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Inhalt


Eine romantische Liebesgeschichte

 
Einmal Indien und zurück

 

Emma lehnt den Heiratsantrag ihres Freundes Ben ab und flieht nach Indien, um dort - ausgerechnet - an einer Hochzeit teilzunehmen.

Während sie ihre bisher unbekannte Facebook-Freundin kennenlernt, versucht Ben herauszufinden, wo Emma ist. Warum will sie nicht seine Frau werden? Wovor läuft sie davon?

Bei den Hochzeitsvorbereitungen wird Emma plötzlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, der sie eigentlich für immer entkommen wollte.

Zu allem Überfluss taucht dann auch noch Ben in Indien auf.

 

 

Hochzeit nicht ausgeschlossen

 

 

 

Lektorat: Dorothea Kenneweg

Korrektorat: Kerstin Thieme

Coverdesign: Chris Gilcher

Copyright © 2015 by Sabine Landgraeber

Kontakt: www.sabine-landgraeber.de

 

1

 

Emma

 

 
»Du hast Nein gesagt?«

Claire sieht mich so entgeistert an, dass ich ihr nicht weiter in die Augen schauen kann. Ich starre in die Kaffeetasse, die vor mir auf dem Tisch steht. Braune Schaumreste bedecken in schwungvollen Bögen die Innenseiten der Tasse. Zum Kaffeesatz-Lesen denkbar ungeeignet.

»Ja, ich habe Nein gesagt«, antworte ich und widme mich weiter dem Schaum.

»Und jetzt?«, fragt sie, nach einer fast schon unerträglichen Weile, in der wir beide den Geräuschen meines Kühlschranks gelauscht haben.

»Das hat er auch gefragt.«

Er, das ist Ben, mein Freund. Eigentlich heißt er Benjamin, aber ich kenne niemanden, der ihn mit seinem vollen Namen anspricht. Wir sind jetzt schon seit eineinhalb Jahren ein Paar. Gestern, während eines Spaziergangs, hat er sich vor mich hingekniet und um meine Hand angehalten. Mitten im Park, einfach so und ohne, dass wir zuvor darüber gesprochen haben. Statt ihm mit einem »Ja« zu antworten, ist in mir plötzlich das reinste Gefühlschaos ausgebrochen. Zuerst war ich nicht in der Lage gewesen, ihm zu antworten, mein Mund ist einfach auf- und zugeklappt, wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Und dann ist dieses kleine Wort plötzlich aus meinem Mund geschlüpft. »Nein.«

Ben hat mich so fassungslos angesehen, wie ich mich gefühlt habe.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, hat er gefragt. Ich bin stumm geblieben, habe auf den schmutzigen Weg geschaut, aus Angst, in seine Augen zu blicken. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr ich ihn verletzt hatte und ich hätte den Schmerz in seinen Augen einfach nicht ertragen. Er erhob sich langsam aus seiner knienden Haltung und blieb mit hängenden Armen vor mir stehen. Ich bin dann einfach davongestürzt, weg von diesen traurigen Augen und dem anklagenden Blick. Seitdem habe ich ihn nicht mehr erreichen können. Er ist nicht an sein Telefon gegangen und auch auf meine zahlreichen SMS hat er nicht geantwortet. Bei WhatsApp habe ich es erst gar nicht versucht, er hasst diese App. Auf einen Schlag war mein Kartenhaus aus Lügen in sich zusammengefallen.

»Warum hast du das bloß gesagt? Ich habe immer gedacht, es ist dein Traum, dass ihr heiratet.«

Als würde ich mich nicht schon schlimm genug fühlen, packt mich mit einem Mal eine verzweifelte Wut auf meine beste Freundin. Wieso erträgt sie nicht einfach mein Gejammer, ohne diese unbequemen Fragen zu stellen?

»Warum kannst du das nicht verstehen?«, herrsche ich sie grundlos an.

Sie betrachtet mich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre traurigen Augen verraten mir, dass ich sie verletzt habe.

»Entschuldige bitte«, murmele ich.

Ich kann ihr nicht die Wahrheit erzählen. Ich will es auch nicht.

»Kannst du mich bitte alleine lassen?«, sage ich und meine eigentlich das Gegenteil.

Kopfschüttelnd steht sie auf, schnappt sich ihre Jacke, die sie vorhin achtlos auf mein rotes Sofa fallen lassen hat. Sie geht zur Tür. Ich höre, dass sie kurz stehen bleibt, so als ob sie überlegt zurückzukommen. Dann öffnet sie die Tür.

»Aber du kannst doch jetzt nicht einfach gehen«, will ich rufen, aber kein Wort kommt über meine Lippen. Ich höre leise das Türschloss klicken und dann ist sie weg. Eigentlich habe ich doch nur gewollt, dass mir jemand recht gibt, dass ich noch Zeit brauche und dass alles gut werden wird.

Was für ein beschissenes Wochenende.

Samstag: den besten Freund verloren.

Sonntag: die beste Freundin vor den Kopf gestoßen.

Ich lege meine Wange auf die Tischplatte und fange hemmungslos an zu schluchzen.

 

Als ich mich wieder etwas beruhigt habe, überlege ich, was ich jetzt tun soll. Warum hat mich Bens Frage so aus dem Konzept gebracht? Warum kann ich ihm nicht die Wahrheit sagen? Ich habe fürchterliche Angst. Habe ich ihn verloren? Ich bin mir nicht sicher, ob er mir das jemals verzeiht. Aber ich liebe ihn doch und ich war mir auch sicher, dass ich nicht ohne ihn sein will. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Warum fühle ich mich dann so elend? Es ist viel zu früh, wir haben doch alle Zeit der Welt. Er wird mich verstehen, wenn er in Ruhe darüber nachgedacht hat. Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Um die kreischenden, widersprüchlichen Stimmen zum Schweigen zu bringen, klappe ich meinen Computer auf und logge mich auf meiner Facebook-Seite ein.

»Ben hat seinen Beziehungsstatus geändert: Es ist kompliziert«, leuchtet mir auf der Nachrichten-Seite entgegen.

Gleich darunter informiert mich Facebook über eine andere Neuigkeit.

»Devi hat ihren Beziehungsstatus geändert: Devi ist verlobt.«

Na toll, eigentlich wäre das jetzt mein Text gewesen.

»Gefällt mir.«

Fast sofort blinkt eine persönliche Nachricht auf.

»Hallo Emma, wie geht es dir?«

»Geht so«, tippe ich, »das ist ja eine tolle Nachricht. Wann ist denn die Hochzeit?«

»Ich bin schon eine Weile verlobt, eigentlich schon seit einem Jahr, ich habe immer vergessen, das zu ändern. Die Hochzeit ist in einer Woche.«

»Wie schön. Wird es eine große Feier?«

»Nur unsere Familien und ein paar Freunde. Du kannst ja auch vorbeikommen, wenn du Lust hast.«

Ich muss schlucken. Eine Hochzeit.

Devi wohnt in Indien. Wir sind uns noch nie im Leben begegnet. Wir haben uns über eines der vielen Spiele auf Facebook kennengelernt und seither ab und an kleine Nachrichten ausgetauscht. Ich betrachte ihr Profilbild. Sie sieht so jung und hübsch aus. Ich weiß aus einem früheren Chat, dass sie zwanzig Jahre alt ist, aber auf ihrem Bild sieht sie wie ein Teenager aus. Sie ist neun Jahre jünger als ich und scheint überhaupt kein Problem mit dem Heiraten zu haben. Ist er wohl die große Liebe ihres Lebens?

»Und, was sagst du? Stell dir vor, schon nächste Woche können wir zusammen tanzen und feiern. Tanzt du gerne?«

»Ja, ich tanze gerne. Aber ich kann doch nicht einfach nach Indien fliegen.«

»Ich würde mich sehr freuen. Warum nicht?«

Tja, warum eigentlich nicht?

Ich schüttle den Kopf. Die Einladung ist zwar sehr verlockend, aber wahrscheinlich hat sie sie gar nicht ernst gemeint.

2

 

Emma

 

 
»Fliegen Sie auch nach Istanbul?«

Meine Sitznachbarin, eine Frau um die fünfzig, gekleidet in ein kreischend buntes Strickensemble, lächelt mich erwartungsfreudig an.

Was für eine Frage? Schließlich sitze ich in der Turkish Airways Maschine von Tegel nach Istanbul, die gerade vom Gate rollt.

»Das war eine blöde Frage, ich meinte natürlich, machen Sie auch eine Städtereise oder besuchen Sie jemanden?«

»Ich fliege noch weiter.«

»Meine Freundin und ich«, sie zeigt auf die Frau neben ihr am Fenster, »wir machen das jedes Jahr. Wir haben uns schon Barcelona, Rom und Lissabon zusammen angesehen. Waren Sie schon mal in Istanbul?«

»Leider noch nicht.«

»Wir haben beide vor vier Jahren unsere Männer verloren und seitdem reisen wir zusammen. Sie werden es nicht für möglich halten, aber Elfi und ich haben uns über das Internet kennengelernt.«

Warum findet sie das so unwahrscheinlich? Ich mustere die beiden genauer. Elfi ist wesentlich älter als Frau Strickkleid und scheint mir nicht die treibende Kraft des Duos zu sein. Alles an ihr ist grau und beige, von den Haaren über ihre Kleidung bis hin zu den Schuhen. Sie ist in einen Reiseführer vertieft und schenkt unserer Unterhaltung keine Aufmerksamkeit. Während ich noch grübele, in welcher Gruppe sich die beiden wohl kennengelernt haben, werde ich von meiner Nachbarin aufgeklärt.

»Wir waren in einem Forum für Menschen, die ihren Partner verloren haben. Auf einer Reise, die das Forum veranstaltet hat, haben wir uns sofort gut verstanden. Seitdem organisieren wir das alles aber selbst.«

Sie zwinkert mir zu und fährt fort: »Mit so vielen alten Leuten ist das schon ganz schön kompliziert. Elfi und ich können uns fast immer sofort einigen, nicht wahr, Elfi?«

Die Angesprochene blickt etwas verwirrt auf und lächelt dann, um sich gleich wieder in ihr Buch zu vertiefen.

Unser Flugzeug hat das Ende der Startbahn erreicht und der Lärm der Triebwerke schwillt an. Ich kralle meine Hände um die Armlehnen und schließe die Augen. Warum haben nicht alle Menschen diese Angst, die mich jedes Mal überfällt, wenn ich in einem Flugzeug sitze, das gerade abhebt? Hallo, das ist doch nicht natürlich, dass diese riesigen Blechdosen fliegen können?

»Ich finde das Fliegen großartig«, sagt Frau Strickkleid, »mit meinem Mann bin ich nie in den Urlaub geflogen. Wir hatten einen Wohnwagen an der Ostsee stehen und da sind wir jeden Sommer hingefahren.«

Wie ist wohl Bens Meinung zu einem Wohnwagen an der Ostsee?

»Wissen Sie, eigentlich ist das Reisen mit Elfi viel einfacher. Sie schnarcht nicht, wir werden beide schon früh müde und außerdem interessiert sie sich auch viel mehr für Kultur und Kunst, als Bernd es jemals getan hat.«

Was soll ich darauf antworten? Will sie mir erklären, dass sie froh ist, dass ihr Mann nicht mehr bei ihr ist? Oder redet sie sich selbst ein, dass das Alleinsein nicht so schlimm ist?

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Sechsunddreißig Jahre«, sagt sie und ein Anflug von Traurigkeit legt sich auf ihre Miene, »ich vermisse ihn jeden einzelnen Tag.«

Ich senke beschämt den Blick und ärgere mich über den Blödsinn, den ich gedacht habe. Und mit meiner Schätzung ihres Alters habe ich wohl auch danebengelegen. Anfang sechzig trifft es wohl eher.

»Es war die schönste Zeit meines Lebens«, fährt sie fort, »aber irgendwann muss es ja weitergehen und deshalb bin ich sehr dankbar, dass ich Elfi gefunden habe. Wir lenken uns gegenseitig etwas von unserem Schmerz ab.«

»Haben Sie Kinder?«

Ihr Gesicht fängt an zu leuchten und sie nickt mir mit strahlenden Augen zu.

»Ja, drei Mädchen und sogar schon zwei Enkeltöchter. Die Familie war für mich immer das Wichtigste. Jetzt kann ich mich zurücklehnen und die Früchte meiner Arbeit genießen. Früher hätte ich sie oft am liebsten an die Wand geklatscht.« Sie lacht mich an und tätschelt meinen Arm. »Keine Sorge, ich habe es natürlich nie gemacht, aber denken darf man so was doch mal. Jetzt ist das alles anders. Jetzt sind sie für mich da und unterstützen mich, so gut sie können.«

»Was möchten Sie trinken?«

Eine dunkelhaarige, hübsche Stewardess beugt sich in unsere Reihe und schaut uns fragend an.

»Wir nehmen Tomatensaft«, beschließt meine Nachbarin und deutet auf Elfi und sich.

»Ein Wasser und einen Kaffee, bitte«, bestelle ich für mich.

Nachdem wir unsere Getränke serviert bekommen haben, fragt Frau Strickkleid: »Sind Sie verheiratet?«

Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee und bin froh, dass mein Hustenanfall mir etwas Zeit gibt und ich nicht sofort antworten muss.

»Das ist kompliziert«, krächze ich und mir ist nicht klar, warum ich nicht einfach »Nein« gesagt habe.

Sie reißt das kleine Pfeffertütchen auf und schüttet, ohne eine Miene zu verziehen, den kompletten Inhalt in ihren Tomatensaft.

»Sind Sie geschieden?«, fragt sie und rührt mit dem dünnen Plastikstäbchen den Pfefferberg in ihren Tomatensaft.

»Nein, äh, ich …, mein Freund hat mich vor ein paar Tagen gefragt, ob ich ihn heiraten möchte, aber ich habe Nein gesagt.«

Warum erzähle ich ihr das? Es ist einfach, ohne mein Zutun, aus meinem Mund herausgesprudelt.

»Aber das haben Sie nicht so gemeint?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß eigentlich gar nichts mehr«, jammere ich und merke im gleichen Augenblick, wie kindisch das klingt.

»Wenn es ihm wirklich ernst ist, wird er Sie sicher ein zweites Mal fragen«, versucht sie mich zu beruhigen.

»Das wird leider auch nichts an der Situation ändern«, will ich hinzufügen, lasse es dann aber.

»Wohin geht denn Ihre Reise? Machen Sie Urlaub?«, wechselt sie geschickt das Thema, nachdem ich nicht geantwortet habe.

»Ich fliege nach Indien, zu der Hochzeit meiner Freundin.«

Sie blickt mich ungläubig an und dann prusten wir beide los. Elfie blickt erstaunt auf. »Was ist denn so lustig bei euch? Darf ich mitlachen?«

»Du glaubst es nicht. Sie hat gerade den Heiratsantrag ihres Freundes abgelehnt und fliegt jetzt zur Hochzeit ihrer Freundin …« Sie lacht so laut und ansteckend, dass auch Elfie in ihr Lachen einfällt. Ich kann gar nicht mehr aufhören und spüre, dass ich kurz davor bin, hysterisch zu werden. Die Stewardess rettet mich.

»Sie haben ja viel Spaß zusammen. Welches Menü haben Sie gewählt?«

»Das Fleischgericht«, japse ich, bevor ich mich langsam beruhige.

»Wir auch«, kommt es von den beiden Damen im Chor.

Während des Essens löchern sie mich mit Fragen über Devi. Sie finden es toll, dass wir uns, genauso wie sie, über das Internet kennengelernt haben. Sie haben sogar beide einen Facebook-Account. Ich notiere mir ihre Namen und verspreche ihnen, mich mit ihnen zu befreunden, sobald ich wieder im Internet bin.

»Dann musst du alles posten, was du so erlebst. Meine Kinder machen das auch immer so. Ach, ich bin schon ganz gespannt.« Inge, Frau Strickkleid heißt Inge, strahlt mich begeistert an.

Und ich erst, will ich sagen, halte mich aber zurück.

3

 

Ben

 

 
Ben steht kurz davor, Claire zu schütteln, oder noch viel schlimmer, sie zu schlagen. Emmas beste Freundin ist eigentlich eine ganz patente Person, aber heute kommt Ben überhaupt nicht an sie ran. Sie verschränkt wie zur Abwehr ihre Arme und schaut ihn finster, mit fest aufeinandergepressten Lippen, an. Ein eisiger Windstoß fegt über sie beide hinweg.

»Sag mir jetzt sofort, was du weißt. Wo ist Emma?«

»Ich habe ihr aber versprochen, niemandem etwas zu sagen.«

Ben holt tief Luft. Wie bringt er dieses störrische Ding nur dazu, ihm zu erzählen, wo Emma sich aufhält?

»Claire, du weißt doch, wie sie auf meinen Antrag reagiert hat. Ich bin verzweifelt …«

»Wir haben uns deswegen gestritten. Ich habe sie auch nicht verstanden. Außerdem hat sie mich ziemlich fies behandelt.« Claire verzieht ihr Gesicht und will sich abwenden.

»Stopp, du kannst doch jetzt nicht einfach gehen.« Ben packt sie am Arm und zwingt sie, ihm in die Augen zu sehen. »Du hast doch gerade gesagt, dass du ihr versprochen hast, niemandem etwas zu sagen. Also hast du mit ihr geredet. Sag mir bitte, was du weißt.«

»Lass mich los«, Claire schüttelt Bens Hand ab und funkelt ihn wütend an. »Sie ist in Indien.«

»Bitte wo?«

»Ja, ich habe sie vorgestern an der Schule getroffen, sie hat sich für zwei Wochen Urlaub genommen.« Sie schaut ihn trotzig an. Ben zieht die Augenbrauen hoch. So etwas hat Emma noch nie gemacht, sich einfach im laufenden Programm freizunehmen. Er weiß, dass sie ihre Arbeit an der Sprachschule heiß und innig liebt.

»Was will sie denn in Indien? Hat sie einen Guru? Will sie in einen Ashram?« Gleich, nachdem er die Fragen gestellt hat, kommen sie ihm absolut dämlich vor. Emma ist überhaupt nicht der Typ für so etwas. Und Indien ist bisher noch nie eines ihrer Wunsch-Reiseziele gewesen.

»Sie ist auf eine Hochzeit eingeladen.«

Eine Hochzeit? Wollte Claire ihn verarschen?

»Aber sie kennt doch überhaupt niemanden in Indien.«

»Das habe ich auch zu ihr gesagt«, antwortet Claire trocken. »Weißt du, was sie mir geantwortet hat?«

Ben schüttelt den Kopf.

»Sie kennt ihre Freundin nur von Facebook.« Das Wort Freundin spuckt sie regelrecht aus. Sie scheinen sich ziemlich schlimm gestritten zu haben. Dabei ist Claire doch Emmas beste Freundin. Ben ist verwirrt.

»Also, habe ich das jetzt richtig verstanden? Emma fliegt nach Indien zu der Hochzeit einer Frau, die sie überhaupt nicht kennt?«

»Ja, mehr weiß ich wirklich nicht. Ich muss jetzt auch weiter.«

Sie dreht sich um und entfernt sich mit schnellen Schritten.

Ben blickt auf sein Handy. Mist, schon so spät. Er muss dringend wieder zurück in sein Büro. Warum hat er nicht früher bei Emma vorbeigeschaut? Er musste ja die beleidigte Leberwurst spielen. Gott sei Dank hat er Claire getroffen. Sie wohnt nur ein paar Häuser weiter als Emma und glücklicherweise ist Ben ihr in die Arme gelaufen, als er sich gerade frustriert von der geschlossenen Haustür abwendete und auf den Rückweg zum Büro machen wollte.

In der S-Bahn, die ihn wieder nach Mitte bringt, versucht er sich einen Plan zurechtzulegen. Kennt er jemanden in Indien? Nein. Moment, doch, es gibt einen Inder, mit dem er schon öfter Kontakt hatte. Tarun arbeitet in einem Call-Center. Er ist, mit vielen anderen, zuständig für den Support eines seiner Grafik-Programme. Vor anderthalb Jahren sind sie mal ins Gespräch gekommen und seitdem versucht Ben, wann immer er ein Problem hat, sich zu Tarun durchstellen zu lassen. Es wird zwar nicht gerne gesehen, aber Ben hat es bisher immer geschafft. Gleich, wenn er wieder in seinem Büro ist, wird er Kontakt zu ihm aufnehmen. Wobei, was will er ihn fragen? »Hey Kumpel, meine Freundin ist in Indien, du bist ihr doch sicher schon über den Weg gelaufen, oder? So groß ist dein Land doch nicht …« Nein, das ist ein bescheuerter Plan.

Er könnte sich natürlich in ihr Facebook-Konto einloggen. Emma ist in technischen Dingen so unbekümmert, sie verwendet für alle ihre Geräte und Konten das gleiche Passwort. Apropos technische Geräte: Vielleicht hat sie ja inzwischen ihr Handy wieder eingeschaltet. Schließlich kann man diese Dinger doch inzwischen auf der ganzen Welt benutzen. Ben probiert es, wird aber wieder, wie die ganzen Male zuvor, mit einem Spruch abgespeist. »The person you have called is …« Noch nicht mal ihre Mailbox geht dran.

Am Hackeschen Markt schafft er es, im letzten Moment die Bahn zu verlassen. Eine Gruppe Japaner blockiert den Weg zur Treppe. Ratlos stehen sie vor einem Fahrkarten-Automaten und diskutieren lautstark. Ob Emma jetzt auch so verloren irgendwo in Indien herumsteht?

Als Ben sein kleines Büro betritt, stellt er erleichtert fest, dass sein Kompagnon Dirk schon gegangen ist. Ben und Dirk betreiben hier in dem Hinterhof eines großen Gewerbekomplexes zusammen eine kleine Werbeagentur für Apps und Computerprogramme. Jetzt steht Ben in dem großen Raum, den zwei Schreibtische mit mehreren Bildschirmen dominieren, und sieht sich um, als sähe er das alles zum ersten Mal. Die ganze Situation ist absurd. Was hat Emma nur zu dieser Reaktion veranlasst? Nicht nur ihr Nein zu seinem Antrag, auch diese überstürzte Reise ist ihm ein Rätsel. Was ist mit ihr passiert?

Er lässt sich auf seinen Stuhl fallen und überlegt, was er tun soll. Um weiter an seinem Auftrag zu arbeiten, fehlt ihm jeglicher Elan. Soll er doch versuchen, Emmas Facebook-Konto zu knacken? Von seiner eigenen Facebook-Seite klickt er sich weiter zu Emma. Ihr letztes Posting ist schon über eine Woche alt. Traurig betrachtet er das Foto, das sie beide zusammen zeigt. Emma besitzt eine Selfie-App, die sie unverständlicherweise jeden Tag aufs Neue bejubelt, wenn der Piepton sie erinnert, ein Foto zu machen. Manchmal darf auch Ben mit auf das Bild. Er reißt sich von dem Schnappschuss los und klickt ihre Freundesliste an. 155 Freunde. Das muss doch zu schaffen sein. Eine viertel Stunde später hat er sie gefunden. Devi, ein bildschönes Mädchen. Laut ihrem Profil ist sie zwanzig Jahre alt und wohnt in Chandigarh – wo auch immer das ist. Es klingt jedenfalls sehr indisch. Das Beste aber ist ihr Beziehungsstatus. Sie ist verlobt. Mehr kann Ben nicht sehen, da sie eingestellt hat, dass nur ihre Freunde ihr vollständiges Profil sehen können. Nicht so wie Emma. Wie oft haben sie sich schon darüber gestritten, dass Emma viel zu sorglos mit ihrer Online-Identität umgeht. Ben notiert sich den vollen Namen von Devi und hofft, dass es der richtige ist und nicht nur ein ausgedachtes Pseudonym. Was jetzt? Ob ihm Tarun mit diesen Informationen weiterhelfen kann? Soll er ihn einfach anrufen und um Hilfe bitten?

Ben steht auf und wandert ruhelos durch das Büro. Warum will er überhaupt Kontakt zu Emma haben? Vielleicht ist es viel besser, einfach abzuwarten, bis sie wieder in Deutschland ist. Zwei Wochen hat sie sich freigenommen, hat Claire vorhin gesagt.

4

 

Emma

 

 
Der Flughafen von Delhi brodelt in einem gigantischen Chaos. Anscheinend sind noch etliche weitere Maschinen um diese abartig frühe Uhrzeit gelandet und jetzt strömt eine Flut von Passagieren gleichzeitig auf die wenigen Einreiseschalter zu.

Ich bin unsicher, wo ich mich einreihen soll, und lande schließlich in der längsten Schlange, an deren Ende ich das Schild »Tourist« über dem Schalter lesen kann. Ich schaue mich im Meer der unterschiedlichen Nationalitäten um. Der europäische Durchschnittstourist ist hier eindeutig in der Minderzahl. Auffällig sind die vielen asiatischen Geschäftsleute in ihren dunklen, zerknitterten Anzügen. Überhaupt sind die Männer in der Überzahl, allein reisende Frauen oder andere weibliche Passagiere kann ich in der Menge fast nicht ausmachen, nur an dem Schalter für »Indische Staatsbürger« stehen Mütter und junge Mädchen, aber alle begleitet von ihren Männern und Vätern.

Mir kommen wieder die fürchterlichen Berichte von vergewaltigten jungen Frauen in den Sinn, die ja auch bei uns in Deutschland ein großes Thema gewesen sind. Ist diese Reise vielleicht keine so gute Idee?

Ein Einreisebeamter mit einer adretten Uniform winkt mich zu sich. Er ist viel jünger als ich und sein kleiner Schnurrbart soll ihm wohl etwas mehr Autorität verleihen. Ich ziehe meinen Reisepass aus meiner Handtasche und schlage die Seite mit dem Visum auf. Dank der indischen Botschaft in Berlin habe ich sehr kurzfristig ein Visum ausgestellt bekommen. Der Beamte hat mich zwar angeschaut, als ob ich nicht ganz dicht wäre, als ich ihm die ganze Geschichte erzählt habe, aber ich hatte innerhalb von zwei Tagen ein Visum in meinem Pass.

»Was ist der Grund Ihres Besuchs?«, fragt der Beamte mit einer erstaunlich piepsigen Stimme.

»Ferien«, erwidere ich und wundere mich über die Frage. Schließlich stehe ich unter dem großen blauen Schild mit dem Aufdruck: »Tourist«

»Länge Ihres Aufenthalts?«

»Eine Woche.«

Er schaut kurz auf und mustert mich mit seinen Kinderaugen.

»Ihr Aufenthaltsort?«

»Bei Freunden in Chandigarh.«

Der Beamte knallt einen Stempel in meinen Pass und reicht ihn mir mit einem so breiten Lächeln, dass ich seine riesigen Schneidezähne sehe.

»Willkommen in Indien.«

Auf dem Weg zu den Gepäckbändern weht mir plötzlich eine Geruchsmischung um die Nase, die mich lächeln lässt. Es riecht wie in dem indischen Restaurant, das Ben und ich so gerne besuchen. Automatisch fängt mein Magen an zu knurren und ich spüre, dass ich Hunger habe. Das sogenannte Frühstück im Flugzeug ist nicht mein Fall gewesen und ich verfluche mich jetzt, dass ich nicht mehr davon gegessen habe.

In der riesigen Halle mit den unzähligen Gepäckbändern und den Menschenmassen von der Einreisekontrolle versuche ich mich zu orientieren, finde aber erst nach einiger Zeit das Karussell mit dem Gepäck aus Istanbul.

Das Band ist übervoll mit gigantischen Gepäckstücken und fantasievoll verklebten Kisten. Mehrere Männer mit Turban sprechen mich an und bieten sich als Gepäckträger an. Ich winke ab und bin froh, als sie von mir ablassen.

Endlich entdecke ich meinen roten Rollkoffer, der seltsam winzig zwischen den anderen Gepäckstücken wirkt.

Kaum habe ich die Schiebetür passiert, schlägt mir feuchte Luft und lautes Gekreische entgegen. Mir wird klar, dass ich soeben den klimatisierten Bereich verlassen habe, obwohl ich verblüfft über die kühlen Temperaturen bin. Hallo, ich bin in Indien. Und wieso ist es hier jetzt kalt?

Metallgitter halten die schreienden Menschen zurück, die jedem, der durch die Tür tritt ihre Schilder entgegenhalten und mit lautem Rufen versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Ich bleibe völlig überrumpelt stehen und starre in die fremden Gesichter. Die Menge besteht nur aus Männern und sie starren mich genauso an wie ich sie. Bei dem Blick auf das Menschenmeer beschleichen mich wieder die Zweifel, ob diese Reise wirklich eine gute Idee ist. Es ist vier Uhr morgens, wer würde da an einen brechend vollen Flughafen denken?

Ich bahne mir, etwas unsicher, einen Weg durch die Menge und strebe auf ein kleines Häuschen zu, an dem ich das Wort »Taxi« entdeckt habe. Es sieht alles halbwegs offiziell aus, und nachdem ich dem Mann in dem Häuschen mitgeteilt habe, dass ich zum Bahnhof will, verlangt er eine Summe, die auch auf der Tafel, die an dem Häuschen hängt, zu lesen ist. Ich reiche ihm einige der Scheine, die ich vorhin, auf der Suche nach dem richtigen Gepäckband, an einem kleinen Schalter gewechselt habe. Der Mann sitzt hinter einem vergitterten Fenster und es macht auf mich ein bisschen den Eindruck, als säße er im Gefängnis. Im Austausch mit meinem Geld reicht er mir, durch die Gitterstäbe, einen Zettel mit einer Nummer und deutet nach links.

Ich gehe in die angegebene Richtung und bleibe dann erwartungsvoll vor einem Gewirr von Autos stehen, alle mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern. Manche Fahrer lehnen an ihren Wagen, andere sitzen auf den Fahrersitzen, die sich irritierenderweise auf der falschen Seite befinden. Stimmt, Indien hat Linksverkehr. Der Fahrer einer altmodischen Limousine löst sich von seinem Gefährt und kommt auf mich zu.

»Nummer?«

Ich reiche ihm wortlos den Zettel und er dreht sich um und öffnet den Kofferraum. Beim Einsteigen spüre ich eine panische Angst in mir aufsteigen. Nur mit Mühe kann ich mich so weit beruhigen, dass ich mein Fahrtziel halbwegs verständlich herausbringe. Vorsichtig blicke ich mich in dem Auto um. Ich sitze auf der Rückbank, die mit rotem Samt bezogen ist und sich sehr weich anfühlt. Der Wagen riecht nach Duftspray und ist so sauber, wie ich es noch nie in einem Berliner Taxi erlebt habe. Der Fahrer trägt einen Turban und dreht sich zu mir um.

»Willkommen in Indien. Musik?«

Er grinst mich mit seinen wenigen Zähnen, die er noch hat, an und dreht dann das Radio auf. Indische Popmusik lullt mich ein, ich gähne und lehne meinen Kopf an die Autoscheibe. Nachdem wir das Flughafengelände verlassen haben, fahren wir auf eine Schnellstraße. Reklametafeln, die für alles Mögliche werben, ziehen an mir vorbei. Häuser aus rohem Beton wechseln sich mit Baulücken und modernen Hochhäusern ab. Irgendwann verändert sich die Szenerie und plötzlich sehe ich nur noch baufällige Hütten, überall herumliegenden Müll und streunende Katzen und Hunde. Selbst im Schutz der Nacht ist das ein deprimierender Anblick und ich frage mich ein weiteres Mal, was ich mir dabei gedacht habe, einfach nach Indien zu reisen.

Ich erwache, weil etwas mich pikst. Der Fahrer stößt mit seinem Zeigefinger an meine Schulter. Etwas orientierungslos blinzle ich in die Nacht.

»Miss, Bahnhof.«

Er deutet auf ein großes, altes Gebäude, das im Dunkeln vor uns liegt. Indien, Delhi, ich liege tatsächlich nicht in meinem Bett, sondern sitze in einem altmodischen Taxi vor einem pompösen Bahnhofsgebäude. Im Eingangsbereich kann ich Menschen erkennen und um uns herum fahren ein paar andere Taxis, Kleinbusse, Rikschas und Mopeds, um ihre Passagiere abzuliefern.

Schon während ich den Fahrer bezahle, bedauere ich sehr, dass ich den sicheren und sauberen Kokon verlassen muss. Außerdem frage ich mich, ob ich gerade über den Tisch gezogen worden bin. Schließlich habe ich schon dem Mann am Flughafen Geld

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sabine Landgraeber
Bildmaterialien: Bildmaterial: © Shutterstock: 305425385, © Freepik: international-monuments_795543, Covergestaltung: Chris Gilcher
Lektorat: Lektorat: Dorothea Kenneweg, Korrektorat: Kerstin Thieme
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2625-3

Alle Rechte vorbehalten

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