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Mordsblattl

Bernrieder ermittelt – Band 3

Olaf Maly

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Marita

1

 

 

Franz Josef Bernrieder saß am Freitagnachmittag noch kurz bei seiner Freundin Fanny. Dort unten, in der Konditorei. Er war auf dem Weg nach Hause und wollte ganz einfach einmal fragen, was sie am Wochenende so vorhatte.

»Was werd ich schon vorhaben, Franz. Siehst ja, wo ich den ganzen Tag bin. Hab's nicht so schön wie ihr, dass ich am Wochenende daheim sein kann. Hier kommen am Wochenend die meisten Gäst um die Zeit. Aber warum fragst? Willst mich wieder zu was einladen?«

»Ja, eigentlich schon, weißt. Weil der Gustl kommt morgen, und wir tragen mein Bett runter in die Stub'n. Für den Winter. Wie jed's Jahr.«

»Hast noch immer keine Heizung da oben?«

»Ja, wie des halt so is. Man will des machen, dann kommt was dazwischen, und bis dass du dich umschaust, is wieder Winter. Also, kommst mich besuchen? Kannst mir ja helfen, die Bettwäsch zum Sortieren. Ihr Frauen könnt's so was immer viel besser.«

Es war noch nicht Winter, aber er kündigte sich an. Die Tage wurden kürzer, das Wetter beständiger. Mit Nässe und Regen beständiger. Die Sonne ließ sich immer weniger blicken. Die grauen Wolken hingen den ganzen Tag in den Bergen und machten sie nahezu unsichtbar. Es roch bereits nach Schnee, wenn man ganz ruhig dastand und sich den Genuss dieses Geruches einzuverleiben gewillt war.

Fanny war neben ihm. Es war nicht viel los um diese Uhrzeit. Am frühen Nachmittag gab es noch die Anwendungen in den Kliniken. Oder man musste eingewickelt irgendwo auf einer harten Bank liegen und ruhen. Schließlich waren diese Menschen, die sich die Zeit genommen hatten, den Ort zu besuchen, nicht zum Vergnügen da. Sie wollten sich gesund kuren, von was immer sie auch belästigte. Da konnte man nicht einfach so weggehen und im Kaffeehaus sitzen. Das jedoch würde sich so gegen fünf Uhr schlagartig ändern. Dann gab es den Ansturm. Aber bis dahin waren es noch ein paar Stunden.

»Ja, dann werd ich halt einsam und verlassen daheim mein Dasein fristen«, sagte er traurig.

»Ja, und du tust mir unendlich leid, mein lieber Franz, aber so is das Leben. Man kann nicht alles haben.«

»Ich will nicht alles haben, nur dich, meine liebe Fanny. Und nur am Wochenende.«

Der Ton wechselte von traurig nach sehnsüchtig.

»So, des hamma schon so oft durchg'spielt, Franz. Und jetz muss ich arbeiten. Kannst mich ja b'suchen, wenn'st nicht weißt, was'd machen sollst.«

Damit gab sie ihm noch einen kleinen Kuss auf die Stirn, drehte sich um und kümmerte sich um eine ältere Frau, die gerade hereingekommen war.

Franz stand auf und verließ das Café. Er musste noch zum Gustl und ihn fragen, wann er denn bei ihm sein würde. Nicht zu früh, hoffentlich, da er vorhatte einmal so richtig auszuschlafen. Zwar war nicht gerade viel los in Bad Tölz und Umgebung, aber er hatte dennoch immer genug zu tun.

Leichter Wind und nasser Nebel erwarteten ihn, als er durch die Tür ins Freie trat. Er zog den Kragen seines Lodenmantels nach oben unters Kinn. Wie immer im Herbst und Winter hatte er einen breitkrempigen, schwarzen Hut auf, der ihn vor dem Schlimmsten bewahrte. Den Kopf gesenkt, machte er die paar Schritte über den Hauptplatz in Richtung Schnitzerei, dem Geschäft seines Freundes.

Es war alles hell beleuchtet, was dem ganzen kleinen Haus etwas Gemütliches gab. Ein bisschen Wärme strahlte durch das große Fenster auf die nasse Straße und brachte die dunklen Pflastersteine zum Glänzen. Gegen das Licht konnte man den feinen Nebel ausmachen, der in der Luft schwebte. Es war niemand im Laden. Keine Kunden um diese Zeit, also saß der Gustl sicher hinten in seinem Verschlag, wo er eine Kochstelle und eine Couch hatte, auf die er sich legte, wenn er einmal Ruhe brauchte. Das Schild an der Tür sagte, dass der Laden geschlossen sei, man aber klingeln könne, wenn man hineinwollte. Was Franz dann auch tat.

Nach einer kurzen Weile sah man Gustl in seinem üblichen Aufzug, einer Jeans und einem weiten, weißen Hemd, das er über der Hose trug, durch den Laden schlurfen. Sein Gesicht erhellte sich, als er den Franz bemerkte. Wahrscheinlich, so wirkte es jedenfalls, hatte er gerade ein bisschen geschlafen. Seine vollen, halblangen Haare waren unordentlich, und die Augen hielt er noch halb geschlossen. Das Licht schien ihm nicht gerade angenehm zu sein.

»Komm rein, mein Freund«, sagte er, als er die Tür aufgemacht hatte und ihm mit einer kleinen Verbeugung den Weg nach hinten zeigte. »Weißt eh, wo's hingeht. Des Bier is im Kühlschrank. Bin gleich da.«

Offensichtlich musste er einmal. Also ging Franz Josef Bernrieder schon einmal voraus. Es war warm, dort in seinem Verschlag. Sehr warm. Der Franz musste seine Sachen ausziehen, um nicht zu schwitzen.

»Warm hast es hier«, sagte er zum Gustl, als dieser nach ein paar Minuten erschienen war.

»Weißt eh, wenn man älter wird, braucht man a bisserl mehr Hitz'n. Wirst schon noch merken, wenn'st in mein Alter kommst.«

»Wenn'st du des sagst, wird des schon so sein. Is alles klar für morgen?«

»Was meinst? Was is morgen?«

Natürlich wusste er, wovon er sprach. Es war mehr ein Ritual, das er manchmal durchspielte, um seinen Freund herauszufordern.

»Depp du. Weißt doch genau, von was ich red.«

»Ach die Aktion mit deinem Bett. Klar, ich hab sogar den Ludwig ang'rufen. Der kommt auch und hilft.«

»Der Ludwig von der Heizungsfirma?«

»Ja, genau der. Damit du endlich amal was tust mit der blöden Heizung. Der wird des auch gleich ausmessen, was du da brauchst. Nächstes Jahr mach ich des nämlich nicht mehr. Ich werd langsam aber sicher zu alt für den Schmarren. Und außerdem brauch ich meine Händ zum Schnitzen, nicht als Möbelträger. Weißt, da braucht man feine Hände, nicht so Pranken, wie du die hast. Und jetz trink ma eins. Tölzer Urbräu.«

 

2

 

 

Es wurden ein paar mehr Biere, als sie geplant hatten. Die Geschichten, die sie sich erzählen mussten, dauerten eben. Zwar waren es immer dieselben, aber mit der Zeit wurde die langweiligste Episode so spannend, dass man nicht mehr aufhören konnte. Beide hatten diese alten Tragödien von verlorenen Lieben und ähnliche Abenteuer schon so oft durchgekaut, dass auch die traurigste Szene nur noch lustig sein konnte. In letzter Zeit gab es nicht viel neue Erlebnisse. Sie waren sich einig, dass das nur etwas mit dem fortschreitenden Alter zu tun haben konnte. Aber, meinte Gustl, Männer seien wie Whiskey. Sie werden immer besser, je älter sie sind. Nur die Weiblichkeit wisse das nicht zu schätzen.

»Nur is des deren Verlust, nicht unserer, Franz.«

»Wo dass du recht hast, Gustl, hast du recht.«

»Und auf des trink ma jetz. Prost.«

 

Es war dunkel geworden. Der Mond schien flach durch eine Wolke aus Nebel. Er hatte einen Hof, wie man sagte, der gutes Wetter bedeuten sollte, aber daran glaubte eigentlich niemand. Schon gar nicht die beiden. Und besonders nicht um diese Jahreszeit, da gutes Wetter nur in Gedanken und den Träumen vom Sommer stattfand.

Franz Josef Bernrieder stand auf der Straße und wollte seinen Autoschlüssel aus der Tasche ziehen, der ihm allerdings, als er ihn endlich in der Hand hatte, geradewegs von seinem Freund Gustl abgenommen wurde. Als der sich vehement darüber beschweren wollte, klingelte sein Handy.

Es war Wachtmeister Korbinian Schuhnagel, der Diensthabende für's Wochenende. Er hatte keine Familie, also bewarb er sich immer für die Wochenenden. Da hätte er etwas Sinnvolles zu tun, wie er meinte. Die Einwohner seiner geliebten Stadt vor dem Übel zu bewahren.

Der Anruf konnte nichts Gutes bedeuten, schoss es dem Franz wie ein Blitz durch den Kopf. Wenn der Korbinian um diese Zeit anrief, war es immer ein Notfall. So schnell wie der Gedanke kam, war er auch schon wieder verschwunden. Es gab keine Alternative.

»Ja was is, Korbinian?«, sagte er deswegen auch ein bisschen schroff.

»Des klingt aber nicht gut, was ich da hör, Franz. Hast a bisserl viel Bier g'habt?«

»Macht nix, Korbinian, sag mir nur, was is, und ich bin wieder voll da. Deine Nachrichten um die Zeit wecken mich sicher auf.«

»Eine Leich hamma.«

»Sehr gut. Des is genau des, was ich jetz brauch. Und du weißt sicher auch, wo die Leich is?«

»Logisch.«

»Und macht dir des was aus, wenn du mich daran teilhaben lässt?«

»Nein, des macht mir nix aus.«

»Korbinian …«

»Ja, is ja schon gut. Wollt halt a bisserl an Spaß machen mit dir. Nix für ungut. Wir holen dich ab, weil da, wo die Leich is, da kommst du mit deiner Kisten nie rauf. Und mit deinem Blutalkohol sowieso nicht. Wo bist denn eigentlich?«

»Vor dem Haus vom Gustl. Aber da geh ich jetz wieder rein, weil mir wird's hier langsam a bisserl zu nass.«

»Wir sind in zehn Minuten da. Lauf net weg.«

»Depp.«

Dann legte er auf, sah seinen Freund Gustl an und erklärte ihm, dass es eine Leiche gäbe.

»Sauber, ich glaub, ich muss den Ludwig anrufen. Ich glaub nicht, dass du heut Nacht noch den Mörder find'st.«

»Ich weiß ja nicht einmal, ob der umbracht worden is. Also wart mit deinem Anruf.«

»Warum sollten die dich anrufen, wenn einer an Herzkaschperl g'habt hat? Da rufen die höchstens die Feuerwehr.«

»Da hast du wieder recht. Lass uns reingeh'n. Des wird mir zu nass hier draußen. Blumen mögen des vielleicht, aber nicht ich.«

 

Wie versprochen, dauerte es wirklich nur ein paar Minuten, und ein Unimog hielt vor der Schnitzerei mit quietschenden Bremsen. Es war ein alter Wagen, der schon viel erlebt haben musste. Die Reifen hatten ein starkes, grobes Profil. Unter den Türen sah man Rostlöcher, die mit Farbe übersprüht waren. Ansonsten gab einem das Gefährt ein Gefühl von Unzerstörbarkeit, wie ein ewiges, lang andauerndes Abenteuer.

»Des wird der sein, der mich abholt. Des muss ja wirklich in der Prärie sein, dass die den rausg'holt ham. Schaut nicht so aus, als würden die den jeden Tag fahr'n.«

»So was hat die örtliche Polizei? Des schaut ja aus wie ein Militärischer.«

»Nein, der is bestimmt von der Feuerwehr. Nur für Sondereinsätze, glaub ich. Und des is ein Sondereinsatz, hab ich des G'fühl. Jetz hab dich gut, mein alter Freund. Ich seh dich morgen zum Umzug.«

»Nein, wirst du nicht. Weil ich denk, dass du morgen eine Arbeit hast. Aber mach dir keine Sorgen. Wir machen des schon noch. Irgendwann amal, aber nicht morgen.«

Damit drückte Gustl seinen Freund durch die Tür und schloss hinter ihm ab. Er war froh, dass er derjenige war, der in einem warmen Zimmer die Nacht verbringen durfte und nicht wie sein Freund in der nassen Kälte der bayerischen Berge. Oder wo immer man ihn mit dem Monster hinfahren würde.

 

Der Wagen wurde von einem jungen Mann der freiwilligen Feuerwehr gefahren. Man erkannte das an der Uniform, die er anhatte. Trotz der Kälte und Nässe war seine Jacke aufgeknöpft und das Hemd bis zur Mitte offen. Franz Josef Bernrieder beneidete die jungen Leute, die keine Kälte kannten. So wie er vor ein paar Jahren noch. Oder waren es schon mehrere Jahre? Auch egal, dachte er sich in diesem Moment. Man muss den Tag leben und nicht die Vergangenheit.

Er stellte sich kurz als der Franz Josef Bernrieder vor, als er einstieg. Der Platz war hoch oben, höher als die Arme erreichen konnten. Es waren zwei Sprossen an einer Leiter, die man brauchte, um ins Auto zu kommen. Die Sitze waren so unbequem, wie das ganze Ungetüm aussah. Unkomfortabel, alt und ausschließlich zweckmäßig. Als er dann auf dem Platz endlich eine Position fand, die einigermaßen angenehm war, und sich angeschnallt hatte, wollte er wissen, wohin die Reise denn gehen würde.

»Rauf zur Stichler Alm. Da ham die scheinbar jemand g'funden, der nimmer schnauft. Ich bin der Hansi. Hans Oberbichler. Alle nennen mich Hansi, weil ich angeblich so ausschau wie ein Bub. Glauben Sie des auch? Ich mein, dass ich ausschau wie ein Bub?«

»Des weiß ich nicht, weil‘s schon so dunkel is, dass man nicht viel sieht. Aber wenn Ihre Freund des sagen, wird des schon stimmen. In der Nacht fällt des nicht so genau auf. Da geht alles irgendwie unter.«

»Ja, des glaub ich. Sagt die Maria auch immer. Sie meint, dass wenn's dunkel is …«

»Und wo genau is die Stichler Alm?«

Franz Josef Bernrieder wollte sich eigentlich nicht über eine Maria unterhalten, die im Dunkeln offensichtlich nichts sehen konnte. In diesem Fall vielleicht ein gutes Zeichen, aber trotzdem interessierte es ihn nicht.

Das machte den Hansi irgendwie nicht fröhlicher. Im Gegenteil, die Temperatur seiner Stimme sank um einige Grad nach unten und wurde mehr dienstlich.

»Kurz vor Lenggries fahrt ma den Berg rauf. Des is die einzige Alm da oben, die noch bewirtschaftet is. Im Sommer halt. Jetz sollt da oben eigentlich schon alles zu sein.«

»Ich hab auch denkt, dass die Küh mittlerweile schon alle unten sind.«

»Sind's auch. Vor einer Woch ham die alle runtertrieben. Mei, des war eine Gaudi. So schöne Kränz ham's um den Hals g'habt, die Viecher. G'schmückt waren's mit Blumen und so. ›Auskranzen‹ nennt ma des bei uns, wenn man dene die Gebinde umhängt. Und große Glocken ham's um den Hals g'habt. So schön schaut des immer aus. Als Bub bin ich da oft mit. Ich mein rauf zur Alm, und dann hamma die Viecher den Weg runtertrieben. War immer eine Riesengaudi.«

Der Kommissar merkte, wie begeistert er gewesen sein musste, als Kind Kühe vor sich herzutreiben. Er konnte das nicht nachvollziehen, aber verstehen doch ein bisschen.

»Da wo der Fußballplatz is, ham's ein Zelt aufbaut. Und des Bier is g'laufen wie aus einem Hahn, den man nicht mehr hat zumachen können. Dann hat's eine Kapelle g'habt, aus Murnau. Alles Blech, wenn's wissen, was ich mein. Die ham vielleicht aufg'spielt. Grad zünftig war's. Wir von der freiwilligen Feuerwehr ham a bisserl für Ordnung g'sorgt. Weiß ma ja nie, was die machen, wenn's a paar Bier intus ham, die Burschen. Und die Maria –«

»Ja, ich hab davon g'hört. War ja überall in die Zeitungen. Wissen Sie, was da oben los is, auf der Alm?«

Der Kommissar unterbrach den Redeschwall vom Hansi, da er wieder mit seiner Maria anfangen wollte. Er konnte den Eindruck nicht loswerden, dass die Maria eine längere Geschichte sein würde. Zwar hatte er nichts gegen die Maria, aber es war kalt, nass, und er hatte eigentlich vorgehabt, nun in seinem weichen Federbett seinen kleinen Rausch auszuschlafen.

»Mei, alles, was ich weiß, is, dass da jemand tot is. Die ham mich ang'rufen, ob ich den Kommissar da rauffahren kann, weil dem sein Auto des nicht im Leben schaffen tät. Und dann ham's noch g'sagt …« Er machte ein kleine Pause. »Na, nix ham's mehr g'sagt. Des war alles.«

»Dass der Kommissar b'soffen is und nicht mehr fahr'n kann, richtig?«

»So ähnlich, aber nicht so genau. Ich mein, nicht so die Worte. Nur dass des halt besser is, wenn ich Sie fahr, weil der Weg ja ein nicht ganz ungefährlicher is und ich den ganz gut kenn.«

Sie sahen sich beide gegenseitig an. Sowohl Franz als auch Hansi lächelten ein bisschen.

 

Mittlerweile waren sie bereits kurz vor Lenggries, einem Ort, keine fünfzehn Minuten von Bad Tölz entfernt. Hans Oberbichler lenkte den Wagen auf einen Feldweg, der von der Bundesstraße 13 abging. Dann schaltete er einen Hebel nach vorne.

»Der is für's Gelände. Ohne den kommen wir da nicht rauf. B'sonders wenn des so nass is. Der Weg is nur für die Waldler, nicht für den normalen Verkehr. Und jetz wird’s a bisserl schaukeln.«

Hansi schaltete noch die Fernlichter ein, damit man genau sehen konnte, wohin es ging. Leichter Nebel hatte sich über die Wiesen gelegt, die links und rechts an ihnen vorbeizogen. Alles um sie herum war schwarz und undeutlich, nur die durch die Scheinwerferkegel beleuchteten kleinen Flächen hatten noch Farbe. Man konnte das Grün erkennen, das tagsüber die ganze Gegend in sich aufnahm.

Es war ein holpriger Weg, wie Hans Oberbichler richtig erfasst hatte. Er wurde wie in einem alten Karussell durchgeschüttelt, dass er Angst hatte, seine Wirbelsäule würde sich in ihre Einzelteile zerlegen und die Hälfte nicht mehr auffindbar sein. Ein Besuch bei einem Chiropraktiker war sicher eine gute Idee für den nächsten Tag. Sollte er ihn erleben.

Erst ging es geradeaus und ein wenig nach oben. Dann bog der Weg in einer leichten Kurve in den Wald ein, der den ganzen Hang, so weit wie man um diese Zeit sehen konnte, bedeckte. Nach wenigen Metern wurde der Weg zu einer Serpentine, bei der auf einer Seite der Berg steil nach unten abfiel. Zwar waren dort zahllose Bäume, die einen Fall gebremst hätten, aber dennoch war dem Kommissar nicht wohl. Erstens fuhr Hans Oberbichler so schnell, wie es das Gefährt hergab, und zweitens konnte man so gut wie nichts sehen. Er beschloss, dem Hansi zu vertrauen. Im Grunde, kam ihm in den Sinn, hatte er auch keine andere Wahl. Er bereute ein wenig, dass er nicht auf das Gespräch mit Maria eingegangen war. Vielleicht hätte ihn das ein wenig gemäßigt.

Da Franz Josef Bernrieder nun seinen Chauffeur von der Seite ansah und dieser wohl den Eindruck hatte, dass sein Passagier die Fahrt nicht gerade genoss, lächelte er ihn an und meinte, dass er den Weg gut kenne.

»Ich bin hier aufg'wachsen, und schon mein Großvater hat den Weg mit mir immer g'nommen. Wir ham oft was g'holt von der Alm, wenn's wieder an Käs g'habt ham. Nur damals sind wir mit einem Gaul da rauf. War immer noch besser als wie zu Fuß.«

Das beruhigte den Kommissar unheimlich. Trotzdem hielt er sich am Türgriff fest und versicherte sich, dass sein Gurt eingeschnappt war.

 

Nach einer Fahrt, die ihm wie Stunden vorkam, aber nicht einmal eine halbe gedauert hatte, sah man ein hell erleuchtetes Gebäude, vor dem etliche Fahrzeuge standen. Sie waren also nicht die Ersten.

Davor gab es eine kleine, flache Stelle, die die Alm, also das Wohnhaus, mit dem Stall verband. Beide Gebäude waren in den Berg gebaut. Eine Wand war somit der Fels des Berges.

Vorsichtig schälte sich Franz Josef Bernrieder aus seinem Sitz, stieg langsam die kurze Leiter hinunter und streckte sich erst einmal kräftig durch. Er hatte die Fahrt gut überstanden und war froh, noch am Leben zu sein. Nur den Chiropraktiker bekam er nicht aus dem Sinn.

In diesem Moment kam Amelie Hammer aus dem Haus. Sie begrüßten sich herzlich.

»Ja, Franz, lang is her. Ham's dich also doch g'funden.«

»Was meinst? Ich hab doch keine geheimen Plätz. Mich braucht man nur anrufen, und schon weiß man, wo ich bin. Aber schön is schon, dass man sich amal wieder sieht. Ich glaub, wir sollten mehr Tote ham in Bad Tölz, weil wir treffen uns nur, wenn was los is. Wir könnten aber –«

»Franz, ich bin hier zum Arbeiten. Und jetz schau dir den amal an, der da liegt. Wir ham nur auf dich g'wartet, dann bring ma ihn weg.«

Damit drehte sie sich um und ging wieder ins Haus. Dort waren, wie erwartet, überall Scheinwerfer aufgestellt. Die Leute in ihren weißen Anzügen fotografierten, sammelten etwas vom Boden auf, pinselten Staub auf Türen und Fenster, den sie dann mit Klebestreifen wieder abnahmen. Es war ein emsiges Treiben. Er kam sich wie ein Störenfried vor, der gerade noch gefehlt hatte.

In der Mitte des kleinen Raumes, der Wohnzimmer, Esszimmer und Küche in einem war, lag ein Mann. Alles war aus dunklem Holz, das über die vielen Jahre eine angenehme Patina bekommen hatte. Der Rauch aus dem Kachelofen, an einer Wand eingebaut, in den man auch einen Wasserkessel hängen konnte, war sicher mit daran beteiligt, es so aussehen zu lassen. Obwohl er wegen eines Deliktes hier war, gefiel es ihm nicht weniger. Durch die vielen Menschen war es auch angenehm warm geworden.

Amelie gab ihm aus einer Schachtel blaue Gummihandschuhe und sagte ihm, er solle sie anziehen.

»Damit dass du nicht unsere Spuren kaputtmachst.«

»Eure Spuren? Ich hab denkt, ihr sucht's fremde Spuren.«

»Nicht klugscheißern, Franz. Du weißt, was ich mein.«

 

Der Mann war um die vierzig, vielleicht ein bisschen älter. Er hatte Bundlederhosen, weiße Strümpfe und halbhohe Stiefel an, die man trägt, wenn man in die Berge geht. Dazu noch ein weißes Hemd, eine lederne Weste und ein dunkelgrünes Sakko. Auf dem Rücken hatte er einen kleinen, grünen Rucksack. So, wie die Jäger ihn haben.

»Und? Wiss ma schon, wie der umkommen is?«

»Ja, wenn'st amal genau da hinschaust«, dabei zeigte Amelie auf eine bestimmte Stelle, »siehst du vielleicht ein kleines Loch. Kommt von einem Schuss. Ich nehme an, es war ein Jagdgewehr oder eine kleine Pistole. Der Schuss is aus naher Entfernung abgegeben worden. Der Ort hier ist nicht der Tatort, da wir nirgendwo Blut gefunden haben. Ich mein, wenn jemand mit einer Kugel getroffen wird, spritzt da ziemlich viel Blut in der Gegend rum. Hier is nix, also hat der Täter den hier reing'schleift. Oder des Opfer hat sich selber noch da hing'schleppt und is dann umg'fallen. Wir schau'n grad draußen, ob wir was sehn.«

»Wissen wir, wer des is?«

»Auch das wissen wir schon, weil der einen Ausweis in der Taschen g'habt hat. Ein gewisser Doktor Erwin Grasmeier. Wohnhaft in Murnau.«

»Amelie, wie immer bin ich von dir beeindruckt. Und nicht nur beruflich, versteht sich. Ich brauch ja gar nichts mehr machen, wenn du mir die ganze Arbeit abnimmst.«

»Mein lieber Franz, des is nur der Anfang. Von hier aus is des deine Sach.«

»Ja, wie immer. Wenn's schwer wird, dann bleib ich allein. Hamma noch was B'sonders?«

»Des B'sondere is, dass die Hütten offen war. Was uns zu dem Herrn Anton Kufer bringt, der die Leich g'funden hat. Der hat g'meint, dass die nicht hätt offen sein sollen.«

»Aha, und wo is der Herr Kufer jetz?«

»Der wart auf dich. Drüben im Kuhstall, weil hier, wie du siehst, ja kein Platz nicht ist.«

»Dann lass uns doch amal in den Saustall gehen.«

»Kuhstall, Franz. Säu gibt’s hier oben keine. Jedenfalls keine vierbeinigen.«

 

Anton Kufer war nicht der Mann, wie man sich einen Almwirt vorstellte. Er war jung, vielleicht Mitte bis Ende zwanzig, blond, schlank und groß gewachsen. Er sah sicher nicht wie ein Senner aus. Aber woher weiß man schon, wie ein solcher aussieht. Er hatte einen alten Parka an, die Kapuze über den Kopf gezogen. Wie man es macht, wenn es einem kalt ist.

Franz Josef Bernrieder stellte sich ihm vor und sagte ihm umgehend, dass er nicht wie ein typischer Almhirte aussehe.

»Da haben Sie recht, Herr Kommissar. Ich mache das auch nur im Sommer. So als Abwechslung. Eigentlich komme ich aus Brandenburg, aber die Berge haben es mir angetan. Meine Eltern kamen immer hier nach Krün zum Wandern, und eines Tages habe ich dann gefragt, ob ich einmal hier den Sommer verbringen darf. Das war vor vier Jahren. Und jetzt bin ich der Senner hier oben auf der Alm.«

»Ein norddeutscher Senner? Die Zeiten werden auch immer seltsamer. Verstehen die Küh Sie wenigstens, wenn's mit dene reden?«

Anton Kufer sagte nichts dazu. Er wusste, dass das nicht ernst gemeint war.

»Ich mein ja nur, weil heut macht ma dene ja auch Musik, damit's mehr Milch geben. Hab ich amal g'lesen. Aber jetz zu dem, warum wir hier sind. Warum, ham's g'sagt, sind's heut hier raufkommen?«

»Weil ich noch alles aufräumen wollte. Wir haben letzte Woche die Kühe ins Tal getrieben, und heute wollte ich alles für den Winter fertig machen. Bis zum Frühjahr kommt ja niemand mehr hierher. Und über den Winter ist die Hütte zu. Außer in Notfällen. Da ist immer ein Schlüssel in dem Kasten neben der Tür.«

Herr Kufer machte eine Pause, wahrscheinlich um zu überlegen.

»Ja und dann?«

»Nichts dann. Ich komme, und die Tür war auf. Das hat mich natürlich gewundert, aber gedacht habe ich mir zuerst nichts dabei. Ich wollte gerade zusperren, da denke ich mir, ich sollte doch einmal reinschauen, ob da jemand ist. Und da sehe ich den Mann auf dem Boden. Dann habe ich die Polizei angerufen, ein Wachtmeister kam und ein paar Stunden später all die anderen. Sie waren der Letzte.«

»Kennen Sie den Mann?«

»Nein, nie gesehen.«

»Können Sie sich vorstellen, warum der grad hierherkommen is?«

»Nein, aber im Sommer fahren viele mit der Sesselbahn hinauf auf den Berg, so in die Mitte ungefähr, und dann laufen sie wieder runter. Und der Hauptweg geht hier an der Hütte vorbei. Von hier aus geht man dann den Fahrweg hinunter, den Sie heraufgekommen sind. Aber um diese Jahreszeit sind das nur noch wenige. Und bei diesem Wetter ist sowieso niemand unterwegs.«

»Des heißt, wenn ich von der Bergstation von dem Sessellift ins Tal geh, komm ich hier immer vorbei?«

»Genau. Und im Sommer bleiben dann viele hier stehen und trinken was. Es gibt auch was zu essen, aber eigentlich nicht richtig. Nur so eine Brotzeit, wie man das hier nennt. Früher war das anders, aber mit den Bestimmungen heute können sie das nicht mehr machen.«

»Gut, reicht mir dann schon. Wann wollen's denn wieder heimfahr'n? Nach Brandenburg, mein ich.«

»Eigentlich diese Woche noch.«

»Des können's vergessen. Sie müssen bleiben, bis wir den Fall g'löst ham. Wo wohnen's denn?«

»Beim Leitner Bauern.«

»Und wo wohnt der Leitner Bauer?«

»In Krün. Der erste Hof, wenn Sie von Norden kommen auf der linken Seite. Den Leitner kennt jeder. Da können Sie jedes Kind fragen, wo der wohnt.«

»Aha. Und wie sind Sie hier raufkommen?«

»Mit dem Auto. Das da, neben der Hütte.«

Damit zeigte er auf einen kleinen, grünen Geländewagen. Das Nummernschild war von Dreck völlig verdeckt, wie auch das ganze Auto nicht sehr sauber war.

»Also, wie ich g'sagt hab. Bleibens bitte zu unserer Verfügung.«

Franz Josef Bernrieder stand auf und verabschiedete sich vom Senner. Er begriff immer noch nicht, dass man einen aus Norddeutschland importieren musste, um hier oben auf Kühe aufzupassen.

 

Es war weiterhin emsiges Treiben um die Alm. Das Wetter hatte sich nicht gebessert, im Gegenteil. Der leichte Niederschlag, der mehr ein sanftes Nieseln war, hatte sich verstärkt und zum Landregen entwickelt. Es würde nicht lange dauern, bis der Schnee wieder alles weiß macht, ging dem Franz durch den Kopf. Wenn er auch die Winterlandschaft gernhatte, war er nicht so begeistert von den damit verbundenen Nebenerscheinungen. Wie Kälte und Nässe. Schneeräumen. Und vieles andere.

Mittlerweile hatte man den Toten abtransportiert und in die Gerichtsmedizin gefahren. Amelie stand an der Tür und schaute sich um. Nichts Spezielles, nur so. Als sie den Franz aus dem Stall schlurfen sah, ging sie auf ihn zu.

»Ich fahr dann. Meine Leut bleiben noch a bisserl hier. Magst mitkommen oder willst auch noch hier oben bleiben?«

»Bei dem Sauwetter? Amelie, es wär mir eine Freude, mit dir nach Hause zu fahren. Habt's ihr ein Telefon g'funden? Ich mein, des is doch heut des Erste, was ma sucht.«

»Nein, hamma noch nicht, aber kann ja noch sein.«

»Ja, kann ja noch kommen. Und dann will ich die Autonummer haben von dem Wagen da an der Hütten. Des is des Auto, mit dem der Senner da raufkommen is.«

»Machen wir auch.«

»Aber jetz fahr'n wir erst amal heim, Amelie.«

»Ja, mein lieber Franz, ich nehm dich nach Tölz mit, nicht heim. Bei mir daheim wart ein Mann auf mich. Mein Mann, wie du weißt.«

»Ja, leider. Die Welt und das Leben auf ihr sind einfach hart aber ungerecht. Nur, wenn wir heimfahren, müssen wir noch an der Sesselliftstation steh'n bleiben. Der Senner hat g'meint, dass die Leut hochfahr'n zur Bergstation und dann runterlaufen ins Tal. Es könnt sein, dass da ein Auto steht, des wir uns anschauen sollten.«

»Kein Problem. Lass uns geh'n.«

3

 

 

Es war kein Auto an der Talstation des Sesselliftes gewesen, also fuhr Amalie ihn geradewegs nach Hause. Er hatte immer noch ein bisschen zu viel Alkohol im Blut. Sie wollte nicht, dass es Probleme gab. Außerdem war er müde.

Am Samstagmorgen, so gegen zehn Uhr, wachte Franz Josef Bernrieder auf. Es hatte aufgehört zu regnen, aber dafür war der Wind stärker geworden. Als er aus dem Fenster schaute, konnte er die bunten Blätter der Eiche vor seinem Haus sehen, wie sie ihren angestammten Platz an den Ästen verloren und vom Wind in alle Richtungen verweht wurden. Vor ein paar Monaten waren es hellgrüne, kleine Sprösslinge gewesen, die über die Wochen immer größer geworden waren. Bis sie den ganzen Baum in ein sattes, dunkles Grün verwandelt hatten. Er lebte davon, dieser riesige Baum. Sie waren seine Nahrungsquelle. Die Eiche hatte dann einen ganzen Sommer lang Zeit, sich auf den Winter vorzubereiten, Kraft zu sammeln, sich stark zu machen für das Eis, die Kälte, die Tage ohne Sonne. Und jetzt waren die Blätter gestorben, fielen ab, wurden weggeblasen. Gingen einfach davon und ließen ihn alleine.

Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Er war alleine. Was er am wenigsten vertragen konnte, war genau das, alleine zu sein. Und das auch noch am Wochenende. Er wurde manchmal melancholisch, wenn er daran dachte, wie es in ein paar Jahren sein könnte. Wenn er nicht mehr jung war und es schwerer wurde, eine Blume für die Nacht zu pflücken. Gestern hatte er Amelie beneidet, dass sie nach Hause fuhr und jemand dort auf sie wartete.

Auf der andren Seite beneideten ihn manche seiner Freunde. Er musste nie fragen, ob er das oder jenes machen konnte oder nicht. Ob er nun in die Wirtschaft gehen durfte oder besser zu Hause bleiben sollte. Er bekam keinen fast tödlichen Seitenblick seiner Angetrauten, nur weil er um ein paar Stunden zu spät nach Hause gekommen war. So gab es eben, wie in vielen anderen Fällen und Umständen des Lebens, immer Vor- und Nachteile. Bis jetzt hielt sich das die Waage. Wie es später einmal werden würde, stand auf einem anderen Blatt.

Langsam ging er nach unten und braute sich einen Kaffee. Das würde ihn wieder auf die Beine bringen. Dann, fiel ihm ein, brauchte er eine Fahrgelegenheit in die Stadt, wo sein Auto stand. So langsam kamen seine grauen Zellen in Bewegung und erleuchteten ihn wieder.

Er wollte noch zur Sesselbahn fahren. Vielleicht würde er dort jemanden antreffen. Irgendwie musste er herausfinden, warum Dr. Erwin Grasmeier oben in der Almhütte war.

 

Frisch geduscht und warm angezogen, wartete er auf das Taxi, das kommen und ihn abholen sollte. Der Gustl hatte noch angerufen und ihm gesagt, dass sie sein Bett an diesem Tag nicht verlagern würden. Franz Josef Bernrieder stimmte zu. War kein guter Tag. Er musste sowieso weg und konnte seine Helfer unmöglich alleinlassen.

 

Im Ort angekommen, ging er noch einmal in die Schnitzerei. Die Tür war offen. Es brannte Licht, da der Tag nicht richtig hell werden wollte. Wolken hingen tief über den glänzenden Pflastersteinen. Man konnte Angst haben, dass sie, schwer und dunkelgrau wie sie waren, darauf fielen.

»Gustl«, rief er, als er eingetreten war. Eine kleine Glocke, die durch den Türrahmen angeschlagen wurde, klang leise und kündigte Kundschaft an.

»Kimm scho«, antwortete er aus dem Verschlag hinter dem Vorhang.

»Gut schaust net aus, Franz. Is was?«

»Nix is, ich bin halt nur a bisserl träg heut. Des Wetter macht's.«

»Und dass du allein bist. Des macht's auch. Denk dir nix, des wird wieder anders. Geht mir auch oft so. Manchmal is ma halt malad. Magst a Bier?«

»Nein, ich muss doch noch was arbeiten. Und Auto fahr'n. Weißt ja, was los is.«

»Ach ja, der Tote auf der Alm. Wisst's ihr da schon was? Ich mein, des is schon komisch, dass jemand um die Zeit auf eine Alm geht.«

»Ja, a komische Sach. Bis jetz hamma nur den Namen. Warum der da war und warum den jemand umbracht hat, wissen wir noch nicht. Is ja auch erst a paar Stunden her. Wir sind zwar schnell, aber so schnell auch wieder nicht. Ich frag mich auch, was der um die Zeit da oben g'macht hat.«

»Mein lieber Freund, des wirst du schon wieder rausfinden, da bin ich mir sicher. Wenn'st willst, gemma heut Nachmittag zum Wirt. Ich könnt amal wieder so an richtigen Saubraten vertragen. So mit echte, dicke Knödel und einem Kraut, dass einem des Fett aus die Mundwinkel rauslauft. Was meinst?«

»Des mach ma. Und jetz brauch ich meine Autoschlüssel, die du mir gestern abg'nommen hast.«

»Richtig. Hab ja wieder deine Reputation retten müssen. Komm, ich hab's da in der Küch.«

Damit gingen beide hinter den Vorhang. Franz Josef Bernrieder war nicht schlecht erstaunt, eine Frau dort zu sehen. Sie saß am Tisch, schlürfte langsam Kaffee und rauchte dabei eine dunkle Zigarette, die wie ein kleines Zigarillo aussah.

»Des is die Sophie, Franz. Die hilft mir manchmal im G'schäft.«

»Ja Sophie, passen's gut auf den Lumpen auf. Und helfen's ihm nur fleißig.«

Sie lächelte ein bisschen. Der feuerrot angemalte Mund stand nur ein wenig offen. Franz wunderte sich, dass ihr Gesicht mehr einer Skulptur ähnelte, mit der dick aufgetragenen Schminke, die jede Falte unsichtbar machte. Sicher wurde sie dadurch um Jahre jünger, aber als Hilfe in der Schnitzerei vom Gustl war das bestimmt nicht eine Grundvoraussetzung. Am Nachmittag würde er ihn fragen, was es mit dem Ganzen auf sich hatte. Jetzt wollte er nur weg.

An den Gustl gerichtet sagte er leise, damit die Sophie das nicht mitbekommen konnte: »Du Batzi. Des kost dich was.«

Dann hörte man wieder die Glocke am Eingang.

4

 

 

Der erste Weg führte ihn zur Talstation des Sesselliftes. Eigentlich sollte er erst nach Murnau fahren, zum Anwesen des Dr. Grasmeier, aber ein kleiner Umweg würde nicht schaden, dachte er sich. Da der Doktor bereits tot war, musste man da nicht in große Eile verfallen und alles überstürzen.

An der Station angekommen, sah er Licht in der kleinen Hütte, in der wahrscheinlich der ganze Antrieb für die Bahn untergebracht war. Die Bahn stand still. Niemand war zu entdecken. Nur ein kleiner Truck parkte davor. Einer, der zurzeit modern war. Wie man ihn in den USA zu hunderten sah und wie sie sich langsam auch Europa zu verbreiten schienen.

Franz Josef Bernrieder stieg aus und ging direkt in das kleine Haus. Die Tür stand ein wenig offen. Fahles Licht fiel in einem Streifen auf den Asphalt. Ein älterer Mann stand dort an einem großen Zahnrad und schraubte an irgendwas herum. Da der Wind noch nicht nachgelassen hatte, rutschte dem Franz die Tür aus der Hand und knallte gegen das Haus.

»Mach die blöde Tür zu, du Depp«, sagte der Mann, ohne wirklich aufzusehen. Er war zu sehr mit dem beschäftigt, was er gerade tat.

Der Kommissar ging zu ihm und sagte ihm, wer er sei.

Daraufhin legte der Mann den Schraubenschlüssel auf einen kleinen Wagen, der neben ihm stand, nahm ein Tuch und wischte sich damit seine Hände ab.

Sein Gesicht war ziemlich eingetreten. Er hatte eine dicke Knollennase und winzige Augen, die tief in seiner Stirn lagen. Die wenigen Haare, die er noch besaß, waren mit Pomade nach hinten gekämmt. Sein Zweitagesbart gab ihm nicht gerade eine bessere Erscheinung, aber viel schlimmer war es damit auch nicht. Irgendwie hielt sich das im Gleichgewicht. Die Hände zeugten von schwerer Arbeit und viel Schmutz, der sich schwarz in die Poren eingegraben hatte. Fingernägel waren nicht zu sehen. Nur schmale, schwarze Ränder an den Kuppen der Finger.

»Aha, Kommissar sind's. Schau'n gar nicht so aus. Und des ›Depp‹ müssen's nicht so ernst nehmen. Sollte keine Beamtenbeleidigung sein, weil wenn ich g'wusst hätt, wer Sie sind, hätt ich so was nie g'sagt. Glaubens mir. Nie hätt ich des g'sagt. Immer nur ›Herr Kommissar‹ und so. Aber man weiß ja nicht, wer da so rumlauft, oder?«

»Des is schon in Ordnung. Ich hab‘s nicht g'hört.«

»Ja, und was will die Polizei von mir?«

»Ich wollt nur wissen, ob gestern jemand hier mit dem Lift raufg'fahrn is.«

»Gestern? Warum sollt da jemand raufg'fahrn sein?«

»Ja, weil wir ein Auto suchen, des vielleicht gestern hier auf dem Parkplatz hätt sein können.«

Der Mann lehnte sich an das übergroße Zahnrad, das er gerade bearbeitet hatte. Seinem blauen Overall schadete das nicht sehr. Der war sowieso schon total schwarz und ölverschmiert.

»Herr Kommissar, der Lift geht seit über zwei Wochen nicht mehr. Wir überholen den grad, damit der lauft, wenn der Schnee kommt. Nein, gestern is da keiner hochg'fahrn. Wieso sollt da jemand raufwollen? Des war doch a richtig's Sauwetter gestern.«

»Zum Wandern.«

»Zum Wandern? Um die Zeit? Da wandert keiner mehr, glauben's mir. Außer vielleicht a paar dumme Preußen, die keine Ahnung ham. Des sollten's eigentlich wissen. Sie sind doch von hier, oder?«

»Ja, Bad Tölz halt. Gestern hat uns jemand erzählt, dass man mit dem Lift zur Endstation fährt und dann von da wieder runterlauft. Wenn man in die Richtung geht, kommt man an der Stichler Alm vorbei.«

»Ja, wenn's den Weg gehen wollen, dann schon. Aber Sie können auch noch zehn andere Weg gehen. Die meisten Leut geh'n nach Krün runter und nehmen dann den Bus wieder zu uns, wo des Auto von dene steht. Aber nur im Sommer. Nicht jetz. Hab Ihnen ja g'sagt, wir sind zu. Wenn da oben jemand auf der Alm war, muss der da raufg'laufen sein.«

»Sie kennen die Stichler Alm?«

»Sowieso. Warum? Kennt jeder. Is die einzige Alm, wo noch a Senner is im Sommer. Aber vor a paar Wochen ham's die Viecher runtertrieben. Jetz müsst die Hütt'n eigentlich zu sein. Im Winter geht da niemand hin, weil da is nix zum Schifahr'n. Die Abfahrt is hier, wo der Lift is. Bei der Stichler Alm sind zu viele Bäum.«

»Und ein Auto ham's auch nicht g'sehn, gestern, mein ich?«

»Nein, ich war aber nur am Nachmittag da. Aber Auto war da keins. Wenn ich geh, hängt da ein Schild an der Tür, dass die Bahn nicht in Betrieb is. Dann fahr'n die Leut wieder. Aber weil eh niemand da am Parkplatz steht, können die Leut sich des auch denken. Meinens nicht?«

»Wo's recht ham, ham's recht.«

Franz Josef Bernrieder nahm noch den Namen und die Adresse auf.

»Nur, falls noch was is«, meinte er beruhigend, als der Mann ihn fragte, warum er das tun müsse. Dann verabschiedete er sich, um in Richtung Murnau zu fahren. Vorher rief er noch Amelie an, da er wissen wollte, ob sie mehr über den Doktor herausbekommen hatten.

5

 

 

»Ja, dir auch einen guten Morgen, Franz. Ich hoff, du hast gut genächtigt.«

»Ja, wie man halt so nächtigt, wenn man niemanden hat, an den man sich ankuscheln kann.«

»Mei, tust mir richtig leid. Musst dir halt jemand suchen. Ich mein, was Festes. Als Frau kann ich dir des nur empfehlen, weil wir wollen lieber Männer, die einen Plan haben, weißt. So nur am Wochenende is vielleicht ganz lustig, aber nix auf die Dauer. Wir wollen auf die Dauer was Sicheres. Glaub mir.«

»Ich glaub dir ja, Amelie, aber so viele Frauen gibt’s ja auch wieder nicht. Und die Guten sind oft schon vergeben. Ich versprech dir, ich werd mich bessern. Aber habt's schon was erfahren von dem Toten?«

»Ja, er is ein Tierarzt. Da kurz vor Murnau, wenn'st von uns aus dahin fahrst. Die Adress hast ja. Musst es nur in dein Navi eingeben.«

»Ja, hab ich schon g'macht. Is des alles, was ihr rausg'funden habt's?«

»Bis jetz ja. Ach ja, Telefon hamma keins g'funden. Und die Autonummer geb ich dir noch durch. Wegen dem Doktor hamma auch nicht so intensiv nachg'schaut, weil wir uns denkt ham, dass du da eh hinmusst. Den Rest kannst ja einfach amal erfragen, wenn du dort bist.«

»Mach ich. Dann dank ich dir. Auch für den guten Ratschlag wegen die Frauen. Hast da jemand im Sinn?«

Sie antwortete nicht darauf. Ignorierte ihn.

»Hab dich gut, Franz. Bis Montag.«

Damit legte sie auf.

»Ja, bis Montag«, sagte Franz zu sich selbst. Oder zu allen, die ihn in seiner Einsamkeit, auf einem öden Parkplatz am Rande der Straße, hören konnten. Wahrscheinlich niemand. Oder eher mit Sicherheit niemand. Außer dem Wind, der seine Frage in die weiten Sphären der Unendlichkeit tragen würde.

 

Die Fahrt nach Murnau war kurz. Wegen des Wetters waren wenige Autos unterwegs, also gab es keinen Stau, wie es im Sommer üblich war. Besonders am Wochenende. Im Herbst wurde es immer etwas ruhiger. Bis die Wintersaison wieder anfing. Dann kamen die Schifahrer aus ihren Löchern in der Stadt, damit sie sich im Schnee die Beine brechen konnten. Nicht zufällig gibt es in Murnau eine der größten Unfallkliniken in Deutschland. Und um diese Jahreszeit war sie ein beliebtes Refugium. Nicht freiwillig, aber dennoch.

 

Wie Amelie schon gesagt hatte, war die Praxis des Dr. Grasmeier auf dem Weg nach Murnau. Ein unscheinbares Schild an der Seite der Straße zeigte mit einem Pfeil auf einen schmalen Weg, der zu einem alten Bauernhof führte. Das Haupthaus war typisch oberbayerische Architektur. Grobe Ziegel, weiß verputzt bis zum ersten Stock, dann Holzkonstruktion weiter nach oben. Kleine Fenster waren im dicken Mauerwerk eingelassen. Bunte Lüftlmalereien, die langsam verblichen, waren um die Fenster angebracht. Das Dach legte sich schwer und tief über den Bau. Es war alt und hatte schon viele Winter erlebt. Der Schnee hatte es dann immer weiter nach unten gedrückt und in der Mitte verbogen. Aber es hielt.

Neben dem Haupthaus gab es noch einen mittelgroßen, flachen Stall, der sich mindestens vierzig Meter lang hinzog. Etwa alle fünf Meter war eine Tür eingelassen, die sich in zwei Hälften teilte. Eine oben, eine unten. Aus einer sah man den Kopf eines Pferdes herausschauen. Dunkelbraun, mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Als Kommissar Bernrieder aus seinem Auto stieg, fing es an, sich mit dem Kopf nach oben zu strecken und zu wiehern. Als wollte es ihn begrüßen. Franz Josef Bernrieder sah hin und sagte guten Morgen. Das schien ihm zu gefallen, da es wieder aufgeregt wieherte.

Neben dem Stall gab es noch eine niedrige Halle. Und ein kleines Gebäude, das wie eine Hütte aussah.

Die Tür zum Haupthaus stand einen Spalt offen. Es fiel ein Lichtstrahl nach draußen auf den Boden. Da die Intensität dieses Strahles sich immer wieder veränderte, also unterbrochen wurde, ging er davon aus, dass sich jemand im Haus aufhielt und bewegte.

Er klopfte an die Tür.

»Praxis is geschlossen, der Doktor is net da«, kam es von einer Frauenstimme.

Kommissar Bernrieder zog langsam die Tür auf. Warme Luft strömte heraus. Es tat gut, etwas Wärme im Gesicht zu spüren. Dann sah er sie. Sie war jung, eher etwas kleiner und hatte ein feines, sensibles Gesicht. Ihre blonden Haare waren nach hinten zusammengebunden. Bekleidet war sie mit einer weiten Jeans und einem Holzfällerhemd, das ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Dazu trug sie grüne Gummistiefel, in die sie fast zweimal hineingepasst hätte. Das tat ihrer Erscheinung allerdings keinen Abbruch. Irgendwie war sie nett anzusehen. Vielleicht lag es an ihrem Lächeln, das sie zur Schau stellte.

»Ich hab Ihnen doch g'sagt, dass der Doktor nicht da is.«

»Ich bin grad deswegen da. Ich mein, weil der Doktor nicht da is. Kommissar Bernrieder is mein Name, Polizeidienstelle Bad Tölz. Und wer sind Sie, bitte?«

Dabei zog er seinen Ausweis aus der Tasche, der die Frau nicht besonders zu interessieren schien.

»Birgit Lohmann, die Assistentin. Ich kümmer mich um alles hier, was der Doktor nicht machen will. Aber was is denn mit ihm. Is was passiert? Ich mein, warum kommt denn die Polizei?«

»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«

»Ja, aber jetz sagen's doch was. Was is denn los?«

»Ja, leider is was passiert, aber ich würd mich gern setzen. Hier so zwischen Tür und Angel …«

»Dann kommen's mit.«

Frau Lohmann ging voraus in die Stube, die linker Hand lag. Es war bullig warm dort. Jemand hatte den Kachelofen angemacht. In der Nische stand eine Eckbank, davor ein grob gehobelter Tisch. Darauf lagen alle möglichen Papiere, Akten, Bücher und Schreibutensilien. In der Mitte des Tisches gab es einen großen geschmiedeten Kerzenständer mit einer dicken, weißen Kerze, die halb abgebrannt war.

»Tschuldigung, dass des so ausschaut hier, aber wir ham grad a bisserl a Problem mit dem Finanzamt. Nix Großes, aber Sie wissen ja, wie die sind. Und der Doktor is da net so gut mit die Belege und so. Setzen Sie sich doch. Wollen's an Kaffee? Ich hab grad einen g'macht.«

»Nehm ich gern, danke.«

Franz Josef Bernrieder setzte sich auf einen Stuhl, den er vorher von Unterlagen befreit hatte. Frau Lohmann ging zur Anrichte, wo auf einer Wärmeplatte eine Glaskanne mit Kaffee stand. Tassen stapelten sich daneben. Sie goss zwei ein und begab sich zum Tisch.

»So, und jetz sagen's mir doch bitte, was los is.«

Dabei setzte sie sich Franz Josef Bernrieder gegenüber.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir heut Nacht den Doktor tot aufg'funden ham.«

Birgit Lohmann schlug die Hände vor ihre Augen. Der fröhliche Ausdruck war in einem Moment dem Entsetzen gewichen. Das Blut sank aus dem Gesicht. Sie war weiß wie die Wand hinter ihr und sichtlich schockiert.

»Nein. Was meinen's mit ›tot aufg'funden‹? Wo war denn des? Ja ich glaub des nicht.«

»Auf einer Almhütte. In der Nähe von Lenggries. Er is erschossen worden.«

»Erschossen? Ja, des is ja was. Und was hat er denn da auf einer Alm g'macht? Auf welcher Alm war er denn?«

»Die Stichler Alm.

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Olaf Maly
Bildmaterialien: © sablin: (271366041) - Cow isolated on white background.
Cover: Vivian Tan Ai Hua
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2021
ISBN: 978-3-96714-172-6

Alle Rechte vorbehalten

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