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Chantal

In unserer Klasse gab es mal dieses Mädchen, ihr Name war Chantal.Und aus irgendeinem Grund konnten wir sie alle nicht leiden.Und weil wir alle sie nicht leiden konnten, sprach auch nie jemand mit ihr und wenn jemand mit ihr sprach dann war dieser jemand gemein zu ihr.Manchmal waren wir so gemein, dass Chantal weinen musste und dann lachten wir über sie und ich lachte mit, obwohl sie mir eigentlich leid tat, aber das sagte ich nicht, denn nachher wären sie genau so zu mir und könnten mich nicht leiden.Dann wäre ich wie Chantal und das wollte ich nicht, sonst täten sie nachher über mich lachen, so dass ich weinen müsste.Davor hatte ich Angst.Große Angst sogar.Wenn Chantal nicht da war, dann wurde viel geredet, auch viel über Chantal, dann stand ich oft daneben und hörte zu, denn ich wusste genau, dass vieles gar nicht stimmte, von dem was da geredet wurde und wenn die anderen lachten, oder die Köpfe schüttelten, dann tat ich das auch.Und wenn Chantal da war, dann wurde auch viel geredet und das obwohl Chantal es doch hören konnte und wenn ich dann in der Pause manchmal am Mädchenklo vorbeilief, dann hörte ich aus dem inneren der letzten Kabine ein herzzerreißendes Schluchzen.Und manchmal überlegte ich einfach zu ihr zu gehen, dann spielte ich mit dem Gedanken sie in den Arm zu nehmen und sie zu trösten und ihr zu helfen und dann, dann rannte lief ich weiter, immerhin durfte ich sie ja nicht leiden.Als wir einmal Sport hatten, da schallte es quer durch die Halle: „Chantal ritzt sich!“Und alle rannten sie zu Chantal, die verängstigt in einer Ecke stand, wie ein aufgescheuchtes Tier, wie wenn es auf des Jägers Flinte schielt.Da stand Chantal und versuchte ihr nackten Beine zu verstecken, denn sie waren aufgeschürft und blutig und nicht schön.Und dann lachten wieder alle über sie, dabei hatte sie dieses mal ja wirklich niemanden etwas getan.Eigentlich tat sie überhaupt nie jemanden etwas und manchmal fragte ich mich warum sie, warum dieses eigentlich hübsche Mädchen, mit den hübschen braunen Augen und den hübschen, dunklen Haaren.Ein Raunen ging durch die Schülerschar, ein paar der Jungs zeigten laut grölend auf ihre vernarbten Beine und die Mädchen kicherten und lachten und Chantal stand da und dicke Tränen kullerten aus ihren eigentlich so lieben, hübschen Augen, während sie versuchte ihr Beine zu verstecken, auch wenn es sowieso nichts mehr brachte, denn das Lachen war zu einem stetigen, monotonen, anstrengender Geräusch geworden, wie Gesang, ein Lied das von ihrem leid erzählte und ich fragte mich, wie ich mich fühlen würde, wenn sie über mich singen würden.Und dann war da dieser Moment, in dem Chantals Blick und der Meine sich trafen und ich sah das Flehen in ihren Augen und den Schmerz, wie er gebündelt in Tränen zu Boden fiel und ich sah wie meine Klassenkameraden auf ihrem Schmerz herum trampelten und sie tat mir leid und ich schaute weg, weil ich Angst hatte jemand könnte es bemerkt haben, dass ich sie angesehen hatte ohne zu lachen.Wir sangen, bis die Lehrerin kam, die uns böse Blicke zuwarf und Chantal aus der Halle führte und Chantal blickte nicht auf, sondern zu Boden, denn sie wollte uns nicht sehen und ich konnte sie verstehen.Sowie die Tür ins Schloss fiel ging das Jubeln los, sicher konnte Chantal es hören und sicher sickerte ihr Schmerz über die Fliesen im Flur der Halle. Ich sah, das meine Klassenkameraden über die Bänke hopsten, als würden sie tanzen, wie zum Feste, als hätten sie soeben einem glorreichen Ereignis beigewohnt , doch in Wirklichkeit hatten sie Chantal nur nicht leiden können und ich hoffte, dass sie auf ihrem Schmerz ausrutschten und ich hoffte auch, dass ich ausrutschte denn ich sprang und klatschte mit ihnen.Danach blieb Chantal lange dem Unterricht fern, eine lange, lange Zeit, die Stimmung war angespannt und so hoffte ich, dass Chantal bald wiederkam, nicht dass es bald eine neue Chantal geben würde, dass diese Chantal vielleicht ich sein würde.Und als Chantal dann wiederkam, lachten wir noch mehr als zuvor, denn sie hatte Schürfwunden und blaue Flecken und wir fragten, wer sie denn verprügelt hätte und lachten.Ich fragte zwar nicht, aber ich lachte, ich lachte, obwohl ich mich in Wirklichkeit ehrlich fragte, was geschehen war.Und jeden Morgen betrat Chantal die Klasse und ihr Blick wurde immer leerer und leerer und manchmal glaubte ich, dass sie das Gelache, den Gesang und das Gerede zu ignorieren gelernt hatte, doch wenn ich dann in der Pause an dem Mädchenklo vorbei ging, da konnte ich aus der hintersten Kabine das Schluchzen vernehmen und da wusste ich, dass Chantal das Gelache, den Gesang und auch das Gerede keines Wegs ignorierte.Dann war da dieser Tag an dem wir die Bücher und Schulhefte von Chantal zerrissen und das obwohl sie ihre Schulhefte so ordentlich führte und jedes Mal das Datum oben in die Ecke schrieb und es mit Buntstiften unterkringelte.Dann nahmen wir ihre Brotdose aus dem Schulranzen und warfen ihr Käsebrot auf den Boden und dann trat einer drauf und die Butter quoll an den Rändern über und fiel zu Boden und das Salatblatt wurde ganz schmutzig.Und ich stellte mir vor, wie das Chantal war, auf die wir da traten und die wir ganz schmutzig und kaputt machten.Und dann nahm jemand Chantals Wasserflasche und kippte den Inhalt über den Berg von zerrissenen Schulheften, in denen das Datum oben in der Ecke stand, und dem zermatschten Käse und dem dreckigen Salatblatt.Und als Chanatl aus der hintersten Klokabine wieder zum Klassenraum kam, sah sie den Berg von Heften und Essen und Büchern und sah den umgeworfenen Schulranzen und schaute uns an und wir begannen zu lachen und sie schaute uns weiter an und ihre Kinnlade klappte nach unten und wir lachten weiter.Sie machte ein komisches Geräusch, eine Mischung aus Schreien und Schluchzen und ich hörte auf zu lachen, denn so laut wie die anderen lachten fiel es gar nicht mehr auf und Chantal stand da, und Tränen rannen über ihre Wangen und es war ihr Schmerz, der auf die einzelnen Blätter, in denen das Datum oben in der Ecke stand, tropfte, denn es war kaum noch Boden zu sehen.Und alle sangen und lachten sie und Chantal schluchzte und es klang sehr nach dem Schluchzen, welches ich jede Pause aus der Klokabine vernahm und Chantal drehte um und rannte aus dem Raum und das Gelache wurde lauter und schlug in Gebrüll um und ich schaute zu Boden und sah den zermatschen Käse, das dreckige Salatblatt und die Hefte, wo das Datum oben in der Ecke stand.Und dann musste ich lachen und das, obwohl ich eigentlich mit Chantal hatte weinen wollen, aber ich lachte.Den Rest des Tages sah keiner Chantal mehr und das obwohl nicht mal die dritte stunde vorbei war.Und am nächsten Morgen kam unsere Lehrerin in die Klasse und sie ging mit gesenktem Kopf und schaute auf dem Boden, den Putzfrauen gesäubert hatten und sie erinnerte mich an Chantal.Und dann erzählt sie, dass Chantal gestern blind vor Trauer und wahrscheinlich blind vor Schmerz der Schule entflohen war und ich sah in den Augen meiner Lehrerin, dass sie mit ihrem eigenen Schmerz zu kämpfen hatte.Und dann erzählte sie, dass Chantal nach Hause gerannt war, doch niemand wusste wo sie wohnte, deswegen war es sinnlos und das zu erzählen, denn niemand hatte jemals mit ihr zusammen ein Projekt gemacht, geschweige denn sich mit ihr getroffen und deswegen war auch noch nie jemand bei ihr zu Hause gewesen.Und die Lehrerin schluchzte, und es erinnerte mich an das Schluchzen von Chantal , als sie uns erzählte, dass Chantals Eltern Chantal im Badezimmer gefunden hatten und ihr starres Gesicht war verklebt von getrockneten Tränen und ihre Hand war ein kleines Döschen mit Tabletten gewesen und alle diese Tabletten hatte Chantal geschluckt und ich sah vor meinem inneren Auge wie sie alleine im Badezimmer saß, und das obwohl ich nicht wusste wie es denn aussehen mochte, zitternd, zusammengesunken auf der Kloschüssel mit dem Döschen in der Hand und wie sie schluchzte, genau so, wie sie in jeder pause in der hintersten Klokabine geschluchzt hatte.Und die Lehrerin erzählte, dass Chantal schon einmal versucht hatte sich das Leben zu nehmen und wir schwiegen und keiner wagte es zu lachen und der Gesang war verstummt und ich wusste, dass wir nie wieder singen würden, keiner von uns.Und in der hintersten Ecke des Klassenraumes lag das dreckige Salatblatt und keiner bemerkte es und der Boden war voller Schmerz, genau so wie der Hallenboden voller Schmerz war und die Klokabine und die Fließen im Flur der Sporthalle.In unserer Klasse gab es mal dieses Mädchen, ihr Name war Chantal.Und obwohl sie niemandem etwas getan hatte, konnten wir sie nicht leiden.Aber in Wirklichkeit mochte ich sie. Ich mochte sie sogar sehr.

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Tag der Veröffentlichung: 13.08.2014

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