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Leseprobe

MAMAROSA

BERNRIEDER ERMITTELT

BUCH 5

OLAF MALY

 

 

 

 

 

 

1

Wenn man von Bad Tölz aus Richtung Süden, auf der Bundesstraße 13, fährt, kommt man zwischen Bad Tölz und Lenggries rechter Hand an einen Weg. Nur ein Feldweg, der ab und zu mit grobem Kies begradigt wird, wenn es nötig ist, aber dennoch immer nur ein einfacher Feldweg bleibt. Ein großes Schild an beiden Seiten der Straße, grün mit goldfarbenen Buchstaben und einem Pferdekopf, zeigt mit einem Pfeil auf das Gestüt Brenninger.

Früher war das einmal ein Bauernhof. Als man endlich einsehen musste, dass Kühe kein Geschäft mehr sind, stellte man den Betrieb ein. Kurz danach starb der letzte Siegel-Bauer, dem der Hof gehört hatte. Seine Frau konnte es nicht ertragen, dass ihr bisheriges Leben mit dem Verkauf der letzten Kuh endete, und ging lange vor ihm. Er wollte den Hof nicht verkaufen. War dort geboren und aufgewachsen. Kinder gab es nicht, also lebte er dort, bis er eben nicht mehr lebte.

Seit Generationen war der Hof in Familienbesitz, bis er der Letzte war. Ohne Familie. Dann stritten sich die Erben, ein paar Verwandte zweiter Linie, für ein paar Jahre, bis diese eingesehen hatten, dass die Anwälte so langsam, aber sicher mehr Geld an der Erbschaft machten als sie selber. Das war das Zeichen, sich entweder zu einigen oder alles zu verlieren. Also wurde der Hof verkauft, das erlöste Geld verteilt, und alle waren glücklich. Wie man das eben sein kann, wenn man nicht das bekommen hat, was man eigentlich wollte.

Der Herr Brenninger bekam den Zuschlag bei der Versteigerung. Seine Frau wollte Pferde züchten. Und er wollte seiner Frau etwas Gutes tun, da sie sich nichts mehr gewünscht hatte als eben das. Ein Gestüt. In ihren Kreisen hatte man Pferde. Und wenn man noch ein bisschen höher angesiedelt sein wollte, eben ein Gestüt.

Der Hof wurde für viel Geld pferdegerecht umgebaut. Zu viel Geld, wie der Herr Brenninger immer sagte, aber nichts dagegen tun konnte. Aus dem Haupthaus, mit angebautem Stall, wurde ein sogenanntes Clubhaus. Im Erdgeschoss gab es Umkleideräume, Duschen und kleine Schränke, in denen die Mitglieder des Reitvereins ihre Sachen lagern konnten. Ein kleiner Bereich wurde als Bar eingerichtet, in der man sich zusammensetzen und über Pferde reden konnte. Das war, wie man sich vorstellen kann, das einzige Thema. Außer der neuen Ausstattungen, denen es ab und zu bedurfte, wie neue Stiefel aus feinstem Leder, den modischsten Reithosen und alles, was man eben so braucht, wenn man Pferde hat, die mehr kosten als der teure Wagen vor der Tür.

Der ganze Raum war mit Zirbenholz ausgeschlagen. Die Wände und die Decke. Der Boden war grob gehobeltes Holz. Man ließ es, wie es seit ewigen Zeiten war. In der Ecke stand noch ein Kachelofen. Auch ein Relikt der Zeit, als es noch ein Bauernhof war.

Im ersten Stock befand sich noch ein kleines Appartement für die Familie Brenninger, sollte jemand von ihnen dort übernachten wollen. Frau Brenninger nahm es des Öfteren in Anspruch, wenn der Weg nach Hause auch nur knapp eine Stunde dauerte. Besonders im Winter, wenn der Schnee hoch lag und man nur mit einem Traktor weiterkommen konnte, was die Fahrt nach Hause beschwerlich oder sogar unmöglich machte.

Der ehemalige Stall neben dem Haupthaus diente als Lagerraum für das Futter und all die anderen Dinge, die man auf so einem Gestüt brauchte.

Gegenüber diesen Gebäuden, dort, wo einmal die Tenne stand, baute man den Pferdestall und angrenzend daran eine Reithalle. Man wollte vom Wetter unabhängig sein. Am Ende des Stalles, der links und rechts Boxen für die Pferde hatte, gab es eine kleine Wohnung für den jeweiligen Aufseher, der die Tage und Nächte dort verbrachte und auf die Pferde achten musste. Es waren kostbare Tiere, die man nicht so einfach allein lassen konnte. In diesem Fall war es eine Aufseherin, die erst seit ein paar Monaten dort arbeitete, nachdem der Herbert Wieser, der Pferdehüter, in Rente gegangen war.

Sie kam aus dem Norden, einer Gegend, in der Pferde schon seit ewigen Zeiten gezüchtet wurden. Hannoveraner. Auch im Gestüt Brenninger züchtete man diese Rasse. Aus geschäftlichen Gründen durften auch keine anderen Pferde in den Boxen stehen. Frau Brenninger achtete genau darauf. Sollte jemand sein Pferd dort unterstellen wollen, dann nur, wenn es eben ein Hannoveraner war. Hatte man keinen, war sie gerne bereit, einen zu besorgen. Fragte man sie nach den Gründen, sah sie einen nur verächtlich an. Wenn man das nicht selber wusste, hatte es wohl keinen Sinn, es zu erklären.

Der Hauptwohnsitz der Brenningers war und ist in Grünwald, einem noblen Vorort von München. Mit einer eigenen Ritterburg. Nicht dass die Brenningers eine hatten, nein, nur am Ort stand eine seit hunderten von Jahren, aber dennoch. Genau genommen seit dem zwölften Jahrhundert. Nicht viele Plätze in Bayern haben noch Ritterburgen. Nur interessieren sich die meisten Einwohner dort nicht sehr für dieses Überbleibsel aus lang vergangener Zeit. Man nimmt sie als gegeben hin und überlässt sie den Touristen. Die Anwohner selbst leben lieber hinter dichten Hecken und manchmal auch hohen Mauern.

Frau Brenninger war Mitte fünfzig, schlank, mit goldblonden Haaren und einer sehr ansprechenden Figur. Sie war nett anzusehen, was sie wohl auch dem jährlichen Aufenthalt in gewissen Einrichtungen zu verdanken hatte, die für viel Geld und Geduld dafür sorgten, dass es auch so blieb. Jedenfalls für ein paar Jahre.

Man sah sofort, wenn man ihr auf dem Gestüt begegnete, wer dort das Sagen hatte. Sie musste es niemandem mitteilen. Ihre Präsenz sagte alles, wenn sie mit leicht wiegenden Schritten durch die Anlage schwebte. Immer mit einer Gerte in der rechten Hand, die sie pausenlos auf ihre linke Handfläche streichen musste. Die Angestellten drehten sich dann um und verrichteten irgendeine Arbeit, auch wenn sie bis dahin keine hatten. Sie vermieden es, sich freiwillig mit ihrer Chefin zu treffen, und zogen es vor, nur zu kommen, wenn sie rief.

An diesem Tag, es war ein Montag, ging Frau Brenninger wie immer als Erstes in den Stall, um nach dem Rechten zu sehen. So fing ihre Woche an. Und ihr Tag, wenn sie auf dem Gestüt war. Das Wochenende verbrachte sie meistens in ihrer Villa in Grünwald, mit ihrem Mann und manchmal auch den Kindern, die zwar schon aus dem Haus waren, aber sich dennoch öfter blicken ließen. Auch das war eine der inoffiziellen und nicht diskutierbaren Abmachungen in der Familie. Dass man sich traf und Zeit miteinander verbrachte.

Es war noch dunkel im Stall. Die Türen waren geschlossen. Da es früh am Morgen war, sah man noch nicht viele Leute auf dem Gelände. Zwei Arbeiter fuhren gerade mit einem kleinen Traktor in die Scheune, um Futter zu holen. Das Wetter war nass und schwer. Es war ein trüber, trister Tag, dieser Montag Ende September. Am Vortag hatte es sogar schon ein bisschen geschneit. Nicht viel, nur ein paar Flocken, als würde sich der Wettergott noch nicht entscheiden können, ob es Regen oder Schnee sein sollte. Also hatte er erst einmal ein paar weiße Flöckchen in den Regen gemischt. Nur so. An diesem Tag war die Luft angefüllt mit Wasser. Es regnete zwar nicht mehr, aber die in der Luft schwebende Nässe setzte sich auf alles, was damit in Berührung kam. Fast konnte man sie schneiden. Die Sonne versuchte vergeblich, sich durch die am Boden liegenden Wolken zu kämpfen. Man sah nur einen kleinen, hellen Kreis, der daran erinnerte, dass da einmal etwas war.

Frau Brenninger blickte nach oben in den Himmel und seufzte ein bisschen. Der Sommer war nun endgültig vorbei. Die Jahreszeit, die sie besonders liebte. Im Radio redete man schon davon, dass es bald Schnee geben würde, so wie gestern, nur eben mehr. Da sie nichts dagegen tun konnte, ließ sie es dabei, einmal geseufzt zu haben. Es beruhigte sie.

Es gab ein großes Tor an einem Ende des Stalles, in das noch eine kleine Tür eingesetzt war. Dort ging man durch, wenn man nur in den Stall wollte. Das große Tor wurde nur, sollte es nötig sein, für die Pferde aufgemacht. Oder für die Anlieferung des Futters und das Entsorgen des Stallmistes. Als sich Frau Brenninger dem Eingang näherte, sah sie, dass die Tür nicht verschlossen war. Das war ungewöhnlich, da sie darauf bestand, abends alle Türen zu verschließen. Sie schüttelte leicht den Kopf, da sie annahm, dass die neue Pferdehelferin es wohl vergessen hatte. Sie würde sie daran erinnern, wenn sie mit ihr redete.

Im Stall angekommen sah sie eines der Pferde im Gang stehen. Die letzte Box auf der rechten Seite war offen. Auch die Tür, die in das Appartement führte, war nicht verschlossen. Es brannte Licht in der Wohnung. Auch das war Frau Brenninger nicht recht. Sie wollte Ordnung. Disziplin. Keine Schlamperei. Langsam stieg ein leichter Groll in ihr hoch, weil sie dachte, dass die neue Kraft, die den Stall kurzfristig übernommen hatte, doch nicht die richtige war. Der Verdruss wurde immer schlimmer, je näher sie der Box kam. Sie wollte schreien, nur sah sie niemanden, den sie anschreien konnte.

Alles war still. Nur die Pferde, die von Natur aus neugierig sind, bewegten sich, um nachzusehen, was denn los sei, und streckten ihre Hälse aus den Boxen. Das Pferd im Gang sah Frau Brenninger nur an, bewegte sich jedoch nicht. Nur sein Kopf ging ruckartig immer ein bisschen nach oben und unten. Es schlug mit den Hufen auf den festen Lehmboden. Die anderen Pferde wieherten oder schlugen leicht gegen die Boxenwände.

Das Einzige, was man hörte, waren die dumpfen Schritte der Frau Brenninger, die schnellen Schrittes in Richtung der Box ging, die offen war. Dabei streichelte sie im Vorübergehen kurz das Pferd, das im Gang stand, um es zu beruhigen.

An der Box angekommen erschrak sie. Die neue Pferdepflegerin lag am Boden. Der Rücken war an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt. Die Arme hingen schlaff am Körper. Das karierte Holzfällerhemd, das sie anhatte, war mit Blut getränkt. Der Kopf lag seitlich auf der Schulter. Die Augen waren weit offen, als wollte sie allen sagen, wie grausam es war zu sterben.

Ein Schemel stand draußen an der Boxenwand. Frau Brenninger setzte sich, sah sich an, was sie nicht begreifen konnte. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen. Und schon gar nicht jemanden, der voller Blut war. Sie vermied es, sich solche Sachen anzutun. Wie sie alles aus ihrem Leben strich, was nicht schön, ästhetisch oder angenehm war. Ihre Aufregung und ihre Wut wegen des offenen Stalles waren einer endlosen Traurigkeit gewichen. Dann nahm sie ihr Handy und wählte die Nummer der Polizei.

2

Kommissar Franz Josef Bernrieder lag oben in seinem Bett. Im ersten Stock. Das Wetter um diese Zeit verlangte ganz einfach, sich dort aufzuhalten. Besonders, wenn man nicht alleine war. Bodennebel hatte sich über die Wiesen gelegt, die vor seinem Haus waren und auf denen der Bauer vom Nachbarhof seine Kühe abgestellt hatte. Sie standen dort und hatten keine Beine. Die waren im Nebel ganz einfach untergetaucht.

»Die Küh schweben in der Luft, Birgit«, sagte er zu seiner Flamme, die gerade aus dem Bad kam und sich einen Morgenmantel anzog. Er hatte immer mehrere parat, falls ein Besuch überraschend kam. Man brauchte sie einfach manchmal, diese leichten, anschmiegsamen Umhänge, die den Körper kunstvoll umhüllen konnten. Wie jetzt eben. Obwohl er sich seine Birgit auch ohne Morgenmantel hätte vorstellen können. Eigentlich sogar viel lieber, was er aber nicht sagte. Sie wusste es ohnehin.

Er hatte Besuch über das Wochenende. Weiblichen Besuch. Sie kam am Freitagnachmittag überraschend bei ihm im Büro vorbei und fragte, ob er am Wochenende schon etwas vorhätte. Natürlich, meinte er, das schon, sehr viel sogar, aber für sie würde er selbstredend alle Termine absagen.

»Franz, des is total super von dir, weil ich nämlich am Montag heimmuss und dich noch amal seh'n wollt. Weißt eh. Und ich werd für eine Zeit lang nicht kommen. Die Kuren hier werden immer teurer und des Geld immer weniger. Aber vielleicht liegt's an mir, und ich brauch jedes Jahr einfach immer mehr Pflege, was meinst?«

»Birgit, du siehst einfach so umwerfend aus wie immer. Wenn's nach mir geht und mich jemand fragt, brauchst du da gar nix nicht machen. Bleib so, wie du bist, und was immer die andern reden, hör nicht drauf.«

»Des glaub ich dir aufs Wort, du Suppenkasperl. Aber wie ich g'hört hab, is sogar die Heizung in deinem Haus jetz endlich einbaut, also steht dem ja nix mehr im Weg, dass wir uns des da g'mütlich machen. Ich mein, des Bett in der Küch war schon irgendwie romantisch, aber nicht grad warm, b'sonders wenn der Kachelofen aus war.«

»Aber ich hab dich immer warm g'halten, da kannst nix sagen. Und woher weißt du denn des überhaupt jetz mit der Heizung, meine liebe Birgit?«

»Franz, des wissen alle deine Liebschaften, die des hier im Umkreis gibt. Und wir reden mitanander, weißt. Dass da nix passiert. Stell dir nur amal vor, geistig, mein ich, wie so einen Film, weißt, da wär ich bei dir am Wochenend, wir hätten da eine ganz tolle Zeit, und da käm jemand anders. Was Weibliches, mein ich. Da könnt des ja glatt sein, dass du einen Mordfall in deinem Haus haben könnt'st. Ich mein, da bräuchst ja dann nicht lang ermitteln, weil du ja dabei g'wesen wärst. Nur des schaut halt nicht so gut aus, wenn der Hauptkommissar von Bad Tölz in seinem eigenen Haus ermittelt und sich dann selber Fragen stellen muss. Ob er ein Alibi hat, oder wie des heißt. Und warum da eine zweite Frau is, die die andere nicht g'mocht hat. Viele solche Fragen, die nicht beantwortet werden können.«

»Und deswegen sprecht's ihr euch ab? Des glaub ich nicht. Des is nur ein riesiger Schmarrn, was du da sagst.«

»Dann frag halt die andern, wenn'st meinst. Oder lass des doch amal drauf ankommen. Dann möcht ich dich seh'n.«

»Aber Birgit, wie du sehr gut weißt, gibt's da niemanden außer dir.«

»Zurzeit jedenfalls, mein ich«, wie er noch leise hinzufügte, da er sich seiner kleinen Unwahrheit bewusst wurde und die nicht herausposaunen wollte.

»Ja, Franz, des wissen wir. Des is so sicher wie des Amen in der Kirch, nachdem du deine Beichte abg'legt hast. Nur wie auch jeder weiß, gehst du ja gar nicht in die Kirch, also tust du auch nicht beichten. Aber du wirst des dann schon seh'n, wenn du vor dem hohen Gericht stehst und dich der Herrgott fragt, was du so trieben hast, da unten, auf der Erden. Dann kommt des alles raus.«

»Da hab ich gute Beziehungen hier, Birgit, des kannst glauben. Der wird des dann schon richten. Der hat einen guten Draht nach oben.«

»Und deswegen mach ich mir um dich auch keine Sorgen. So, hamma jetz ein Wochenende oder nicht? Weil ich muss des wissen.«

Franz Josef Bernrieder konnte natürlich nicht nein sagen. Noch dazu, da sie andeutete, noch jemand anderen besuchen zu wollen, falls das nichts mit ihm werden sollte. Alleine wollte sie ihr letztes Wochenende in Bad Tölz nun ja doch nicht verbringen. Man hängt an Erinnerungen, meinte sie noch. Und wenn man sich dann nach all den Jahren zurückversetzt, will man doch eine schöne Zeit vor Augen haben. Und nicht ein leeres Hotelzimmer.

Birgit war eine langjährige Freundin, die jedes Jahr für ein paar Wochen nach Bad Tölz kam. Angeblich war sie aus Regensburg, aber ob das so war, wusste er nicht. War auch nebensächlich. Und langjährige, gute Freundinnen sollte man nicht enttäuschen.

Beide saßen gerade gemütlich beim Frühstück, redeten über alte Zeiten und den Tratsch des Ortes, als das Handy klingelte. Franz Josef Bernrieder nahm es ab und hörte zu, was die Partei am anderen Ende zu sagen hatte.

»Und wo is des?«

»Ja, des weiß ich schon, wo des is, aber schick mir die Adress trotzdem durch. Nur dass ich des nicht …«

»Ja, ich dich auch, Korbinian. Servus.«

»Des war mein Büro, Birgit. Ich muss leider weg. Da is eine Tote g'funden worden.«

»Hier in Tölz? Ich kann des gar nicht glauben. Aber ich hab dir des g'sagt am Freitag.«

»Nein, des hast nicht. Du hast phantasiert, dass des in meinem Haus sein soll, weil die Weiber sich gegenseitig umbringen wegen mir. Des is aber in einem Pferdestall. Ganz in der Näh. Du kannst dann, wenn'st fertig bist, ganz einfach die Tür hinter dir zumachen.«

Dann ging er zu ihr, gab ihr noch ein paar Küsschen, säuselte etwas davon, wie aufregend schön das Wochenende war und dass er hoffe, es wäre nicht das letzte gewesen.

»Franz, ich hab dir g'sagt –«

»Birgit, überleg dir des. Ich bin immer da für dich.«

»Außer wenn'st nicht da bist.«

»Dann natürlich nicht, logisch, aber des kommt nicht vor, wenn du mir genug Vorlauf gibst. Oder wenn, dann nur sehr selten. Weil wann jemand hier bei uns umbracht wird, da hab ich noch keinen Einfluss drauf.«

Dann gab es noch ein paar Küsschen, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

3

Den Ersten, den er sah, als er vor dem Stall des Reitergutes parkte, war Korbinian Schuhnagel, den Polizisten in seinem Revier. Einen der Polizisten. Dieser zeigte ihm, nachdem man sich gegenseitig mit einem herzlichen Servus begrüßt hatte, wo es langging.

Das Auto von Amelie Hammer, die Spurensicherung in Person, und auch eine hilfreiche Kollegin in schwierigen Sachen, stand neben dem Stall. Sie lief vor der Box herum und machte Bilder. Er sah sie schon von der Tür aus. Das gab ihm die Gewissheit, wohin er zu gehen hatte.

Neben der Box war eine Frau, die auf einem Schemel saß und telefonierte. Sie war ziemlich weiß im Gesicht, als wäre ihr nicht ganz wohl.

Dr. Wilhelm Mittler, der diensthabende Arzt, der den Tod festzustellen hatte und die Obduktion veranlassen würde, redete ebenso gerade in sein Telefon. Alles und jeder schien beschäftigt zu sein.

»Wenn ich hier amal a bisserl stören darf«, sagte er, als er auf die Gruppe getroffen war, die scheinbar einiges zu tun hatte.

»Könnt mich da amal bitte jemand einführ'n und mir sagen, was da los is?«

Amelie übernahm es, ihn aufzuklären. Sie waren auch gute Freunde, hatten viele Fälle miteinander gelöst, verstanden sich prächtig. Er hatte ihr sogar früher, als sie noch nicht verheiratet war, Avancen gemacht, die allerdings nie erwidert wurden. Was, wie er immer betonte, ihr Verlust war, nicht seiner.

»Franz, schön, dass du den Weg hier raus g'funden hast. Des is die Frau Brenninger«, wobei sie auf die Frau zeigte, die auf dem Schemel saß und immer noch telefonierte. Ihr Gesicht hatte seine Farbe noch nicht verbessert.

»Ihr g'hört des hier alles. Und wie sie in der Früh amal nachschau'n wollt, was in ihrem Betrieb so los is, hat sie die Frau Katrin Harlinger, so heißt die Tote, da g'funden.«

Franz Josef Bernrieder dankte für die kurze Einführung, sah Frau Brenninger an, die immer noch am Telefon hing, als sei es ihr angewachsen und ohne sich um irgendetwas um sie herum zu interessieren, und ging näher an das Mordopfer heran. Dr. Mittler stand in Sichtweite und sah den Kommissar an.

»Des schaut nicht gut aus, Doktor.«

»Nein, Franz, des tut's wirklich nicht. Ich geh davon aus, dass des so sieben oder acht Messerstich sind, die da jemand in die rein hat. Grausam. Wie kann man so was nur machen? Des frag ich mich immer. Ein oder zwei hätten doch g'reicht.«

»Ja, des is wirklich grausam. Und warum des jemand macht und wer des war, des werden wir schon rausfinden. Wie is sie denn g'storben? Hat des lang dauert?«

»Kommt drauf an, welcher Stich zuerst war. Einer is genau ins Herz. Wenn des der erste Stich war, dann is schnell gangen. Aber die in München können dir dann schon mehr sagen.«

»Wissen wir schon, wann des passiert is?«

»Ich würd sagen zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr nachts. Ungefähr. Jedenfalls so um Mitternacht rum. Plus minus zwei Stunden halt.«

»Gut, des reicht mir schon. Ich hoff, die hat nicht leiden müssen. So eine junge Frau. Richtig schad. Jetz brauch ma nur noch den Mörder finden.«

»Ja, Franz, des machst. Die Person möcht ich seh'n, die so was g'macht hat.«

Franz Josef Bernrieder sah sich die Tote noch eingehend an. Sie war jung, keine dreißig würde er schätzen. Mittellange, dunkelblonde Haare, ein fein geschnittenes Gesicht mit kleiner Nase. Ihre Hände waren von der Arbeit ein bisschen rau. Man sah, dass sie das nicht gewohnt war. Ihre Fingernägel waren manikürt, aber durch die Tätigkeit im Stall teilweise abgebrochen. Angezogen war sie mit einem karierten Hemd und einer Jeans. An den Füßen hatte sie grobe Stiefel.

»Amelie, wissen wir schon, wer des is? Ich mein, außer dem Namen.«

»Die Leut sind grad dabei in der Wohnung und schau'n nach. Sie hat hier g'arbeitet, aber erst seit ein paar Wochen. Sagt die Frau Brenninger.«

»Dann reden wir doch amal mit ihr.«

»Die hängt nur am Telefon.«

»Nicht mehr lang.«

Franz Josef Bernrieder ging zu dem Schemel, auf dem Frau Brenninger immer noch saß, das Telefon fest ans Ohr gedrückt.

»Frau Brenninger. Franz Josef Bernrieder, Kommissar von Bad Tölz. Wir müssen mitanander reden«, sagte er etwas lauter als sonst.

Keine Reaktion. Sie blickte nur ganz kurz auf und ignorierte den Kommissar.

»Frau Brenninger«, sagte er dieses Mal noch ein bisschen lauter und bestimmter. »Legen's jetz endlich des Telefon auf und reden's mit mir. Sonst muss ich polizeiliche Gewalt anwenden. Und des wollen's doch nicht, oder?«

Das gab ihr scheinbar zu denken, da sie dem Gesprächsteilnehmer sagte, sie würde wieder anrufen. Sogar ihre Gesichtsfarbe verbesserte sich und wurde röter.

»Drohen Sie mir nicht, Herr Kommissar, sonst werden Sie mich kennenlernen.«

Dabei stand sie auf und setzte ein Gesicht auf, das man nur mit böswilliger Autorität bezeichnen konnte. Franz Josef Bernrieder ging einen Schritt zurück. Er wollte auf keinen Fall getroffen werden, sollte es der Frau Brenninger einfallen, gewalttätig zu werden.

»Wir müssen reden, Frau Brenninger. Ich muss wissen –«

»Was ich weiß, hab ich schon allen hier erzählt. Fragen Sie Ihre Kollegen, oder wer immer sich hier herumtreibt und alle Pferde verrückt macht.«

»Gut, Frau Brenninger, jetz beruhigen wir uns erst amal. Wenn's wollen, können wir auch ins Präsidium fahr'n, und da können's mir dann des alles noch amal erklär'n, was hier passiert is.«

»Nix werd ich. Wie ich hier reinkommen bin, hab ich die Frau Harlinger hier liegen seh'n, und dann hab ich die Polizei ang'rufen. Des is alles. Und jetz lassen's mich in Ruh. Ich hab zum Arbeiten. Wie Sie seh'n, hab ich grad eine wichtige Hilfskraft verlor'n, und der Betrieb muss weiterlaufen.«

Damit drehte sie sich auf ihrem Absatz um und ging schnellen Schrittes nach draußen. Amelie, die sich alles mit angesehen hatte, meinte, diese Frau wäre ein Stück Arbeit, die er sich da aufgeladen hat.

»Nix hab ich mir da aufg'laden. Und wenn ich die vorladen muss, dann mach ich des. Die kommt schon amal runter von ihrem Ross.«

Dann holte Franz Josef Bernrieder erst einmal tief Luft, um sich zu beruhigen.

»Und wo, hast g'sagt, hat die g'wohnt? Hier im Stall?«

»Nein, Franz, hinter dir, in der Wohnung.«

Der Kommissar sah sich um und blickte auf eine Tür, die halb offen war. Licht kam aus dem Spalt und fiel auf den staubigen Boden. Die Strahlen machten den Staub als Linie sichtbar, der aufgewirbelt wurde.

»Dann geh ich da amal rein und schau.«

»Aber mach meine Leut nicht verrückt, Franz.«

Franz Josef Bernrieder ignorierte es. Er wusste, was er durfte und was nicht.

Die Wohnung bestand aus einer kleinen Küche mit modernen Geräten, wie einem Elektroherd mit Keramik- Kochplatten, einem Geschirrspüler und anderen Maschinen, die das Leben einfacher machen sollten. Angrenzend dazu war das Wohn- und Esszimmer, wenn man es denn so nennen wollte. Es gab keine Wand dazwischen, ein Bereich ging nahtlos in den anderen über. Weiter hinten war noch eine Tür, die ins Schlafzimmer führte, welches auch das Bad beinhaltete. Der Boden war durchgängig mit Holzbohlen belegt. Rau gehobelt, unbearbeitet. Darüber lagen verschiedene Fleckenteppiche. Ein Hauch von bayerischer Gemütlichkeit ergab sich dadurch, der auch noch durch einen kleinen Kachelofen in einer Ecke ergänzt wurde.

Alles war einfach, aber zweckvoll eingerichtet. Bilder von Pferden hingen an der Wand, eine Pferdekopfskulptur stand in einem Regal. Bücher reihten sich dort aneinander. Hauptsächlich Fachbücher über Pferde und auch manche Romane. Belanglose, einfache Bücher, die wahrscheinlich irgendjemand einmal gekauft hatte. Vielleicht meterweise, um das Regal zu füllen, da es keine Verbindung zueinander gab. Manche sahen aus, als hätte sie niemand je gelesen.

»Habt's was g'funden?«, fragte er die Leute, die dabei waren, Sachen in Tüten zu füllen.

»Wir ham des Telefon und den Computer. Was da drauf is, können wir erst in a paar Tag sagen.«

»Des macht's. Habt's den Ausweis g'funden?«

»Hamma. Die Frau heißt Katrin Harlinger.«

»Des wiss ma schon. Ich mein die andern Daten. Geburtstag und so.«

»Des hat dann alles die Chefin. Mit der müssen's dann reden.«

»Eh klar. Dann lass ich euch arbeiten.«

»Des is a saugute Idee, Franz.«

Als er wieder zurück auf dem Weg zur Box war, kam ihm Amelie entgegen.

»Franz, wir ham des Messer g'funden, mit dem sie wahrscheinlich erstochen worden is. Noch nicht sicher, aber des sieht so aus.«

»Des hat der Täter dag'lassen?«

»Schaut so aus.«

»Wenn des so is, werden wahrscheinlich keine Fingerabdrück oder andere Spuren da drauf sein. So blöd is ja niemand, dass er sei Visitenkarten da liegen lasst. Aber nachschau'n könnt's ja trotzdem.«

»Des machen wir sowieso, aber da wirst recht ham. So blöd is keiner.«

»Lasst's mich wissen, ob da was is mit Leut, die die kennt ham und so. Ich mein, Kontakte auf'm Telefon, Computer und so. Verstehst eh. Wir müssen wissen, mit wem die Kontakt g'habt hat. Die meisten Morde passieren im Bekannten- oder Freundeskreis. Und wie Raubmord schaut des ja nicht aus.«

»Franz, wir machen des nicht des erste Mal.«

»Meine liebe Amelie, des weiß ich doch. Hab ja nur g'meint. Ich fahr jetz ins Büro und schau nach, wo die Eltern wohnen. Jemand muss die ja informier'n. Ring hat's keinen am Finger, also geh ich amal davon aus, dass sie nicht verheiratet war.«

»Des muss nix heißen, Franz, aber des kannst ja dann fragen, wenn'st mit die Eltern red'st.«

»Amelie, danke für den guten Tipp, aber ich mach des auch nicht des erste Mal.«

Damit verabschiedete er sich noch und ging nach draußen. Als er den Stall verlassen hatte, sah er Frau Brenninger immer noch am Telefon wild gestikulierend mit jemandem reden.

Demonstrativ stellte er sich daneben und sah sie an. Sie erwiderte den Blick, wenn auch nicht sehr freundlich. Dann, nach ein paar Minuten, legte sie endlich auf und fragte den Kommissar, ob sie ihm helfen könne.

»Des können's. Wir müssen wissen, wer die Frau Harlinger war, wie lang sie hier g'arbeitet hat, wo's herkommen is und des alles.«

»Des fragen's am besten meine Assistentin, die Marianne. Da gehn's da ins Haupthaus und rufen's nach ihr. Und jetz müssen's mich entschuldigen, weil ich hab einen Betrieb zum Leiten.«

Frau Brenninger drehte sich um und verschwand im Nebel, der sich immer noch nicht aufgelöst hatte, ganz im Gegenteil. Immer schemenhafter wurde ihre Figur, je weiter sie sich entfernte. Dem Franz Josef Bernrieder kam es vor, als würde sie vom schwebenden Wasser verschluckt werden, eins werden mit der grauen Wand. Es störte ihn nicht, sie langsam verschwinden zu sehen, ganz im Gegenteil.

Nur der Gedanke daran, dass er einmal in seinem Leben mit so einer Frau leben müsste, gab ihm Schwindelgefühle.

4

Marianne Kirchberger, so stand es auf einem kleinen Schild auf dem antiken Schreibtisch, hinter dem sie saß, sah ihn von unten an und setzte ihr bestes Lächeln auf, das sie hatte.

»Hab schon g'hört, dass Sie der Kommissar sind. Ich hab ja noch nie nicht einen Kommissar g'sehn, aber ich muss sagen, wenn alle so gut ausschau'n wie Sie, dann muss man keine Angst ham vor der Staatsgewalt.«

»Danke für des Kompliment, Frau Kirchberger.«

»Nix Kirchberger. Meine Freund nennen mich Annie. Aber nur die guten Freund dürfen des.«

»Dann bleiben wir erst amal bei Marianne. Der Rest könnt ja noch werden.«

»Was ich schon hoffen möcht, Herr Kommissar. Aber Sie wollen doch sicher was wissen. Wegen der Katrin, oder? Oder sind's nur wegen mir kommen?«

Franz Josef Bernrieder kam es seltsam vor, so von oben herab mit seiner neuen Bekanntschaft zu reden.

»Ham's an Stuhl irgendwo? Des is so blöd, wenn ich hier steh und Sie sitzen da.«

»Da is ein Besprechungszimmer, Herr Kommissar, da könn ma rein.«

Marianne Kirchberger stand auf und ging voraus. Sie hatte einen dunklen Rock an, der ihr über die Knie ging, und eine gestrickte Trachtenjacke. Helles Blau mit schwarzen Borten und goldenen Knöpfen. Sie sah teuer aus. Ihre dunklen Haare hatte sie kurz und glatt am kleinen Kopf. Die blauen Augen waren das Erste, was man bemerkte, wenn man ihr ins Gesicht blickte. Und die kleine Nase, die sehr gut zu ihr passte.

Der Raum war klein, aber sehr gemütlich. Ein antiker, langer Tisch stand in der Mitte. Alles in diesem Büro schien aus einem Antiquitätenladen zu stammen. An der Stirnseite war ein Bildschirm an der Wand befestigt. Darunter ein Lautsprecher auf einem kleinen Regal.

»Schön ham's es hier«, sagte der Kommissar, als man sich gesetzt hatte.

»Ja, die Chefin mag alte Sachen.«

»Aha, jetz weiß ich, warum's mich nicht mag.«

Das zauberte der Marianne ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Dabei zeigte sie eine makellose Reihe weißer Zähne. Sie war wirklich schön anzusehen.

»Aber zum Thema, Frau … ich mein Marianne. Ham Sie die Katrin Harlinger näher kennt?«

»Nein, die war ja erst a paar Monat da. Wie der Herbert, der des immer g'macht hat, in Rente gangen is, hat die Frau Brenninger jemand g'sucht und eine eing'stellt von Hannover. Sie wollt, dass sie jemand hat, der mit die Pferd da draußen irgendwie vertraut is. Sind ja alle von da oben, von Hannover. Die is aber zurzeit in einem längeren Urlaub. So Auszeit, nennt man des, glaub ich. Und deswegen is die Katrin bei uns g'wesen. Sie hat sich g'meldet, wie wir jemanden g'sucht ham, so als Vertretung und so, fragen's mich aber nicht, wie des gangen is. Sie wollt nur ein paar Wochen amal seh'n, wie des is und so. Ich glaub, die hat von irgendwas wegwollen. Ich bin mit ihr dann a paarmal ausgangen, damit's weiß, wo man da in der Näh hingeh'n kann. Des war alles. Viel g'redet hat's nicht. Persönliches, mein ich. Ich hab des G'fühl g'habt, dass a bisserl traurig war. Und dass da was war, was sie nicht erzählen wollt.«

»Und da hat's Ihnen nix g'sagt? Ich mein, woher's kommt und warum's hier herkommen is.«

»Nicht direkt. Sie is von Passau, hat's g'sagt. Ihre Eltern ham da ein G'schäft, aber fragen's mich nicht, was. Ich glaub halt, dass die von was abg'haut is, wenn's wissen, was ich mein. Vielleicht wollt's ganz einfach amal was anders machen. Oder einfach nur allein sein. Heut nehmen die Leut ja so ein Sabbat, oder wie die des nennen. Les ich immer in die Illustrierten. Zum Entschleunigen oder wie des heißt. Versteh'n Sie des?«

»Ja, des soll des bedeuten, dass ma da alles a bisserl langsamer macht. Einfach amal keinen Stress ham für eine Zeit.«

Marianne Kirchberger schüttelte nur leicht den Kopf. Sie konnte sich das wahrscheinlich nicht vorstellen. Stress.

»Ham Sie da eine Telefonnummer von der Familie oder so?«, riss der Kommissar sie aus ihren Gedanken.

»Nein, des hamma nicht. Ich wollt's immer fragen, weil des is doch gut, wenn ma so einen Kontakt hat. Nur im Notfall und so, wie jetz, aber ich bin nicht dazu kommen.«

»Na ja, des werden wir schon noch rausfinden. Wir ham ja den Namen. Und sonst hat's nix erzählt? Vielleicht von Freunden, Bekannten oder so?«

»Nein, Herr Kommissar, eben nix, aber sie war ja auch erst a paar Wochen da. Und g'wohnt hat's ja in der Wohnung vom Herbert. Weil der is zu seiner Tochter irgendwo an der Nordsee umzogen. Können Sie sich vorstellen, in so einer Gegend zum Wohnen? Ich mein, wo's des ganze Jahr regnet? Und einen Wind soll's da geben, da haut's einen glatt um. Ich werd des nie versteh'n.«

Bei dem letzten Satz wurde sie wieder nachdenklich und schüttelte leicht den Kopf.

»Ja, dann dank ich Ihnen erst amal.«

Damit stand Franz Josef Bernrieder auf und wollte zur Tür gehen.

»Des war aber kurz, Herr Kommissar. Ich hoff, Sie brauchen mich noch amal. Ich mein, wegen dene Auskünfte und so.«

»Da bin ich mir total sicher, dass ich noch amal mit Ihnen reden muss. Aber jetz lass ich Sie arbeiten.«

Sie lächelte ihn noch einmal mit ihren makellosen Zähnen an, stand auf, richtete ihren Rock und begleitete Franz Josef Bernrieder aus dem Zimmer. Dann verabschiedeten sie sich kurz, und er verließ eiligst das Haus. Das war ihm nun doch ein bisschen direkt. Sie war zwar sehr nett, aber das ging ihm einfach zu schnell.

5

Im Büro angekommen machte er sich sofort daran, die Eltern der Katrin Harlinger ausfindig zu machen. Es gab nur wenige mit dem Namen Harlinger in Passau, und nur einen, der mit einem Geschäft in Verbindung stand. Es war eine Arztpraxis. Dort versuchte er es zuerst.

»Praxis Dr. Harlinger, was kann ich für Sie tun?«, antwortete eine nette Stimme am anderen Ende der Leitung, als er die Nummer gewählt hatte.

»Ja, guten Morgen, des is das Polizeirevier in Bad Tölz. Kommissar Bernrieder mein Name. Ich müsst wissen, ob Ihnen eine Katrin Harlinger bekannt ist.«

Für wenige Sekunden, die dem Franz Josef Bernrieder allerdings sehr lange vorkamen, geschah nichts.

»Hallo, sind's noch dran?«

»Ich verbind Sie, bitte warten's einen Augenblick.«

Dann knackte es in der Leitung. Eine sonore, männliche Stimme meldete sich.

»Dr. Harlinger. Was bitte hat Katrin mit der Polizei in Bad Tölz zu tun? Ist etwas passiert?«

»Franz Josef Bernrieder mein Name, Herr Doktor. Sind Sie verwandt mit der Frau Katrin Harlinger?«

»Das ist meine, ich meine, unsere Tochter. Aber warum rufen Sie an?«

»Kann ich Ihnen ein Bild auf die Nummer schicken? Wir müssten wissen, ob des Ihre Tochter is.«

»Können Sie. Aber sagen Sie doch bitte, was los ist.«

Nach nicht einmal einer Minute meldete sich Dr. Harlinger zurück.

»Ja, das ist unsere Tochter. Allerdings sieht das Bild nicht sehr gut aus.«

»Ja, verstehe. Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen, Herr Doktor, aber Ihre Tochter ist heute Nacht verstorben.«

Es war Stille am Telefon. Man hörte nur ein leises Atmen des Teilnehmers am anderen Ende. Ein schweres Atmen.

»Herr Doktor, sind's noch da?«

»Ja, ja, ich bin noch da. Was ist denn passiert?«

»Das wissen wir noch nicht, aber wir sind dabei. Sie müssten dann bitte amal nach München kommen und Ihr Tochter identifizier'n. So schnell wie möglich, wenn's geht. Ich schick Ihnen die Adresse, wo's hinmüssen.«

Wieder dauerte es eine Weile, bis sich Dr. Harlinger zurückmeldete.

»Machen wir. Ich gebe Ihnen Bescheid.«

Dann hörte man nichts mehr. Der Herr Doktor hatte aufgelegt.

Amelie kam ins Büro. Es war immer ein schöner Anblick für Franz Josef Bernrieder, seine Mitarbeiterin zu sehen. Sie verstanden sich gut. Sie war verheiratet, hatte Kinder, war also außer Reichweite. Vielleicht verstanden sie sich deswegen so gut.

»Wir ham des Telefon g'funden von der Toten. Wie du dir vorstellen kannst, hat des einen Passcode.«

»Oder einen Fingerabdruck.«

»Noch besser. Gesichtserkennung. Wir ham's g'schafft, des zum Aufmachen. Da sind nur wenige Nummern g'speichert. Eine von einem Harald Harlinger, eine von Papa und eine von Mama. Dann noch zwei andere. Die eine is Georg und die andere Carola. Der Georg hat die letzten zwei Wochen öfter ang'rufen. Wir ham des schon überprüft. Die G'spräch waren immer sehr lang. So dreißig, vierzig Minuten.«

»Des macht ma doch nur, wenn ma sich viel zum Erzählen hat.«

»Oder wenn man verliebt is. Weil die Nummer is von Passau.«

»Des heißt, du nimmst an, dass des ein Freund war oder so und die sich nur am Telefon unterhalten ham, weil die in Tölz is und der in Passau.«

»Des mein ich.«

»Dann lass uns doch den Georg amal anrufen.«

Franz Josef Bernrieder wählte die Nummer. Eine aufgeregte, ungeduldige Stimme meldete sich und fragte, was denn los sei.

»Polizeidirektion Bad Tölz. Sind Sie ein gewisser Georg?«

»Was heißt ein gewisser Georg. Is des ein Witz oder was? Da hab ich schon bessere g'hört.«

»Nein, des is leider kein Witz. Wir müssten wissen, wie Ihr Nachname is.«

»Kobler. Georg Kobler. Und wer sind dann Sie?«

»Franz Josef Bernrieder von der Polizei in Bad Tölz. Kennen Sie eine gewisse Frau Katrin Harlinger?«

»Ob ich die kenn? Des is meine Verlobte. Is was mit ihr?«

Inzwischen schien dem Herrn Kobler etwas seltsam vorzukommen. Er wirkte nervös. Nicht in dem gleichen Sinne, wie als er das Telefonat angenommen hatte. Da waren es Ungeduld, Eile, Stress. Nun waren es mehr Angst und Unbehagen.

»Ja, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir heute Morgen Frau Harlinger tot aufgefunden haben.«

Wie zu erwarten war Stille am Telefon. Gespräche wie diese waren immer etwas, was Franz Josef Bernrieder am wenigsten mochte. Er wusste nicht, wie man sich verhalten sollte. Es gab kein Rezept für die Überbringung von schlechten Nachrichten. Und jeder vernahm sie anders, aber die ersten Minuten waren immer dieselben. Man musste sich mit der Nachricht vertraut machen. Sie wirken lassen und verstehen. Erst wenn sich die Worte in Gefühle verändert hatten, war es möglich, sie zu verarbeiten. Worte sind nur ein Gerüst, und es liegt am Einzelnen, was wir daraus machen.

»Was is passiert?«, sagte Georg Kobler leise. Er schien sein Weinen zu unterdrücken.

»Das können wir Ihnen am Telefon leider nicht sagen. Sie müssten dann schon amal zu uns reinkommen. Wir wollten dann auch amal mit Ihnen reden, wegen der Frau Harlinger. Sie scheinen derjenige zu sein, der sie am besten kannte.«

»Ja, obwohl die Katrin niemand richtig kennt hat. Sie war sehr eigenwillig und selbstständig.«

»Wann können's hier sein, Herr Kobler?«

»Ich fahr gleich los. Ich will wissen, was los is. Des lasst mir keine Ruhe, des Ganze. Ich könnt am Nachmittag da sein.«

»Des machen's, Herr Kobler. Wir warten auf Sie.«

Damit war das Gespräch beendet. Amelie hatte über den Lautsprecher mitgehört.

»Bin g'spannt, was da war. Wenn die verlobt sind, er in Passau wohnt und sie hier, dann stimmt da was nicht. Ich möcht nicht, dass mein Verlobter drei Stunden mit'm Auto weg is.«

»Außer des muss sein. Weiß man ja nicht, warum des so war. Aber des find ma schon noch raus. Habt's was mit dem Messer anfangen können?«

»Wir wissen nur, dass des des Messer war, des der Mörder benutzt hat.«

»Oder die Mörderin. Ich mein, Frauen sind ja heut zu allem fähig.«

»Waren's schon immer, Franz, aber Frauen bringen die Leut meistens mit Gift um. Des is eleganter, dauert länger und macht net so viel Dreck.«

»Aha, deswegen also. Hab mich schon g'wundert, warum die des bevorzugen.«

»Nicht nur deswegen. Aber noch amal wegen dem Messer. Wir ham nix g'funden, keine Abdrücke, keine DNA, schon gleich gar nix. Der Täter muss des genau geplant haben und hat immer Handschuh ang'habt.«

»Aber meistens lassen die dann doch was am Tatort z'ruck. Müsst's halt noch amal schau'n. Irgendwas muss da sein. Heut kann man doch sogar Sachen finden, die man gar nicht sieht.«

»Mein lieber Franz, wenn die Person, die des g'macht hat, was dag'lassen hat, dann finden wir des. Da kannst dich drauf verlassen. So gut kann man sich gar nicht einpacken, dass man nix findet. Aber jetz lass ich dich wieder allein, Franz. Ruf mich an, wenn'st was brauchst.«

Sie war noch nicht aus der Tür, da hatte Franz Josef Bernrieder noch eine Frage.

»Hast schon was vor am Mittag?«

»Ja, hab ich. Mein Mann kommt, und wir setzen uns in die Cafeteria.«

»Ja, Amelie, des is unser Problem, dass du so gebunden bist. Aber du weißt ja. Des ist nicht mein Schaden, sondern deiner.«

»Ich seh des nicht als Problem, Franz, ganz im Gegenteil. Und jetz lass ich dich arbeiten.«

Damit verschwand sie auf leisen Sohlen und ließ den Kommissar allein auf seinem Stuhl zurück. Er sah ihr noch nach, bis sie im Gang verschwunden war.

6

Sein Freund, Pfarrer Lothar Kolb, rief an, als er gerade zum Essen gehen wollte.

»Mein lieber Lothar, was kann ich für dich tun? Oder rufst du nur so an? Was mich natürlich auch freut, keine Frage.«

»Franz, ich mach's kurz. Ich hab zwei Sachen. Erstens bräuchte ich deinen Freund Gustl, den Herrgottsschnitzer von Gottes Gnaden.«

»Soll er dir einen Herrgott schnitzen? Des macht der bestimmt. Musst ihm nur sagen, wie der ausschau'n soll.«

»Nein, mein Lieber. Ich glaube, da gibt es schon genug Versionen. Nein, ich hab da ein paar Dinge, die ich will, dass er sich anschaut. Und um ihm das schmackhaft zu machen, und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes, würde ich dann morgen noch eine Rehschulter in den Ofen schieben. Wieder ein solches Reue-Projekt eines einsichtigen Sünders, der damit wahrscheinlich seine Nachtruhe erlangen möchte.«

»Wenn ich ihm des erzähl, is dem Gustl seine Nachtruhe auch kaputt, weil er des nicht erwarten kann. Für ein gutes Essen lasst der alles liegen und steh'n.«

»Dann freu ich mich auf euch zwei morgen Abend. Jetzt muss ich geh'n. Des Altersheim ruft. Ich bin dort zum Essen eingeladen.«

»Des klingt nicht grad nach Sterneküche.«

»Muss es auch nicht, mein Freund. Manchmal muss man Opfer bringen. Besonders in meiner Berufung. Und oft sind die Essen dort besser als ihr Ruf.«

»Dann wünsch ich dir, dass des mit dem Ruf hinhaut und schnell vorbeigeht. Bis morgen dann.«

Nachdem das Gespräch beendet war, machte sich Franz Josef Bernrieder auf den Weg in die Schnitzerei. Er hatte ohnehin vor, seinen Freund Gustl Kernbauer zu besuchen. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass er

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Olaf Maly
Cover: Vivian Tan Ai Hua
Korrektorat: Sabrina Undank, TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2023
ISBN: 978-3-96714-368-3

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