1
Anfang
Man kann nicht behaupten, dass Robert Schnabel sehr intelligent ist. Nein, ganz und gar nicht. Und es geht auch nicht nur um ihn, aber irgendwie gehört er zu dieser Geschichte. Oder besser, ohne ihn gäbe es diese Geschichte gar nicht. Na ja, ich denke doch, weil ja auch andere Personen mit dabei sind, aber die kommen nur ins Spiel, weil eben Robert dabei ist. Oder vielleicht auch nicht. Das kann der Leser, sollte dieser es bis zum Ende schaffen, dann ja selbst entscheiden.
Ich denke nur, ohne ihn gäbe es das alles nicht. Die Geschichte, die ich hier erzähle, wird davon Zeugnis ablegen. Mehr als genug. Ich möchte das nur am Anfang gleich anbringen, damit sich niemand wundert. Wegen der Dinge, die geschehen und manchmal so unlogisch klingen, aber doch so vorgefallen sind. Oder besser gesagt, mir so erzählt wurden. Von verschiedenen Leuten, denen ich sehr wohl zutraue, mir die Wahrheit gesagt zu haben. Na ja, Wahrheit ist ja so eine Sache, das wissen wir alle. Es gibt viele Wahrheiten. Und viele Lügen. Ein schlauer Mann, um einiges schlauer als ich, soll mal gesagt haben, dass, wenn man immer dieselben Lügen erzählt, sie irgendwann zur Wahrheit werden. Was immer das heißen soll. Vielleicht vergisst man die Lügen und alles was bleibt, ist die Wahrheit.
Nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Frauen hatte Robert so seine Probleme. Eigentlich nicht gerade Probleme, da es sich nicht sehr oft ergab, dass er mit ihnen zu tun hatte. Frauen, meine ich, aber eben doch genug, um nun zu versuchen die einzige Frau, die ihn einen kurzen Teil seines Lebens begleitete, und er manchmal auch dachte zu lieben, umzubringen. Oder vielleicht auch nicht. So genau wusste er das nicht. Er hatte sich noch nicht entschlossen. Was er aber wusste, war, dass es so nicht weiter gehen konnte. Aber dazu später. Nur vorab: Es wird ihm nicht gegönnt sein, seinen Plan durchzuführen. Und das aus verschiedenen Gründen, die hier aufgeschrieben werden sollen. Der Wichtigste war der, dass sie schon tot war, bevor er die Gelegenheit bekam, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nun aber denke ich, dass ich schon meiner selbst und der Geschichte vorauseile, was ich eigentlich nicht hatte tun wollen.
Also, von Anfang an. Robert Schnabel saß auf diesem alten Stuhl im Präsidium, Zimmernummer 218, da er festgenommen worden war, als er seelenruhig in seinem kleinen Haus darüber nachdachte, welche Musik er auflegen sollte. Er wartete auf den Kommissar, der nur noch das Protokoll aufnehmen wollte. Aber nun einmal ernsthaft von Anfang an, wie ich oben schon geschrieben habe. Immer wieder verheddere ich mich. Man möge mir das entschuldigen.
Also, wenn man jemanden umbringen will, braucht man eine Waffe. Nun ja, es gibt unzählige Möglichkeiten, jemanden ins Jenseits zu befördern, aber das ist eine der sichersten und einfachsten. Man zielt auf ein Körperteil, welches besonders verwundbar ist, wie den Kopf oder das Herz und drückt ab. Damit eine Bleikugel eben dieses Teil des Körpers treffe. Dadurch wird der eigentliche Zweck dieses Körperteiles ad absurdum geführt, das heißt, es funktioniert nicht mehr, wie es eigentlich funktionieren sollte. Damit wiederum gehen auch andere Funktionen des Körpers die getroffen werden in eine Richtung, die dem Leben an sich nicht sehr zuträglich sind. Der Getroffene stirbt in den meisten Fällen. Wenn man gut getroffen hat. Oder ist zumindest schwer geschädigt. In einigen Fällen kann man das wieder herstellen und einigermaßen reparieren, was aber dann kein Mord wäre. Nur Mordversuch. Aber da es durch Robert nie dazu kam, weder zu dem einen noch dem anderen, spielt das hier keine große Rolle. Ich wollte eigentlich nur die Tatsache festhalten, dass es so hätte sein können, wenn nun Robert Schnabel eine Pistole hätte erwerben können.
Um nun diese zu bekommen, ist unter anderen diversen Optionen die, einen Waffenschein zu erlangen. Das aber wäre erstens viel zu kompliziert und würde auch viel zu lange dauern, wenn man einen spontanen Entschluss gefasst hat. Immerhin könnte man sich die Sache dann im Laufe der Zeit womöglich wieder anders überlegen. Und es ist fraglich, ob er überhaupt geistig dazu in der Lage gewesen wäre, so einen zu erlangen. Einfacher ist es allemal, sich so etwas auf der Straße zu kaufen. In Wirklichkeit, wie schon oben erwähnt, bräuchte man eigentlich keine Pistole oder so, um jemanden umzubringen. Es gibt derer noch unzählige, ganz andere Möglichkeiten, die aber aufzuzählen hier nichts bringen würde, da diese für ihn nicht zur Wahl standen.
Robert Schnabel hatte seine Erfahrung mit solchen Dingen wie Mord und Totschlag eigentlich hauptsächlich aus den Krimis im Fernsehprogramm gesammelt, wo man fast immer mit irgendwelchen Knarren herum schießt. Also nahm er an, dass dies die Waffe der Wahl für effizientes Töten sei. Wobei er nicht unrecht hatte. Wenn in jedem Krimi jemand erschossen wird, muss das einen Grund haben. Nur, er hatte eben keinen. Das war sein Problem. Und er wusste auch nicht, wo er eine herbekommen sollte. Das war das zweite Problem. Wieder erinnerte er sich an eine der Serien am Sonntagabend und daran, dass in diesen Filmen die meisten der gebrauchten und nicht registrierten Schießer am Bahnhof zu haben sind. Der Bahnhof scheint in dieser Richtung so etwas wie die zentrale Verkaufsstelle für gebrauchte Waffen zu sein. Wie ein Warenlager. Oder ein Autohändler, der eben auf seinem Platz alte Autos verkauft. In diesem Fall eben Pistolen auf dem Bahnhof. Also bewegte er sich dort hin.
Hunderte von Leuten liefen wirr durcheinander, gingen von dort nach da, blieben stehen, sahen immer wieder auf ihre Uhren, rempelten sich an und verliefen sich scheinbar, da sie sich immer wieder umdrehten und in eine andere Richtung gingen. Die meisten sahen auf die Anzeigen, die sich ständig änderten. Hatte man die Zeile endlich gefunden, in der die Abfahrt des jeweiligen Zuges stand, war sie auch schon wieder weg, nur um irgendwo anders wieder ratternd aufzutauchen. Nach welchem System das funktionierte, musste ein Geheimnis derer bleiben, die an der Maschine herum manipulierten. Die, denen es nutzen sollte, hatten nichts davon.
Nur Robert Schnabel wollte nirgendwo hinfahren, also interessierte er sich nicht für diese Tafel. Auch wenn man nicht irgendwo hinfahren wollte, die Tafel war nicht zu übersehen oder zu überhören. Trotz des Lärms, der an diesem Ort manchmal ohrenbetäubend war. Also blickte er immer wieder automatisch darauf. Auch wenn sie für ihn nicht von Bedeutung war.
Er stand wie angegossen auf einer Stelle und fragte sich, wen er denn fragen könnte. In den Filmen, an die er sich erinnerte, wussten die Typen immer, wer mit so etwas handelte und man wunderte sich nicht, wie diese dann immer aussahen. Meistens waren sie unrasiert, hatten eine Glatze und eine Zigarette im Mundwinkel, die nie kürzer wurde, auch wenn sie schon lange ausgebrannt war. Und sie hatten immer so einen wirren Blick, der verriet, was sie machten. Jedenfalls für die, die professionell damit konfrontiert waren, wie die Kommissare. Also suchte er nach diesen Leuten, auch wenn er kein Kommissar war.
Endlich schritt er langsam durch die Menge und blickte sich nach solch einer Person um. Man sah ihn an und wunderte sich, was er wollte, da er scheinbar etwas suchte, was immer es auch war. Eine Gruppe Männer stand zusammen, dort in der Ecke, an dem kleinen Tisch mit der großen Flasche Ketchup in der Mitte und ein paar leeren Pommes Frites Bechern aus Papier. Sie tranken Bier und redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Er stellte sich dazu, was die anderen scheinbar sehr verwirrte, da sie sich alle entgeistert ansahen.
Mit dem Mut des Verzweifelten fragte er ganz einfach, ob sie wüssten, wo er eine Waffe, eine kleine, wenn es geht, bekommen könnte. Dabei lächelte er, als hätte er gerade eine schöne Geschichte aus seiner bewegten Jugend erzählt. Nicht das es solche Geschichten gab, aber es sah eben so aus. Wieder sahen sich die restlichen Kameraden an, als verstünden sie die Welt nicht mehr. Dann sagte einer, er solle sich dort auf die Bank setzen, die keine zehn Meter entfernt stand und warten. Sein Deutsch war sehr dürftig und Robert musste eine Weile nachdenken, was er gesagt hatte. Dann tat er wie geheißen und setzte sich. Also war es doch so einfach, wie er sich gedacht hatte. Innerlich war er mit sich und seiner Idee vollkommen zufrieden. Konnte er ja auch sein, da es anscheinend geklappt hatte. Das brachte sogar ein kleines Lächeln auf seine Lippen, als er langsam und möglichst unauffällig zur besagten Bank ging und dort Platz nahm.
Es dauerte keine fünfzehn Minuten und ein Mann mit einer bunten Kappe auf dem Kopf und einem abgetragenen Mantel nahm neben ihm Platz und fragte ihn von der Seite, ohne ihn anzusehen, ob er derjenige sei, der eine Pistole brauche. Stur nach voren blickend, da er dachte, dass man das so machte, weil der Mann das eben auch so gemacht hatte, sagte er ja und nickte dabei . Er wäre der Mann. Und dann bedankte er sich noch, dass das so schnell gegangen war.
„Fünfhundert Euro“, war alles, was der neben ihm sagte.
„Fünfhundert Euro?“
„Fünfhundert Euro.“
Robert Schnabel nahm das Geld aus seiner Tasche und gab es dem Mann. Es war genau die Summe, die er dachte ausgeben zu müssen, deshalb hatte er es schon als Bündel in der Tasche. Zwar hatte er gehofft, es wäre weniger, aber das war auch in Ordnung. Warum er gerade an fünfhundert Euro gedacht hatte, war ihm schleierhaft. Er dachte sich das eben. Vielleicht hatte er das einmal gelesen, oder, weil es eben eine runde Summe war. Solche Leute liebten runde Summen, das war ihm schon klar. Nur nicht zu kompliziert. Sollte es mehr sein, würde er ganz einfach noch was vom Automaten holen. Aber er hatte recht. Es reichte. Das war ein gutes Zeichen, dachte er sich. So weit war alles nach Plan gelaufen. Er war zufrieden mit sich selbst.
Die in den Filmen zeigten es also richtig, wie es war, das mit den Waffen kaufen. Es war einfach. Das mit dem Preis ging ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass er das so nebenbei erwähnte, als er da am Tisch stand und fragte, wo man eine Waffe kaufen könnte. Er meinte dort, dass er fünfhundert Euro ausgeben könne. Ja, das wird es wohl gewesen sein.
Der Mann neben ihm zählte das Geld, stand auf und sagte, er solle hier warten. Es käme jemand.
Um das Ganze jetzt kurz zu machen und abzuschließen, was dort am Bahnhof geschehen war und es nicht unnötig in die Länge zu ziehen, was keinen Sinn macht, sei gesagt, dass niemand kam. Robert Schnabel hatte jemandem fünfhundert Euro gegeben. Ganz einfach so. Er war so. Vertrauen war sein mittlerer Name. Vielleicht war er aber auch nur zu gut für diese Welt.
Nachdem er also dort gesessen hatte, bis es dunkel geworden war und sich der Bahnhof geleert hatte, er fast der Letzte war, der dort noch auf der Bank saß, oder auf irgendeiner Bank dort, entschied er sich nach Hause zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt, und wie schon erwähnt, hat seine Frau noch gelebt. Eigentlich lebt sie noch immer. Im gewissen Sinne jedenfalls. Aber ich eile der Geschichte schon wieder voraus.
An der Haustür angekommen, fragte sie ihn, wo er so lange geblieben sei. Ihr Name war Ingrid.
„Bahnhof“, sagte er kurz und bündig, da es eine seiner Eigenschaften war, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie wehtat oder wenn sie niemand hören wollte.
Seine Großmutter hatte ihm das beigebracht. Auch dass er nicht immer so lange reden muss und alles so kurz wie möglich halten sollte. Alles andere würde nur wieder Fragen über Fragen aufwerfen, die man dann beantworten müsste, da man ja ehrlich sein sollte. Und das sollte man wenn möglich vermeiden. Nicht das ehrlich sein, sondern das labern. 'Bahnhof' war also eine Antwort ganz im Sinne seiner Großmutter.
Da er nichts gesagt hatte, was zu einer Diskussion hätte führen können, war das Thema für beide abgeschlossen. Ingrid verstand zwar nicht, was er am Bahnhof gewollt hatte, da er eigentlich nie dorthin ging, sah ihn ein wenig verwundert an und nahm es hin. Er hatte eben seine Marotten, mit denen sie leben musste. Sie hatte sich dieses Leben ausgesucht, nur sie, und konnte sich nun nicht beschweren. Hätte sie gewusst, warum er zum Bahnhof gefahren war, hätte sie wohl anders darüber gedacht. Aber sie wusste es nicht. Was auch gut war.
2
Das Haus, in dem er wohnte, war klein. Viel zu klein für zwei Leute, die zudem auch nicht liiert sind. Intim, meine ich. Irgendwo stößt so eine Beziehung dann ja an Grenzen, die nicht mehr zu übersehen sind.
Es stand in einem Ort, der irgendwann aus dem nichts entstanden war, sich entwickelt hat und dann wieder dorthin zurückgekehrt war, wo er hergekommen war. Ins Nichts. Die Häuser standen noch, aber das war auch alles.
Früher, bis vor ein paar Jahren, zog sich eine Grenze nicht weit vom Ort entfernt durch das grüne, baumlose Land. Es gab einen Zaun, dann einen Streifen Sand, dann wieder einen Zaun, und so weiter. Die auf der anderen Seite hatte diesen Zaun gebaut, damit niemand von der anderen Seite in dieses Land so einfach hinein latschen konnte. Schließlich war es ihr Paradies und das sollte es auch bleiben. Die im Westen, die meist unter der Brücke schlafen mussten, so sah man das dort im Fernseher, hätten wohl gerne auch so ein Paradies gehabt. Sollen sie sich das selbst bauen, hieß es immer. Eines schönen Tages, es war im Oktober, wurde die Pforte zum Paradies wieder geöffnet, die Grenze abgeschafft und alles niedergewalzt. Als das geschah, hegte man Hoffnung, große Hoffnung, dass nun alles wieder besser werden würde, was sich aber aus vielerlei Gründen nicht materialisierte. Welche Gründe das waren, würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen. Nur so viel sei gesagt. Es gab viele Leute, die heute nicht mehr wissen, wo all das Geld geblieben ist. Und sich halb tot lachen, wenn jemand danach fragt.
Natürlich hatte dieser Ort auch einmal einen Höhepunkt in seiner Geschichte, wie alle Orte, die jemals gegründet wurden. Man gründet ja nicht einen Ort einfach so, weil man nichts anderes zu tun hat, sondern um etwas zu bewegen, Geschichte zu machen. Und dazu braucht es einen Höhepunkt. Geschichtlich gesehen. Auch dieser Ort hatte einen, diese Kulmination des nie Vergessenwerdens. Auch wenn sich die wenigen Leute, die dort noch wohnen, daran nicht mehr erinnern konnten und auch keiner so genau wusste, wann das denn gewesen sein soll. Fragt man jemanden danach, zucken sie nur ihre Schultern, lächeln vielleicht noch und gehen dann weiter. Vielleicht denken sie, was das für ein Spinner war, der so was wissen wollte. Das wäre schon ein gigantischer Sprung von Empathie.
Wahrscheinlich, so nimmt man allgemein an, war es in der Zeit, als ein gewisser Graf von Zumhausen sich ein kleines Schloss dort gebaut hatte. Es gibt keine Garantie für diese Annahme und auch keine Belege und auch kein Schloss mehr, aber es würde Sinn machen. In Wirklichkeit war dieses Gebäude ziemlich klein, aber immerhin nannte man es ein Schloss. Ein solcher Bau definierte sich in dieser Zeit nach der Anzahl der Räume, die man hatte. Obwohl es, wie gesagt, nicht sehr groß war, war es doch entscheidend größer als die anderen Häuser, die sich darum gesellten. Also durfte es als ein solches gelten. Das war in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Immer wenn sich ein Graf etwas gebaut hatte, kamen Menschen, die dachten, dass es dort etwas zu holen gäbe. Warum würde sonst ein Mann seiner Herkunft, der eigentlich sein Schloss bauen konnte, wo er wollte, sich gerade diese Stelle aussuchen, wenn sie nicht irgendetwas bedeuten würde. Macht Sinn. Also wuchs und gedieh der Ort. Als nun die letzten Erben Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts endlich den Rest des Geldes verbraten hatten und das Schloss deswegen verkaufen mussten, dieses dann von einem russischen Oligarchen erworben wurde, der nie auch nur einen Fuß dort hineingesetzt hatte, verfiel die Burg komplett und damit auch der Ort. Heute sind die Fenster mit Spanplatten vernagelt, die Türen haben dicke Balken davor und die Ziegel fallen vom Dach. Die Bäume und Sträucher taten den Rest, diesen Bau in die Vergessenheit zu katapultieren. Wie es innen aussieht, will man gar nicht wissen. Das ist wie manchmal auch bei den Menschen. Wie es dort drinnen aussieht, sollte bei vielen ein Geheimnis bleiben. Wäre besser so. Das nur so nebenbei.
Und trotzdem bleiben diese Orte oft aus unerfindlichen Gründen bestehen und geben den Menschen einen Platz zum Schlafen. Vielleicht ist das der einzige Grund. Man braucht einen Platz zum Zähneputzen, Rasieren und Schlafen. Und einen zum Aufstehen. Man muss auch manchmal müssen. Da hilft ein Haus auch. Ein anderer wäre, dass diese Menschen in diesen Dörfern meist nicht weg können, da sie das Land, das sie bearbeiten und von dem sie zwangsläufig auch leben, nicht mitnehmen können. Also bleiben sie und werden Sklaven ihres Besitzes.
In Orten wie dem, wo Robert zu Hause ist, galt diese zweite Regel aber nicht. Niemand besaß irgendein Land, das der Rede wert gewesen wäre, es zu beackern. Es gab nur einen, oder wenn man will, zwei Bauern dort. Einer hatte über die Jahre nach der Wende, wie man das nannte, alles aufgekauft, was an Feldern zu haben war, der andere litt darunter, da er nicht das Geld hatte, mitzumachen. Außerdem hatte der reiche Bauer die Felder so gekauft, dass der arme Bauer immer weiter im Kreis zu den seinen fahren musste, da er ihm verbot, seine Grundstücke als Fahrweg zu benutzen. Das trug natürlich, wie man sich das denken kann, nicht gerade zu einer fröhlichen Stimmung bei, wenn sich die beiden trafen. Auch in den Familien setzte sich das fort. Das mit der schlechten Stimmung. Da es ein kleiner Ort war, konnte man nicht vermeiden, sich ab und an zu treffen, auch wenn sich die meisten so viel wie möglich aus dem Wege gingen.
Früher, also ganz früher, waren die Familien sehr wohl freundlich zueinander gesinnt. Gerold Schrammer, so hieß der reiche Bauer und Friedemann Gollner, der nicht so begüterte, gingen sogar zusammen in die Schule. Wie alle, die dort wohnten, eben zusammen in dieselbe Schule gingen. Heute nicht mehr, da aus Mangel an schulpflichtigen Kindern, eigentlich gab es schon überhaupt keine mehr, seit langer Zeit nicht, diese schon vor Jahren geschlossen hatte. Aber damals ging man eben in diese Schule, ob man nun wollte oder nicht.
Der Friedemann also galt als der stärkere, der dem Gerold immer sagte, was er zu tun hatte. Das war sein Hobby, sozusagen, das er auch extensiv pflegte. Da Friedemann die körperliche Gewalt als Mittel zum Zweck und auch zur Überzeugung in Sachen, die der Übereinkunft bedurften, nicht unbedingt unter den Scheffel stellte, bekam Gerold eben des Öfteren eines auf die Nase. Der Vorteil des Gerold lag allerdings darin, dass er der weitaus Schlauere war, wie sich im späteren Leben, als es nicht nur um rohe Gewalt, sondern auch um Geschäftssinn ging, auszahlte.
Friedemann war immer irgendwie eine Stunde zu spät oder ein paar Mark zu kurz. War etwas an Land zu verkaufen, erfuhr Friedemann es in der Wirtschaft. Man erzählte ihm dort, dass der Gerold wieder eine Parzelle erworben hatte. Dann schlug der Friedemann gewaltig auf den Tisch, fluchte wie nur er es konnte und machte Gott und die Welt dafür verantwortlich, dass er es immer nur erfahren würde, wenn es schon passiert war.
„Ihr Sauhunde“, schrie er dann durch den meist vollen Saal, „das nächste Mal will ich das vorher wissen.“
Was allerdings nie so war, da die meisten den Friedemann kannten und wussten, dass er das Geld sowieso nicht hätte aufbringen können. Oft saß dann auch der Gerold noch an seinem Tisch, blickte den Friedemann lächelnd an und freute sich, dass er seinem alten Rivalen der Kindheit wieder einmal eines ausgewischt hatte.
Nun konnte man annehmen, dass es so etwas wie einen Tragikomödienroman dort geben würde oder gegeben hat. In diesem Ort, meine ich. Wie sie in vielen Orten in dieser Gegend eigentlich schon fast üblich waren. Einer, in dem sich, wie in diesen Geschichten so üblich, der arme Bauernsohn in die reiche Bauerntochter verliebt und beide dann Selbstmord begehen, weil die Eltern des Mädchens natürlich nicht bereit sind, ihrer Tochter und dem dahergelaufenen armen Bauernsohn den Hof zu vermachen. Oder sie nach Amerika auswandern, was ungefähr auf dasselbe herauskommt. Aber diesen Roman gab es nicht und wird es auch nie geben, da der arme Bauer keinen Sohn, sondern nur eine Tochter hat und der reiche keine Tochter, sondern nur zwei Söhne. Es gibt bisher keine Geschichte, jedenfalls weiß ich von keiner, wo der reiche Bauer den Sohn hat und der arme die Tochter. Und wenn es so eine Geschichte gibt, verliebt sich das arme Mädchen in den Jäger oder Wilderer, aber nicht in einen armen Bauern. Meistens zuerst in den Wilderer, der dann vom Jäger verfolgt in eine tiefe Schlucht stürzt, was die arme Bauerntochter selbstverständlich sehr traurig macht. Der Jäger aber kann sie trösten und sie findet heraus, dass er sowieso der Bessere von den beiden ist. So ungefähr jedenfalls.
In dieser Geschichte jedoch sind die einzigen Söhne, die der reiche Bauer hat, vor Jahren bereits in die Stadt gezogen und hatten nicht das geringste Interesse an der armen Bauerntochter. Das hatte unter anderem auch etwas damit zu tun, dass sie alles andere als attraktiv war. Nun gut, sie sah nicht gerade schlecht aus. Eben wie eine Bauerntochter so aussieht. Was eventuell von der Inzucht herrühren konnte, die es eben dort fast zwangsläufig geben musste. Immerhin war der Ort im Winter für drei oder vier Monate eingeschneit und damit beschränkten sich die zwischenmenschlichen Beziehungen auf die wenigen Menschen, die sich kannten und einander nicht fremd waren. Und sich den Weg noch freischaufeln konnten, um den Nachbarn zu besuchen. Man ergänzte sich eben so gut es ging.
3
Natürlich wohnten noch ein paar andere Menschen in diesem Ort, die in dieser Geschichte auch eine Rolle spielen. Niemand lebt sein Leben alleine. Immer ist es ein Geflecht aus Umständen, verursacht durch andere Umstände, die eine Geschichte bewegen und am Laufen halten. Dazu gehören auch andere Personen, die vielleicht nicht gerade einen imminent wichtigen Beitrag leisten, aber dennoch dazu beitragen, dass daraus eine Geschichte wird. In diesem Fall spielt das ganze Dorf oder fast das ganze Dorf mit. Mehr oder weniger.
Da gab es den Reiber Georg, der einmal Installateur war und eine Firma hatte, die im Ort alles reparierte, was mit Wasser zu tun hatte. Heizungen, Warmwasser, Kaltwasser, Toilettenwasser, Abflusswasser, Trinkwasser. Eben alles. Als nun alle Häuser auf den neuesten Stand der Technik umgerüstet waren, was nur ein paar Jahre gedauert hatte, gab es nicht mehr viel für ihn zu tun. Weiter weg fahren wollte er nicht, da es in der Stadt genug Leute gab, die diese Sachen ebenfalls und mitunter sogar besser machen konnten. Natürlich war das nicht sein offizieller Grund. Der war mehr, wie er sagte, dass die da in der Stadt keine Ahnung hatten und er nicht dazu da wäre, sie auf den richtigen Pfad zu lenken.
Er besaß einen Laden am Ende der Straße, etwas zurückgesetzt, in dem ein alter Heizkessel im übergroßen Schaufenster stand, den er einmal gekauft, aber nie weiterverkauft hatte. Grau gestrichen, mit einem roten Deckel und schwarzen Türchen auf der Vorderseite, in die man alles, was brennbar war, hineinstecken konnte. Daneben stand eine aus Pappdeckel ausgeschnittene weibliche Figur, die strahlend lächelnd ihre Hand aus Karton auf den Ofen legte. Das sollte bedeuten, dass sie endlos glücklich war, diesen zu besitzen. Diesen Ofen und keinen anderen. Das schien nicht sehr überzeugend gewesen zu sein, da es, wie gesagt, bei der Frau aus Pappe blieb. Sie hatte den Ofen und wollte ihn nicht hergeben. So sah es aus. Die Haartracht und der Rest der Ausstattung an ihr zeugten von einer trüben Zeit, die lange vorbei war und an die sich auch niemand mehr gerne erinnerte. Das war die Zeit im Paradies. Irgendwann war das Monstrum so alt und unmodern geworden, dass es unmöglich war, ihn an den Mann oder die Frau zu bringen. Eigentlich hatte das nicht sehr lange gedauert, vielleicht ein oder zwei Jahre, da die Technik in diesem Gebiet so rasant vorwärtsstrebte wie in keinem anderen Feld der Technik und sich damit fast selbst überholte. Ein Modell war eigentlich schon alt, wenn man es kaufte. Wenn dann jemand sagte, dass er eines vom Vorjahr hätte, glaubten die Leute, es wäre aus dem letzten Jahrhundert. Das es sich vom neuen Modell nur in der Farbe unterschied, stand nicht zur Debatte und wollte auch keiner wissen. Aber so ist es in der Technik. Man kann nicht in sie hineinsehen und muss glauben, was einem die Experten sagen.
Heute hortet Georg Reiber Altmetall in seiner ehemaligen Werkstatt. Er nennt das Ersatzteillager. Wenn man ihn fragt Ersatz für was, kann er stundenlang erzählen, wo dies oder jenes Teil herkommt und wo es wieder Verwendung finden könnte. Auch sollte man sich nicht an banalen Äußerlichkeiten aufhalten. Alles könne man so verändern, dass es schon passen würde. Man sollte ihn also nicht darauf ansprechen, wenn man ihn trifft und noch etwas Sinnvolles an diesem Tag vor hat.
Das Grundstück um sein Haus hat er also mit einem Bretterzaun abgesperrt, teilweise und sporadisch mit Brettern und Dachpappe geschmackvoll überdacht und Regale hineingestellt. Über die Jahre hat er sich dann auf die Reparatur von allen möglichen Geräten spezialisiert, einschließlich Autos, Motorräder, Fahrräder. Alles, was sich bewegt und einen schneller von A nach B bringen kann als zu laufen. Viel versteht er nicht davon, aber er schafft es immer wieder, die nicht so neuen Modelle der Ortsbewohner so weit funktionsfähig zu machen, dass sie zumindest in die Stadt kamen, wo sie dann richtig repariert werden konnten.
Da er weder verheiratet war, noch sonst menschlichen Verpflichtungen nachkommen musste, gab ihm das ein Auskommen, von dem er, wenn auch mehr schlecht als recht, leben konnte. Und er hatte Beschäftigung. Auch einen Hund hatte er, der in einem kleinen Areal frei herumlaufen konnte. Was für ein Tier es war, wusste er nicht. Es stand einfach eines Tages ausgehungert vor seinem Zaun, er gab ihm was zu fressen und seitdem bewegte er sich nicht mehr von der Stelle. Da es ein weiblicher Hund war, nannte er sie Sissi, nach der österreichischen Kaiserin. Er liebte die Filme, die so schöne Geschichten von dieser Zeit erzählten. Und da kamen auch immer solche Hunde vor, die im Palast herumlagen. Wenn also sein Hund in seinem Palast herumlag, war es nur recht und billig, ihr einen entsprechenden Namen zu geben.
Es half auch seiner professionellen Erscheinung, dass er immer nur diesen Blaumann anhatte. Den ganzen Tag. Damit erübrigten sich Ausgaben in Richtung Kleidung und er wurde sofort erkannt, wenn man ihm begegnete. Egal, wo er auch hin wollte oder musste, es gab nur diesen Overall. Im Winter trug er dazu noch eine Jacke mit Werbeaufschriften einer Ölfirma, im Sommer hatte er nichts darunter, nur ein ehemals weißes Unterhemd, das die Farbe seines Körpers angenommen hatte. In den Übergangszeiten verschönerte ein von seiner Tante selbst gestrickter Pullover seine Erscheinung. Die besagte Tante konnte nicht besonders stricken, aber sie meinte, er müsse nur etwas abnehmen und dann würde er auch besser passen. So spannte eben alles um seine Kugel, die er vor sich herschob wie ein Wahrzeichen seiner Männlichkeit. Und das der Pullover spannte, wäre also nicht ihre Schuld, wie sie immer betonte.
4
Dann gab es da noch einen schrulligen, nicht ganz jungen Typ, von dem keiner so am Anfang genau wusste, was er eigentlich macht. Er hatte vor nicht einmal einem Jahr einen kleinen Hof gekauft, der ganz am Ende des Dorfes lag. Am gegenüberliegenden Ende vom Schrottplatz. Nicht am selben Ortsausgang. Etwas zurückgesetzt von der Straße. Man musste etwa hundert Meter in einen Kiesweg einfahren, um dorthin zu gelangen.
In diesem Ort gab es, wie in den meisten Ansiedlungen, zwei Ausfahrten, die man nehmen konnte. Beide führten aus dem Ort hinaus, wenn man so will, was viele im Lauf der Jahre in Anspruch genommen hatten. Diese Möglichkeiten hatten sich nicht verändert, wenn auch die, die noch da blieben, sie nicht mehr in Anspruch nahmen. Oder nur, um mal in die Stadt zu fahren, die etwa eine halbe Stunde entfernt war.
Und dieser Mann, er nannte sich Ingo, nahm nicht die Ausfahrt, sondern betrachtete die Straße als Einfahrt. Vielleicht in ein neues Leben. Er hatte das Haupthaus umgebaut und bewohnbar gemacht. Dem ehemaligen Stall hat er eine stabile Tür gegeben, sich dort scheinbar eingerichtet und irgendwie verschanzt. Genaueres wusste man nicht, da er sich sehr bedeckt hielt, wenn er auch des Öfteren wilde Partys gab. Es sollte sich erst später herausstellen, warum er diesen Ort als Refugium ansah und dort hingezogen war.
Zum Einkaufen und wahrscheinlich noch für andere Tätigkeiten fuhr er mit einem alten Peugeot in die Stadt, außer wenn er etwas vergessen hatte oder am Sonntag Semmeln brauchte. Dann fuhr er an die Tanke, wie man so sagt, die den Gemischtwarenladen irgendwann einmal ersetzt hat. Das ging schnell und schmerzlos, da die Besitzerin des Ladens, Lisa, der geschlossen wurde, auch die Eignerin der Tanke war, also sie den einen Platz ganz einfach zu und den anderen als Art Gemischtwarenladen aufgemacht hatte.
Im Sommer gab es dort auf dem Hof, wie bereits erwähnt, des Öfteren einen Tag lang eine Feier, zu der allerdings die Bewohner der näheren Umgebung nicht eingeladen waren. Es war eine geschlossene Gesellschaft und wie man an den Fahrzeugen sah, nicht gerade eine feine Gesellschaft. Die großen Marken der deutschen Automobilindustrie reihten sich an der Straße zum Hof. Links und rechts, wo sie gerade Platz fanden. Allerdings handelte es sich eher um betagte Modelle. Selten etwas Neues. Eigentlich nie. Es muss eine Gruppe von Menschen sein, die gerade am Anfang ihrer Karriere standen. Was immer sie auch machten.
Alle Fahrzeuge parkten entlang der Hauptstraße, die ja nach dem Bau der Umgehungsstraße eigentlich nicht mehr so genannt werden konnte. Sie war einfach die Straße durch den Ort. Von Ost nach West. Oder umgekehrt, je nachdem, wo man herkam. Von einem Ende zum anderen eben. Man konnte die Enden jeweils sehen, wie sie immer schmäler wurden und sich dann total im Horizont verloren. Der schwarze Streifen verlief im Nichts, löste sich auf, verschwamm mit dem Gelb der weiten Weizenfelder, die mit rotem Klatschmohn gesprenkelt waren. Oder grünem Unkraut. Im Sommer flimmerte die Luft über dem zerfetzten Asphalt, der nur noch provisorisch repariert und am Leben gehalten wurde. Im Winter fegte eisiger Schnee darüber. Für die wenigen Fahrzeuge, die es im Ort noch gab, war sie immer noch gut genug.
Zweimal am Tag fuhr ein Bus, der die Menschen vom Ort in die Stadt brachte. Morgens hin, abends zurück. Wenn man kein Fahrzeug besaß, war man gezwungen, den ganzen Tag in der Stadt zu bleiben. Oder zu Fuß zu gehen. Oder mit dem Fahrrad zu fahren. Was aber niemand tat. Schon aus Prinzip nicht. Das war anstrengend und gefährlich. Es gab nur eine, die ein Fahrrad besaß. Die Gerti. Aber die war ein bisschen zurückgeblieben und dachte immer, das wäre so wie fliegen. Dann fuhr sie so schnell wie sie konnte, breitete ihre Arme aus und schrie wie am Spieß einen fast tierischen Laut aus. Vor lauter Freude, dass sie fliegen kann. Sie wusste es nicht besser, da sie nie geflogen war. Aber für sie war es ein und dasselbe. Auch hatte es keinen Sinn, ihr klar zu machen, dass dies nichts mit fliegen zu tun hat, also ließ man sie gewähren. Für sie war es fliegen und damit gut genug. Sie sagte, sie strecke die Arme wie die Vögel, so als würde sie fliegen. Wenn man ihr entgegenhielt, dass die Vögel dann nach oben ziehen, sah sie einen verwundert an und nickte. Sie sagte nur, für mich ist es fliegen.
5
Robert Schnabel, unser Protagonist in dieser Geschichte, bewohnte also dieses kleine Haus, ziemlich in der Mitte des Ortes, etwas zurückgesetzt von der Straße. Wie alle Häuser von der Straße zurückgesetzt waren. Das hatte man eben so gebaut, wie man den Ort gründete. Damals gab es noch keine geteerte Straße, also wollte man den Staub und Dreck der Sandpiste nicht immer im Haus haben. Machte Sinn. Damals.
Zwischen seinem Haus und der Straße gab es einen Gehweg und einen kleinen Streifen, der einmal mit Gras gesät war und auf dem auch Pappeln standen, die im Sommer Schatten spendeten. Wie auch auf der Straße. Heute gibt es nur noch einen braunen Streifen schmutziger Erde mit traurigen Stumpen, die daraus hervorlugen. Die Pappeln wurden abgesägt, da sie auf der Hauptstraße, als sie noch diese war, standen und dort den Verkehr behinderten. Als es ihn noch gab, den Verkehr. Hätte man gewusst, dass es ihn einmal nicht mehr geben würde, würden diese Bäume vielleicht noch stehen. Langfristige Planung schien in diesem Ort nicht die Stärke derer gewesen zu sein, die das zu bestimmen hatten.
Ein niedriger Lattenzaun, der einmal grün gewesen war, aber mittlerweile langsam wieder seine Originalfarbe anzunehmen schien, umrundete das Grundstück. Naturholz. Wahrscheinlich konnte man Holz wie dieses nirgendwo anders gebrauchen, mit all den Löchern von Ästen, die sich dort einmal befunden hatten und die man nun wieder sehen konnte. Außer als Brennholz eben. Sie hatten sie einfach herausgerissen, diese kleinen Ästchen, da man glatte Pfosten brauchte und die Öffnungen mit Farbe verschlossen. Wie Pflaster über eine Wunde gelegt, die doch nie heilen und mit der Zeit wieder aufbrechen würde. Latten mit hervorstehenden Ästen waren und sind nicht gefragt. Man hatte sie erniedrigt, zerstört, nicht daran gedacht, dass es ihnen vielleicht etwas ausmachen könnte. Holz denkt nicht und totes Holz schon gar nicht. Denken wir jedenfalls oder glauben es zu wissen.
Dahinter gab es einen Garten, der mittlerweile total verwildert war. Als seine Großeltern noch lebten, war es ein gepflegter Blumengarten mit einem Beet für Gemüse dazwischen. Dort, wo die meiste Sonne hinkam. Es gab Karotten, Tomaten, Erbsen und Zucchini. Hauptsächlich Zucchini, das wie Unkraut wuchs und nicht kaputt zu bekommen war. Seine Oma schimpfte immer, dass es alles in Beschlag nahm, wucherte, wie ein Krebs, sich ausbreitete, ohne zu fragen, ob es das dürfe. Aber die Natur fragt nicht. Sie nimmt sich, was sie braucht und wir haben keine Möglichkeiten, das zu kontrollieren. Wir versuchen es, aber es gelingt nicht immer, was man im jetzigen Zustand sehr gut sehen kann. Und wenn ja, dann nur zeitweise. Wahrscheinlich lacht sie über uns und unsere Unfähigkeit, sie zu zähmen. Die Natur, meine ich, nicht die Großmutter. Na ja, die vielleicht auch.
Ein Weg ging von einem kleinen Gartentor zur Tür, die ins Haus führte. Neben dem Haus stand noch eine Garage, in die gerade einmal ein kleiner Wagen passte. Ein sehr kleiner. Robert hatte nie ein Automobil dort gesehen, wenn es denn jemals eines gegeben hat. Aber der Bau war wirklich klein. Alles aus Holz, die Pfosten, die schiefen Wände und das einfache Dach aus schmalen Brettern. Vielleicht war es ja auch für ein Motorrad gebaut. Sein Großvater hatte einmal so eine Maschine besessen, wie er ihm erzählte, die er aber verkaufen musste, als man Geld brauchte. Das war vor seiner Zeit. Bevor er dort einzog.
Seine Mutter hatte ihn eines Tages dort abgeliefert. Einfach mit einem kleinen, braunen Koffer aus gepresstem Papier vor die Gartentür gestellt, an der Glocke, die an einem Pfosten befestigt war, geläutet und ist dann ganz langsam weggegangen. Sie sagte nichts zu ihm, sah ihn nicht einmal an. Drehte sich nicht mehr um. Ging nur zur Bushaltestelle. Dort saß sie, bis der Bus kam und sie mitnahm. Keiner wusste wohin oder warum. Die Großmutter, die Mutter seiner Mutter also, kam aus dem Haus, sah den Jungen und wusste, was zu tun war. Der Großvater wollte zur Haltestelle und seine Tochter zur Rede stellen. Meinte, so einfach ginge das nicht und so weiter. Großmutter hielt ihn davon ab und sagte ihm nur, das sei schon in Ordnung. Es ginge um den Bub, der jetzt ein zu Hause braucht.
Es war ein warmer, sonniger Tag. Robert wusste nicht mehr, wann genau es war, nur, dass es eben sonnig und warm war. Auch erinnerte er sich an die großen goldfarbenen Felder, zwischen denen sie mit dem Bus gefahren waren, bevor sie in den Ort kamen. Seine Mutter hatte nicht ein einziges Wort gesprochen, die ganze lange Fahrt nicht, sondern immer nur aus dem Fenster gestarrt und geweint. Wenn er etwas sagte oder fragen wollte, wohin es ginge, hat sie ihm nur leicht über den Kopf gestrichen und angelächelt. Sie waren vorher nie irgendwo hingefahren. Nicht einmal an einen See oder so. Es war kein Geld da. Und auch kein Vater, der ihn einmal mitgenommen hätte. Also kannte er den Ort nicht, wo sie ausstiegen. Und auch die Frau nicht, die ihn mit ins Haus nahm. Bis sie ihm sagte, dass sie die Oma sei. Und der Mann neben ihr, der Opa. Das musste reichen. Für den Anfang jedenfalls.
„Es wird alles gut, Bub“, meinte sie immer und das war es. Es wird alles gut. Was gut werden würde, wusste er nicht und er würde es nie erfahren, aber in diesem Alter musste man daran glauben, was einem die Oma sagt und brauchte es wahrscheinlich auch nicht zu wissen. Denken jedenfalls die Erwachsenen, die alles zu erklären versuchen und doch meistens kläglich scheitern. Vielleicht weil sie es auch nicht wissen.
Seiner Erinnerung und dem Wetter nach musste es Juli oder August gewesen sein, da auch keine Schule war und er normalerweise in eine solche gehen musste. Das zweite Jahr stand bevor. Und da er sehr gerne in die Schule ging, wenn er auch ein bisschen Probleme damit hatte, wusste er nicht, wie es weiter gehen würde. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es überall Schulen geben könnte. Er kannte nur eine, und dort wollte er wieder hin. Er dachte, dass mit der Oma würde nicht lange dauern. Vielleicht ein paar Tage und dann würde seine Mutter wieder kommen, ihn lächelnd in den Arm nehmen und mit ihm nach Hause fahren. Nur kam es nie dazu.
Es ist ein ungutes Gefühl, wenn man nichts weiß, wie in eine tiefe Leere fällt und nur hoffen kann, dass einem nichts zustößt. Man hofft, dass man aufgefangen wird und betet insgeheim nicht auf etwas Hartem aufzukommen, auch wenn man schon lange den Glauben verloren hat. Der freie Fall. Er hatte auch später oft dieses Gefühl und dachte sich dann immer, dass es wahrscheinlich davon kam. Aus dieser Zeit des Alleinseins, des Verlassenwerdens. Er konnte es ganz einfach nicht mehr vergessen, als es ihn das erste Mal überfiel.
Seit diesem Tag gehörte er dann zu diesem Ort wie ein Möbelstück, das man dort abgestellt hatte. Eine kleine Kiste. Keiner wusste warum, aber er war einfach da. Und würde nicht mehr gehen. Am Anfang betrachtete man ihn als Fremdkörper. Wie einen Stein im Schuh, den man zwar spürt und weiß, dass er da ist, man aber nicht die Zeit oder die Muße findet, ihn heraus zunehmen. Man tritt dann eben etwas mehr seitlich auf, damit es nicht so weh tut. Und irgendwann fällt dieser Stein dann von selbst heraus und die Schmerzen sind vorbei. Dann passt der Schuh wieder, wie man sagt.
Es gab nicht viele kleine Menschlein im Ort, mit denen er damals zusammen sein konnte. Nur zwei, den Klaus und die Gerti. Die Gerti ist immer noch da, da sie niemand mitgenommen hat. Und alleine konnte und kann sie nirgendwo hin. Im Ort passt man auf sie auf, hilft ihr, wo es geht. Sie ist Teil der Gegend geworden, Inventar. Wie die Bushaltestelle oder die große Linde in der Mitte auf dem kleinen Platz, an dem auch ein Brunnen steht, der im Sommer immer so schönes, kühles Wasser aus einem Rohr fließen ließ. An dem man sich zu trinken holen konnte, wenn immer man wollte. Es war auch ein Treffplatz der Tiere, die in der Gegend lebten und frei waren. Sie kamen auch nur wegen des Wassers, nicht wegen der Menschen. Die brauchten sie nicht. Heute ist es nur ein schmutziges Becken, in dem all die Dinge liegen, die der Wind dort hin geblasen hat. Das Rohr, dass einmal senkrecht in der Mitte nach oben ging und aus dem das Wasser kam, ist verrostet und am unteren Ende abgebrochen. Es kommt schon lange kein Strahl mehr mit kühlendem Wasser dort heraus.
Das ist dort, wo der Postwirt einmal sein Lokal hatte. Es gibt in jedem dieser Orte einen Postwirt. Dort wurden die Pferde gewechselt, wenn die Kutsche kam. Aber auch der ist weggezogen. Die Speisekarte, die immer noch in einem Glaskasten hängt, an dem die Scheibe schon seit Jahren einen Sprung hat, ist uralt. Aber das macht nichts. Es ist ja auch keiner mehr da, der kocht. Es sieht gut aus und liest sich wie aus einem Erste-Klasse-Restaurant, was dort in geschwungener, handgeschriebener Schrift steht. Es muss lecker gewesen sein, was es damals gab. Echtes deutsches Essen. In deutscher Schrift. Gekocht mit deutscher Hand. Heute gibt es einen Döner in einem alten Lieferwagen, der am Ende des Ortes auf einem Parkplatz steht, auf dem einmal ein Haus stand. Das Haus hatte man abgerissen, weil jemand dort neu bauen wollte. Dann hatte er sich das anders überlegt. Der Bauzaun verfiel, wurde als Brennholz verwertet und zurück blieb ein Grundstück, das als Parkplatz diente. Im Sommer kommen die wenigen Jungen, wer weiß, woher die sich ab und zu nach dort verirren und essen geschabtes Lammfleisch in einem Fladen aus Mehl und Wasser. Im Stehen. Mit Zaziki
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Olaf Maly
Bildmaterialien: © Dariia: (#257886777) - Various small tiny houses, trees and mountains. · © Dariia: (#257886826) - Various small tiny houses.
Cover: Olaf Maly
Korrektorat: Die Bücherfee, Karina Reiß
Satz: Olaf Maly
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1576-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte mich an dieser Stelle bei einigen Personen bedanken, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Zuallererst sei meine langjährige Partnerin Marita Stepe genannt, die es stets auf sich nimmt, die erste Fassung meiner Bücher zu lesen und mit konstruktiver Kritik auf den Inhalt Einfluss nimmt. Was würde ich nur ohne sie machen. Des Weiteren möchte ich Vivian Tan danken, die seit Jahren alle meine Covers erstellt. Dann bedanke ich mich noch bei Karina Reiß, 'Die Bücherfee', die das Buch korrigiert und meine Fehler ausgemerzt hat.