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Ewa Butler parkte ihren kleinen Wagen am Straßenrand in Blue Ridge genau vor ihrem Haus. Sie wohnte nun schon fast ein halbes Jahr hier, nachdem sie aus Los Angeles versetzt worden war, und hatte bislang kaum einen Nachbarn zu Gesicht bekommen, was ganz einfach daran lag, dass sie so oft wie möglich am Abend und in der Nacht arbeitete und tagsüber schlief, während um sie herum das Leben begann.
Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Fremde stellten Fragen und sie war nicht bereit, irgendwelche davon zu beantworten. Auch lag das nächste Gebäude gut zweihundert Meter entfernt, ein nicht zu weiter, aber doch sicherer Abstand vor neugierigen Blicken. Es war ein Glücksfall, dass sie dieses Haus hier in Strandnähe entdeckt hatte.
Ihr bisheriges Leben in L.A. hatte sie ebenfalls am Strand verbracht, es war das Einzige, worauf die auf keinen Fall verzichten wollte, den Blick auf das Meer. Ewa drehte sich um und schaute über die Küstenstraße zur Bucht. Die sternenklare Nacht ließ den Strand silbern leuchten. Gerne wäre sie hinunter- gegangen, um am Ufer entlang zu wandern, aber es war zwei Uhr morgens und sie war einfach zu müde. Sie würde noch schnell etwas kochen und dann endlich schlafen, soweit sie es konnte. Einer der Gründe, warum sie lieber in der Nacht arbeitete, damit sie tot ins Bett fiel und nicht ihre Nachtruhe mit endlosem Grübeln vergeudete.
Eilig holte sie ihre Einkäufe aus dem Kofferraum und schloss ihn sachte, um nicht all zu viel Lärm zu veranstalten, dabei rutschte ihr die Papiertüte aus dem Arm und die Lebensmittel verteilten sich gleichmäßig auf der Straße.
»Scheiße!«, entfuhr es ihr leise.
Schritte näherten sich ihr von hinten.
»Ich glaube, die gehört ihnen.«
Ewa sah einen Mann aus dem Dunkeln auf sich zukommen, der ihr eine Orange entgegen hielt. Die große Gestalt wirkte bedrohlich, als er mit ausgestrecktem Arm langsam auf sie zukam.
Aber seine Bewegungen hatten auch etwas Geschmeidiges, fast Raubtierhaftes an sich. Ewas Hand ging automatisch auf die Höhe des Gürtelholsters, den sie unter ihrer Jacke verborgen
trug. Als sein Gesicht vom Mond silbern beschienen wurde, erkannte Ewa einen sehr jungen Mann. Zögerlich griff Ewa nach der Orange.
»Ich danke ihnen, scheint heute nicht ganz mein Tag zu sein.«
Fahrig fuhr sie mit der Hand über ihre Stirn und schob eine lästige Haarsträhne aus den Augen.
Mit seiner dunklen Kleidung und den schwarzen Haaren
konnte man ihn im Mondlicht kaum ausmachen, nur die zwei Reihen ebenmäßiger weißer Zähne, die sich hinter seinem Lächeln verbargen, weckten in Ewa Vertrauen, dass sie nicht zu ihrer neun Millimeter Glock griff und anvisierte.
»Sie sind neu hier in der Straße, nicht wahr, ich habe sie schon einige Male gesehen. Ich wohne in dem Haus auf der Klippe, wir sind also sozusagen Nachbarn. Mein Name ist Shia Keane und ich hoffe, ich habe sie nicht erschreckt.«
Er reichte ihr die Hand, die Ewa noch immer auf der Hut, vorsichtig ergriff.
»Mr Keane, was treiben sie so spät hier draußen?«
»Nun, ich denke das Gleiche wie sie, ich habe Feierabend.
Aber mein Name ist Shia, Mr Keane war mein Vater.«
»Gut Shia, ich bin Ewa und was ist ihr Beruf, der sie um diese Uhrzeit wach hält? Sie sehen so jung aus, dass man glauben könnte, sie besuchen noch das College.«
Shia stieß ein leises Lachen aus.
»Jung? Nun für wie alt halten sie mich denn, Ewa?« Vorsichtig nahm er ihr die Einkäufe aus dem Arm. »Lassen sie mich Ihnen helfen.«
Zielsicher ging er auf ihre Haustür zu. Ihr blieb nichts Weiteres übrig, als das Auto abzuschließen und ihm zu folgen.
Trotz seiner einnehmenden Art gefiel es Ewa, wie er ihren Namen aussprach, leise und tief, mit einer langen Betonung auf dem ‚a‘, das ein angenehmes Prickeln auf ihrem Körper hinterließ. Sein Bariton, so satt und ruhig, passte gar nicht zu seinem jugendlichen Aussehen.
Sie musterte seine große Gestalt und starrte verdutzt auf den breiten Rücken, als er ihr den Schlüssel aus der Hand nahm und die Haustür aufschloss.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Sie meine auch nicht.« Ewa folgte ihm in die Küche, die er ohne zu zögern ansteuerte, um die Einkäufe im Kühlschrank zu verstauen. Nachdem er seinen Job erledigt hatte, lehnte er sich lässig an den Tresen und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
»Ich arbeite in der Sicherheitsbranche.«
Ewa nahm sich ein Glas Milch und stellte das Radio leise an, dabei vermied sie es, auf seinen gewaltigen Bizeps zu starren, der sich unter seinem Pullover abzeichnete.
»Auch etwas?« Ewa hob fragend ihr Glas, doch er lehnte höflich ab.
»Sicherheitsbranche, ein weites Feld und das in ihrem Alter.«
Shia strich über sein kurzes schwarzes Haar und lachte. Sie blickte in seine dunkelgrünen Augen, die hohen Wangenknochen und seine ebenmäßigen Züge. Er sah verdammt gut aus, mit seiner Größe und den starken Armen wirkte er wie ein respektvoller Mann. Nur das Gesicht war das eines Zwanzigjährigen.
»Danke für das Kompliment, doch meine Collegezeit liegt schon einige Zeit hinter mir«, wie lange behielt Shia lieber für sich, »ich bin bereits zweiunddreißig, werde aber oft wesentlich jünger geschätzt, und arbeite für eine Sicherheitsfirma, die sich auf Gebäude- und Personenschutz spezialisiert hat. Meistens übernehme ich die Schicht von achtzehn bis ein Uhr nachts. So, habe ich nun all ihre Fragen beantwortet, Ewa?«
Sie konnte sich nur mit Gewalt von seinem Blick losreißen.
»Ah, also ein Bodyguard! Ich denke, das waren alle Punkte im Augenblick.« Sie zog ihre Jacke aus und legte den Gürtelholster mit ihrer entsicherten Glock und ihrer Dienstmarke auf dem Tresen ab, um dabei Shias Reaktion zu beobachten.
Als er fragend eine Augenbraue hob, erklärte sie: »Seattle Police Department.«
»Sie sind ein Cop?«
»Ja, ich bin Profilerin und wurde für einen Fall zurate gezogen, nun habe ich mich von L.A. hierher versetzen lassen.«
»Dann sind wir ja fast so was wie Kollegen«, meinte Shia, nahm seine Waffe aus dem Hosenbund hinter seinem Rücken und legte sie ebenfalls entsichert neben Ewas Pistole.
Ihre Augen weiteten sich unmerklich und sie musste schlucken.
„Ich gehe davon aus, dass sie dafür eine Genehmigung
haben?«
»Yep!« Shia lächelte sie bewusst provozierend an. Ewa hob ihr Glas und trank einen Schluck Milch. Sie hatte ihn mit ihrer Schusswaffe schockieren wollen, aber dieser Schuss war gehörig nach hinten losgegangen. Nun war sie diejenige, die irritiert auf seine Waffe starrte. Eine Zeit lang herrschte Schweigen und nur die leise Musik aus dem Radio erfüllte den Raum.
Shia erkannte, dass es besser war zu gehen, doch er konnte sich nicht losreißen. Er blickte Ewa an und wusste, sie war die Frau auf die er sein ganzes Leben gewartet hatte, dass sie eine Sterbliche war, versuchte er zu ignorieren.
Vor knapp einer Woche war sie ihm zum ersten Mal begegnet.
Aus sicherer Entfernung hatte er beachtet, wie die Polizei einen Tatort sicherte, bei dem ein Mensch vollkommen ausgeblutet in einer kleinen Seitenstraße, in der Nähe eines neuen Clubs gefunden wurde. Der Körper der Frau war bis zur
Unkenntlichkeit mit Bissen übersät und Shia war klar, dass hier Vampire am Werk waren.
In dieser dunklen Nacht hatte er Ewas blonde Haare leuchten sehen, wie das Feuer eines Leuchtturms hatte es ihn zu ihr hingeführt. Er konnte sich nicht sattsehen an ihren reinen blauen Augen, die so hell waren, wie das Meer an einem windstillen Tag. Sie war ihm bekannt vorgekommen, doch er wusste nicht, woher er sie kannte.
Einen Tag später, als er nachts vom Strand nach Hause lief, sah er sie aus ihrem Auto steigen.
Sofort erkannte er ihren Duft, noch ehe er ihre schlanke Gestalt und das leuchtend blonde Haar wahrnahm. Ein Hauch von Lavendel nach einem Sommerregen wehte ihm um die Nase und seitdem beobachtet er sie jede Nacht, in der Hoffnung, sie kennen- zulernen.
Jetzt ihr so nahe zu sein, ihren Duft einzuatmen, sie direkt vor sich zu haben, brachte ihn fast um den Verstand. Er wusste, er sollte gehen, aber er konnte es nicht.
»Warum haben sie sich versetzen lassen, doch wohl nicht wegen des schönen Wetters, oder?« Er lachte leise.
»Nein, bestimmt nicht. Eher in Hinsicht auf einen Mord.«
Shia blickte ihr in die Augen und nahm eine unendliche Traurigkeit wahr. Er hätte sie am liebsten in seine Arme genommen, nur mühevoll hielt er sich zurück.
»Konnten sie ihn nicht aufklären?«, bohrte er weiter.
»Nein, es ist jetzt ein Jahr her. Ich habe diesen Fall bisher nicht lösen können. Er war auch Polizist und er war mein Mann.«

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Texte: Oldigor Verlag ISBN: 978-3981426700
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2011

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