopf: „Du wirst dich nie so sehen, wie ich es tu! Schau dich im Spiegel an und du siehst dein Wesen in deinem Äußeren!“
Lachend schaut Julia Alana an: „Willst du zum Abendessen bei uns bleiben? Ich würde mich sehr darüber freuen und meine Eltern bestimmt auch!“
Freudig nimmt Alana die Einladung an und es wurde noch ein wunderschöner Abend!

Lachend stehen Emma, Julia und Alana auf dem Schulhof, sie sind beste Freundinnen geworden. Warum sie lachen? Sie haben gerade erfahren, dass ihre ach so strenge Lehrerin Frau Zhimt krank gemeldet ist.
„Wahrscheinlich sind ihr die ganzen Augenkontakte mit den Schülern zu viel geworden!“, mutmaßt Julia.
Emma prustet laut los. Es ist wirklich erstaunlich… seit in Emma diese Verwandlung vorgegangen ist, gilt sie als überdrehtestes Mädchen in der Klasse. Tobi kommt langsam auf sie zu und Emma wird ganz hippelig.
Julia raunt ihr zu: „Du hast dir doch bisher noch nichts aus ihm gemacht, warum also jetzt?“
„Jetzt hab ich ne Chance!“, wispert Emma schnell zurück, da steht auch schon Tobi vor ihnen.
Er strahlt sie an: „Hey Alana, Emma, Julia! Alana, willst du mir einen Gefallen tun? Du bist doch…“
„Nein!“, Alana sieht ihn herausfordernd an.
Tobi stockt, er ist es nicht gewohnt, dass Mädchen ihm etwas ausschlagen, zumal er noch nicht einmal die Chance hatte, seine Bitte vorzubringen. Julia kichert und stupst Emma an: „Ich dachte mir doch, dass Tobi es bei Alana nicht so leicht haben wird!“
„Ähm, und warum nicht?“, fragt Tobi etwas verunsichert.
„Kannst du dich noch daran erinnern, was du Emma immer angetan hast?“
„Ja, na und!“, wieder derselbe Macho wie immer.
Alana schnaubt nur: „Du hast sie verletzt, geärgert…“
„Ist schon okay Alana, lass es gut sein. Ich bin drüber hinweg!“, unterbricht Emma sie.
Alana lächelt sie an: „Ich lasse es nicht sein! Siehst du denn nicht, dass Tobi gar nicht merkt, dass er was Unrechtes getan hat? Und solange er das nicht bemerkt, werde ich ihm auch nicht helfen!“
„Alana, das ist doch albern…“, wehrt sich Tobi.
Alana schnappt sich die Mädels und geht.
Im Klassenzimmer erfahren dann alle, dass Herr Kurson ihr Vertretungslehrer sein wird. Wie sich herausstellt hat Frau Zhimt so kurzfristig abgesagt, dass Herr Kurson gar nicht vorbereitet ist. Deshalb beschließt er kurzer Hand mit der Klasse einen kleinen Schulausflug zu den nahe gelegenen Höhlen zu machen. Allerdings erst morgen. Heute will er ihnen alles Wissenswerte über Höhlen beibringen. Wie sich herausstellt ist Herr Kurson ein richtiger Höhlenliebhaber! Und deshalb ist auch keinem langweilig während dem Unterricht. Zusammen erstellen sie am Ende noch eine Liste der Dinge, die jeder mitzubringen hat.
Auf dem Heimweg plappert Emma laut vor sich hin, so aufgeregt ist sie. Alana und Julia lächeln darüber, aber auch sie freuen sich auf morgen.
Am nächsten Tag stehen alle Schüler pünktlich auf dem Schulhof, jeder mit Wanderschuhen, alten Klamotten, Fahrrad- oder Kletterhelmen, Rucksäcken mit Essen und Trinken und Taschenlampen und einem breiten Strahlen auf dem Gesicht. Herr Kurson prüft bei jedem Einzelnen die Ausrüstung und als er endlich mit allem zufrieden ist ziehen sie los. Gut gelaunt zieht die Klasse durch die Straßen Richtung Wald. Es ist bewölkt, also zum Glück nicht zu heiß zum Wandern. Der Weg zu den Höhlen ist weiter als Emma dachte. Keuchend wischt sie sich den Schweiß von der Stirn und versucht mit Julia und Alana Schritt zu halten, was für sie gar nicht so einfach ist. Nach gut zwei Stunden kommen sie endlich an den Höhlen an.
„Bevor wir hineingehen machen wir erst mal eine kurze Pause.“, verkündet Herr Kurson.
Erschöpft lässt sich Emma neben Alana und Julia ins Gras fallen: „Also ich muss echt unbedingt was für meine Ausdauer tun!“
„Und ich dachte schon, du seist verstummt.“, neckt Julia Emma.
Aus den Augenwinkeln bemerkt Julia, wie sich Tobi verdächtig nah neben Alana setzt. Kichernd stupst sie Alana an: „Hui, ich glaube, du hast einen Verehrer!“
Alana schnaubt nur, legt sich hin und schließt zufrieden die Augen.
„So, genug der Pause… wir gehen jetzt in die Höhle. An manchen Stellen wird sie sehr schmal, also stellt euch am besten in eine Reihe auf. Alana, würdest du bitte am Schluss gehen? Gut, danke. Jetzt holt eure Taschenlampen heraus und denkt daran, die Ersatzbatterien griffbereit einzustecken! Keine Albernheiten in der Höhle und Tobi…“,ermahnend schaut Herr Kurson ihn an, „… keine Mädchen erschrecken! Das gilt natürlich auch für euch anderen.“
Schon der Eingang der Höhle ist sehr schmal: groß ragt der Felsen vor ihnen auf, massig, nur der schmale Spalt klafft wie eine Wunde an ihm. Alana bemerkt die Unruhe vieler, wobei sie jetzt noch eher wegen der Aufregung besteht, weniger wegen Angst. Im Gänsemarsch betreten sie die Höhle, einer nach dem anderen. Julia überprüft, wie schmal der Durchgang wirklich ist, streckt beide Arme aus und berührt irgendetwas Glibberiges und Kaltes. Erschrocken entfährt ihr ein leiser Aufschrei. Schnell leuchtet sie auf die Stelle, die sie berührt hat: Schleimiges grünes Moos ist dort an den Wänden und was ist da? Hat sich da nicht etwas bewegt? Der Strahl ihrer Lampe zittert ein wenig als sie ihn über die Wände gleiten lässt. Da ist er wieder dieser Schatten, sie schaut genauer hin und zuckt vor lauter Ekel zusammen. Da an der Wand hockt eine große, bleiche Spinne mit langen Beinen. Schaudernd wendet sie den Strahl ab. An Hand der Schreie, die durch die Höhle hallen bemerkt sie, dass sie nicht die einzige ist, die eine Höhlenspinne entdeckt hat. Hilfesuchend streckt sie die Hand nach hinten aus zu Alana und zuckt abermals zusammen als sie eine kräftige, warme und vor allem männliche Hand spürt. Blitzartig dreht sie sich um.
„Du?“, zischt sie Tobi an, welcher sie nur warm anlächelt.
Oh, dieser Mistkerl! Hat er sich doch tatsächlich zwischen sie und Alana geschoben. Julia schaut wieder nach vorne und ist erleichtert, als sie Emma vor sich sieht. Sie tastet nach deren Hand und ist beruhigt als sie ihren warmen, sicheren Händedruck spürt.
Allmählich wird die ganze Klasse still und das Tapsen ein dutzender Schüler hallt laut in der Höhle wieder. Alle halten konzentriert den Blick zu Boden gesenkt, da dieser uneben und glatt ist, weshalb erst mal keiner merkt, dass sich die Höhle ändert: sie kommen in einen riesigen Raum. Erst als sie bemerken, wie das Echo ihrer Schritte sich ändert, schauen alle auf. Mit den Lichtern ihrer Lampen versuchen sie die Größe des Raumes zu erfassen. Die Decke entdecken sie schließlich ungefähr vier Meter über sich, aber das andere Ende können sie nicht sehen. Sie gehen weiter hinein, bis sie einen Punkt gekommen sind, an dem sie keine Wand mit ihren Lampen mehr ausmachen können außer der Decke.
Irgendwie ist das unheimlich. Julia hat das Gefühl grenzenloser Freiheit, doch gleichzeitig fühlt sie sich auch eingeengt von der Dunkelheit. Die Klasse wird unruhig.
„Macht mal das Licht aus!“, sagt Alana in diese Unruhe hinein.
Gruppen bilden sich, jeder sucht sich schutzsuchend seine besten Freunde. Die Jungs feixen angeberisch, doch auch sie stellen sich zusammen. Julia atmet tief durch und macht ihre Lampe aus. Gebannt beobachtet sie, wie es in der Höhle immer dunkler wird. Schließlich sieht sie gar nicht mehr. Erschrocken zieht sie die Luft ein: sie hat noch nie eine so vollkommene Dunkelheit erlebt. Selbst nachts im Zimmer sieht sie noch was. Aber so etwas wie hier hat sie noch nie erlebt. Sie reißt immer weiter die Augen auf und versucht fast schon verzweifelt doch etwas zu sehen. Aber sie sieht nichts und das ist echt unheimlich. Instinktiv verlässt sie sich, da sie des Augenlichts beraubt ist, auf andere Sinne: sie sperrt ihre Ohren auf. Lauscht angestrengt auf die Geräusche um sich. Aufatmend bemerkt sie sehr viele Geräusche, die ihr vermitteln, dass sie hier nicht alleine ist: irgendjemand scharrt nervös mit den Füßen, da ist ein Husten, ein unruhiges Atmen, ein Rascheln… immer mehr Geräusche entdeckt sie. Jetzt versucht sie auch gar nicht mehr zu sehen. Sie schließt die Augen und genießt diese Geborgenheit, die die Dunkelheit ihr auf einmal gibt.

Aber nicht allen geht es so wie Julia. Alana spürt es ganz deutlich, sie spürt die Angst, die Einsamkeit, das Grauen der anderen. Sie spürt die Unruhe, die Panik. Sie spürt, dass viele kurz davor sind wieder ihre Lampen anzuschalten. Da weiß sie, wie sie ihnen helfen kann und leise fängt sie mit ihrem Sprechgesang an:
„In Erdentiefen stehen wir,
Umhüllt von Dunkelheit.
Erfahren Leid und Gier
Nach Licht und Freiheit!
Linda, die bisher die Beliebteste in der ganzen Klasse war bis Alana kam, zuckt zusammen. „Kann Alana Gedanken lesen?“, fragt sie sich. Ihre Hand hält verkrampft ihre Taschenlampe, der Daumen schwebt über dem Knopf, um die Lampe so schnell wie möglich wieder anmachen zu können. Doch sie will nicht, dass Alana ihre Gefühle bloßlegt! Sie atmet tief durch, versucht sich zu entspannen. Ihre Hand lockert sich etwas, doch die innere Unruhe bleibt.
„Haben kein Augenlicht,
Können hören nur.
Die Dunkelheit ist dicht,
Naturgewalt so pur!“
Still lächelt Herr Kurson in die Dunkelheit hinein. Jedes Mal, wenn er in einer Höhle ist, spürt er diese Kraft, spürt er, wie der Berg sich majestätisch über ihn erstreckt und das erfüllt ihn mit Ehrfurcht. Er achtet auf die Geräusche um sich und hofft, dass auch die Kinder ehrfürchtig sind vor diesem Wunder der Natur.
„Habt ihr’s je erfahren?
Das Gefühl ohne Licht?
Wie werdet ihr euch gebaren?
Ist alles nur schlicht?“
Julia lächelt in sich hinein. Nein, sie hatte das Gefühl ohne Licht noch nicht erfahren, bis jetzt jedenfalls. Es ist unglaublich, aber sie liebt das Gefühl, liebt die sanfte Umarmung der Dunkelheit, diese Geborgenheit. Hier ist tatsächlich alles schlicht: sie sieht ja nichts! Es ist egal wie sie aussieht! Hier kommt es auf sein Inneres an, nicht auf sein Äußeres und das genießt sie sehr!
„Ein Gefühl von Freiheit
Schwebt hier herein,
Ihr fühlt euch befreit:
Endlich mal allein!“
Emma grinst. Zuerst hat die Dunkelheit sie nervös und hippelig gemacht, doch jetzt ist es genauso, wie Alana sagt: sie genießt das Gefühl mal wieder Ruhe zu haben und die hatte sie wirklich schon lange nicht mehr! Erst haben ihre Pflegeeltern sie lieb, aber ein bisschen viel umsorgt und sie wurde in der Schule geärgert und dann, seit sie sich verändert hat, wird sie manchmal wie ein Weltwunder behandelt: plötzlich wollen alle was für ihr und fragen sie meistens nach Alana aus. Doch hier ist das jetzt alles egal. Es ist für sie ein etwas unheimliches Gefühl, aber irgendwie auch interessant.
„Ängste kommen hoch:
Die dunklen Albträume,
Fallen in ein Loch-
Eingesperrt in Räume!“
Tobi zuckt zusammen. Er hat Angst und wie! Aber er darf sich nichts anmerken lassen! Kein bisschen, seine Freunde würden ihn nicht mehr respektieren! Die Dunkelheit hält ihn im Würgegriff. Warum müssen eigentlich immer Jungs die Helden spielen? Vielleicht wäre es ja leichter für ihn, wenn die süße Alana in Panik verfallen würde und seinen Schutz sucht, aber ihre Stimme zittert nicht einmal ein kleines bisschen! Wütend beißt er sich in die Hand, warum muss Alana auch so hübsch sein? Und so stark? Und so selbstbewusst? Und warum, verdammt nochmal, durchschaut sie ihn so gut? Nur Alana zu liebe hat er seine Taschenlampe noch nicht wieder angeschaltet und natürlich aus Angst, selber einmal Ziel vom Gespött der ganzen Klasse zu werden!
„Sehet ihr’s denn nicht?
Befreit euch von der Last!
Braucht ihr denn Licht,
Viele Menschen, Zeit und Hast?

Befreit euch von der Qual,
Die ihr euch auferlegt,
Nichts ist hier normal
Und alles vergeht!“
Vorsichtig streckt Alana ihre Sinne aus und tastet nach den Gefühlen ihrer Mitschüler und Freunde. Manche hat schon alleine ihre warme Stimme beruhigt, andere hingegen fühlen sich angesprochen und dadurch verletzt. Alana lächelt in sich hinein, sie denken tatsächlich sie könne Gedankenlesen!
Sie schließt die Augen als eine Taschenlampe nach der anderen wieder angeht.
Plötzlich ist ein lautes Grummeln zu hören. Erschrocken zucken alle zusammen, manche schreien auf! Und aufeinmal sind sich alle diese Tonnen von Gestein über sich sehr bewusst. Alana seufzt auf, manche Ängste sind einfach zu hartnäckig um sie mit Worte vertreiben zu können. Sie spürt, wie sich die Angst in der ganzen Klasse verbreitet und ihre eisigen Hände auch versuchen sich nach ihr auszustrecken. Schnell wert sie sie ab. Einzig sie und Herr Kurson scheinen noch Ruhe zu bewahren.
„Ruhe!“, ermahnt Herr Kurson. Er wartet bis es still ist, dann lauscht er angestrengt. Das Geräusch kommt vom Ausgang! „Bleibt ruhig, es bringt jetzt nichts, in Panik zu verfallen! Ich brauche zwei Freiwillige, die mit mir zum Ausgang gehen und schauen was da los ist!“, Herr Kurson bemerkt sehr wohl, dass Alana noch die einzige ist, die sich nicht von der Angst betäuben lässt. Aber es muss doch noch jemanden nehmen, denkt er verzweifelt und sucht nach ein paar entspannten Gesichtern. Er merkt, dass Alana neben ihn tritt.
„Nehmen Sie Julia und Marco mit.“, wispert sie ihm zu.
Herr Kurson sucht nach den beiden. Erstaunt sieht er, wie die sonst so schüchterne und zurückhaltende Julia, den anderen beruhigende Worte zu murmelt und sie tröstet. Er lässt seinen Blick weiterziehen und entdeckt Marco, welcher mit entschlossener Miene dasitzt und den Ernst der Lage begreift. Auch er verströmt eine Ruhe und sobald er merkt, wie ihn jemand anschaut, setzt er ein beruhigendes Lächeln auf. Anerkennend nickt er Alana zu.
„Schaffst du es eine kurze Zeit alleine hier zu bleiben?“, fragt Herr Kurson Alana besorgt, doch sie nickt ihm aufmunternd zu. Dermaßen erleichtert geht er zu Julia und Marco und bittet die beiden, ihn zu begleiten. Er merkt sehr wohl Julias sehnsüchtigen und besorgten Blick nach Alana, tut aber so, als hätte er ihn nicht gesehen. Gemeinsam gehen sie aus der Höhle heraus. Als erster Herr Kurson, in der Mitte Julia und schließlich Marco. Bald braust ihnen ein solcher Sturm entgegen, dass Herr Kurson Angst hat, den Halt zu verlieren und gegen Julia zu prallen. Mit beiden Händen stützt er sich an den Wänden ab und geht so gebückt wie möglich, um dem Wind so wenig wie möglich Widerstand zu bieten! Seine Hände sind schon halb eingefroren von den kalten Wänden, an denen permanent ein wenig eisiges Wasser herabfließt und das Atmen fällt ihm immer schwerer! Er ist froh, dass Julia und Marco in seinem Windschatten laufen können. Wo ist denn nur der Eingang? Sollte er nicht längst zu sehen sein? Plötzlich erhellt ein grelles Licht die Dunkelheit und einen Bruchteil der Sekunde sieht Herr Kurson alles überdeutlich: die kahlen Höhlenwände, den bedrohlich wirkenden Eingang, die Bäume da draußen, die wie dunkle Wächter vor der Höhle stehen und den strömenden Regen. Dann ist es wieder schlagartig dunkel und ein ohrenbetäubender Donner folgt. Besorgt dreht er sich nach den Kindern um und sieht, wie Julia den Mund aufreißt, wohl um zu schreien, aber der Donner ist so laut, dass er nichts hört! Erschreckend sieht er, wie Julia auf einmal kreidebleich umkippt und ist erleichtert, als Marco sie auffängt. Wir müssen sofort zurück. In der Höhle sind wir sicher! Schnell bedeutet er Marco wieder zurückzugehen. Dieser nickt, schaut aber erst fürsorglich, ob Julia auch alleine gehen kann. Herr Kurson hätte am liebsten Marco angefahren, dass er sich doch gefälligst beeilen soll. Es macht ihn unruhig so nah am Eingang zu stehen, wenn da draußen ein solcher Sturm tobt!
Als sie wieder in der großen Höhle ankommen fällt Herrn Kurson vor lauter Staunen, die Kinnlade runter: die Taschenlampen sind alle aus und warmes Kerzenlicht erhellt die Höhle. Die Schüler sitzen gemütlich im Kreis und aus den Tassen vor ihnen steigt Dampf auf, wohl vom warmen Tee. Standen auf der Packliste auch Kerzen?
Zehn Augenpaare drehen sich zu ihnen um, fragend. Verlegen lächelt Herr Kurson: „Da draußen ist ein richtiges Unwetter. Wie es aussieht, sitzen wir hier noch eine Weile fest!“ Beruhigt sieht er, dass das keinen einzigen zu stören scheint. Wie schafft Alana es nur eine ganze Klasse so schnell zu beruhigen? Aber als er sich dann in den Kreis niederlässt, mit einer Tasse Tee vor sich und ein paar Keksen, fühlt er sich vom warmen Kerzenlicht beruhigt. Daran liegt es wohl, denkt er lächelnd, man muss einfach eine beruhigende Atmosphäre schaffen.
Alana lacht und zieht so die ganze Aufmerksamkeit auf sich.
„Nun ist Märchenstunde!“, sagt sie fröhlich, „Wer will zuerst eine Geschichte erzählen?“
Die nächsten Stunden verbringen sie damit über starke Helden, böse Könige, schlaue Frauen, hübsche Orientale, Zauberern, Feen und so weiter zu erzählen. Wenn einer bei seiner Geschichte nicht weiter weiß, springen andere für ihn ein. Es macht so viel Spaß, dass sie ganz vergessen, dass sie auf hartem Steinboden sitzen und in der Höhle gefangen sind.
Hin und wieder gehen Herr Kurson, Julia und Marco hinaus und schauen, ob sich das Wetter schon gebessert hat. Nach drei Stunden können sie sich wieder raus wagen und Herr Kurson führt die fröhliche Meute wieder heim, unheimlich erleichtert darüber, dass Alana dabei war. Er weiß genau, er wäre letzten Endes auch in Panik ausgebrochen und dann wäre der Aufenthalt in der Höhle weder für ihn und für die Kinder etwas Schönes geworden! So haben die Kinder jedoch bestimmt nur schöne Erinnerungen an den Ausflug und er muss nicht mit Ärger auf den Seiten der Eltern und Lehrer warten.
Die Geschichten der Kinder waren echt gut! Vielleicht sollte er sich überlegen, ob er die Kinder nicht einen Aufsatz über den Ausflug schreiben lassen soll, sondern lieber eine Kurzgeschichte. Oder noch besser: eine Kurzgeschichte über sich selber. Gut, er muss zugeben, dass dieser Gedanke ziemlich eigennützig ist. Rührt er doch nur daher, weil er mehr über Alana erfahren will. Wie ein Mädchen in diesem Alter schon eine solche Ruhe und Kraft, vor allem aber Weisheit ausstrahlen kann, ist ihm ein Rätsel. Er muss sich noch einen guten Grund dafür überlegen, wieso er den Kindern dieses Aufsatzthema gibt. Er will keinen misstrauisch machen, schon gar nicht Alana! Zum Glück ist erst einmal Wochenende und Frau Zhimt ist noch die ganze nächste Woche krankgemeldet. Ihm wird in dieser Zeit schon noch eine Ausrede einfallen!

Am Montagmorgen steht Herr Kurson wieder lächelnd vor der Klasse. Das ganzen Wochenende über hat er sich den Kopf darüber zerbrochen, warum er den Kindern aufgeben soll über sich selbst zu schreiben und erst heute Morgen ist im die Lösung eingefallen: „Guten Morgen! Ihr erwartet sicher, dass ihr heute einen Aufsatz über unseren Höhlenausflug schreiben sollt. Ich muss ehrlich sein: erst wollte ich euch das wirklich aufgeben, aber dann habe ich mir gedacht, das ist doch langweilig; so etwas macht man immer nach einem Ausflug! Also habe ich eine andere Idee: In der Höhle war jeder von euch mehr mit sich selber konfrontiert als sonst. Ich will, dass ihr über irgendein Erlebnis in eurem bisherigen Leben schreibt, etwas, was euch besonders stark in der Erinnerung haften geblieben ist oder einschneidend für euch war! Oder ihr schreibt einfach über euch selbst. Wie ihr seht ist das ein sehr weites Spektrum… ich bitte euch, schreibt über nichts, was euch peinlich ist, da ich gerne ein paar Aufsätze vorlesen und besprechen mit euch möchte. Soweit alles klar? Hat noch jemand fragen? Keiner? Gut, dann könnt ihr anfangen, ihr habt jetzt zwei Stunden Zeit.“
Ein lautes Rascheln ertönt, als jeder Papier und Stifte auspackt. Zufrieden mit sich lehnt Herr Kurson sich zurück und beobachtet die Schüler beim Schreiben: manche kauen nachdenklich auf ihren Stiften herum, viele schreiben aber schon fleißig. Die zwei Stunden sind schnell um und alle geben ihre Aufsätze ab. Er hat nicht angeben wie lange der Aufsatz werden soll, weshalb er angenehm überrascht ist von manchen vier Seiten zu bekommen!
Am nächsten Tag steht Herr Kurson wieder vor der Klasse, immer noch fasziniert von den ganzen Aufsätzen.
„Julia, dein Aufsatz hat mich erstaunt. Er ist so schön und lebendig! Würdest du ihn bitte vorlesen?“, fragt sie Herr Kurson.
Lächelnd bemerkt er, wie Julia vor lauter Freude ganz rote Wangen bekommt und ihre Augen strahlen. Schnell kommt sie nach vorne, nimmt ihren Aufsatz entgegen und beginnt mit märchenhafter Stimme vorzulesen: „Heute ist ein schöner Tag, weil wir mit dem Kindergarten einen Ausflug machen. Wir haben alle gute Schuhe an, damit wir in Pfützen springen können, ohne, dass die Füße nass werden. Meine Mama wollte mir erst ein Kleid anziehen, das fand ich ganz schön blöd! Wie soll man denn mit einem Kleid auf Bäume klettern können? Zum Glück durfte ich dann doch eine Hose anziehen.
Endlich gehen wir los. Die Sonne kitzelt meine Nase und ich muss niesen. Die Wiesen sind so schön grün und der Himmel so schön blau. Wir gehen auf eine von den grünen Wiesen, auf eine, die noch nicht gemäht ist und auf der so viele bunte Blumen wachsen. Manche Mädchen pflücken sich welche, aber ich nicht. Das habe ich einmal gemacht, aber nach ein paar Tagen sind die Blumen alle gestorben. Das ist traurig. Ich will keine Blumen töten! Ich schaue sie einfach an. Da sehe ich einen wunderschönen Schmetterling. Seine Flügel glänzen im Sonnenlicht. Vorsichtig gehe ich näher heran, doch dann fliegt der Schmetterling weg, nur etwas weiter und wartet dann wieder auf mich. Ich verstehe: er will, dass ich ihm nachlaufe, er will mir etwas zeigen! Er führt mich immer weiter, ich höre Vögel zwitschern und einen Bach plätschern. Es ist so heiß! Der Schmetterling ist weg, ich sehe ihn nicht mehr! Aber ich sehe, wo er mich hingeführt hat. Oh, ist es schön hier! Ob das Wasser so kalt ist, wie es aussieht? Schnell ziehe ich die Schuhe aus, die Nerven eh nur: Ich spüre gar nicht den steinigen Boden! Ich muss lachen: die Steine kitzeln an meinen Fußsohlen. Langsam gehe ich ins Wasser und kreische vergnügt auf. Es ist so schön kalt! Dort am anderen Ufer wächst ganz viel Moos auf dem Boden, ob es wirklich so weich ist, wie es aussieht? Das Wasser geht mir bis zum Knie und ich bin froh, dass ich eine kurze Hose anhabe. Die Steine sind ganz schön glitschig! Ups, jetzt bin ich ausgerutscht. Erstaunt merke ich, wie meine Klamotten auf einmal ganz schwer werden. Noch ein paar Schritte und ich bin beim Moos. Es ist flauschig weich an meinen Füßen.
„Julia!“ Das ist meine Erzieherin Sabine. Sie muss unbedingt das Moos anfassen!
Lachend winke ich ihr zu und finde es lustig, wie dabei ganz viele Tropfen von meinem nassen T-Shirt fallen: „Hier bin ich!“
Warum schaut Sabine so furchtbar böse? Ich habe doch einen so schönen Ort entdeckt! Sie darf sich sogar einen Namen für ihn aussuchen, mit mir zusammen! Vielleicht ist sie nicht mehr böse, wenn ich ihr den schönen Namen von diesem Ort nenne. Aber wie kann ich denn in Ruhe nachdenken, wenn Sabine so laut schreit?
„Pst, nicht so laut. Du erschreckst doch die ganzen Tiere!“, sage ich ihr.
Daraufhin schreit sie noch lauter. Hat sie mir nicht zugehört? Jetzt zieht Sabine ihre Schuhe aus und kommt zu mir herüber gelaufen. Bei ihr geht das Wasser nur bis zur Mitte von den Schienbeinen, komisch. Ich freue mich, dass sie kommt, denn wenn sie das weiche Moos berührt ist sie bestimmt nicht mehr sauer, das geht gar nicht! Sie kommt auf mich zu und packt mich so dolle, dass es weh tut. Aua! Sie nimmt mich auf den Arm und geht mit mir wieder über den Bach. Warum trägt sie mich, ich kann doch gut selber laufen. Ich bin schließlich schon ein großes Mädchen! Jetzt zieht sie mir die Schuhe an und zieht mich weg von diesem schönen Ort.
„Halt warte!“, schreie ich, „Du musst noch das Moos da drüben berühren, es ist so schön weich!“
Doch Sabine hört nicht auf mich. Traurig lasse ich den Kopf hängen. Da sind ja die anderen, warum lachen sie über mich? Ich schaue an mir herab. Das sieht ja komisch aus: weil meine Klamotten so nass sind, ist ganz viel Moos kleben geblieben. Jetzt hab ich ganz viele lustige grüne Flecken auf mir. Ich muss auch lachen. Was kramt Sabine denn da in meinem Rucksack herum? Sie holt eine Hose und ein T-Shirt raus. Mama hat mir Wechselklamotten eingepackt? Da kommt Sabine schon wieder und zieht mich in den Wald. Sie will, dass ich mich umziehe. Aber warum denn? Mir ist nicht kalt! Und meine Moosklamotten sehen so schön lustig aus. Aber Sabine schaut so böse, dass alles gar nicht mehr so lustig ist.
„Schau bitte nicht so böse Sabine!“, flehe ich sie an.
„Zieh dich um, dann schaue ich nicht mehr böse!“
Gut, wenn Sabine das so gerne will, dann mach ich das.
Dann gehen wir wieder zurück zu den anderen. Die sitzen alle im Kreis und packen ihr Essen aus. Sabine und ich setzen uns dazu. Nach dem Essen lege ich mich hin. Auf einmal werde ich ganz leicht und fliege hoch. Von oben sehe ich, wie die anderen da hocken, ein schöner Kreis ist das aber nicht! Es ist lustig die Welt von oben zu sehen! Ob die Vögel mich mit ihnen fliegen lassen? Ja, das tun sie! Ich darf sogar in der Mitte fliegen.
„Julia, aufhören zu träumen! Wir gehen wieder!“
Strahlend schau ich Sabine an: „Ich bin geflogen, mit den Vögeln da oben“, sage ich und zeige auf die Vögel, die über unseren Köpfen kreisen.
Lächelnd tätschelt mir Sabine den Kopf und sagt: „Da hattest du aber einen schönen Traum!“
Aber das war doch kein Traum. Ich bin traurig, weil mir keiner glaubt.
Im Kindergarten holt mich Mama dann ab. Sabine erzählt ihr, ich sei weggelaufen und in einen Bach gefallen. Aber das stimmt doch gar nicht! Ein Schmetterling hat mich geführt und in den Bach bin ich nur wegen dem schönen Moos gegangen! Ich erzähle das Mama, aber sie schimpft nur und sagt, das war der letzte Ausflug, auf den ich mit durfte! Das macht mich traurig. Ich verstehe das nicht.
Am nächsten Tag im Kindergarten sollen wir ein Bild von dem Ausflug malen. Erst will ich von dem schönen Ort malen, aber dann erinnere ich mich daran, wie schön es war zu fliegen und male die Welt von oben. Mit den Erziehern und den anderen Kindern, die da unten im Kreis sitzen. Irgendetwas an dem Bild scheint Sabine zu beeindrucken.
„Bist du schon einmal mit einem Flugzeug geflogen?“, fragt sie mich.
Ich schaue sie erstaunt an: „Nein! Ich mag Flugzeuge nicht! Hast du noch nie gesehen, wie sie den schönen blauen Himmel ausradieren? Der Himmel ist zum Glück stärker und ist nach einer Weile wieder da, aber stell dir mal vor, es wären die Flugzeuge stärker! Dann gäbe es keinen Himmel mehr und alles wäre weiß!“
Ich muss wohl irgendetwas Lustiges gesagt haben, denn Sabine lacht laut los. Sie lacht sehr lange. Ich gehe. Ich mag es nicht, wenn alle ständig über mich lachen! Ich lege mich in unsere Kuschelecke und fliege wieder. Das macht Spaß und hier lacht mich keiner aus!“
Julia ist fertig. Alana steht auf einmal auf, geht auf Julia zu und umarmt sie: „Das war so schön!“, flüstert sie Julia ins Ohr und in ihren Augen glitzern Tränen. Auch die anderen sind beeindruckt. Julia und Alana setzen sich wieder hin.
Herr Kurson räuspert sich und sagt: „Wollt ihr das besprechen oder die nächste Geschichte hören?“
Wie erwartet will das keiner besprechen, es war so schön und berührend, eine Analyse würde nur alles kaputt machen! Dann also den nächsten: “Tobi, willst du deinen Aufsatz bitte auch vorlesen?”
Tobi lacht verlegen auf, allerdings hat er sich wieder schnell im Griff und geht ganz betont lässig nach vorne. Das kurze Zögern bevor er seinen Aufsatz entegegen nimmt lässt jedoch einen Blick werfen auf den Jungen, der er gerade wirklich ist: schüchtern und zurückhaltend. Tobi richtet sich auf und liest vor: “Es ist ein Tag wie jeder andere. Alles ist so gleich wie immer: so schrecklich langweilig und einfach nur schrecklich. Meine Eltern streiten sich, wie seit zwei Jahren. Aber irgendetwas ist heute anders. Schmerzensschreie haben nie zum Streit gehört! Ich schleiche mich in den Flur und schaue ins Esszimmer. Meine Mutter liegt weinend auf dem Boden und mein Vater schlägt auf sie ein. Er sieht mich, er kommt zu mir. Sein Atem stinkt nach Alkohol. Die Flasche Wodka hält er noch in der Hand, er holt aus. Es wird alles schwarz vor mir. Wie aus einem Albtraum wache ich auf, im Krankenhaus. Meine Eltern sind beide tot, ich weiß es. Die Ärzte sagen es mir nicht, aber ich sehe es an ihren traurig stummen Blicken, als könnten sie sie dadurch wieder zurückholen! Ich raste aus, schlag auf alles ein, was mir in die Hände kommt. Das nächste Mal als ich aufwache hockt ein Mann mit Anzug und Krawatte vor mir. Ich verabscheue ihn vom ersten Blick an. Herablassend schaut er mich an als wolle er mir sagen, dass er der tollste ist. Mitleid finde ich in diesem Gesicht keines. Er redet auf mich ein, er redet mit mir, als sei ich noch ein Kind. Vielleicht war ich noch eins, bevor das alles passierte, aber jetzt bin ich keines mehr. Ich bin 10 Jahre alt. Er redet irgendetwas von einem Kinderheim, davon, dass ich keine Verwandten hätte und dass ich einen Psychologen bekommen soll. Er sagte nicht Psychologe, er sagte, “jemanden, dem du vertrauen kannst, dem du alles anvertrauen kannst.” Ich bin nicht blöd, ich weiß genau, was er meint!
Im Kinderheim überlebt nur der stärkste und schlaueste.
Nach ein paar Jahren kommt meine verschollene Tante und nimmt mich mit zu sich, weg von dem grausamen Ort.”
Tobi schaut hoch. Trauer und Schmerz stehen ihm ins Gesicht geschrieben, aber nur so kurz, dass Julia das Gefühl hatte, sich verschaut zu haben. In der Klasse ist es still. Keiner wusste von Tobis Leben, kein einziger hatte es gewusst und Tobi hat sich entschieden es ihnen zu erzählen. Warum? Julia weiß die Antwort im selben Moment wie sie sich die Frage gestellt hat: er braucht jemanden, den er sich wirklich anvertrauen kann. Er ist einsam. Julia spürt seine Verzweiflung und seine Angst auf die Reaktion der Klasse. Tatsächlich hört sie schon ein leises Kichern. Tobi wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber nur kurz dann stielt sich Wut auf sein Gesicht. Julia blinzelt Alana zu. Diese weiß genau, was Julia vor hat und nickt unauffällig. Julia fasst sich an den Bauch und kotzt aufeinmal mitten in den Gang. Alana springt auf und rennt zu Tobi: “Schnell, bring sie raus, an die frische Luft!”
Tobi ist so vor den Kopf gestoßen, dass er sofort reagiert ohne lange zu fragen. Er packt sich die blasse Julia, die ihm einen Ausweg aus dieser jämmerlichen Situation verschafft. Ehe die Klasse merkt, was vor sich geht, hatte Alana schon die Kotze aufgewischt und steht nun mit ihrem Text in der Hand vor der Klasse und beginnt zu lesen: “Leben, alles um mich herum ist leben. Neben mir liegt mein bester Freund, mein bester Bären-Kumpel Daru. Wir liegen in der Wiese und schauen in den Himmel. Daru bringt mich zum lachen. Mit wenigen Worten lockt er etwas in meinem Herzen genau ICH zu sein. Er gibt mir das wunderbare Gefühl ein besonderer Mensch zu sein. Bei ihm merke ich genau, was mich von anderen Menschen unterscheidet und das gibt mir ein Gefühl von Größe. Nicht von Macht! Diese Größe strahlt aus mir heraus und zeigt jedem, wer ich bin! Mit seinem schelmischen Grinsen, das direkt in mein Herz herein strahlt, lockt er die kindliche Seite in mir. Ich kann mit ihm toben und ausgelassen sein, wie ein kleines Kind. Ich sprühe vor Energie, aber Daru zuckt nie zurück als hätte er sich verbrannt, sondern schaut mir bei meinen ausgelassenen Tänzen zu, genießt meine Funken sprühenden Augen, bleibt bei mir und hat Teil ein meinem Leben: pulsierend und sprudelnd. Er sagt, er hat noch nie einen so lebendigen Menschen gesehen. Ich sage ihm, mit ihm fühle ich mich lebendiger als irgendwo, ich fühle mich stark und schwach, erwachsen und kindlich. Er verstärkt meine Gefühle und gibt auf sie acht. Er hat sich in meinem Herzen eingepflanzt und wie Efeu schlängelt er sich mit jeder neuen Erinnerung weiter um mein Herz, lässt es leuchten und erstrahlen und hilft mir mit diesen vielen Erinnerungen immer ich selber zu sein. Immer meine Größe zu spüren, so als wäre er bei mir. Jedem wünsche ich einen solchen Freund, wirklich jedem!”
Und als wäre die Schule dafür, dass dies das Abschlusswort sein soll, klingelt schrill die Glocke und entlässt die Kinder aus ihrem Bauch.













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Tag der Veröffentlichung: 03.11.2014

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