Kommissar Wengler saß in seinem Wohnzimmer, oben im dritten Stock, in Giesing. Dort, wo die Straßenbahn seit ihrer Erbauung die Kurve nimmt, um gegen Osten zu fahren. Was man immer an dem quietschenden Geräusch mitbekommt, wenn die Tür zur Straße auf ist. Zum Balkon eben. Na ja, zum französischen Balkon. Zu einem richtigen hat es nie gereicht. Nur eine Tür nach draußen, mit einem Geländer davor, dass man nicht aus Versehen durch diese geht und sich unten auf dem Bürgersteig wiederfand. Nun, man selbst würde sich sicher nicht wiederfinden. Andere schon. Der Sanitäter, zum Beispiel, der bedauernd den Tod feststellen würde, indem er nach oben blickte, wo eben diese Tür aufstehen würde. Wenn sie kein Geländer hätte. Man hatte diese Tür nachträglich nach dem Krieg eingebaut, um die Wohnung attraktiver zu machen. Damals musste man noch Mieter suchen.
Aber das würde dem Kommissar nicht passieren. Das mit dem Hinabstürzen vom französischen Balkon. Er wohnte dort seit seiner Jugend, also wusste er um die Gefahr und vermied, sich der Öffnung riskant zu nähern. Außerdem war seine Wohnung mitten in Giesing, wo man irgendeine Tür geflissentlich sowieso nicht zu oft aufhaben sollte.
Es war heiß an diesem frühen Abend, als er mit seinen Freunden dort vor seinem Pseudobalkon saß und mit ihnen Schafkopf spielte. Diese waren der Hintermeier Egon von der Glockenbachstraße und der Schäfer Franz aus Giesing. Sie saßen an der offenen Tür, da dies wenigstens ein bisschen Kühle brachte. Und das war dringend nötig, wegen der Hitze eben. Wenn es auch nur ein leichter Luftzug war, der von der Straße nach oben zog. Wie man sich vorstellen konnte, war dieser Schwall von Luft nicht gerade eine sehr gesunde Angelegenheit, da um diese Zeit immer noch die Autos fuhren. Wie eigentlich um jede Zeit. Besonders der Bus 52 vom Bahnhof nach Neuperlach und zurück. In der Stoßzeit alle zwanzig Minuten. Wenn dieser den Berg, es war ein kleiner Hügel, eigentlich kein Berg, hinauffuhr, musste ein Gang zurück geschaltet werden, was aus dem armdicken Auspuff, der nach oben ging, einen gewaltigen Schwall von rußigem Abgas entweichen ließ. Dann wurde es für kurze Zeit dunkel am Himmel. Je nachdem, wie der Wind wehte.
Herbert Wengler hatte allerdings auch ein bisschen vorgesorgt, um es seinen Freunden ein wenig gemütlicher zu machen. Durch ein paar Beziehungen hatte er es gerade noch geschafft, einen der wertvollen Gebläse zu ergattern, die seit Wochen ausverkauft waren. Es gab sie nur noch unter der Hand. Sogar seine Bekanntschaften, die wirklich wussten, wie man solche Dinge, die nicht zu haben sind, bekam, hatten Probleme. Aber dort stand er nun. Auf dem Tisch seiner Mutter, der Herrgott hab sie selig, auf dem immer die Vase seiner Tante stand. Die musste weichen. Für den Ventilator. Auf höchster Stufe eingestellt, blies er die warme Luft in den Raum und letztendlich durch die französische Balkontür ins Freie. Deswegen kam auch der Geruch der Straße nicht komplett ins Zimmer, was alle drei als sehr vorteilhaft empfanden.
„Des hast gut g’macht, Herbert“, meinte der Hintermeier Egon, der sonst mit Komplimenten an seinen Freund sehr zurückhaltend war.
„Ja, des muss ich auch sagen. Da hast recht, Egon. Da kann man sagen, was man will, aber in dem Fall hast du wirklich den Hasen abg’schossen.“
„Den Vogel.“
„Was für einen Vogel, Herbert?“
„Man sagt den Vogel abg’schossen, Franz, nicht den Hasen.“
„Has oder Vogel, des is doch total wurscht. Abg’schossen is abg’schossen. Jetz geh endlich raus mit deine blöden Karten. Sonst werd’n wir ja nie fertig.“
„Lass dir nur Zeit. Du bist nur sauer, weilst wieder verlierst.“
„Mein lieber Herbert, des werden wir seh’n, wenn des vorbei is. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“
Beide sahen ihren Freund Franz Schäfer eindringlich an. Und dann einander.
„Ja sag, Franz, seit wann bist du denn so bewandert in der deutschen Literatur. Du kennst ja direkt zwei Sprichwörter. Wenn eins auch nicht ganz richtig war.“
„Ihr zwei unterschätzt mich total. Schon immer. Ich bin nicht so dumm wie ihr des immer glaubts.“
„Ja“, sagte Herbert Wengler.
Wir kennen dich ja auch erst seit mehr als vierzig Jahr. Da kann man schon noch was lernen. Überraschungen gibt’s immer.“
Dann war Ruhe. Alle drei mussten sich auf das Spiel konzentrieren. Besonders Herbert Wengler, da er mit zwei Euro und fünfundzwanzig Cent vorne lag und die nicht wieder verlieren wollte.
Gerade als Herbert Wengler seinen letzten Trumpf spielen wollte, um das Spiel zu seinen Gunsten zu beenden, klingelte das Telefon. Alle drei ignorierten es. Das Klingeln eines Telefons ist in bestimmten Situationen, besonders wenn es um den Endsieg im Kartenspiel geht, total zu vernachlässigen. Als gäbe es das Geläut ganz einfach nicht. Nur, wer immer auch am anderen Ende war, gab nicht auf. Als die letzte Karte gespielt, der Franz und der Egon anfingen, gehörig zu fluchen und auf ihren Freund zu schimpfen, stand Herbert Wengler auf, um es abzunehmen. Er hatte ein bestimmtes Gefühl, wer das sein konnte, war also nicht gerade begeistert, den Weg zu nehmen. Er wusste, dass es das Ende der Schafkopfrunde sein würde. Zwar lag er nun mit drei Euro fünfzig Cent vorne, was ihm eine gewisse Genugtuung gab, er war aber deswegen nicht abgeneigt, das Spiel zu beenden. Seine Freunde aber würden es nicht glauben, dass dieser Anruf nicht von ihm bestellt war. Nur weil er gewonnen hatte. Und es nicht wieder verlieren wollte.
„Ja, des passt ja sauber, des mit dem Anruf, Herbert. Jetz, wo dass du g’wonnen hast, müss ma aufhör’n. Du Gauner, du g’seichter.“
Der Schäfer Franz hatte ihm das nachgerufen, als er auf dem Weg zum Telefon war. Und der Hintermeier Egon musste ihm Recht geben. Nur nutzte es nichts. Das Spiel war zu Ende.
Herbert Wengler kam nach nicht einmal einer Minute zurück.
„Des war der Armin, könnt’s euch ja vorstell’n. Der holt mich in einer halben Stunde ab. Des Spiel da, des müss ma ein anders mal weitermachen.“
„Und des Geld bleibt, wo’s is“, warf der Egon ein.
„Ja, des mach ma so und nicht anders“, gab ihm der Franz wieder Recht.
„Ihr Saulappen, des hab ich g’wonnen und des nächste Mal fangen wir von vorn an. Und jetz schleicht’s euch. Ich muss mir noch was anzieh’n. Der Armin kommt.“
„Wir kommen mit, du Sauhund. Möcht seh’n, ob des der Armin is oder nur eine Ausred’“, warf der Hintermeier Egon noch ein.
Es waren herzliche Worte, die man sich gegenseitig zurief. Man kannte sich und liebte sich. Wie man eben seine Freunde liebte, die man sein ganzes Leben lang kannte. Da waren die Worte gewählt und freundlich. Und wurden geschätzt.
Alle drei verließen also zusammen die Wohnung. Unten angekommen, warteten sie noch auf Armin, Kommissar Wenglers Assistenten. Sie kannten ihn. Und da der Abend früher zu Ende ging als geplant, wollten sie auch wissen was los war. Warum man ihren Freund vorzeitig abberufen hatte.
Es war ein Samstag. Das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite war gerammelt voll. Die jungen Leute standen mit ihren Pappbechern auf der Straße. Unterhielten sich, rauchten, lachten und umarmten sich. Es war eine fröhliche Stimmung. Ein älterer Mann ging mit seinem Hund spazieren und musste sich durch die Menge drängeln. Man beachtete ihn nicht. Es sah aus, als wäre er Luft oder unsichtbar. Vielleicht auch beides.
Die Straßenbahn kam um die Ecke und versperrte zeitweise den Blick auf das Gegenüber. Leute stiegen aus. Wedelten sich mit einer Zeitung Wind ins Gesicht. Es muss heiß gewesen sein in diesem Stahlkäfig, in dem man kein Fenster aufmachen konnte und der langsam durch die Schluchten fuhr. Warum eigentlich nicht, dachte sich der Kommissar. Warum haben die keine Fenster, die man aufmachen konnte. Er hatte einmal ein Bild gesehen von Straßenbahnen in San Francisco. Da gab es keine Fenster. Alles war offen. Da hingen die Leute sogar an den Streben. Mit dem Körper nach außen. Aber München ist halt nicht San Francisco.
Auf seiner Seite war nicht viel los. Es gab kein Café oder einen Laden. Alles spielte sich gegenüber ab. Auch einen Gemischtwarenladen gab es dort neben dem Café, der fast immer aufhatte. Dann, wenn der junge Mann, er hieß Amed, eben Lust hatte. Geregelte Öffnungszeiten gab es nicht. Das war eine Erfindung der westlichen Welt, in der alles geregelt werden wollte. Auch der Kommissar kaufte dort manchmal eine Flasche Bier, wenn es ihm ausgegangen war. Er hatte sogar Augustiner, sein Lieblingsbier. Das machte ihn umso sympathischer.
Armin kam, als Herbert Wengler mit seinen beiden Freunden unten auf der Straße stand und sie sich den Betrieb ansahen, der um sie herum vor sich ging. Sie redeten gestikulierend miteinander. Schwenkten die Arme, gingen im Kreis und rannten herum. So, als würden sie gerade die Probleme der Welt lösen.
Franz hatte sich noch einen Zigarillo angezündet. Niemand durfte in der Wohnung des Kommissars rauchen. Also war er nicht ganz unglücklich, dort zu stehen. Die beiden neben ihm sahen ihn nur mitleidig an. Dann redeten sie wieder, als ginge es um ihr Leben.
Armin kam um die Kurve. Ein bisschen schneller als er sollte. Dann parkte er seinen Wagen auf dem Bürgersteig, was zwar verboten war, aber wenn er sein Blaulicht auf das Dach stellte, wusste jeder, sogar die Politesse im Dienst, dass es ein Polizeiauto war. Und diese Politesse war immer im Dienst. Konnte man denken, wenn man dort wohnte und ein Auto hatte. Irgendwie war sie immer zu sehen. Auch wenn nichts zu sehen war. Wenn man parkte, nur um sich etwas aus dem Laden zu holen, stand sie plötzlich vor einem. Als wäre sie aus der Hölle nach oben gestiegen. Herbert Wengler kannte das von Erzählungen. Er selbst hatte nie ein Auto gehabt, aber da er bei der Polizei war, was alle wussten, erhofften sich manche durch einen guten Kontakt, wie eben er, Gnade zu erwirken. Nur, Politessen sind gnadenlos. Das wusste jeder.
Armin stieg aus und begrüßte die drei, die immer noch heftig zu diskutieren schienen, als er auf sie zuging.
„Geht es wieder ums Schafkopfen, oder wie das seltsame Spiel heißt?“, fragte er, als er nahe genug war, sodass sie ihn verstehen konnten. Und er nebenbei mitbekam, worüber sie sprachen.
Plötzlich war der Disput zu Ende. Als hätte es nie einen gegeben. Wie es so ist in diesem Fall, konnte man sich sehr echauffieren, wenn man nicht derselben Meinung war. Wenn jedoch ein Unbeteiligter meinte, er müsse eingreifen, kam man geeint zusammen und vertrug sich. Man bildete eine Koalition gegen den Eindringling.
„Armin, da verstehst du absolut nichts davon. Also probier des erst gar nicht. Des muss man im Blut ham, verstehst! Mit der Muttermilch aufsaugen. Lernen kannst des nicht, falls da du des vorhast.“
„Keine Sorge, Herr Kommissar. Ich habe nicht vor, die bayerische Tradition des sich gegenseitig Zerfleischens zu erlernen. Wo ich herkomme, spielt man zivilisiert Karten. Auch wenn man verliert, bleibt man Freunde.“
„Wo du herkommst, Armin, is nix zivilisiert. Des wissen wir. Deswegen geh’n wir da nicht hin. Hab ich recht?“
Dabei sah Herbert Wengler seine Freunde an. Beide stimmten lautstark zu. Es war wichtig, in diesem Fall einer Meinung zu sein.
Nachdem man das nun geklärt hatte, fragte der Kommissar, was denn los sei und was ihn gezwungenermaßen aus seinem schönen Heim vertreiben sollte.
„Wir haben einen Toten in einem Schwimmbecken.“
„Ja“, sagte der Hintermeier Egon.
Der wird halt ins Wasser g’sprungen sein und dann is er ersoffen.“
„Oder auch nicht“, warf Armin ein.
„Deswegen müssen wir das überprüfen. Immer wenn jemand zu Tode kommt, wo die Umstände nicht ganz klar sind, schalten wir uns ein. Wenn es so war, wie Sie sagen, sind wir in ein paar Stunden wieder hier und Sie können sich weiter gegenseitig Nettigkeiten an den Kopf werfen.“
„Armin, seit wann red’st du jetz so g’schwollen daher? Hast was g’trunken? Zwei Kölsch, oder wie des gelbe Spülwasser bei euch da heißt.“
„Herr Kommissar, wir haben einen Toten, der auf nicht natürliche Weise ums Leben gekommen ist. Und jetzt würde ich empfehlen, erst einmal dorthin zu fahren. Dann sehen wir weiter.“
„Also, worauf wart ma dann?“
Damit ging der Kommissar zum Wagen. Vorher verabschiedete er sich noch herzlich von seinen Freunden und wünschte ihnen einen guten Weg nach Hause. Das hieß, wie immer das auch an diesem späten Nachmittag ausgehen würde, das Spiel musste man vertagen.
Als beide, der Kommissar und Armin Staller im Wagen saßen, wollte der Kommissar natürlich Einzelheiten wissen. Warum er aus einem so wichtigen Ereignis herausgerissen werden musste, sollte geklärt werden. Und er hoffte, nicht nur für sich selbst, sondern auch für Armin, dass es wirklich wichtig war.
„Viel gibt es nicht, Herr Kommissar. Nur eben diesen Toten im Schwimmbecken.“
„Schwimmbecken? Im Freibad?“
„Nein, es ist in einem Haus in Nymphenburg.“
„Aha, da also, wo die wohnen, wo die sich so ein Becken leisten können. Weil’s zu fein sind, dass die ins Freibad geh’n.“
„Ja, genau da. Und die nicht ins Freibad gehen, da haben Sie recht. Ich wusste, dass Ihnen das Freude machen wird, dort einmal zu ermitteln. Es scheint eine besondere Gegend zu sein. Jedenfalls hat die Haushälterin angerufen, dass der Chef tot im Pool liegen würde.“
„Also nicht die Frau?“
„Nein, aber die ist scheinbar auf dem Weg. Oder vielleicht auch schon da. Ich habe bereits den Mergentheimer hinbestellt. Und der Doktor Brunner ist auch verständigt.“
Klaus Mergentheimer war der diensthabende Kollege und Freund von Herbert Wengler. Er arbeitete in der KTU, dem Bereich, der sicherstellte, dass alle Beweise gesammelt wurden, die man später brauchen könnte, um den Täter zu überführen. Oder besser, dem vom Kommissar überführten Täter auch zu beweisen, dass er überführt worden war. Was im Prinzip auf dasselbe hinauslief.
Eigentlich ist Herbert Wengler der Meinung, dass das Zeitverschwendung war, da er seine Fälle auch ohne diesen Schmarr’n, wie er es nannte, lösen konnte. Nur hatten andere Leute eben andere Meinungen darüber, und deswegen wurde der Leiter der Spurensicherung an den Tatort gerufen.
Doktor Brunner wiederum war der Gerichtsmediziner, der feststellte, woran die Toten gestorben waren.
„Armin, wenn du so weiter machst, braucht man mich schon bald nicht mehr.“
„Keine Sorge, Herr Kommissar. Ich brauche Sie. Und München braucht Sie. Wahrscheinlich ganz Bayern braucht Sie.“
Dazu lächelte er ihn an. Man verstand sich.
Nach einer Weile kamen sie an dem Haus an. Armin hatte die Klimaanlage eingeschaltet und die Fenster zugemacht. Kommissar Wengler genoss die kalte Luft, die ihn anströmte. Er stellte die Luftauslässe genau so, dass der Schwall sein Gesicht traf. Bis es ihm fast zu kalt wurde und er Angst hatte, dass seine Nase Schaden nehmen konnte. Wie jeder wusste, war das die empfindlichste Stelle im Gesicht, wenn es um Kälte ging. Jedenfalls von den Stellen, die frei der Luft ausgesetzt waren.
Das Haus war ein flacher Bungalow. Modern gebaut. Gerade Wände aus Beton. Alles viereckig. Mit viel Glas. Nicht wie man früher Häuser gebaut hat. Mit Ziegel, Putz und weißer Farbe. Nein, es waren graue, unverputzte Wände. Man konnte die Muster der Schalbretter sehen, die den flüssigen Betonbrei in Form gehalten hatten, bis er ausgehärtet war. Zumindest so weit, dass keine Gefahr mehr bestand, dass die Wände wieder einfielen.
Um das Haus herum war ein hoher Zaun aus schwarzen Gitterstäben, eng nebeneinander gereiht. Das Tor zur Garage war in gleicher Höhe und konnte elektrisch zur Seite verschoben werden. Es stand offen. Der Rand um den Zaun herum war mit niedrigen Hecken bepflanzt. Nur vereinzelt gab es einen Baum. Die Fenster waren sehr groß, gingen fast bis zum Boden. Sie waren undurchlässig. Schwarz. Dunkel. Man sah nur schemenhaft Lichter und verschwommene Gestalten, die sich im Haus bewegten.
„Die Fenster sind richtig dunkel. Da sieht man fast nix, Armin.“
„Nur wenn man sie dunkel macht.“
„Heißt was?“
„Dass man die dunkel oder hell machen kann, wie man will. Ich habe da einmal einen Bericht gelesen. Irgendwie geht das mit Strom, aber fragen Sie mich nicht wie. Man hat so eine Fernbedienung und kann das einstellen, wie man will.“
„Da brauchst dann keine Vorhänge mehr.“
„Genau, das ist der Sinn der Sache. Vorhänge passen nicht in so ein Haus. Viel zu altmodisch.“
In der Einfahrt zur Garage sah man die Polizeiwägen der Spurensicherung und einige andere Dienstwägen. Polizisten standen herum und redeten. Blaulichter kreisten unablässig auf den Dächern der Wägen.
Die beiden gingen langsam zum Haus.
„Schalt’s doch amal die blöden Lichter da aus. Muss ja nicht die ganze Stadt wissen, was hier los is.“ Kommissar Wengler sprach zu einem der Polizisten, der gerade teilnahmslos an einem Wagen gelehnt seine Zigarette rauchte.
Dieser murrte irgendetwas in seinen Bart, drehte sich um und verschwand. Die Lichter machte er nicht aus.
„Komm, lass uns außen rum geh’n, Armin. Der Pool wird ja wohl im Garten sein, nehm ich an.“
„Nehme ich auch an.“
Am Schwimmbecken angekommen, sahen sie Klaus Mergentheimer bereits bei der Arbeit. Er unterhielt sich mit einem seiner Leute.
„Klaus, was hamma?“
Klaus Mergentheimer drehte sich um und ging auf seinen Kollegen zu.
„Ja, der Herbert. Bist auch schon da? Hamma ja alle sehnsüchtig auf dich g’wartet.“
„Habt’s nicht, weil der Tote scheinbar schon aus dem Wasser is. Oder is der am Rasen ersoffen?“
„Nein, aber weißt, wir ham denkt, dass des für euch vom Büro besser is, wenn ihr nicht in des Becken springen müsst, um sich den anzuschau’n. Deswegen ham wir den schon einmal frisch dahin g’legt. Nur für euch.“
„Des is aber sehr zuvorkommend von euch. Hätt ich nicht erwartet, soviel Rücksichtnahme. Aber ich glaub, des habt’s ihr nur für den Brunner g’macht.“
Kommissar Wengler sah Doktor Brunner aus dem Haus kommen. Er hatte einen schwarzen Anzug an, als wollte er auf eine Beerdigung gehen.
„Kommen’s jetzt schon mit dunklem Anzug zur Arbeit? So aus Trauer für die Toten, die Sie dann aufschneiden und untersuchen?“
„Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Wengler. Und nein, ich wollte in die Oper. Festspiele, falls Sie davon gehört haben. Und pflichtbewusst, wie ich bin, hab ich das eben verschoben. Sie haben ja auch immer Leichen, wenn man sie nicht braucht.“
„Des nächste Mal sag ich Bescheid bei dene Mördern, dass die auf Sie Rücksicht nehmen sollen.“
„Danke, aber wieso glauben Sie, dass des Mord war? Vielleicht is der ja nur ertrunken?“
„Kann sein. Und sehn’s, deswegen sind Sie hier, dass Sie mir des sagen, ob des Mord war oder ein Unfall. Vielleicht könnt ma des möglichst bald feststellen. Dann könnt ich nämlich wieder heim.“
„Herr Kommissar, daheim sterben die Leut, sagt man in Bayern. Treiben Sie sich ein bisschen herum, machen Sie sich eine gute Zeit, erleben Sie was. Das Leben ist kurz, wie Sie sehen.“
Dabei zeigte er auf die Leiche, die vor ihnen im Gras lag. Dann beugte er sich hinunter, um sich den Mann anzusehen.
Der Tote war in den Vierzigern, konnte man annehmen, obwohl – in diesen Kreisen sollte man sich da nicht so sicher sein. Bekleidet war er mit einer Badehose, die ihm fast bis zu den Knien reichte. Ansonsten hatte er nichts an, was nicht verwunderlich war, da er ja im Schwimmbecken war. Seine blonden Haare waren schon eher spärlich auf seinem Kopf verteilt. Jedenfalls, wenn sie nass waren. Trocken waren sie sicher besser anzusehen. Man sah eindeutig, dass sie nachträglich eingepflanzt worden waren. Die Figur war sportlich, die Haut hellbraun gebrannt. Er sah aus, als hätte er ein gutes Leben gehabt.
„Mein erster Eindruck ist, dass er ertrunken ist. Ich sehe keine Einwirkung von Gewalt oder so, aber endgültig kann ich das erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“
„Dann nehmen’s ihn mit, Doktor. Ich muss wissen, ob des ein Fall ist oder nicht. Ich hab was Besser’s zum Tun, als mich in der Nacht rumzutreiben, nur weil einer in seinem Pool ersoffen is.“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Obwohl ich nicht wüsste, was das sein soll. Das Bessere, meine ich. Sie leben doch mit Ihrer Arbeit, Herr Kommissar.“
Dann wandte er sich vom Kommissar ab.
„Kann ich den mitnehmen, Klaus?“, fragte er Klaus Mergentheimer, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Nimm ihn mit. Des Wasser hat eh alle Spuren versaut. Wir schau’n uns noch a bisser’l um, und dann sind wir auch wieder weg. Was is mit dir, Herbert?“
„Wir reden mit der Frau und der Hausdame, oder wie man des nennt. Ich hoff, die is schon da, die Frau. Armin, lass uns amal schau’n.“
Beide gingen gemeinsam durch den gepflegten Garten. Das Gras war gestutzt, die Büsche geschnitten. Blumen, wo man hinsah. Man kam sich vor wie in einem Schlossgarten. Die Terrassentür stand offen, wenn auch nur einen Spalt. Die Fenster an der Rückseite des Hauses waren voll beleuchtet und nicht verdunkelt. Keiner konnte hereinsehen. Große Bäume versperrten die Sicht.
Zwei Personen sah man an einem großen Tisch sitzen. Sie hielten sich die Hände. Es sah so aus, als wäre das der Esstisch. Eine der beiden hatte einen hellblauen Kittel an. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, hatte ein rundes, dickliches Gesicht und dunkelblonde Haare, die sie in einem Knoten am Kopf festgemacht hatte. Ein kleines Spitzenhäubchen sah man über der Stirn. Der Kommissar nahm an, dass das die Hausangestellte war.
Die andere Frau war mit einem leichten, gelben Sommerkleid bekleidet. Sie hatte keine Schuhe an. Ihre blonden Haare waren voll und schulterlang. Sie war auffällig geschminkt. Herbert Wengler schätzte sie auf Mitte dreißig, sie konnte aber auch Mitte vierzig sein. Oder Mitte fünfzig. Ihre schlanke Figur kam ausgezeichnet zur Geltung. Sie wusste das, man sah es ihr an. Und sie schien es zu genießen, wenn auch niemand wirklich von ihr Notiz nahm.
Armin schob die Tür zur Seite. Das Erste, was man bemerkte, war die angenehme Kühle, die einem entgegenschlug. Es war immer noch drückend heiß, obwohl langsam die Sonne hinter den Häusern verschwand. Das Haus war klimatisiert. ‚Die ham’s gut‘, ging es dem Kommissar durch den Kopf. ‚Des hätt ich auch gern.‘
Eingerichtet war das Haus wie aus einem modernen Möbelkatalog, der sicher nicht die Adresse des Kommissars finden würde. Dort gab es nur zugemüllte Briefkästen von Discountern und das aktuelle IKEA-Angebot. Diese Möbel allerdings waren vom Feinsten. Edles Leder, schwere Teppiche, bunte Bilder, die nichts darstellten, aber eben bunt waren. Und das alles gegen graue Betonwände.
Kaum waren sie eingetreten, sahen die beiden Frauen sie an.
„Meine Herr’n?“, sagte die Frau im Sommerkleid.
„Kommissar Wengler, und des is mein Assistent, der Herr Staller. Sind Sie die Frau des Hauses?“
„Bin ich, ja. Und des is die Maria die sich hier um des Haus kümmert.“
„Erst einmal mein herzlichstes Beileid, Frau ...?“
„Brettner. Hilde Brettner.“
Inzwischen hatten sich der Kommissar und Armin mit an den Tisch gesetzt.
„Und der Verschiedene, nehm ich an, war Ihr Mann?“
„Ja, des war mein Mann.“
„Wie des ausschaut, is Ihr Mann da im Schwimmbecken ertrunken.“
„Herr Kommissar, mein Mann is jeden Tag im Pool g’wesen und hat seine Runden gedreht. Der hat schwimmen können wie ein Fisch. Der is nicht ertrunken.“
„Des is sehr interessant, dass Sie des sagen. Haben Sie da einen Verdacht, was passiert is? Könnt er einen Infarkt g’habt ham, oder so? Oder hat da jemand nachg’holfen?“
Die Frau Brettner sah den Kommissar etwas entgeistert an.
„Nein, des glaub ich nicht mit dem Infarkt. Da muss was anderes passiert sein. Mein Mann war topfit. Aber um des rauszufinden sind doch Sie da, oder?“
„Ja, sicher, aber bevor wir nicht wissen, was los war, können wir nichts sagen. Da fragen wir halt lieber. Manchmal wissen die Leut ja was. Aber der Doktor is schon am Arbeiten. Morgen stellt sich hoffentlich raus, wie er g’storben is. Und Sie, Frau Maria, ham Sie was g’sehn?“
„Gabler, Maria Gabler.“
„Also, Frau Gabler. Sie ham uns doch ang’rufen, richtig?“
„Hab ich.“
„Und was ham Sie g’sehn?“
„Ja, dass der Herr Brettner im Pool is, und sich nicht mehr rührt. Der war mit dem G’sicht nach unten im Wasser. Und weil heut Samstag is, hab ich den Tag frei g’habt, aber der Herr Brettner hat mich noch ang’rufen, dass ich ihm was zu Essen machen soll, wenn’s geht.“
„Wann war des?“
„So eine Stund bevor ich ’kommen bin. Des war so um vier rum. Ich wohn in Sendling und des dauert mit der Straßenbahn.“
„Und dann sind’s kommen und ham den Herrn Brettner im Pool liegen seh’n?“
„Nicht gleich, weil ich ja erst was kochen wollt. Ich hab ihn g’rufen, dass des Essen fertig is, aber er is nicht ’kommen, also hab ich g’schaut, wo er is. Bei dem Wetter war er meistens im Pool. Deswegen bin ich da hin.“
„Und dann ham’s die Polizei g’rufen?“
„Nein, ich hab die Frau Brettner ang’rufen und sie hat mir g’sagt, ich soll die Polizei anrufen und sie würd gleich losfahren.“
„Und warum ham Sie nicht die Polizei ang’rufen, Frau Brettner?“
„Weil ich nicht da war. Wenn ich 110 ang’rufen hätt, wär doch nicht die Münchener Polizei ’kommen. Ich hab denkt, des wissen Sie. Die Maria hat doch der Polizei g’ssagt, dass ich nicht im Haus war.“
„Ja, man hat mir auch g’sagt, dass Sie erst kommen würden. Wo waren’s denn?“
„In Bad Wiessee. Zur Kur.“
„Am Tegernsee?“
„Kennen Sie noch ein anderes Bad Wiessee?“
Das kam bei dem Kommissar nicht gut an, absolut nicht. Vorgeführt wollte er nicht werden. Er wusste, dass die Herrschaften es nicht mochten, wenn man sie ausfragte, er hatte das schon mehrfach erlebt, aber das würde sich geben. Er hatte Zeit und würde eine entsprechende Antwort finden, um sich zu revanchieren.
„Gut, und dann sind Sie sofort los g’fahr’n?“
„Als die Maria mich ang’rufen hat, bin ich sofort hier hoch. Is ja nur eine gute Stund.“
„Ja, des is net weit. Was mich wundert, is, dass Sie so gar nicht richtig trauern, Frau Brettner. Ich mein, Ihr Mann is heut verstorben. Vielleicht sogar um’bracht worden. Macht Ihnen des nix aus?“
„Herr Kommissar. Erstens is des meine Sache, wie ich damit umgeh, aber Sie ham des gut beobachtet. Muss was mit Ihrem Beruf zum Tun ham, nehm ich an. Ja, wir waren nicht sehr eng. Jedenfalls nicht mehr in den letzten Jahren. Aber weil Sie früher oder später sicher alle möglichen Leut ausfragen, werden’s des eh bald rausfinden.“
„Wir werden nur Ermittlungen anstellen, wenn sich rausstellt, dass des ein Verbrechen war, Frau Brettner. Dann müssen wir allerdings schon Leut befragen. Wo ham’s denn g’wohnt in Bad Wiessee? Die im Hotel können uns sicher bestätigen, wann Sie wegg’fahren sind.“
Das gefiel der Frau Brettner nun schon gar nicht. Sie sah Marie entgeistert an und dann Herbert Wengler.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich da was mit zum Tun hab?“
„Des is Routine, Frau Brettner, reine Routine. Des müssen wir fragen. Also, welches Hotel war des?“
„Kein Hotel, Herr Wengler. Wir ham da ein kleines Haus, nichts Großes. Ich brauch kein Hotel, wenn ich da bin. Meine Anwendungen hab ich im Sanatorium.“
„Aha, Sie ham zwei Häuser. Eins hier und eins in Bad Wiessee?“
„Nein, Herr Kommissar. Wir ham drei Häuser. Eins hamma noch auf Sylt. Aber da sind wir nicht oft. Des benutzt hauptsächlich unser Sohn, der in Hamburg wohnt.“
Drei Häuser, ging es dem Kommissar durch den Kopf. Da gibt es Leute, die haben drei Häuser. Das musste er erst einmal verarbeiten.
Da niemand etwas sagte, fragte Frau Brettner, ob das alles wäre.
„Ja, des war’s dann erst einmal. Sollte sich herausstellen, dass es ein Tötungsdelikt war, kommen wir noch auf Sie zu.“
Dann standen beide langsam auf und wollten das Haus verlassen.
„Maria zeig ihnen doch bitte, wo die Tür is“, sagte Frau Brettner.
„Nein, bleiben’s ruhig sitzen. Wir geh’n hinten raus. Ich muss eh noch mit meinen Kollegen reden.“
Als sie das Haus verließen, schlug ihnen wieder die Hitze entgegen, die sich schwer und unbeweglich über München niedergelassen hatte. Es kam dem Kommissar vor wie ein unsichtbarer Dom, unter dem alles zu kochen schien. Daraus gab es kein Entkommen. Es würde wieder eine heiße Nacht werden.
Die Einzigen, die noch da waren, räumten gerade auf. Die Leiche war auf dem Weg ins Präsidium, die Truppe des Klaus Mergentheimer bereits gegangen. Nur noch ein Polizeiwagen und ein kleiner Transporter standen in der Einfahrt. Es war irgendwie gespenstisch still nach all dem Trubel, der sie bei ihrer Ankunft erwartete. Die Nachbarn versteckten sich hinter hohen Hecken. Jeder lebte für sich in seinem kleinen Reich, von einer Mauer aus grünen Bäumen umgeben. Sie waren zwar Nachbarn, kannten sich aber wahrscheinlich nicht. Vielleicht sahen sie aus dem Fenster und beobachteten, was los war. Zu sehen gab es nichts, also würden sie eher vor dem offenen Kamin sitzen, in ihren gekühlten Häusern, und ein Glas trinken.
Armin riss den Kommissar aus seinen Gedanken und fragte, was man denn jetzt noch machen sollte. Man hätte noch nicht einmal einen Fall.
„Da hast recht, Armin. Und bevor wir nicht genau wissen, was los is, ham wir auch keinen. Vielleicht wird des auch nie einer. Und deswegen fahr’st mich jetzt heim. Des is keine Gegend für mich. Ich geh heut noch runter zum Flaucher. Da gibt’s ein gutes Bier und des wird mich wenigstens von innen ein bisser’l abkühlen.“
Der Sonntag verlief ereignislos. Doktor Brunner meinte, als der Kommissar ihn gegen Mittag anrief, dass er noch den Rest des Tages brauchen würde. Bis dato hätte er noch nichts gefunden.
Es war, wie am Vortag, wolkenlos und heiß. Schon am frühen Vormittag waren es fast fünfunddreißig Grad. Die Biergärten waren brechend voll, sobald sie öffneten. Die Leute standen schon morgens Schlange, da sie Angst hatten, abgewiesen zu werden. An der Isar war kein Platz mehr zu finden. Wer konnte, lag im Wasser, wenn auch der Pegel sehr niedrig war. Man konnte fast sagen, es waren nur noch Rinnsale, die dort langsam vor sich hin plätscherten. Neben den Menschen, die sich gelangweilt im Wasser aalten, hatte man Bierkästen hineingestellt. Viel trinken war die Parole, die man über Rundfunk und Fernsehen ausgegeben hatte. In München hielt man sich daran, auch wenn die Regierung nichts davon gesagt hatet, dass es Bier sein musste. Nur, die Alternative war Wasser, und das war, wie wir alle wussten, nur gut für die Enten.
Rettungswägen fuhren mit eingeschalteten Martinshörnern fast ununterbrochen durch die Straßen. Viele Menschen waren diesen Temperaturen nicht gewachsen. Sie schafften es nicht. Gaben auf. Besonders alte Leute hatten starke Probleme damit.
Auf den Gehwegen, besonders vor Restaurants und Cafés, standen ab und zu große Gebläse, die feinen Wasserstaub in die Luft bliesen. Ganze Gruppen von Menschen standen davor, um sich ein bisschen abzukühlen. Wenn die Möglichkeit bestand, gingen die Leute in ein Geschäft mit Klimaanlage, um sich ein wenig zu erholen.
Herbert Wengler blieb zu Hause. Er wollte nicht mit Hunderten von verschwitzten Menschen in einem Lokal sitzen. Er machte sein Gebläse an, die Tür zum Balkon auf, und setzte sich auf seinen Sessel. Dann legte er sich die fünfte Symphonie von Beethoven auf und trank ein Glas Augustiner. Und dann noch eines. Was konnte noch schöner sein im Leben, ging ihm dabei durch den Kopf. Hitze hin oder her.
Gegen frühen Nachmittag rief Doktor Brunner an. Er habe etwas gefunden, sagte er ihm. Er solle doch, wenn möglich, in die Gerichtsmedizin kommen. Ob das nicht auch am Telefon ginge, fragte der Kommissar. Nein, es wäre besser, wenn er es selbst sehen würde. Das wäre dann einfacher zu erklären. ‚Geheimnisvoll‘, dachte sich der Kommissar.
Nachdem Herbert Wengler seinen Assistenten Armin Staller kontaktiert hatte, ging er hinunter auf die Straße, um auf ihn zu warten. Es war immer gut, wenn zwei mit dem Doktor redeten. Man wusste ja nie. Und vier Augen sahen mehr als zwei. Armin war, wie zu erwarten, im Biergarten am Chinesischen Turm und nicht sehr erfreut, sich von dort losreißen zu lassen, besonders, da er sich sehr nett mit einer jungen Frau unterhielt und sich Hoffnung machte, dass das vielleicht mehr werden könnte, als nur gemeinsam ein Bier zu trinken. Aber es half nicht. Er hatte keine passende Ausrede, die sein Chef akzeptiert hätte. Eigentlich gab es keine passende Ausrede, wenn Kommissar Wengler ihn brauchte. Jedenfalls war ihm nie eine eingefallen. Er musste also los. Er legte noch seine Visitenkarte auf den Tisch und bat das Mädchen, ihn doch mal anzurufen.
„Kriminalpolizei? Ich soll die Polizei anrufen?“
Sie war sehr erstaunt, als sie die Karte bekam. Scheinbar war ein Beamter bei der Polizei kein erstrebenswerter Lebenspartner. Playboys oder Handwerker waren da schon mehr gefragt.
„Nein, mich. Die Nummer hinten ist mein Handy. Wäre doch schön, den Plausch fortzusetzen.“
Sie sagte nichts, lächelte nur gezwungen. Armin war noch nicht am Ausgang, da landete die Karte hinter ihr am Boden. Keine fünf Minuten später waren es nur noch Fetzen. Die Hoffnung im Sand am Chinesischen Turm von den Menschen, die nicht auf Karten am Boden achteten, zertreten. Armin wusste davon nichts.
Es dauerte keine halbe Stunde und beide waren auf dem Weg ins Präsidium. Dort angekommen, wartete Doktor Brunner bereits auf sie. Das Gute war, es war kühl in diesem Raum, wo die Menschen seziert wurden. Fast wie in einem Kühlschrank. Man musste sie frisch halten. Der Kommissar konnte sich nie, auch nach den vielen Jahren nicht, an den Geruch gewöhnen und musste sich immer sehr zusammennehmen, um nicht davon zu laufen. Durch den Mund atmen und ein Papiertaschentuch auf der Nase halfen. Ein bisschen, wenigstens.
„Also, meine Herren, wir wissen, wie der Herr Brettner ums Leben gekommen ist. Kommen Sie bitte mit, ich zeig Ihnen was.“
Damit gingen sie zum Toten, der auf einem Tisch aus rostfreiem, blank poliertem Stahl lag. Doktor Brunner schlug das weiße Tuch zur Seite, das ihn bedeckte, um die Bauchgegend freizulegen.
„Sehen’s hier, meine Herren, da ist eine Einstichstelle, und die war für ein kleines Röhrchen. Und zwar eine Kanüle, die offensichtlich jemand entfernt hat. Und an dieser Kanüle war eine Insulinpumpe angeschlossen. Solche Pumpen kann man abnehmen, wenn man zum Beispiel duschen möchte, oder, wie unser Patient, schwimmen geht. Die aber dann natürlich nicht mehr den Zweck erfüllt, die sie hat. Nämlich den Körper konstant mit Insulin zu versorgen, wenn man es nötig hat. Für kurze Zeit geht das. Hängt natürlich vom Patienten und seinen Bedingungen ab. Wenn man aber nun diese Pumpe zu lange abgeschlossen hat, sinkt der Insulinspiegel, und dann kommt es zu einer sogenannten Ketoazidose. Dabei werden ...“
„Herr Doktor, können’s des bitte so erklär’n, dass ich des auch versteh? Kommissare ham kein Medizinstudium. Noch nicht, jedenfalls. Aber wir arbeiten daran.“
Doktor Brunner lächelte. Es war manchmal gut, mehr zu wissen und das auch zu zeigen.
„Selbstverständlich. Also, die Folgen sind, um es einfach zu erklären, auch für Nichtmediziner, dass der Patient früher oder später bewusstlos wird und, wenn man nicht sofort eingreift, an einem Herzinfarkt stirbt.“
Der Kommissar sah Armin und dann den Doktor an. Der Doktor fuhr fort mit seiner Erklärung.
„Des heißt also, rein theoretisch, jemand hätte dem Opfer die Pumpe abnehmen können, warten, bis er tot ist, um ihn dann in den Pool zu werfen, damit es so aussieht, als wäre er ertrunken. Oder der Patient hat sie selbst abgenommen und dann nicht mehr gefunden, als er sie wieder anschließen wollte. Wie auch immer. Wir haben kein Wasser in den Lungen festgestellt, also war er bereits tot, als er ins Wasser fiel. Oder gefallen worden ist.“
„Des heißt, wenn der die selber abg’macht hätt, hätt jemand die Pumpe einfach mitnehmen können. Dann hätt der Brettner ein Problem g’habt, wie er aus dem Wasser kommen is. Ham wir so eine Pumpe g’funden, Armin?“
Armin stellte sich ein wenig abseits, um Klaus Mergentheimer anzurufen.
„Ja, und wenn er erst einmal bewusstlos ist“, sagte Doktor Brunner, „geht es schnell.“
„Ja, des is ja interessant. Es hätt aber auch sein können, dass er des nicht mehr g’schafft hat, wie er g’merkt hat, dass was los is. Wie merkt ma denn des, dass man die Pumpe braucht?“
„Man hat wahnsinnig Durst, es ist einem schlecht, Bauchschmerzen.“
„Aha, des is also schon so, dass man des schon weiß. Dann hätt er aus dem Wasser gehen können, sich die Pumpe anschließen und alles wär wieder in Ordnung g’wesen.“
„So ungefähr, ja. Aber genaues weiß man nicht. Dazu müssten wir mit seinem Arzt reden. Der weiß, wie kritisch und in welchem Stadium seine Krankheit war.“
„Ja, des machen’s bitte. Aber wenn wir davon ausgeh’n, dass die weg war, die Pumpe mein ich, hat er nix mehr machen können.“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Und wie is er dann ins Wasser g’fallen? Ich mein, wenn er ohnmächtig oder tot war.“
„Das, mein lieber Herr Kommissar, überlasse ich Ihnen, herauszufinden. Ein bisschen Arbeit müssen Sie dann schon noch selbst machen.“
Inzwischen war Armin zurückgekommen und sagte, dass man keine Insulinpumpe gefunden habe. Allerdings hätte man nur die nähere Umgebung abgesucht und nicht spezifisch darauf geachtet. Wenn das jetzt doch ein Mordfall war, würden sie noch ein bisschen intensiver suchen.
„Lass ihn wissen, dass er des machen soll. So schnell wie möglich. Und wir fahr’n jetz noch amal zu der Frau und fragen, was des mit dem Diabetes auf sich hat. Da hat die uns nix g’sagt davon.“
Es war früher Nachmittag geworden. Die Straßen waren voll. Wahrscheinlich kamen die Leute von den Seen zurück, die am Sonntag mehr als überfüllt waren. Kilometerlange Staus gab es an den Wochenenden, da alle, die die Möglichkeit hatten, einfach aus der Stadt fliehen mussten. Die Hitze klebte zwischen den Häusern und konnte nicht entweichen. Die schwüle Luft lag wie eine Schicht heißer Dampf in den Häuserschluchten und bewegte sich nicht. Sie verhielt sich wie ein totes Etwas zwischen den Wänden. Der Wind hatte keine Kraft, sie auch nur ein wenig zu bewegen. Man konnte sie fast in Scheiben schneiden. Der Asphalt flimmerte unablässig und erzeugte Trugbilder. Verschwommene Kulissen in einem brutalen Theaterstück, in dem keiner sein wollte. Dem man aber auch nicht entweichen konnte.
Die Autoschlangen machten das natürlich nicht einen Deut besser, aber da die Insassen sich einer Klimaanlage erfreuen konnten, war es wenigstens im Auto erträglich. Alle sehnten sich nach einem Gewitter. Nach kaltem, ständigem Regen, der all den Schmutz der letzten Wochen in die Kanalisation spülen sollte. Nur kam kein Regen. Die Hitze hatte das Regiment übernommen. Und wie es aussah, noch für lange Zeit.
Als sie am Haus angekommen waren, sahen sie einen flachen Sportwagen dort stehen. Der Kommissar kannte sich mit solchen Dingern, wie er es nannte, bei Gott nicht aus. War ihm auch egal. Niemals hatte er daran gedacht, ein Auto zu besitzen. Wozu auch. In München brauchte man keines, und nach Aschau, zu seiner Cousine, fuhr ein Zug. Und von dort holte ihn seine Cousine ab. Er sah fragend Armin an, der nur kurz mit dem Kopf nickte.
„Ferrari, Herr Kommissar.“
„Aha, Italiener, oder?“
„Ich bin beeindruckt, dass Sie das wissen.“
Herbert Wengler ließ es einfach mal so stehen. Er wollte sich nicht erklären.
Das Tor zur Garage stand weit offen. Sie gingen, wie schon beim ersten Besuch, ganz einfach hinten herum in den Garten. Dort, auf der Terrasse, saßen Frau Brettner und ein jüngerer Mann. Ein großer Ventilator stand in der Nähe und spendete angenehme, kühle Luft. Der Mann hatte ein weißes T-Shirt an, eine helle Leinenhose und Schuhe, die man zum Segeln brauchte.
Kommissar Wengler wusste das, da er einmal auf dem Starnberger See eine Segelfahrt gemacht hatte. Ein Kollege hatte damals gerade den Segelschein gemacht und ihn gefragt, ob er einmal den Tag mit ihm auf dem Wasser verbringen wollte. Und dazu musste er sich entsprechende Schuhe kaufen, die er nicht hatte. Wozu auch. Segeln stand nie auf dem Programm. Das war viele Jahre her, aber die Erinnerungen waren noch wach. Fast, als sei es gestern gewesen.
Die Fahrt fing gut an. Man hatte genug Bier für einige Stunden, jemand hatte Leberkäse mitgebracht. Es waren noch zwei andere Kollegen mit auf dem Boot. Und die Freundin des neuen Kapitäns. Am frühen Nachmittag dann frischte der Wind ein bisschen auf. Nur ein wenig, am Anfang, dann immer mehr. Niemand machte sich wirklich Sorgen. Nur die Tatsache, dass alle anderen Boote in Richtung Ufer unterwegs waren, verstörte die Leute auf dem kleinen Segelboot ein wenig. Sie fragten den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Olaf Maly
Bildmaterialien: · © Andy Ilmberger: (#68633655) - Erfrischung am Stachus in München. · © larisabozhikova: (84921923) - Flowing Blood / Dripping blood isolated on white · © pico (59883196) – Hintergrund Oktoberfest
Cover: © Vivian Tan Ai Hua
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3799-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem bei meiner langjährigen Partnerin Marita Stepe bedanken, die es wie immer auf sich genommen hat, die erste Fassung dieses Buches zu lesen und mit konstruktiver Kritik darauf Einfluss genommen hat. Und natürlich bei meinen Lesern, ohne die es alle meine Bücher nicht geben würde.