Die Hochzeiterin
Ein Oberbayern-Krimi
Olay Maly
In Liebe und Dankbarkeit für Marita,
die nie aufhört an mich zu glauben.
1
Das Haus lag auf einer sanften Anhöhe, oben an einem Berg, zwischen Greiling und Waakirchen. An der Straße von Bad Tölz nach Miesbach, der B 472. Man musste wissen, wie man dort hinkam, wollte man die Leute, die dort wohnten, besuchen. Nur gab es wenig Gründe, dies zu tun, und noch weniger Besucher. Ein kleines gelbes Schild, das aussah wie ein Pfeil, stand an der linken Seite der Bundesstraße, wenn man Richtung Osten fuhr, und sagte einem, dass es dort hinaufging. Doch wenn man auf der Straße war und nicht genau hinschaute, zog es an einem vorbei, ohne dass man es registriert hatte. Ein großer Ast einer alten, schweren Buche am Fahrbahnrand verdeckte es. Nicht einmal ein gelber Blitz im Augenwinkel erregte genug Aufsehen, um es zu bemerken.
›Rosenhof‹ stand darauf. Es war zwar kein Hof, sondern nur ein bescheidener Bungalow, aber die Besitzerin nannte ihr Domizil eben so. Sie liebte erstens Rosen, und zweitens waren Rosen in ihrem Wappen und auch ihrem Namen. Das Haus selbst lag versteckt und verdeckt, nicht einsehbar von der Straße, hinter hohen, alten Tannen, die ihre schweren Zweige bis zum Boden hängen ließen. Buchen und ordentlich gerade geschnittene Hecken gaben dem Ganzen einen Eindruck von gepflegtem Wald. Ein geteerter Weg führte in einer leicht geschwungenen Serpentine vor ein schmiedeeisernes Tor, das man, wenn man willkommen war, von innen per Knopfdruck aufmachen konnte. Wenn man nicht angemeldet war, blieb es, stabil wie eine Mauer, verschlossen.
Dasselbe Muster, das man am Tor sah, hatte man als Zaun um das beschauliche Grundstück herumgeführt. Spitze Zacken, die wie auf den Kopf gestellte Eiszapfen wirkten, fand man an jeder Strebe, die nach oben ging.
Das Haus selbst war einstöckig, mit einem Walmdach aus dunkelroten, fast schwarzen Ziegeln. Das Wetter hatte Moos zwischen den Dachplatten wachsen lassen. Kleine grüne Pflanzen versuchten sich dort ihr Recht auf einen Platz zu erkämpfen. Einen halben Meter über der Dachrinne waren runde Hölzer befestigt, damit im Winter der Schnee gebändigt werden konnte. Der weiße Putz war flach und grob angebracht, wie man es früher an alten Bauernhäusern gemacht hatte. Um jede Öffnung, sei es eine Tür oder ein Fenster, war ein goldfarbener Rahmen gemalt, geschwungen an den Ecken, die kleinen Rosen nachempfunden waren. Alle Fenster hatten grobe, schmiedeeiserne Gitter davor. Man sah den Hammerschlag auf dem schwarzen Metall.
Über dem Eingang stand die Jahreszahl 1990. Das Jahr, in dem das Haus gebaut worden war. Auf dem grünen Türrahmen war mit weißer Kreide in etwas ungelenken Buchstaben ›C+M+B‹ geschrieben: ›Christus mansionem benedicat.‹ – ›Christus segne dieses Haus.‹
Gräfin Hildegard vom Rosenberg lebte dort, seit sie sich vor vielen Jahren von ihren Besitztümern räumlich getrennt und hierher zurückgezogen hatte. Sie wollte sich verkleinern, nicht mehr die Verantwortung tragen, die ihr ganzes Leben geprägt hatte. Das war die offizielle Version, die man all denen erzählte, die dachten, sie hätten das Recht, das wissen zu müssen. Sie wollte nur noch sie selbst sein und ihre Zeit hauptsächlich mit Malen, einem ihrer Hobbys, verbringen. Lesen war ein weiteres.
Die inoffizielle und historisch eher zutreffende Version war ein bisschen komplizierter, aber nicht weniger dramatisch. Eigentlich musste sie von zu Hause weg, aber mehr dazu etwas später.
Ihre Besitzungen – Wälder, Höfe, Häuser und andere Liegenschaften – waren in ganz Niederbayern verteilt. Angesammelt von den vielen Generationen vor ihr. Sie und ihre Schwester waren die Letzten der Dynastie, die über so viele Jahrhunderte gehalten hatte und mit ihr ausgelöscht werden würde.
Die Schwester, Freifrau Irmtraud vom Rosenberg, lebte noch im alten Familienbesitz. Obwohl sie verheiratet gewesen war, hatte sie ihren Namen beibehalten, da ihr Mann Schuhmacher hieß und sie das nicht ertragen hätte, ›Frau Schuhmacher‹ gerufen zu werden. Zu der Zeit, in der all diese Dinge passierten, die hier beschrieben werden, war sie bereits tot. Ein natürlicher Tod, ganz einfach an Altersschwäche gestorben. Als einzigen Erben gab es ihren Sohn, Hans Georg vom Rosenberg, der aber nicht heiraten und den Namen weiterführen wollte. Heiraten ja, aber nur seinesgleichen.
Einer der Vorfahren, und darauf waren alle Familienmitglieder besonders stolz, war dabei und auch maßgeblich daran beteiligt, als die Evangelischen im südlichen Teil Bayerns ihre Heimat verlassen und nach Preußen auswandern mussten. Man wollte sie im erzkatholischen Bayern, das damals von Salzburg aus regiert wurde, nicht haben. Die aus dem Norden waren zufrieden damit, gute Arbeiter und Bauern zu bekommen. Das war zu einer Zeit, als viele Landstriche in Deutschland noch nicht besiedelt waren. Vor fast dreihundert Jahren. Viel später dann, als die bayerischen Höfe und Felder verlassen und leer vor sich hinwucherten, bereute man es, die tüchtigen Leute ziehen gelassen zu haben. Nur war es dann eben zu spät.
Dieser bestimmte Vorfahr, ein gewisser Gregor vom Rosenberg, kam damals preisgünstig in den Besitz der Liegenschaften der Zwangsvertriebenen und legte damit den Grundstein des Vermögens, das bis zum heutigen Tage halten sollte. Das Bild dieses Mannes mit gepuderter Perücke und hohem Stehkragen hing, dunkel und geheimnisvoll, im Wohnzimmer des Rosenhofs. Über dem offenen Kamin. Die linke Hand hielt er auf einem Schild mit dem Familienwappen, die rechte am Schwert, das an einem goldenen Gürtel baumelte. Abends, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß, starrte die Frau Gräfin es an, nippte an ihrem Glas Wein und wünschte sich, in dieser Zeit gelebt zu haben. In einer Zeit, als es noch kein Problem gewesen war, reich zu sein.
Sie selbst war eine kleine, unscheinbare Frau in den hohen Fünfzigern. Das Alter hatte sie niemandem verraten. Es war ihre Angelegenheit und ihr Geheimnis. Wenn man sie danach fragte, lächelte sie nur vielsagend und lenkte das Thema auf etwas anderes, Wichtigeres, wie sie meinte. Sie hatte strohblonde Haare, die langsam einen weißen Schimmer bekamen. Ihre Gesichtszüge waren fein und zeugten von vielen Jahren Pflege und gutem Leben. Sie hatte nicht einen Tag in ihrem Dasein jemals wirklich gearbeitet, wenn sie das auch ganz und gar anders sah.
Den Chauffeur hatte sie mitgenommen, damals, als sie alles hinter sich gelassen hatte. Und auch den alten Mercedes 220, Baujahr 1955, der noch von ihrem Vater stammte. Da sie, und auch ihr Vater, fast nie mit dem Auto unterwegs waren, hatte der Wagen nur wenige Kilometer angesammelt. Man konnte sagen, er war gerade einmal eingefahren.
Andreas Richter, so hieß der Fahrer und Heger des Prachtstückes, war ein gutmütiger, kleiner, schlanker Mann mit vollen schwarzen Haaren und einem Ziegenbart. Sein Gesicht war etwas faltig, aber nicht ungepflegt. Und er hatte einen winzigen Ring im linken Ohr. Auch wenn er noch nicht richtig alt war, sah man ihm die Jahre an, was ihn aber nicht unbedingt unattraktiv machte.
Er sorgte sich um das Wohlergehen sowohl des Wagens als auch seiner Chefin. Wann immer sie etwas brauchte, war er bereit, ihr den Wunsch zu erfüllen. Nun gut, er war angestellt, hatte also keine andere Wahl. Und es waren ohnehin hauptsächlich bescheidene Wünsche, die sie hatte.
Man hatte ihm eine kleine Wohnung über der Garage gebaut, damit er, wenn nötig, sieben Tage in der Woche zu erreichen war. Wenn er sich nicht um den Wagen kümmerte, mähte er den Rasen, fegte die Einfahrt oder stutzte die Hecken. Nur einen Tag in der Woche hatte er frei. Welcher Tag das war, wusste er immer erst am Sonntag, nachdem sie beide aus der Kirche, unten im Dorf, zurückkamen. Dort hatte sie mit einer großzügigen Spende erreicht, einen extra Stuhl am Rande des Altarraumes zu erhalten. Weiches, rotes Samtpolster, mit breiten Seitenblenden, damit man sie nicht sehen konnte.
Wenn sie von der Predigt vor dem Haus ankamen, meinte Frau vom Rosenberg, bevor sie ausstieg: »Andreas, ich brauche dich diese Woche am Dienstag nicht.«
Oder eben einen Tag, den sie sich während der Fahrt ausgedacht hatte. Wie sie entschied, wann sie ihn nicht brauchte, war allein ihr überlassen.
»Sehr wohl, Frau Gräfin«, antwortete er höflich, schloss die Tür, nachdem sie ausgestiegen war, und parkte den Wagen in der Garage. Wie jeden Sonntag.
Das war auch meistens der ganze Umfang der Konversation, die sie miteinander hatten. Frau vom Rosenberg mochte es nicht besonders gerne, sich mit Untergebenen zu unterhalten. Lieber redete sie gar nicht als mit Bediensteten. Das war schon immer so gewesen. Sie war so erzogen worden. Nur mit dem Chauffeur verband sie viele Jahre, viele Erinnerungen und auch einige lange Gespräche. Aber auch das war schon eine Weile her. Manchmal jedoch machte sie auch eine Ausnahme.
Als sie ein Kind war, war sie, wie eben Kinder sind, sehr neugierig. Sie wollte immer wissen, wo denn das Essen herkam, das jedes Mal um dieselbe Zeit immer am Tisch serviert wurde. Man konnte die Uhr danach stellen. Also stahl sie sich eines Tages durch die Tür, die immer aufging, wenn jemand etwas brachte. Wie sie feststellte, war sie in der Küche gelandet. Dies verursachte ein Durcheinander, wie es das Haus seit Jahren nicht gesehen hatte. Und ihr brachte es eine Woche Arrest ein. In ihrem Zimmertrakt.
Er hatte meistens am Samstag frei. Es war bequemer so für die Frau Gräfin, da er an den Wochentagen dann zur Verfügung stand. Obwohl er am nächsten Tag früh morgens immer bereit sein musste, die gnädige Frau in die Kirche zu chauffieren, ließ er sich an seinen freien Tagen sehr viel Zeit.
Im Sommer saß er dann noch vor dem Haus, auf der Bank, die neben dem Eingang stand, wenn er mit dem letzten Bus heimkam. Er liebte es, wenn ein schöner, warmer Tag leise und gemächlich in einen lauwarmen Abend überging. Wenn die Luft mild über die Berge wehte und den Duft von Tannen mitbrachte, den er so mochte. Dort, wo er die meiste Zeit gelebt hatte, gab es viele Tannen. Es machte ihn träumen von Zeiten, die nicht mehr wiederkommen sollten.
Um sich abzulenken, ging er erst ins Kino, was er eigentlich fast immer tat, wenn er einmal freihatte. Er genoss es, dort zu sein. Besonders die alten Filme waren seine Leidenschaft. Wahrscheinlich, um einmal eine andere Welt zu sehen als die um sein Dasein und seine Arbeit herum. Danach begab er sich zum Essen in die Post, eine Wirtschaft in Bad Tölz, wo er oft den Rest des Tages verbrachte. Er saß ganz einfach dort und las die Zeitung. Man kannte ihn und ließ ihn gewähren.
Oder er lief an der Isar entlang, wenn schönes Wetter war. Meistens in Richtung Stausee. Dann ließ er sich auf einer der vielen Bänke nieder, sah den Enten nach. Und den Kindern, wie sie ihnen hinterherrannten und sie damit zwangen, zu fliegen.
Wenn das Wetter nicht gut war, ging er in den Bahnhof, machte es sich in der Wartehalle bequem und las ein Buch. Warum gerade die Bahnhofshalle, das wusste er auch nicht, wenn man ihn fragte, aber er meinte, das hätte sich so eingebürgert, als er einmal jemanden hatte dort abholen müssen, der viel zu spät gekommen war. Er hatte sich damals ein Buch gekauft, um die Zeit zu vertreiben, und so war es eine Gewohnheit geworden, die er beibehielt, ohne wirklich zu wissen, warum. Er fand es auch interessant, nur dort zu sitzen, die Leute zu betrachten und seine Ruhe zu haben.
Seine Bedürfnisse waren bescheiden. Er hatte nie eine richtige Familie gehabt, war immer nur bei den ›Herren vom Rosenberg‹ beschäftigt gewesen. Zuerst beim Vater und dann bei der Tochter. Früher hatte die Familie mehrere Angestellte beschäftigt, bis eines Tages der alte Herr vom Rosenberg beschlossen hatte, dies zu ändern. Dann waren nur noch er und eine Haushälterin übrig. Und als Frau vom Rosenberg, dessen Tochter, in das kleine Haus bei Bad Tölz zog, blieb nur mehr er. Das war sein Leben. Er kannte kein anderes.
2
Franz Joseph Bernrieder lag in seinem Bett, mit ausgestreckten Beinen, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, den Rücken gegen die Wand abgestützt. Er war ein stolzer, gut durchtrainierter Mittdreißiger, mit vollen schwarzen Haaren und einem kleinen Oberlippenbart. Nicht schlecht anzusehen und auch ziemlich begehrt bei der weiblichen Spezies.
Die Balkontür stand weit offen. Es war ein Sonntagmorgen wie aus dem weiß-blauen bayerischen Bilderbuch. Ein laues Lüftchen setzte den leichten Vorhang ab und zu in Bewegung und ließ ihn wie schwerelos durch das Zimmer flattern.
»Bleibst da übers Wochenende, Melanie?«, sagte er zu der jungen Frau, die neben ihm lag und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Schlank, zart gebaut und mit dunklen Haaren gab sie ein gutes Bild gegen das Bettgestell aus Zirbelholz ab.
»Is ja eh scho Sonntag, schau. Da lohnt sich doch des ned, dass'd wieder heimfahrst und am Abend wieder herkommst. Da mach ma uns lieber an schönen Tag, gehen zum Essen oder so. Dann könnt ma noch irgendwo hinfahrn, wenn'st willst. Oder was anders machen. Was, das du halt magst. Ich hab heut keinen Dienst.«
Seine Melanie sagte nichts. Sie lag nur, nackt und halb aufgerichtet, an die selbige Wand gelehnt und rauchte genüsslich ihre Zigarette.
Es war, wie schon bemerkt, ein schöner Sonntagmorgen. Einer, den man dort in den Bergen nicht zu oft erlebte. Einer, den man ausnutzen musste, wenn es ihn schon einmal gab. Da die Tür zum Balkon offen stand, hörte man, wie die Vögel sich selbst und dem Rest der Welt ein Konzert gaben. Sie sangen um die Wette, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Die Hähne krähten aufgeregt, wie sie das immer taten, wenn die Sonne noch tief am Horizont stand. Und die Kirchturmglocken riefen zur Frühmesse.
»Oder magst vielleicht lieber in die Kirch gehen? Da müss ma uns aber sputen, weil die bald anfangt. Die Glocken läuten schon. Und der Pfarrer wart ned gern.«
»Kirch, du Depp.« Sie sah ihn entgeistert an. »Seit wann gehst denn du in'd Kirch und weißt, was der Pfarrer mag oder ned mag? Da tät der ja an Herzinfarkt kriegen, wenn er dich sehen tät. Warst ja seit der Kommunion nicht mehr da. Und wer hat dir eigentlich g'sagt, dass ich wiederkommen tät am Abend? Vielleicht will ich ja gar nicht mehr kommen.«
Die letzten Worte waren etwas geflötet gesprochen und sollten mehr eine Aufforderung zur Einladung als eine Frage sein. Franz Joseph Bernrieder ignorierte dieses Süßholzraspeln.
»Willst nicht? War's nicht schön heut Nacht? Ich mein, du hast ja nicht grad g'sagt, ich soll aufhörn. Immer wieder …«
»Ja, is ja scho –«
Jemand haute mit Fäusten gegen die Eingangstür und rief laut und unüberhörbar: »Melanie! Ich weiß, dass du da drin bist! Jetz mach die Tür auf, sonst brech ich's ein!«
Als sie das vernahm, war ihr jedes Wort im Hals stecken geblieben.
»Ja sauber, wer is jetz des, Melanie?«, fragte Franz Joseph Bernrieder mit offenkundigem Schrecken in der Stimme.
»Scheiß, des is der Hubert. Woher weiß der denn, dass ich da bin? Wenn der mich hier sieht, dann bringt der mich um. Und dich wahrscheinlich auch. Nein, dich sogar sicher. Und noch vor mir.«
Noch während sie das sagte, war sie wie von einer Wespe gestochen aus dem Bett gesprungen, hatte sich bereits Slip und BH angezogen, dann das leichte blaue Sommerkleid übergestreift und die Schuhe in die Hand genommen.
»Da wenn'st rausgehst und den Gang runter«, Franz Joseph Bernrieder zeigte in die entsprechende Richtung, »da kannst hinten raus und übern Stall runter auf'd Grüner Wiesen. Da kommst dann beim Stanglwirt raus. Von dort über die Ganglwiesen kommst dann in den Ort. Und jetz lauf.«
Eine gebührende Verabschiedung wartete sie nicht ab, sondern rannte mit den Schuhen in einer Hand und ihrer Tasche in der anderen den vorgeschlagenen Weg durch das Haus, die Treppen hinunter in den Stall und aus dem Haus in die Grüner Wiese. Dann hörte er nichts mehr von ihr. Sie war weg, und das war auch gut so.
Franz Joseph Bernrieder selbst zog sich gemächlich seine Hose und ein Hemd an und ging langsam und bedächtig nach unten, ins Erdgeschoss. Er ließ sich Zeit. Der Eindringling haute immer noch mit den Fäusten gegen die schwere Eichentür, die mit zwei Riegeln verrammelt war. Er hätte sie nie und nimmer eindrücken können, also sah Franz keine Veranlassung, sich zu beeilen. Er wollte Melanie vielmehr einen entsprechenden Vorsprung verschaffen, und solange dieser Hubert gegen die Tür hämmerte, konnte er ihr nicht hinterherrennen.
»Kumm ja scho«, rief er mehrmals, als er barfuß die Stufen vom Schlafzimmer ins Erdgeschoss hinunterging. Unten angekommen, schob er die beiden Riegel beiseite und stand einem mächtigen Mann mit einem tiefschwarzen Bart gegenüber. Er hatte grobe Lederhosen an, ein weißes Hemd, das mehrere gelbe und rote Flecken aufwies, und einen grünen Trachtenhut auf, aus dem schwarze wirre Haare hervorlugten. Der Hut hatte eine Entenfeder an der Seite.
»Und was genau kann ich für Sie tun?«, fragte Franz Joseph Bernrieder im ruhigsten Ton, den er im Angesicht der riesigen Gestalt gerade noch herausbringen konnte.
»Wo is'd Melanie?«, schrie er ihn an.
»Was für eine Melanie? Ich glaub, Sie ham sich da im Haus g'irrt. Hier gibt's keine Melanie.«
Daraufhin versuchte er, die Tür wieder zu schließen, was seinem Gegenüber die Nachricht übermitteln sollte, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Nur wollte dieser Hubert eben gerade das nicht, sondern stellte seine groben, doppelt besohlten Bauernschuhe zwischen die Tür und den Rahmen, was verhinderte, dass die Tür ins Schloss fiel.
»Jetz amal langsam«, sagte Franz Joseph Bernrieder, »wie ich schon g'sagt hab, is hier keine Melanie, und ich weiß auch nicht –«
Damit drückte der schwergewichtige Bulle, mit seinen Händen so groß wie Bärentatzen, die Tür auf und nahm sich die Freiheit, ins Haus zu kommen. Ohne auf eine weitere Konversation zu warten, schob er Franz Joseph Bernrieder zur Seite, als würde er gerade einmal einen Stuhl verrücken, und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock, wobei er ständig »Melanie« rief.
Franz Joseph Bernrieder, der sich wieder gefangen hatte, setzte sich auf die kleine Bank aus grober Fichte, die im Hausflur stand und normalerweise dazu diente, sich die Schuhe anzuziehen. Dort wartete er geduldig, was auf ihn zukommen würde. Von oben hörte er mehrere Türen auf- und zugehen, schwere Schritte auf dem Holzboden und immer wieder den Namen »Melanie«.
Dann wurde es ruhiger. Hubert stieg langsam die Treppe herunter. Franz Joseph Bernrieder sah ihn an, als er Stufe für Stufe auf ihn zukam.
»Und, ham's Ihre Melanie g'sehn? Ich würd auch noch die Schränk untersuchen, vielleicht is sie ja da drin.«
Er war mittlerweile unten angelangt und baute sich vor ihm auf. Die Hände hatte er in die Hosentaschen vergraben, seinen Rücken nach hinten durchgedrückt.
»Na, g'sehn hab ich's ned, aber wenn ich rausfind, dass die da war, dann hau ich dir des Maul ein, dass dich dei Mutter nimmer kennt.«
»Aha, magst vorher noch a Bier? Ich hätt da noch a paar Flaschen. Tölzer Bräu.«
Hubert drehte sich um und ging auf die Tür zu, durch die er ins Haus gekommen war. Seine schweren genagelten Schuhe machten ein tiefes, klackendes Geräusch auf den roten Fliesen, mit denen der Gang ausgelegt war. An der Tür angelangt, drehte er sich noch einmal um und meinte: »Und des sag ich nur einmal, mein Freund. Des zweite Mal gibt's keine Warnung. Da gibt's nur kaputte Zähn und a verbogene Nasen.«
Damit ging er hinaus und schmiss mit aller Kraft, die er hatte – und er hatte viel –, die Tür ins Schloss. Durch die Wucht sprang sie wieder auf und schlug gegen die Wand.
Franz Joseph Bernrieder sah alldem zu und dachte sich seinen Teil. Es war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, mit diesem Hubert in einen Schlagabtausch zu geraten.
Das Telefon läutete. Es war oben, wo er es neben seinem Bett hatte liegen lassen.
»Ja sauber, wer kann jetz des sein? Is doch erst amal achte. So eine Sauerei. Des is ein Tag. Erst haut die Melanie ab, dann kommt der Depp da, und jetz noch des blöde Telefon. Können die einen nicht in Ruh lassen an einem Sonntag?«
3
Polizeimeister Ferdinand Hintermeier, in seinem näheren Umfeld nur ›Ferdl‹ genannt, war bereits am Ort des Geschehens, als Hauptkommissar Bernrieder eintraf. Er hatte den Leiter der Mordkommission von Bad Tölz und Umgebung, eben Franz Joseph Bernrieder, angerufen, als er sich die Sache angesehen hatte und zu dem untrüglichen Schluss gekommen war, dass die Tote nicht eines natürlichen Todes gestorben sein konnte. Eigentlich war er sich da nicht so ganz sicher, wie sich das anhörte, aber der nicht unbedeutende Hinweis des Herrn Richter, der die Leiche als Erster gefunden hatte, dass da ziemlich viel Blut neben der Toten sei, brachte ihn auf den Gedanken, es zumindest in Erwägung zu ziehen.
Der Chauffeur, Andreas Richter, hatte ihn in der Station angerufen und aufgeregt erzählt, man solle doch einmal nachsehen. Er hatte seine Frau Gräfin zur Kirche abholen wollen, und als sie nicht öffnete, hatte er sich Zutritt zum Haus verschafft.
»Sind's da ein'brochen?«
Nein, erklärte er schließlich, da er dort arbeite, hätte er einen Schlüssel und sei ganz einfach ins Haus gegangen.
»Aha, dann is des ja gut«, war die Antwort des Wachtmeisters.
Also, im Rosenhof, meinte er, gäbe es da eine Sache, die ihn dann, als er in die Küche kam, ganz aus der Bahn geworfen hätte. Seine Chefin lag am Boden und rührte sich nicht mehr.
Die Gräfin vom Rosenberg war in der Gegend kein unbeschriebenes Blatt, auch nicht bei den Ordnungshütern. Nicht, dass sie regelmäßig etwas mit der Polizei zu tun gehabt hätte, aber sie war eben bekannt. Man kannte das Auto, das sich im Umkreis der Stadt immer sehr langsam voranbewegte. Man wusste allgemein davon, dass eine Geschwindigkeit von mehr als vierzig Kilometern pro Stunde der Gräfin Probleme bereitete. Schwere Probleme. Man musste davon ausgehen, dass sie dadurch einen Infarkt bekommen konnte. Wenn dann auf der Bundesstraße wieder eine Kolonne von mehreren hundert Metern, angeführt von einem schwarzen Mercedes des Jahres 1955, der Stadt entgegenschlich, wusste jeder, was los war. Die Sommergäste fragten dann die Einheimischen, was das für eine Prozession wäre und ob sie da irgendwas verpasst hätten, worauf die Einheimischen sagten: »Na, des is nur die depperte Gräfin.«
Auch den Chauffeur Andreas Richter kannte man, da er der Einzige war, der die gnädige Frau in der Gegend herumkutschierte. Immer im schwarzen Anzug und mit Schildkappe. Der Schild an der Kappe glänzte wie frisch gebohnert. Sie waren als Paar nicht zu verkennen.
»Herr Chauffeur«, meinte Ferdinand Hintermeier, der das Telefon im Präsidium abgenommen hatte, »des is manchmal bei die alten Leut, dass die sich nicht mehr rührn. Da kommen wir alle noch amal hin, in diese Position, mein ich. Deswegen ruft ma da den Pfarrer an und des Beerdigungsinstitut, aber nicht die Polizei.«
»Ich glaub, des wär aber doch besser, wenn ihr da amal herschaut's, weil ich denk, dass der Pfarrer des erst übernimmt, wenn ihr ihm des sagt's.«
Schweren Herzens verließ Wachtmeister Ferdinand Hintermeier dann doch die Wache, verabschiedete sich von seinen Kollegen, die davon allerdings keine große Notiz nahmen, und fuhr zur Gräfin. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, nicht alles getan zu haben, um diesen Fall zu klären. Und außerdem war es Sonntagmorgen, und sogar die Bösen der Stadt hatten noch nicht angefangen, ihr Unwesen zu treiben.
4
Franz Joseph Bernrieder war, nachdem er sich in Ruhe geduscht, wieder angezogen und einen starken Kaffee gemacht hatte, zu der Adresse gefahren, die ihm sein Wachtmeister genannt hatte. Diese hatte er in sein Handy eingegeben, das er auch als Navi benutzte.
Sein Auto, einen alten VW Käfer, der einmal lindgrün gewesen, jetzt aber farbmäßig eher undefinierbar war, hatte er noch von seiner Mutter übernommen. Er kannte die Errungenschaften der Moderne in Sachen PKWs zwar, wollte aber nicht unbedingt etwas damit zu tun haben. Nur eine Halterung hatte er am Armaturenbrett anbringen lassen, in die er sein Handy einklemmen konnte. Das war sein Beitrag zur neuen Zeit. Da er zur Technik so gut wie keinen Bezug hatte, fand er gerade dieses Auto ideal. Es hatte keine Technik. Nur einen Motor, einen runden Tachometer für die Geschwindigkeit und eine Skala, die ihm anzeigte, wie viel Benzin er noch hatte. Nur verlassen konnte man sich auf diese nicht, aber auch das war erträglich. Er wusste irgendwie immer, wann er tanken musste.
Und eine rote Lampe hatte das Armaturenbrett, die signalisierte, dass zu wenig Öl im Motor war. Nur, die brannte fast immer. Und dann musste man, um den Motor zu starten, noch einen Schlüssel in einen Schlitz stecken und drehen. Wenn man Glück hatte, quälte sich daraufhin ein Anlasser, und der Motor drehte sich mühevoll, bis er irgendwann endlich ansprang. Wenn vorher nicht die Batterie aufgegeben hatte.
Von Zeit zu Zeit, wenn er eine Dame abholte, die jünger war als er, konnte die sich vor Lachen fast nicht mehr halten. Aber auch das war ihm egal. Mit seinem unwiderstehlichen Charme meisterte er auch diese für andere vielleicht eher peinliche Situation. Die meisten der Eingeladenen erinnerten sich sowieso nur noch an ihn und nicht an sein Auto. Dafür sorgte er.
Er holte also sein Gefährt aus dem Kuhstall, den er sich als Garage und Werkstatt umgebaut hatte, und begab sich auf den Weg zum Rosenhof.
Die ›Werkstatt‹, wie er ihn nannte, war eher ein großer Raum mit einem groben Holztisch, darauf alle möglichen Geräte und Werkzeuge, die er noch von seinem Großvater geerbt hatte und deren Namen er meistens nicht einmal kannte. Dieser war ein Wunder an Mechaniker gewesen und hatte alles reparieren können, was ihm unter die Finger kam. Ob es nun kaputt war oder nicht, es wurde repariert oder verbessert. Was seine Frau, eben des Franz Joseph Bernrieders Großmutter, fast immer zum Wahnsinn getrieben hatte.
Für ihn war diese Werkstatt mehr ein nostalgisches Etwas, womit er allerdings nicht viel anfangen konnte.
Der Hof, den er vor Jahren von seinen Großeltern geerbt hatte, war damals ein richtiger Bauernhof gewesen, mit Kühen, Schweinen, Hühnervieh und eben allem, was man sich so unter einem Bauernhof vorstellen konnte. Der Großvater starb, und langsam musste seine Großmutter, als sie noch lebte, den Hof als Landwirtschaft aufgeben. Seine Mutter war mit ihrem Mann, eben seinem Vater, in die große Stadt gezogen und hatte nicht das geringste Interesse gehabt, auf dem Land zu leben. Am Dorfrand aufgewachsen, war sie von dem Gedanken, dort auch den Rest ihres Lebens zu verbringen, geradezu entsetzt.
Verkaufen kam für die alte Frau nicht in Frage, also gab sie alles ihrem Enkel, der bis dahin, als er nach Bad Tölz versetzt wurde, immer oben ein kleines Zimmer bewohnt hatte. Als seine Großmutter nun den Gang des Unweigerlichen angetreten und man sie im Dorffriedhof zur Ruhe gebettet hatte, verkaufte er all die Ländereien an die umliegenden Höfe und behielt nur das Haus, ein kleines Grünstück drum herum, mit ein paar Kirsch- und Apfelbäumen und einem Austragshaus, in dem die Eltern der Großmutter gelebt hatten. Dort, im Haupthaus, das auch einmal Stall und Remise gewesen war, wohnte er nun und war mit sich und seiner Umgebung im Reinen. Er liebte es und konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.
Sein Revier, Bad Tölz und der Umkreis, war auch nicht gerade überbeschäftigt. Sein Chef hatte seinen Sitz in Holzkirchen, der Kreisstadt. Dort fuhr er von Zeit zu Zeit hin, nur um sich sehen zu lassen. Nach einigen Gläsern Bier und einem Essen auf Staatskosten mit dem Kriminalhauptkommissar Ernst Strobl, seinem Vorgesetzten, begab er sich dann wieder nach Hause. Der Chef war zufrieden, solange er sich nicht mit der Zweigstelle beschäftigen musste. Und er, Franz Joseph Bernrieder, war zufrieden, dass sich sein Chef nicht um die Zweigstelle kümmerte. Alle waren glücklich.
Nur Anfang des Jahres hatte es einen Fall gegeben, der ihn aus seiner Ruhe gebracht hatte. Und der die ganze Gegend für ein paar Wochen in Aufregung versetzt hatte. Das war im letzten Winter.
Hubertus Stangl, der Besitzer einer kleinen Diskothek im Wald, mehrere hundert Meter von einer Straße und damit auch jeder Zivilisation entfernt, war tot aufgefunden worden. An einem kalten und glasklaren Sonntagmorgen hatte seine Frau im Präsidium angerufen und gesagt, Hubert sei nicht nach Hause gekommen. Es war Winter. Der Schnee lag bereits einen Meter hoch, und noch dazu schneite es in jener Nacht. Die Holzhütte, in der die Diskothek untergebracht war, lag fernab einer Straße. Alles Hinweise darauf, dass Stangl es vielleicht nicht mehr geschafft hatte, nach Hause zu kommen.
»Wird halt zu viel Schnee g'wesen sein, Frau Stangl«, hatte der Kommissar gemeint, nachdem man sie mit ihm verbunden hatte. Er hatte an diesem Wochenende Dienst.
»›Frau Stangl‹, du Depp!«, erwiderte sie. »Ich bin die Resi, des weißt doch, Franz. Jetz tu doch ned so, als wärst der Boss von dem FBI.«
»Ja, aber wir sind im Dienst, Resi, sozusagen is des amtlich, verstehst? Da muss ich dich schon mit ›Frau Stangl‹ anreden.«
»So ein Schmarrn. Anreden. Spinnst jetz total? Niemand red mich an, und du schon gar nicht!«
Resi und Franz waren gemeinsam zur Schule gegangen und kannten sich von Kindesbeinen an. Auch hatten sie eine kleine Episode hinter sich, die allerdings abrupt beendet worden war, als Resi davon angefangen hatte, heiraten zu wollen. Denn das wollte Franz Joseph Bernrieder schon überhaupt nicht. Warum eine Kuh kaufen, wenn man einen Liter Milch haben will? Das war seine Devise und würde es immer sein.
Jedenfalls ließ sich Franz Joseph Bernrieder an jenem Sonntag dazu überreden, in die Disco zu fahren, um nachzusehen, ob Hubert Stangl vielleicht dort anzutreffen war. Erst hatte er es mit dem Telefon versucht, aber ohne Erfolg. Zwar hatte ihm das auch schon Resi gesagt, aber sicher war sicher, da der Weg zur Disco um diese Jahreszeit nicht ganz einfach war. Er hatte seinen Traktor genommen, den er für solche Fälle in seiner Scheune geparkt hatte. Die Zufahrt zu seinem Haus war immer gut geräumt. Schließlich musste er als Kommissar stets dienstbereit und verfügbar sein. Das wusste auch die örtliche Schneeräumung.
Die Nebenstrecken, wie die zur Disco, waren dagegen weniger wichtig. Da brauchte man schon ein entsprechendes Fahrzeug. Und dieses Fahrzeug war ein Fendt Farmer 2, den sein Großvater sich noch auf Kredit angeschafft hatte. Jeden Monatsanfang, hatte er ihm dann erzählt, hatte er dem ›Halsabschneider‹, dem Brauer Gustl, die Rate in bar übergeben müssen.
»In bar, verstehst, Bub? Weil der Gauner des dem Finanzamt verschweigt, wie viel dass der mir abg'nommen hat für den Schrotthaufen.«
Nun, der ›Schrotthaufen‹ versah auch nach mehr als sechzig Jahren klaglos seine Dienste. Nur der Großvater, der war lange schon unter der Erde.
Der Waldweg zur Disco war, wie er erwartet hatte, mit Neuschnee bedeckt. Viele Leute konnten dort nicht gewesen sein an jenem Samstag. Man sah keine Spuren mehr. Wenn es welche gegeben hatte, waren sie vom neuen, unschuldigen Weiß der Nacht zugedeckt worden. Es war eine kleine Disco, aber dennoch ein bekannter Treffpunkt der Jugend aus der Gegend. Und der Fremden, die davon wussten. So manche Völkerverständigungen und auch Vereinigungen zwischen Norddeutschen und den Einheimischen sollen dort über die Jahre hinweg stattgefunden haben. Und auch Tragödien, die aber eher in Tränen endeten als in Tätlichkeiten. Es sei denn, zwei Einheimische hatten denselben Geschmack an einer weiblichen Attraktion gefunden. Dann färbte sich der jungfräulich weiße Schnee auch schon mal rot.
Mit dem Traktor, den Bernrieder praktisch mit dem Haus bekommen hatte und der fast zweimal so alt war wie er, schaffte er es mühelos, den Weg zur Disco zu fahren. Vorsichtshalber hatte er noch schwere Ketten auf die großen Räder montiert. Das Letzte, was er wollte, war stecken bleiben. Damit hätte er nur den Spott seiner Kollegen auf sich gezogen.
An der Disco angekommen, war alles still und leise. Nur die Eingangstür stand einen Spalt offen. Der Wind hatte Schnee ins Haus geblasen und damit den Spalt, und auch den Schneeberg zwischen der Tür, größer und größer werden lassen. Es wehte nur noch sehr leicht. Die Sonne hatte sich gezeigt und den Schnee, der sanft und leise umherwirbelte, in alle möglichen Farben getaucht. Glitzernd schwebte die bunte Pracht wie tausend Regenbogen über dem kleinen Berg.
Doch Kommissar Bernrieder hatte keinen Sinn für so etwas. Nicht heute. Es war kalt, er vermisste seinen Kaffee, der Traktor hatte keine Kabine, und der Wind hatte ihm voll ins Gesicht geblasen, als er vom Hof zur Disco gefahren war. Der Schal, den er sich mehrmals um den Kopf gewickelt hatte, half, konnte aber das Brennen in den Augen nicht verhindern.
»Sauwetter«, sagte er zu sich selbst. Immer wenn das Wetter nicht in seinen Plan passte, war es ein ›Sauwetter‹. War es heiß, wenn er Dienst hatte, galt das ebenso, wie wenn es kalt war und er nicht in seiner Stube sitzen konnte.
Behutsam schob er nun den Schnee beiseite und ging ins Haus. Er rief nach seinem Freund Hubert, ohne eine Antwort zu bekommen. Die Heizung lief auf vollen Touren, da es draußen erstens kalt war und zweitens die Tür die ganze Nacht offen gestanden hatte.
»Ja, sauber, der wird a Rechnung ham«, meinte Hauptkommissar Bernrieder leise. Der Plattenspieler lief, und die Nadel sprang am Ende der Rille immer wieder auf und ab. Da war ein ›Klick‹, ein kurzes Rauschen, dann wieder ein ›Klick‹. Es gab in der Disco noch diesen alten Plattenspieler, da man diesen für die Art Musik brauchte, die man dort auflegte. ›Hip-Hop‹ hieß das, was immer das auch bedeutete. Das war nicht die Musik, die Franz Joseph Bernrieder mochte. Musik ohne großes Blech war für ihn nicht Musik, nur Krach. Außer Blues. Allerdings bayerischem Blues. Den konnte er noch vertragen.
Das Licht war an und tauchte den Raum in ein sanftes Rot. Die Discokugel drehte sich an der Decke. Es gab keine Tische oder Stühle in der Disco, nur eine lange Bar an einer Seite, an der man stehen und etwas trinken konnte. Der Rest war Tanzfläche. Blank poliertes Blech, verlegt in kleinen Platten, in denen sich die Discokugel spiegelte.
Hinter der Bar gab es einen winzigen Raum, eine Art Büro. Oder auch Lagerraum. Es stand dort ein Regal mit allen möglichen Flaschen, Kisten und Schachteln mit Erdnüssen und Kartoffelchips. Daneben einige Fässer mit Bier. Und es gab einen kleinen Tisch mit einem hölzernen Stuhl.
Und auf diesem Stuhl saß Hubertus Stangl, vornübergebeugt, mit dem Kopf auf dem Tisch. Das Einschussloch konnte man nicht sehen, wohl aber das am Hinterkopf. Nicht unbedingt sehr groß, doch trotzdem eben ein Loch. Franz Joseph Bernrieder stand für ein paar Sekunden in der Tür, betrachtete sich die Situation. Dann ging er zum Toten, hob seinen Kopf ein wenig an und wusste sofort, dass da nichts mehr zu machen war. Er bemerkte das Loch zwischen den Augen. Vor dem Schuss hatte man Hubertus Stangl noch die Zähne eingeschlagen. Der Teil des Gesichtes, der einmal sein Mund gewesen war, war regelrecht zerfetzt.
»Na, Hubert, des schaut ned gut aus. Da ham's dir aber eine rein‘drückt«, sagte er zu dem Toten.
Hauptkommissar Bernrieder nahm sein Telefon und rief in der Zentrale an. Dann öffnete er die Flasche Wodka, die er im gekühlten Tresen fand, und schenkte sich erst einmal einen großen Doppelten ein. Das würde seinen Kreislauf wieder auf Touren bringen. Er rückte einen Stuhl neben den Schreibtisch und setzte sich hin, um auf die Kollegen zu warten.
Als er sich umsah, fand er neben dem Toten einen Brief in russischer Sprache, den er noch am selben Tag von einem russischen Geigenlehrer in Bad Tölz übersetzen ließ. Das war nicht amtlich, aber er wollte umgehend wissen, was dort geschehen war. Eine offizielle Übersetzung würde Wochen dauern, und dafür hatte er keine Zeit.
In dem Brief stand, dass ein gewisser Dimitrij Tscholenski, der wohl auf der Durchreise war, mit dem Unterhaltungsprogramm der Disco nicht ganz zufrieden war. Jedenfalls schien es so, wie man später herausfand, da er an diesem Abend heftig randaliert hatte. Als man ihn endlich hinauswarf, kam er wenig später zurück und machte seinem Ärger Luft. Wörtlich meinte er in diesem Schreiben, dass man mit ihm, Dimitrij, so nicht umgehen könne. Alle, die sich das erlaubten, bekämen dasselbe Schicksal zu spüren wie dieses nichtsnutzige ›bayerische Arschloch‹, wie er Hubertus nannte. Sicherlich kannte er nicht einmal seinen Namen. Die Tageseinnahmen ließ er auch noch mitgehen. Wahrscheinlich, um seine Unkosten zu decken.
Es war ein aussichtsloses Unterfangen, auch nur im Entferntesten daran zu denken, herauszufinden, wer dieser Dimitrij war und wo er sich eventuell aufhalten könnte. Auch die schon im Ansatz unnütze Befragung der üblichen Zeugen brachte den Kommissar nicht einen Schritt weiter, und da er keinen Sinn darin sah, den Helden zu spielen, brach er das ab. Sollte Dimitrij noch in der Gegend sein, was man mit Sicherheit nicht ausschließen konnte, könnte er sich daran erinnern, wer ihn denunziert hatte.
So wurde der Fall nach ein paar Monaten automatisch eingestellt. Man schrieb allerdings eine Fahndung nach Dimitrij Tscholenski aus. Über Interpol. Und Europol. Und die Disco sperrte man zu. Die Akte ließ man allerdings noch offen. Nur falls Dimitrij doch noch, wider Erwarten, erneut auftauchen würde.
5
Nun standen also beide, Hauptkommissar Bernrieder und der Polizeimeister Ferdinand Hintermeier, hinter dem großen, schmiedeeisernen Tor, das man inzwischen weit geöffnet hatte. Der Kommissar fuhr mit seinem Auto, das er unter normalen Umständen hätte vor dem Zaun parken müssen, bis ans Haus. Dort, genau vor dem Eingang, hielt er an. Der Chauffeur, Andreas Richter, saß auf der Bank neben der Haustür, sah dieses Gefährt, schüttelte verständnislos den Kopf und wartete darauf, was auf ihn zukommen würde.
»Also, Ferdl, was is? Warum hast mich ang'rufen?«, fragte er seinen Kollegen, als er aus dem Auto ausgestiegen war und die Tür ins Schloss geschmissen hatte. Ganz ging diese nicht mehr zu, da sie auf der Griffseite ein wenig nach unten hing und damit die genaue Ausrichtung zum Riegel selbst nicht mehr gegeben war. Aber sie sprang zumindest nicht gleich wieder auf, was Franz Joseph Bernrieder immer als Erfolg betrachtete. Wenn man im Auto saß und die Tür zumachen wollte, musste man dies mit einem eleganten Ruck nach oben tun und dann fest ziehen. Da er der Einzige war, der dieses Auto fuhr, beherrschte er diesen Schwung perfekt, und somit war das kein Problem, das man unbedingt beseitigen musste.
»Weil du unsere Mordkommission bist und da a Tote liegt, die ned einfach so umg'fallen is. Und wenn wir einen Zweiten hätten, in der Abteilung mein ich, dann hätt ich dich an einem Sonntag nicht g'stört. Nur ham wir den nicht, wie du des ja auch weißt.«
»Red ned so an Schmarrn, Ferdl, und sag mir lieber, was los is.«
»Ja also, wie dass der Richter mich da ang'rufen hat«, wobei er auf den Mann zeigte, der auf der Bank vor dem Haus saß, »weil sei Chefin da am Boden liegen tät, hab ich zuerst denkt, dass des ja nix Schlimm's sein kann. Ich mein, sterben tut ja a jeder amal, oder? Mei Tante Marianne is auch auf einmal umg'fallen, wie wir da bei der Weihnachtsgans sitzen und uns des Fett aus de Münder g'laufen is, weil's so gut war. Solche Gäns kannst heut gar nicht mehr ham, Franz. Und b'sonders des Blaukraut, des hat die können wie niemand anderer. Sie
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Olaf Maly
Bildmaterialien: © E.O.: (257155649) - Brown cow, isolated on white background
Cover: Vivian Tan Ai Hua
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: André Piotrowski
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2019
ISBN: 978-3-96714-035-4
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