Leo Tolstoi
Anna Karenina
1. elektronische Auflage 2014
verlag.bucher@gmail.com, Basel
Die Rache ist mein,
Ich will vergelten.
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich. Der ganze Haushalt der Familie Oblonski war in Unordnung geraten. Die Hausfrau hatte erfahren, daß ihr Mann mit einer französischen Gouvernante, die sie früher im Hause gehabt hatten, ein Verhältnis unterhielt, und hatte ihm erklärt, sie könne nicht länger mit ihm unter einem Dache wohnen. Drei Tage schon währte nun dieser Zustand, und er wurde sowohl von den Ehegatten selbst wie auch von den übrigen Familienmitgliedern und dem Hausgesinde als eine Qual empfunden. Alle Familienmitglieder und das Hausgesinde hatten das Gefühl, daß ihr Zusammenleben gar keinen Sinn mehr habe und daß in jeder Herberge die Leute, die sich dort zufällig zusammenfänden, in engerer Beziehung untereinander stünden als sie, die Mitglieder und das Gesinde der Familie Oblonski. Die Hausfrau verließ ihr Zimmer nicht; der Hausherr war zwei Tage lang nicht nach Hause gekommen. Die Kinder liefen im ganzen Hause wie verloren umher; die englische Miß hatte sich mit der Wirtschafterin gezankt und einen Brief an eine Freundin geschrieben, ob sie ihr nicht eine andere Stelle verschaffen könne; der Koch war schon gestern vor dem Mittagessen davongegangen; die Küchenmagd und der Kutscher baten um ihren Lohn, um den Dienst zu verlassen. Am dritten Tage nach dem Streite erwachte Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonski (Stiwa, wie er von seinen Bekannten genannt wurde) zur gewohnten Stunde, das heißt um acht Uhr morgens, aber nicht im gemeinsamen Schlafzimmer, sondern in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa. Er wälzte seinen gut genährten und gepflegten Körper auf dem Sofa ein paarmal hin und her, als ob er noch weiterschlafen wolle, umfaßte das Kopfkissen fest von unten her und drückte die Wange dagegen; plötzlich aber fuhr er in die Höhe, setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin und öffnete die Augen.
›Ja, ja, wie war das doch nur?‹ dachte er, indem er sich auf seinen Traum zu besinnen suchte. ›Ja, wie war das doch nur? Ja! Alabin gab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht in Darmstadt, es war irgendwo in Amerika. Ja, aber Darmstadt lag dabei in Amerika. Ja, Alabin gab ein Diner auf gläsernen Tischen, ja, – und da waren solche kleine Likörflaschen, die sangen: Il mio tesoro, oder vielmehr nicht Il mio tesoro, sondern ein noch schöneres Lied, und auf einmal waren die Likörflaschen Weiber‹, erinnerte er sich.
Stepan Arkadjewitschs Augen leuchteten fröhlich auf, und lächelnd überließ er sich seinen Gedanken. ›Ja, schön war es, sehr schön. Es war auch sonst noch viel Vergnügliches dabei; aber wenn man aufgewacht ist, kann man es sich nicht mehr in Gedanken klarmachen und es nicht mit Worten ausdrücken.‹ Und als er einen Lichtstreifen bemerkte, der sich an dem einen Fenster neben dem Stoffvorhang ins Zimmer stahl, hob er in heiterer Stimmung die Beine vom Sofa herunter, suchte mit ihnen nach den goldfarbenen Saffianpantoffeln, die ihm seine Frau gestickt und im vorigen Jahre zum Geburtstage geschenkt hatte, und streckte nach alter, neunjähriger Gewohnheit, ohne aufzustehen, die Hand nach der Stelle aus, wo im Schlafzimmer sein Schlafrock zu hängen pflegte. Dabei kam es ihm auf einmal zum Bewußtsein, daß und warum er nicht in dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlafen hatte, sondern in seinem Arbeitszimmer; das Lächeln verschwand von seinem Gesichte, und er runzelte die Stirn.
»Ach, o weh, o weh!« stöhnte er, da ihm alles Vorgefallene wieder ins Gedächtnis kam. Und vor seinem geistigen Blicke erschienen wieder alle Einzelheiten seines Streites mit seiner Frau und die ganze Mißlichkeit seiner Lage und, was ihn am allermeisten quälte, seine eigene Schuld.
›Ja, das wird sie nicht verzeihen und kann sie nicht verzeihen. Und das Schauderhafteste dabei ist, daß ich selbst an alledem schuld bin; – ich bin an alledem schuld und kann doch eigentlich nichts dafür. Das ist das Tragische bei der Sache‹, dachte er. »O weh, o weh!« sagte er verzweifelt vor sich hin, in Erinnerung an jene Einzelheiten des Streites, die auf ihn den stärksten Eindruck gemacht hatten.
Am unangenehmsten war jener erste Augenblick gewesen, als er, heiter und zufrieden aus dem Theater heimkehrend, seine Frau, für die er eine gewaltig große Birne in der Hand trug, zu seinem Erstaunen weder im Salon noch in ihrem Zimmer vorgefunden und endlich im Schlafzimmer erblickt hatte, in der Hand den unglückseligen Brief, der alles verraten hatte.
Sie, die sonst stets sorglich geschäftige und seiner Ansicht nach etwas beschränkte Dolly, hatte mit dem Briefe in der Hand regungslos dagesessen und den Eintretenden mit einer Miene des Schreckens, der Verzweiflung und des Zornes angeblickt.
»Was ist das hier? Was ist das?« hatte sie, auf das Schreiben deutend, ihn gefragt.
Als peinlich und beschämend empfand Stepan Arkadjewitsch bei dieser Erinnerung, wie das oft so geht, weniger den Vorfall selbst, als vielmehr die Art, wie er auf diese Worte seiner Frau geantwortet hatte.
Es war ihm in diesem Augenblick ergangen, wie es nicht selten Leuten ergeht, die unversehens auf einer recht schmählichen Tat ertappt werden. Er hatte es nicht verstanden, seine Miene der Lage anzupassen, in die er seiner Frau gegenüber durch die Aufdeckung seines Vergehens geraten war. Anstatt den Gekränkten zu spielen, zu leugnen, sich zu rechtfertigen, um Verzeihung zu bitten oder auch einfach nur gleichgültig zu bleiben (alles dies wäre besser gewesen als das, was er in Wirklichkeit getan hatte), statt dessen hatte sein Gesicht ganz unwillkürlich (›Reflexe des Gehirns‹, dachte Stepan Arkadjewitsch, der sich gern ein bißchen mit Physiologie abgab) sich zu seinem gewohnten gutmütigen und daher in diesem Falle dummen Lächeln verzogen.
Dieses dumme Lächeln konnte er sich nicht verzeihen. Beim Anblicke dieses Lächelns war Dolly wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammengezuckt, hatte mit der ihr eigenen Heftigkeit einen Strom scharfer Worte hervorgesprudelt und war aus dem Zimmer geeilt. Seitdem hatte sie ihren Mann nicht mehr sehen wollen.
›An alledem ist dieses dumme Lächeln schuld‹, dachte Stepan Arkadjewitsch.
›Aber was ist zu machen? Was ist zu machen?‹ fragte er sich in seiner Verzweiflung und fand keine Antwort darauf.
Stepan Arkadjewitsch war sich selbst gegenüber stets aufrichtig und wahrheitsliebend. Er war unfähig, sich selbst zu betrügen und sich einzureden, daß er das Getane bereue. Zur Zeit war er nicht imstande, Reue darüber zu empfinden, daß er, ein vierunddreißigjähriger, hübscher, liebeslustiger Mann, nicht mehr in seine Frau verliebt war, die ihm fünf noch lebende und zwei bereits verstorbene Kinder geboren hatte und nur um ein Jahr jünger war als er selbst. Das einzige, was er bereute, war, daß er es nicht besser verstanden hatte, seiner Frau die Sache zu verheimlichen. Aber er empfand in vollem Umfange die Mißlichkeit seiner Lage und bedauerte seine Frau, die Kinder und sich selbst. Vielleicht hätte er sich auch erfolgreicher bemüht, seine Sünden vor seiner Frau zu verbergen, wenn er geahnt hätte, daß diese Nachricht auf sie so stark wirken würde. Klar nachgedacht hatte er über diesen Punkt allerdings nie: aber er hatte die undeutliche Vorstellung gehabt, seine Frau ahne schon längst, daß er ihr untreu sei, sehe aber dabei durch die Finger. Er war sogar der Ansicht, eine schon so welke, gealterte, bereits unschöne Frau, die nichts Besonderes an sich habe, sondern lediglich eine einfache, brave Familienmutter sei, müsse aus einer Art von Gerechtigkeitsgefühl heraus sich nachsichtig zeigen. Und nun hatte er gerade das Gegenteil davon erlebt.
›Schauderhaft! O weh, o weh, schauderhaft!‹ sagte Stepan Arkadjewitsch einmal über das andere vor sich hin, ohne daß er einen Ausweg ersinnen konnte. ›Und wie nett war alles bisher, wie gut haben wir miteinander gelebt! Sie war zufrieden und glücklich über ihre Kinder; ich kam ihr in keiner Weise in die Quere und ließ sie bei den Kindern und beim Hauswesen herumwirtschaften, wie sie wollte. Freilich, daß »sie« in unserem Hause Gouvernante gewesen ist, das ist übel. Das ist übel. Es liegt immer etwas Gewöhnliches, Unwürdiges darin, wenn man einer Gouvernante der eigenen Kinder den Hof macht. Aber was ist diese Gouvernante auch für ein Weib!‹ (Er erinnerte sich lebhaft an Mademoiselle Rolands schwarze Schelmenaugen und an ihr reizendes Lächeln.) ›Aber solange sie bei uns im Hause war, habe ich mir ja auch nichts erlaubt. Das Schlimmste ist, daß sie jetzt ... Das muß auch alles wie mit Absicht gleichzeitig über mich hereinstürzen! O weh, o weh! Aber was in aller Welt soll ich nun tun?‹
Eine Antwort gab es darauf nicht außer jener allgemeinen Antwort, die das Leben auf alle Fragen gibt, selbst auf die verwickeltsten und unlösbaren. Und diese Antwort lautet: Man muß sein Leben ausfüllen mit dem, was der Tag bringt und fordert, das heißt, man muß dadurch zu vergessen suchen. Aber durch Schlafen und Träumen Vergessenheit zu suchen, das war nicht mehr möglich, wenigstens nicht vor der nächsten Nacht; es ging nicht mehr an, zu jenem musikalischen Genusse, dem Gesange der Likörflaschen, die dann auf einmal Weiber waren, zurückzukehren. Also mußte er Vergessenheit suchen in der Ablenkung, die das Leben mit sich brachte.
›Na, es wird sich ja bald zeigen‹, sagte Stepan Arkadjewitsch zu sich selbst, stand auf, zog den grauen, mit blauer Seide gefütterten Schlafrock an, schlang die in Quasten ausgehenden Schnüre zu einem Knoten zusammen, sog in kräftigen Atemzügen die Luft in seinen breiten Brustkasten, trat mit dem gewohnten munteren Schritt der auswärts gerichteten Füße, die seinen vollen Körper so leicht trugen, zum Fenster, hob den Vorhang auf und klingelte laut. Auf das Klingeln trat sogleich sein altvertrauter Kammerdiener Matwei ins Zimmer, der die Kleider, die Stiefel und ein Telegramm brachte. Hinter Matwei kam auch der Barbier mit seinem Rasiergerät herein.
»Sind Akten von der Behörde gekommen?« fragte Stepan Arkadjewitsch, indem er das Telegramm nahm und sich vor den Spiegel setzte.
»Sie liegen im Eßzimmer auf dem Tische«, antwortete Matwei und richtete einen fragenden Blick voller Teilnahme auf seinen Herrn; dann, nach einer kurzen Pause, fügte er mit einem schlauen Lächeln hinzu: »Es ist jemand von dem Fuhrherrn hier gewesen.«
Stepan Arkadjewitsch gab keine Antwort und blickte nur im Spiegel nach Matwei hin; an den Blicken, mit denen sie sich im Spiegel trafen, konnte man sehen, wie gut sie einander verstanden. Stepan Arkadjewitschs Blick fragte gleichsam: ›Wozu sagst du das? Weißt du etwa nicht, wie's steht?‹
Matwei steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke, setzte den einen Fuß ein wenig seitwärts und blickte schweigend, mit gutmütiger Miene und beinah mit einem Lächeln seinen Herrn an.
»Ich habe ihm gesagt, er möchte erst nächsten Sonntag wiederkommen und bis dahin weder Ihnen noch sich selbst unnötige Mühe machen«, antwortete er mit einem offenbar vorher zurechtgelegten Satze.
Stepan Arkadjewitsch erkannte, daß Matwei einen kleinen Scherz machen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken wolle. Er riß das Telegramm auf, las es, wobei er die, wie stets, entstellten Worte sinngemäß verbesserte, und sein Gesicht leuchtete auf.
»Matwei, meine Schwester Anna Arkadjewna kommt morgen«, sagte er und hemmte für einen Augenblick die dicke, fettglänzende Hand des Barbiers, der dabei war, den rosigen Zwischenraum zwischen dem rechten und linken krausen Backenbart rein zu putzen.
»Gott sei Dank!« rief Matwei und zeigte durch diese Antwort, daß er die Bedeutung dieses Besuches ebensowohl zu würdigen wußte wie sein Herr, indem er nämlich zuversichtlich glaubte, daß Anna Arkadjewna, Stepan Arkadjewitschs Schwester, die dieser sehr liebte, eine Versöhnung zwischen Mann und Frau werde zustande bringen können.
»Kommt die gnädige Frau allein oder mit dem Herrn Gemahl?« fragte Matwei.
Stepan Arkadjewitsch konnte nicht sprechen, da der Barbier mit seiner Oberlippe beschäftigt war, und hob einen Finger in die Höhe. Matwei nickte nach dem Spiegel hin mit dem Kopfe.
»Allein. Soll ich oben alles instand setzen lassen?«
»Melde es meiner Frau. Sie wird das Nötige anordnen.«
»Der Frau Gemahlin?« fragte Matwei wie im Zweifel, ob er richtig gehört habe.
»Ja, melde es ihr! Und da, nimm das Telegramm mit und gib es ihr, was sie wohl dazu sagt.«
›Das soll ein Fühler sein‹, dachte Matwei verständnisvoll; aber er antwortete nur: »Zu Befehl!«
Stepan Arkadjewitsch war schon gewaschen und gekämmt und wollte sich eben ankleiden, als Matwei, mit seinen knarrenden Stiefeln langsam daherkommend, das Telegramm in der Hand, wieder ins Zimmer trat. Der Barbier war nicht mehr da.
»Darja Alexandrowna hat befohlen, zu melden, daß sie wegfährt; sie sagte: ›Es kann alles eingerichtet werden, wie es ihm‹, das heißt Ihnen, ›genehm ist‹«, berichtete er; dabei lachte er nur mit den Augen, schob die Hände in die Taschen und blickte mit seitwärts geneigtem Kopfe seinen Herrn unverwandt an. Stepan Arkadjewitsch schwieg ein Weilchen. Dann erschien ein gutmütiges und etwas klägliches Lächeln auf seinem hübschen Gesichte.
»Nun, Matwei?« fragte er und wiegte den Kopf hin und her.
»Das ist weiter nicht schlimm, gnädiger Herr; es wird sich schon alles wieder einrenken«, erwiderte Matwei.
»Du meinst, es wird sich wieder einrenken?«
»Ganz gewiß.«
»Meinst du? Wer ist denn da?« fragte Stepan Arkadjewitsch, da er auf der anderen Seite der ein wenig geöffneten Tür das Rascheln von Frauenkleidern hörte.
»Ich bin es«, sagte eine fest und angenehm klingende weibliche Stimme, und in der Tür erschien das ernste, pockennarbige Gesicht der alten Kinderfrau Matrona Filimonowna.
»Nun, was gibt es, liebe Matrona?« fragte Stepan Arkadjewitsch, indem er zu ihr an die Tür trat.
Obgleich Stepan Arkadjewitsch seiner Frau gegen über durchaus im Unrecht war und dies selbst fühlte, waren doch fast alle im Hause auf seiner Seite, sogar die Kinderfrau, die sich mit Darja Alexandrowna außerordentlich gut stand.
»Nun, was gibt es?« fragte er in bedrücktem Tone.
»Sie sollten doch noch einmal hingehen, gnädiger Herr, und sich schuldig bekennen. Vielleicht hilft Gott. Sie quält sich sehr, es ist kläglich anzusehen, und im Hause geht alles drunter und drüber. Die Kinder, gnädiger Herr, die Kinder können einem leid tun. Bekennen Sie sich schuldig, gnädiger Herr! Was können Sie auch sonst tun? Wenn man etwas erreichen will, darf man sich keine Mühe verdrießen lassen.«
»Aber sie wird mich gar nicht empfangen!«
»Tun Sie nur das Ihrige! Gott ist barmherzig; beten Sie zu Gott, gnädiger Herr, beten Sie zu Gott!«
»Na schön, geh nur!« antwortete Stepan Arkadjewitsch; er war auf einmal ganz rot geworden. »Nun, dann hilf mir beim Ankleiden«, wandte er sich an Matwei und warf mit einer entschlossenen Bewegung den Schlafrock ab.
Matwei hielt bereits das Hemd, von dem er etwas Unsichtbares wegblies, in Form eines Kumtes zum Überstreifen bereit und hüllte mit sichtlichem Vergnügen den wohlgepflegten Körper seines Herrn darin ein.
Nach dem Ankleiden besprengte sich Stepan Arkadjewitsch mit Parfüm, zupfte die Manschetten zurecht, steckte mit den ihm geläufigen Bewegungen in die einzelnen Taschen die Zigaretten, die Brieftasche, die Zündhölzer, die Uhr mit doppelter Kette und Berlocken, schüttelte das Taschentuch auseinander und fühlte sich nun sauber, wohlduftend, gesund und körperlich munter, trotz seinem Unglück. Auf jedem Bein sich ein wenig hin und her wiegend, ging er in das Eßzimmer, wo der Kaffee bereits auf ihn wartete und neben dem Kaffeegeschirr seine Briefe und die von der Behörde eingelaufenen Akten lagen.
Er las die Briefe. Einer darunter war ihm recht unwillkommen – von dem Händler, mit dem er wegen des Verkaufes eines Waldes auf dem Gute seiner Frau in Unterhandlung stand. Er mußte diesen Wald unbedingt verkaufen; aber jetzt, vor einer Versöhnung mit seiner Frau, konnte davon nicht die Rede sein. Am peinlichsten war ihm dabei, daß sich auf diese Weise Geldfragen in das bevorstehende Werk seiner Versöhnung mit seiner Frau hineinmischten. Und der Gedanke, daß es scheinen könnte, als lasse er sich von diesem Interesse leiten und als veranlasse ihn die Aussicht auf den Verkauf dieses Waldes, die Versöhnung mit seiner Frau anzustreben, dieser Gedanke hatte für ihn geradezu etwas Beleidigendes.
Als Stepan Arkadjewitsch mit den Briefen fertig war, zog er die Akten zu sich heran, durchblätterte schnell zwei Sachen und machte darin mit einem großen Bleistift ein paar Bemerkungen. Darauf schob er die Akten wieder zur Seite und machte sich an seinen Kaffee; während des Kaffeetrinkens breitete er die noch feuchte Morgenzeitung auseinander und begann sie zu lesen.
Stepan Arkadjewitsch hielt und las eine liberale Zeitung, nicht ein extremes Blatt, sondern von der Richtung, zu der sich die Mehrheit des gebildeten Publikums bekannte. Und obgleich weder Wissenschaft noch Kunst, noch Politik ihn sonderlich interessierten, so hielt er doch auf allen diesen Gebieten energisch an den Anschauungen fest, denen die Mehrheit und seine Zeitung anhingen, und änderte diese Anschauungen nur dann, wenn auch die Mehrheit das gleiche tat, oder, richtiger gesagt, er änderte sie nicht, sondern sie änderten sich von selbst unvermerkt in seinem Geiste.
Stepan Arkadjewitsch wählte sich weder seine Grundsätze noch seine Ansichten aus, sondern diese Grundsätze und Ansichten kamen von selbst zu ihm, ganz ebenso, wie er die Formen seines Hutes oder seines Rockes nicht auswählte, sondern einfach die nahm, die allgemein getragen wurden. Und Ansichten zu haben, war für ihn, der in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise lebte und ein Verlangen nach einiger Denktätigkeit verspürte, wie es sich gewöhnlich in reiferen Lebensjahren herausbildet, – Ansichten zu haben, war für ihn ebenso eine Notwendigkeit, wie einen Hut zu haben. Wenn wirklich ein Grund vorhanden war, weshalb er die liberale Richtung der konservativen vorzog, der doch auch viele aus seinem Gesellschaftskreise anhingen, so lag dieser Grund jedenfalls nicht etwa darin, daß er die liberale Richtung für vernünftiger gehalten hätte, sondern darin, daß sie mit der Gestaltung seines eigenen Lebens mehr übereinstimmte. Die liberale Partei behauptete, in Rußland sei alles schlecht, und tatsächlich hatte Stepan Arkadjewitsch viele Schulden und konnte mit seinem Gelde absolut nicht auskommen. Die liberale Partei erklärte die Ehe für eine Einrichtung, die sich überlebt habe und unbedingt umgestaltet werden müsse, und wirklich machte das Eheleben Stepan Arkadjewitsch wenig Vergnügen und nötigte ihn dazu, zu lügen und sich zu verstellen, was doch seiner Natur sehr zuwider war. Die liberale Partei sagte oder, richtiger ausgedrückt, ließ als ihre Meinung durchblicken, daß die Religion nur ein Zügel für den ungebildeten Teil der Bevölkerung sei, und in der Tat vermochte Stepan Arkadjewitsch nicht einmal einen ganz kurzen Gottesdienst ohne Schmerzen in den Beinen auszuhalten und konnte gar nicht begreifen, was dieses ganze großartige, hochtrabende Gerede von jener Welt für einen Zweck habe, da es sich doch auch auf dieser Welt sehr vergnüglich leben lasse. Außerdem fand Stepan Arkadjewitsch, der ein munteres Späßchen liebte, seine Freude daran, ab und zu einen harmlosen Menschen durch Äußerungen wie diese zu verblüffen: wolle man den Stolz auf die Abstammung einmal gelten lassen, so sei es nicht recht, bei Rurik stehenzubleiben und den ersten Stammvater, den Affen, zu verleugnen. Auf diese Weise war die liberale Richtung für Stepan Arkadjewitsch eine Sache der Gewohnheit geworden, und er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem Mittagessen wegen der leisen Benommenheit, die sie in seinem Kopfe hervorrief. Heute las er den Leitartikel, in dem auseinandergesetzt wurde, daß in unserer Zeit völlig ohne Grund ein Jammergeschrei erhoben werde, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und als sei die Regierung verpflichtet, Maßregeln zur Überwältigung der revolutionären Hydra zu ergreifen. »Ganz im Gegenteil«, hieß es, »liegt unserer Ansicht nach die Gefahr nicht in der vermeintlichen revolutionären Hydra, sondern in der Starrköpfigkeit der Reaktionäre, die jeden Fortschritt hemmen.« Auch einen zweiten Artikel, finanziellen Inhalts, las er durch, in dem Bentham und Mill zitiert wurden und einige gegen das Ministerium gerichtete boshafte Sticheleien vorkamen. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit der Auffassung verstand er die Bedeutung einer jeden dieser Sticheleien, von wem sie ausging und gegen wen sie gerichtet war und welcher Anlaß ihr zugrunde lag, und das machte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen. Indes wurde heute dieses Vergnügen durch die Erinnerung an Matrona Filimonownas Ratschläge und an die unerfreulichen Umstände im Hause stark beeinträchtigt. Er las auch, daß Graf Beust, wie verlaute, nach Wiesbaden gereist sei, und eine Anzeige: »Keine grauen Haare mehr!«, und über den Verkauf einer leichten Equipage, und daß ein junges Mädchen eine Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das stille, ironische Vergnügen wie früher.
Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die Semmelkrümel von der Weste, reckte seine breite Brust und lächelte dabei heiter, nicht als ob ihm gerade besonders froh zumute gewesen wäre, vielmehr wurde das heitere Lächeln durch die gute Verdauung hervorgerufen.
Aber dieses heitere Lächeln brachte ihm auch sofort wieder die ganze Wirklichkeit zum Bewußtsein, und er wurde ernst und nachdenklich.
Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen seines jüngsten Sohnes Grigori und seines ältesten Töchterchens Tanja) wurden vom Nebenzimmer her durch die Tür vernehmbar. Die Kinder fuhren mit etwas umher, und es fiel etwas auf den Fußboden.
»Ich habe es dir doch gesagt: auf das Dach darfst du keine Fahrgäste setzen!« rief das kleine Mädchen auf englisch. »Nun kannst du sie auch aufheben!«
›Alles ist aus der gewohnten Ordnung gekommen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch. ›Da laufen nun die Kinder ganz allein im Hause umher.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug darstellte, liegen und kamen zu ihrem Vater herein.
Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich ihm lachend an den Hals; sie freute sich wie immer über den ihr wohlbekannten Duft des Parfüms, den sein Backenbart ausströmte. Nachdem sie endlich sein von der gebückten Haltung gerötetes und von Zärtlichkeit strahlendes Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Halse und wollte wieder weglaufen; aber der Vater hielt sie zurück.
»Was macht Mama?« fragte er und strich mit der Hand über das glatte, zarte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.
Er war sich dessen bewußt, daß er den Knaben weniger liebte, und gab sich stets Mühe, die Kinder gleichmäßig zu behandeln; aber der Knabe empfand das und erwiderte das kalte Lächeln des Vaters seinerseits nicht mit einem Lächeln.
»Mama? Die ist schon aufgestanden.«
Stepan Arkadjewitsch seufzte.
›Da hat sie also wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.
»Nun, und ist sie vergnügt?«
Das kleine Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«
»Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.
Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und gab ihr zwei Stückchen; er wählte solche, die sie am liebsten aß: eine Schokoladenpraline und einen Fruchtbonbon.
»Für Grigori?« fragte das Kind und zeigte auf die Praline.
»Ja, ja!« Nochmals streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf die Stirn beim Haaransatz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.
»Der Wagen steht bereit!« meldete Matwei. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.
»Ist sie schon lange hier?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Etwa ein halbes Stündchen.«
»Wie oft habe ich dir befohlen, mir die Leute sofort zu melden!«
»Sie müssen doch Ihren Kaffee in Ruhe trinken können«, erwiderte Matwei in einem freundlich-groben Tone, über den sein Herr nicht zornig werden konnte.
»Na, dann bitte sie jetzt schnell herein«, sagte Oblonski, ärgerlich die Augenbrauen zusammenziehend.
Die Bittstellerin, eine Frau Hauptmann Kalinina, bat um etwas ganz Unmögliches und Unvernünftiges; aber nach seiner Gewohnheit ersuchte Stepan Arkadjewitsch sie, Platz zu nehmen, hörte ihr, ohne sie zu unterbrechen, aufmerksam zu und gab ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich zu wenden habe und wie sie es angreifen müsse, und schrieb sogar in gewandtem, bündigem Stile mit seiner großen, sperrigen, hübschen, klaren Handschrift einen Brief für sie an die Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Nachdem er die Frau Hauptmann entlassen hatte, nahm er seinen Hut und stand noch einen Augenblick da, um zu überlegen, ob er auch nichts vergessen habe. Er überzeugte sich, daß er nichts vergessen hatte außer dem einen, was er gern vergessen wollte, – seine Frau.
›Ach ja!‹ Er ließ den Kopf sinken, und sein hübsches Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. ›Soll ich zu ihr hingehen oder nicht?‹ erwog er. Und eine innere Stimme sagte ihm, es sei zwecklos, hinzugehen, es liefe doch alles nur auf Lüge hinaus; ihre gegenseitigen Beziehungen wiederherzustellen und in Ordnung zu bringen, sei unmöglich, weil es weder möglich sei, Dolly wieder zu einem anziehenden, reizenden Weibe noch sich selbst zu einem alten, der Liebe unfähigen Manne zu machen. Es war jetzt alles notwendigerweise voller Lüge und Unwahrhaftigkeit; Lüge und Unwahrhaftigkeit aber waren seiner Natur zuwider.
›Indessen, irgendeinmal muß es doch geschehen; so kann die Sache ja nicht bleiben‹, sagte er zu sich, bestrebt, sich Mut zu machen. Er reckte die Brust heraus, holte eine Zigarette hervor, zündete sie an, rauchte ein paar Züge, warf sie in das Aschenschälchen aus Perlmutter, durchmaß mit schnellen Schritten den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau.
Er fand Darja Alexandrowna in der Nachtjacke, die Flechten ihres bereits recht dünn gewordenen, früher so dichten schönen Haares am Hinterkopf aufgesteckt, mit verfallenem, hagerem Gesicht und großen, erschrockenen Augen, die infolge der Hagerkeit des Gesichts stark hervortraten. Sie stand mitten unter allerlei Sachen, die im Zimmer umhergeworfen waren, vor einem offenen Wäscheschrank, aus dem sie einzelnes heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne und blickte nach der Tür, wobei sie sich ohne Erfolg bemühte, ihrem Gesichte einen strengen, verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie vor ihm Furcht hatte und sich vor der bevorstehenden Aussprache ängstigte. Eben erst hatte sie von neuem versucht, das zu tun, was sie schon zehnmal in diesen drei Tagen zu tun versucht hatte: von den Sachen der Kinder und von ihren eigenen das Notwendigste herauszusuchen, um es zu ihrer Mutter bringen zu lassen. Und wieder konnte sie sich nicht endgültig dazu entschließen; aber auch jetzt sagte sie sich ebenso wie bei den früheren Versuchen, daß dieser Zustand nicht fortdauern könne; sie müsse irgend etwas unternehmen, ihren Mann bestrafen, bloßstellen, sich an ihm rächen, indem sie ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes antäte, den er ihr zugefügt habe. Sie sagte sich immer noch, daß sie ihn verlassen wolle, fühlte aber, daß das unmöglich sei; unmöglich aber war es deswegen, weil sie nicht davon lassen konnte, ihn als ihren Gatten zu betrachten und zu lieben. Außerdem sah sie voraus, daß, wenn sie schon hier, im eigenen Hause, mit der Pflege und Beaufsichtigung ihrer fünf Kinder kaum fertig wurde, diese dort, wohin sie sich mit ihnen allen begeben wollte, noch schlechter versorgt werden würden. War doch schon in diesen drei Tagen der Jüngste von schlechter Fleischbrühe, die er bekommen hatte, krank geworden, und die übrigen hatten gestern fast gar kein Mittagessen gehabt. Sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, von hier wegzugehen; aber sie täuschte sich trotzdem selbst etwas vor, suchte die Sachen zusammen und tat, als ob sie weg wolle.
Als sie ihren Mann erblickte, versenkte sie die Hände in ein Fach des Wäscheschrankes, als ob sie etwas suchte, und sah sich nach ihm erst um, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Aber ihr Gesicht, dem sie einen strengen, entschlossenen Ausdruck verleihen wollte, sprach nur von Ratlosigkeit und tiefem Leide.
»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme. Er hatte den Kopf in die Schultern hineingezogen und wollte sich gern ein klägliches, demütiges Aussehen geben, aber dabei strahlte er doch von Frische und Gesundheit. Mit einem schnellen Blicke überschaute sie vom Kopf bis zu den Füßen seine prächtige, lebensfrohe Gestalt. ›Ja, er ist glücklich und zufrieden!‹ dachte sie. ›Aber ich? ... Und diese widerwärtige Gutmütigkeit, um derentwillen ihn alle lieben und loben; ich hasse an ihm diese Gutmütigkeit.‹ Ihr Mund preßte sich zusammen; die Wangenmuskeln auf der rechten Seite ihres bleichen, nervösen Gesichtes zuckten.
»Was wünschen Sie?« fragte sie schnell in unnatürlich klingendem Tone.
»Dolly«, sagte er noch einmal, und seine Stimme zitterte dabei. »Anna kommt heute her.«
»Was geht es mich an? Ich kann sie nicht empfangen!« schrie sie auf.
»Aber es wird doch nötig sein, Dolly ...«
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg!« rief sie, ohne ihn anzublicken, als wäre dieser Aufschrei durch einen körperlichen Schmerz hervorgerufen.
Stepan Arkadjewitsch hatte wohl ruhig sein können, solange er an seine Frau nur dachte; da hatte er hoffen können, es werde sich alles, nach Matweis Ausdruck, wieder einrenken, und hatte in dieser Hoffnung ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee trinken können; als er aber jetzt ihr abgehärmtes Märtyrergesicht vor sich sah und diesen Ton ihrer Stimme hörte, aus dem ihre Ergebung in das Schicksal und ihre Verzweiflung herausklangen, da war es ihm, als wenn er ersticken müßte; es stieg ihm etwas in die Kehle, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Mein Gott, was habe ich getan, Dolly! Um Gottes willen! Ich habe ja ...« Er konnte nicht weiterreden; ein Schluchzen verschloß ihm die Kehle.
Sie schloß die Schranktür und blickte ihn an.
»Dolly, was kann ich sagen? Nur das eine: Verzeih mir! Denke zurück; können denn nicht neun Jahre des Zusammenlebens einige wenige Augenblicke aufwiegen, in denen ...«
Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet und hörte ihm zu, als warte sie, was er wohl sagen werde, als flehe sie ihn an, sie irgendwie von seiner Schuldlosigkeit zu überzeugen.
»... einige wenige Augenblicke, in denen ich mich hinreißen ließ ...«, fuhr er fort und wollte weitersprechen; aber bei diesen Worten preßten sich ihre Lippen wieder wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammen, und wieder zuckten die Muskeln ihrer rechten Wange.
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg von hier!« schrie sie noch durchdringender. »Und sprechen Sie zu mir nicht davon, daß Sie sich hätten hinreißen lassen, und nicht von dem, was Sie Schändliches getan haben!«
Sie wollte hinausgehen; aber sie wankte und faßte nach einer Stuhllehne, um sich zu stützen. Sein Gesicht zog sich in die Breite, seine Lippen wurden dicker, und die Tränen strömten ihm aus den Augen.
»Dolly!« sagte er schluchzend. »Um Gottes willen, denke an die Kinder; sie tragen ja keine Schuld. Ich bin der Schuldige; strafe mich, laß mich meine Schuld büßen. Womit ich sie nur zu büßen vermag, ich bin zu allem bereit! Ich habe gefehlt, und es ist gar nicht mit Worten zu sagen, wie schwer ich gefehlt habe! Aber dennoch, Dolly, verzeihe mir!«
Sie setzte sich hin. Er hörte ihr schweres, lautes Atmen und empfand ein unsägliches Mitleid mit ihr. Sie setzte mehrere Male an, etwas zu sagen, war aber dazu nicht imstande. Er wartete.
»Du denkst an die Kinder nur, um mit ihnen zu spielen; wenn ich aber an sie denke, so weiß ich dabei, daß sie jetzt zugrunde gehen müssen«, sagte sie; es war dies offenbar eine der Redewendungen, die sie sich im Laufe dieser drei Tage immer wieder vorgesprochen hatte.
Sie hatte du zu ihm gesagt, und darum blickte er sie voll Dankbarkeit an und machte eine Bewegung, um ihre Hand zu ergreifen; aber sie wich mit Abscheu vor ihm zurück.
»Ich denke an die Kinder, und deshalb würde ich alles tun, was menschenmöglich ist, um sie zu retten; aber ich weiß selbst nicht, wodurch ich sie retten kann: ob dadurch, daß ich sie von ihrem Vater wegnehme, oder dadurch, daß ich sie bei ihrem liederlichen Vater lasse, – jawohl, bei ihrem liederlichen Vater. Nun, sagen Sie selbst, ist es denn nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch möglich, daß wir weiter miteinander leben? Ist das überhaupt noch möglich?« fragte sie noch einmal mit erhobener Stimme. »Nachdem mein Mann, der Vater meiner Kinder, sich in eine Liebschaft mit der Erzieherin seiner eigenen Kinder eingelassen hat ...«
»Aber was ist nun zu machen? Was ist nun zu machen?« fragte er in kläglichem Ton; er wußte selbst nicht recht, was er sagte, und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer herabsinken.
»Sie sind mir widerwärtig und ekelhaft!« schrie sie, immer mehr in Hitze geratend. »Ihre Tränen sind weiter nichts als Wasser! Sie haben mich nie geliebt; Sie besitzen weder ein Herz noch eine vornehme Gesinnung! Sie sind mir verhaßt und ekelhaft; Sie sind mir ein Fremder, ja, ein ganz Fremder!« Mit bitterem Schmerze und tiefem Ingrimm sprach sie dieses Wort ›ein Fremder‹ aus, das ihr selbst schrecklich erschien.
Er blickte sie an, und der Ingrimm, der auf ihrem Gesichte zum Ausdruck kam, versetzte ihn in Schrecken und Staunen. Er begriff nicht, daß gerade sein Mitleid mit ihr sie reizte. Sie bemerkte bei ihm nur ein Gefühl des Bedauerns für sie, aber keine Liebe. ›Nein, sie haßt mich; sie wird mir nicht verzeihen‹, dachte er.
»Das ist furchtbar, ganz furchtbar!« sprach er vor sich hin.
In diesem Augenblick fing im Nebenzimmer eines der Kinder, das wahrscheinlich hingefallen war, an zu schreien. Darja Alexandrowna horchte auf, und ihre Miene wurde plötzlich milder.
Es schien, als sammle sie einige Sekunden lang ihre Gedanken, wie wenn sie nicht recht wüßte, wo sie sich befinde und was sie zu tun habe. Dann stand sie schnell auf und ging zur Tür hin.
›Also liebt sie doch mein Kind‹, dachte er, da er die Veränderung ihres Gesichtes beim Schreien des Kindes bemerkt hatte. ›Sie liebt mein Kind; wie kann sie dann mich hassen?‹
»Dolly, noch ein Wort!« sagte er, ihr nachgehend.
»Wenn Sie mir folgen, so rufe ich die Leute und die Kinder! Mögen sie es alle hören, daß Sie ein Schurke sind! Ich verlasse noch heute dieses Haus, und Sie können dann hier mit Ihrer Mätresse zusammen wohnen!«
Damit ging sie hinaus und schlug die Tür heftig hinter sich zu.
Stepan Arkadjewitsch seufzte, trocknete sich die Tränen vom Gesichte und ging mit leisen Schritten zu der Tür, durch die er gekommen war. ›Matwei sagt, es wird sich wieder einrenken; aber wie? Ich sehe schlechterdings keine Möglichkeit. Ach, was für eine schreckliche Lage! Und in welcher gewöhnlichen Weise sie schrie! Was für Ausdrücke!‹ sagte er zu sich selbst in Erinnerung an ihr Schreien und an die Worte Schurke und Mätresse. ›Vielleicht haben es sogar die Dienstmädchen gehört! Furchtbar gewöhnlich, wahrhaftig!‹ Stepan Arkadjewitsch blieb noch einige Sekunden allein stehen, trocknete sich die Augen, nahm eine feste Haltung an und verließ das Zimmer.
Es war Freitag, und im Eßzimmer zog gerade der deutsche Uhrmacher die Uhr auf. Stepan Arkadjewitsch erinnerte sich an einen Scherz, den er einmal über diesen pünktlichen, kahlköpfigen Uhrmacher gemacht hatte: dieser Deutsche sei wohl selbst einmal für das ganze Leben aufgezogen worden, um Uhren aufzuziehen. Und diese Erinnerung entlockte ihm ein Lächeln.
Stepan Arkadjewitsch liebte einen guten Witz. ›Vielleicht renkt es sich wieder ein! Ein hübscher Ausdruck das: Es renkt sich wieder ein‹, dachte er. ›Den muß ich weitererzählen.‹
»Matwei!« rief er und trug ihm auf, als er erschien: »Richte also mit Marja alles im Fremdenzimmer für Anna Arkadjewna her!«
»Zu Befehl.«
Stepan Arkadjewitsch zog seinen Pelz an und trat vor den Hauseingang hinaus.
»Werden Sie zu Hause speisen?« fragte Matwei, der ihn hinausbegleitete.
»Ich weiß noch nicht. Wie es sich gerade machen wird. Aber hier nimm das für Auslagen«, sagte er und händigte ihm aus seiner Brieftasche zehn Rubel ein. »Wird es reichen?«
»Es läßt sich vorher nicht sagen; jedenfalls werde ich es einzurichten suchen«, erwiderte Matwei, schlug den Kutschenschlag zu und trat auf die Stufen vorm Haustor zurück.
Darja Alexandrowna hatte unterdessen das Kind beruhigt, und als sie an dem Geräusche des Wagens merkte, daß ihr Mann weggefahren sei, kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Dies war immer ihre Zuflucht vor den häuslichen Sorgen; sobald sie diese Zuflucht verließ, stürmten die Sorgen stets wieder von allen Seiten auf sie ein. Auch jetzt, während sie die paar Minuten im Kinderzimmer gewesen war, hatten die Engländerin und Matrona Filimonowna die Gelegenheit benutzt, um ihr verschiedene Fragen vorzulegen, die keinen Aufschub duldeten und die sie allein entscheiden konnte: Was die Kinder zum Spaziergang anziehen sollten. Ob sie Milch bekommen sollten. Ob ein anderer Koch zur Aushilfe angenommen werden solle.
»Ach, laßt mich, laßt mich!« antwortete sie, kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf denselben Platz, auf dem sie mit ihrem Manne gesprochen hatte; sie preßte die abgemagerten Hände zusammen, an denen ihr die Ringe von den knochigen Fingern zu gleiten drohten, und ging in der Erinnerung das ganze vorhergehende Gespräch noch einmal durch. ›Er ist weggefahren! Aber wie mag er sich mit dieser Person auseinandergesetzt haben?‹ dachte sie. ›Ob er sie wohl noch besucht? Warum habe ich ihn nicht danach gefragt? Nein, nein, eine Aussöhnung ist unmöglich. Und selbst wenn wir in demselben Hause bleiben, so werden wir doch einander fremd sein. Fremd für immer!‹ Auf dieses ihr so furchtbare Wort kam sie immer wieder mit besonderem Nachdruck zurück. ›Und wie habe ich ihn geliebt, o mein Gott, wie habe ich ihn geliebt, wie habe ich ihn geliebt! – Und liebe ich ihn denn nicht auch jetzt noch? Liebe ich ihn nicht noch mehr als früher? Das Schrecklichste ist ...‹ Aber sie beendete diesen angefangenen Gedanken nicht, da Matrona Filimonowna durch die Tür hereinblickte.
»Gestatten Sie doch, daß ich meinen Bruder holen lasse«, sagte sie. »Der kann das Mittagessen herrichten; sonst bekommen die Kinder wieder wie gestern bis sechs Uhr nichts zu essen.«
»Nun gut, ich komme gleich und werde alles, was nötig ist, anordnen. Ist nach frischer Milch ge schickt?«
Und Darja Alexandrowna versenkte sich in die Sorgen des Tages und betäubte dadurch für einige Zeit ihren Gram.
Stepan Arkadjewitsch hatte in der Schule dank seinen trefflichen Fähigkeiten gut gelernt, war aber träge und ausgelassen gewesen und infolgedessen bei der Entlassung in der Rangordnung einer der letzten geworden; aber trotz seinem allzeit lockeren Lebenswandel, trotz der Kürze seiner Dienstzeit und trotz seinem verhältnismäßig jugendlichen Lebensalter bekleidete er die angesehene, gut besoldete Stellung des Direktors einer Moskauer Verwaltungsbehörde. Diesen Posten hatte er durch Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten seiner Schwester Anna, erhalten, der eine der höchsten Stellen in dem Ministerium einnahm, dem jene Behörde unterstellt war. Aber auch wenn Karenin seinen Schwager nicht in diese Stelle gebracht hätte, so würde Stiwa Oblonski doch durch hundert andere Personen, durch Brüder, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten, diese oder eine andere, ähnliche Stelle mit etwa sechstausend Rubeln Gehalt bekommen haben; und eine solche Einnahme brauchte er recht nötig, da seine Geldverhältnisse trotz dem bedeutenden Vermögen seiner Frau sich in arger Zerrüttung befanden.
Halb Moskau und Petersburg war mit Stepan Arkadjewitsch verwandt oder befreundet. Er war mitten unter den Leuten geboren, die die Mächtigen dieser Welt waren oder wurden. Ein Drittel der hohen Regierungsbeamten, die älteren Männer, waren Freunde seines Vaters gewesen und hatten ihn noch im Kinderkleidchen gekannt; das zweite Drittel stand mit ihm auf du und du; und das dritte waren gute Bekannte. Somit waren die Verteiler irdischer Güter, als da sind Ämter, Pachtungen, Konzessionen und dergleichen, sämtlich mit ihm befreundet und konnten ihn als einen der Ihrigen nicht übergehen; und Oblonski brauchte sich nicht sonderlich zu bemühen, um eine einträgliche Stelle zu erhalten; er brauchte eine solche nur nicht auszuschlagen, sich nicht mißgünstig zu zeigen, sich mit niemandem zu überwerfen, sich nicht gekränkt zu fühlen, was er auch sowieso zufolge der ihm eigenen Gutmütigkeit niemals tat. Es wäre ihm lächerlich erschienen, wenn man ihm gesagt hätte, er würde keine Stelle mit einem Gehalte, wie er es brauchte, erlangen, um so mehr, da er nichts Außerordentliches beanspruchte; er wollte nur das, was seine Standesgenossen meist erlangten, und einen derartigen Posten konnte er ebensogut ausfüllen wie jeder andere.
Stepan Arkadjewitsch war nicht nur bei allen, die ihn kannten, wegen seines gutmütigen, heiteren Charakters und seiner unzweifelhaften Ehrenhaftigkeit beliebt, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner schönen, glänzenden Erscheinung, den blitzenden Augen, den schwarzen Brauen und Haaren, dem frischen, gesunden Gesicht lag etwas, was schon durch die rein physische Wirkung alle, die mit ihm in Berührung kamen, für ihn einnahm und in eine fröhliche Stimmung versetzte. »Ah! Stiwa! Oblonski! Da ist er ja auch!« riefen fast immer die, die mit ihm zusammentrafen, mit vergnügtem Lächeln. Und wenn sie nach einem Gespräche mit ihm sich bewußt wurden, daß eigentlich nichts besonders Vergnügliches vorgekommen sei, so freuten sie sich doch am anderen und am dritten Tage alle wieder ganz ebenso bei einer Begegnung mit ihm.
Schon mehr als zwei Jahre bekleidete Stepan Arkadjewitsch den Direktorposten bei der Moskauer Verwaltungsbehörde und hatte sich während dieser Zeit wie die Zuneigung so auch die Achtung seiner Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten und aller, die mit ihm zu tun hatten, erworben. Die Eigenschaften, die hauptsächlich dazu beitrugen, ihm diese allgemeine Achtung in dienstlicher Hinsicht zu verschaffen, waren erstens seine außerordentliche Leutseligkeit, die bei ihm auf dem Bewußtsein seiner eigenen Mängel beruhte; zweitens seine durchaus liberale, fortschrittliche Gesinnung, nicht die, die er sich aus den Zeitungen zu eigen machte, sondern die, die ihm im Blute steckte und infolge deren er alle Menschen, ohne jede Rücksicht auf ihren Stand und Beruf, völlig gleich und unparteiisch behandelte; drittens (und das war wohl die Hauptsache) seine vollständige Gemütsruhe gegenüber den Angelegenheiten, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, so daß er sich niemals von Erregungen hinreißen ließ und keine Übereilungsfehler machte.
Als Stepan Arkadjewitsch heute in seinem Wagen zu der Stätte seiner dienstlichen Tätigkeit gelangt war, begab er sich, begleitet von dem ehrerbietigen Pförtner, der ihm die Aktenmappe trug, in sein kleines Arbeitszimmer, zog die Uniform an und trat in den Sitzungssaal. Die Schreiber und Beamten erhoben sich sämtlich und verbeugten sich mit freundlicher, achtungsvoller Miene. Stepan Arkadjewitsch ging wie immer schnellen Schrittes zu seinem Platze, drückte den Räten die Hand und setzte sich. Er scherzte und plauderte ein wenig mit ihnen, gerade so viel, wie schicklich war, und nahm dann die Arbeit in Angriff. Niemand verstand es besser als Stepan Arkadjewitsch, jene Grenzlinie zwischen harmlosem, schlichtem Benehmen und dienstlicher Haltung zu finden, deren Innehaltung für eine angenehme Amtstätigkeit erforderlich ist. Freundlich und achtungsvoll, wie sich eben alle in Stepan Arkadjewitschs Amtsbereich benahmen, trat der Sekretär mit einigen Schriftstücken zu ihm heran und sagte in dem freien, ungezwungenen Tone, den Stepan Arkadjewitsch eingeführt hatte:
»Wir haben doch noch von dem Gouvernement Pensa die Nachrichten erhalten. Hier, ist es Ihnen vielleicht gefällig ...«
»Haben wir sie endlich bekommen?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und schob einen Finger in das Aktenstück vor ihm an der Stelle, wo er es nachher aufschlagen wollte. »Nun, meine Herren ...« Und die Sitzung begann.
›Wenn die wüßten‹, dachte er, während er mit bedeutsamer Miene beim Anhören eines Berichtes den Kopf zur Seite neigte, ›welch ein zerknirschter Sünder noch vor einer halben Stunde ihr Vorsitzender gewesen ist!‹ Seine Augen lachten während der Verlesung des Berichtes. Bis zwei Uhr mußte nach der bestehenden Ordnung die Arbeit ohne Unterbrechung fortgeführt werden; um zwei Uhr kam dann eine Frühstückspause.
Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glastür des Sitzungssaales plötzlich geöffnet wurde und jemand hereinkam. Alle Beamten blickten, erfreut über eine kleine Ablenkung, zur Tür hin; aber der Türhüter, der dort seinen Posten hatte, wies den Eindringling sofort wieder hinaus und machte die Glastür hinter ihm wieder zu.
Als die Verlesung des gerade vorliegenden Schriftstückes beendet war, erhob sich Stepan Arkadjewitsch, reckte sich ein wenig, holte noch im Sitzungssaale, den fortschrittlichen Anschauungen der modernen Zeit Rechnung tragend, eine Zigarette hervor und machte sich auf nach seinem Arbeitszimmer. Zwei seiner Kollegen, der bejahrte, bereits in hohem Dienstalter stehende Nikitin und der Kammerjunker Grinjewitsch, gingen mit ihm zusammen hinaus.
»Nach dem Frühstück werden wir schon mit der Sache zu Ende kommen«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch.
»Mit Leichtigkeit!« versetzte Nikitin.
»Aber ein gehöriger Gauner muß doch dieser Fomin sein«, meinte Grinjewitsch mit Bezug auf eine der Personen, die an der zur Untersuchung stehenden Sache beteiligt waren.
Stepan Arkadjewitsch runzelte bei Grinjewitschs Worten die Stirn, womit er zu verstehen gab, daß es unpassend sei, vorzeitig ein Urteil auszusprechen, und gab ihm keine Antwort.
»Wer kam denn da vorhin herein?« fragte er den Türhüter.
»Ich kenne ihn nicht, Euer Exzellenz. Er drang, ohne zu fragen, ein, als ich gerade einmal einen Augenblick den Rücken kehrte. Er fragte dann nach Ihnen. Ich habe ihm gesagt: wenn die Herren herauskommen, dann ...«
»Wo ist er denn?«
»Er muß wohl eben auf den Flur hinuntergegangen sein; bis vor kurzem ist er immer hier auf und ab gewandert. Da ist er«, sagte der Türhüter und wies auf einen kräftig gebauten, breitschulterigen, krausbärtigen Mann, der, ohne seine Schaffellmütze abzunehmen, schnell und behend die abgetretenen Stufen der Steintreppe heraufgelaufen kam. Ein hagerer Beamter, der mit den übrigen, seine Aktenmappe unter dem Arm, die Treppe hinunterstieg, blieb stehen, warf einen mißbilligenden Blick auf die Beine des Laufenden und blickte dann fragend Oblonski an.
Stepan Arkadjewitsch stand oben an der Treppe. Sein gutmütig glänzendes Gesicht über dem gestickten Uniformkragen strahlte plötzlich noch heller auf, als er den Heraufkommenden erkannte.
»Wahrhaftig! Ljewin! Endlich einmal!« rief er mit einem freundschaftlichen, ein wenig spöttischen Lächeln, während er den zu ihm tretenden Ljewin musterte. »Wie hast du es nur über dich gewinnen können, mich in dieser Räuberhöhle aufzusuchen?« fuhr Stepan Arkadjewitsch fort und begnügte sich nicht mit einem Händedruck, sondern küßte seinen Freund herzlich. »Bist du schon lange in Moskau?«
»Ich bin eben erst angekommen und wollte dich gern sprechen«, antwortete Ljewin und blickte dabei schüchtern und zugleich ärgerlich und unruhig um sich.
»Na, komm mit in mein Arbeitszimmer!« sagte Stepan Arkadjewitsch, der die empfindliche, leicht reizbare Schüchternheit seines Freundes kannte; er faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch drohende Gefahren hindurchgeleiten wollte.
Stepan Arkadjewitsch stand mit fast allen seinen Bekannten auf du und du: mit alten Männern von sechzig Jahren und mit jungen von zwanzig Jahren, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten und Generaladjutanten, so daß sehr viele seiner Duzfreunde sich an den beiden entgegengesetzten Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter befanden und sehr verwundert gewesen wären, zu erfahren, daß sie in Oblonski einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten. Er duzte sich mit allen, mit denen er Champagner getrunken hatte, und Champagner trank er mit all und jedem. Traf er nun in Anwesenheit von Beamten, die ihm unterstellt waren, mit seinen ›kompromittierenden Duzfreunden‹, wie er im Scherze viele seiner Freunde nannte, zusammen, so verstand er es mit dem ihm eigenen Takte, den unangenehmen Eindruck abzuschwächen, den dies auf seine Untergebenen machen konnte. Ljewin gehörte nicht zu diesen kompromittierenden Duzfreunden; aber Oblonski merkte mit dem feinen Gefühl, das er für solche Dinge besaß, daß Ljewin glaubte, er, Oblonski, möge vor seinen Untergebenen nicht gern sein engeres Verhältnis zu ihm, Ljewin, bekunden; darum beeilte sich Oblonski, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen.
Ljewin war beinah gleichen Alters mit Oblonski, und seine Duzfreundschaft mit ihm stammte nicht etwa nur vom Champagner her. Ljewin war schon in früher Jugend sein Kamerad und Freund gewesen. Sie mochten einander gern trotz der Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen, wie eben Freunde einander gern haben, die sich in früher Jugend zusammengefunden haben. Aber trotzdem ging es auch bei ihnen, wie so oft bei Leuten, die sich für stark verschiedene Arten von Tätigkeit entschieden haben: obgleich ein jeder von ihnen der Tätigkeit des anderen bei genauerer Überlegung Gerechtigkeit widerfahren ließ, schätzte er sie doch im Grunde seiner Seele gering. Jedem schien das Leben, das er selbst führte, das einzig wahre Leben zu sein und das des Freundes nur eine Karikatur des Daseins. Oblonski konnte, sobald er Ljewin zu sehen bekam, ein leises, spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Wer weiß wie oft hatte er ihn nun schon von seinem Gute, wo er sich irgendwelcher Tätigkeit hingab, nach Moskau kommen sehen; aber was er dort eigentlich tat, das hatte Stepan Arkadjewitsch nie so recht begreifen können, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Wenn Ljewin nach Moskau kam, so war er immer stark aufgeregt, in großer Hast, ein wenig befangen und eben infolge dieser Befangenheit sehr reizbar, und meistens hatte er sich inzwischen irgendeine völlig neue, überraschende Anschauung über diesen oder jenen Gegenstand zu eigen gemacht. Stepan Arkadjewitsch lachte über das Wesen seines Freundes, hatte es aber doch gern. Ganz ebenso verachtete auch Ljewin im Grunde seiner Seele die städtische Lebensweise des anderen und seine dienstliche Tätigkeit, der er jeden Wert absprach, und machte sich darüber lustig. Aber ein Unterschied bestand darin, daß Oblonski, der so lebte wie alle anderen Menschen auch, wenn er über seinen Freund spottete, dies voll Selbstvertrauen und in gutmütiger Weise tat, Ljewin dagegen ohne rechtes Selbstvertrauen und mitunter in aufgebrachtem Tone.
»Wir haben dich schon lange erwartet«, sagte Stepan Arkadjewitsch beim Eintritt in sein Zimmer und ließ nun Ljewins Hand los, wie wenn er dadurch ausdrücken wollte, daß hier keine Gefahr mehr sei. »Ich bin sehr, sehr erfreut, dich wiederzusehen«, fuhr er fort. »Nun, was machst du? Wie geht es dir? Wann bist du angekommen?«
Ljewin schwieg und richtete seine Blicke auf die ihm unbekannten Gesichter der beiden Kollegen Oblonskis und namentlich auf die Hände des eleganten Grinjewitsch mit den langen, weißen Fingern, mit den langen, gelben, an den Spitzen gekrümmten Nägeln und den riesigen, blitzenden Manschettenknöpfen. Diese Hände nahmen augenscheinlich Ljewins ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und ließen ihn an nichts anderes mehr denken. Oblonski bemerkte das sofort und lächelte.
»Ach ja, gestatten Sie, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte er. »Meine Kollegen: Filipp Iwanowitsch Nikitin, Michail Stanislawitsch Grinjewitsch«, und auf Ljewin deutend: »Ein Koryphäe der ländlichen Selbstverwaltung, ein moderner Landwirt, ein Athlet, der mit einer Hand anderthalb Zentner hebt, Viehzüchter, Jäger und mein Freund, Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, ein Bruder von Sergei Iwanowitsch Kosnüschew.«
»Sehr angenehm«, sagte der alte Beamte.
»Ich habe die Ehre, Ihren Bruder Sergei Iwanowitsch zu kennen«, bemerkte Grinjewitsch und streckte ihm seine schmale Hand mit den langen Nägeln hin.
Ljewin zog ein finsteres Gesicht, reichte ihm kühl die Hand und wandte sich sofort Oblonski zu. Obgleich er seinen mit ihm von derselben Mutter stammenden Stiefbruder, einen in ganz Rußland bekannten Schriftsteller, sehr hoch schätzte, konnte er es doch nicht leiden, wenn man ihn im Verkehr nicht als Konstantin Ljewin, sondern als den Bruder des berühmten Kosnüschew behandelte.
»Nein, ich beteilige mich nicht mehr an der ländlichen Selbstverwaltung. Ich habe mich mit allen überworfen und fahre nicht mehr zu den Versammlungen«, sagte er, zu Oblonski gewendet.
»Das ist einmal flink gegangen!« erwiderte Oblonski lächelnd. »Aber warum? Wie ist das gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich will sie dir ein ander Mal erzählen«, antwortete Ljewin, begann aber mit der Erzählung doch sofort. »Nun, um es kurz zu machen, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es eine ersprießliche ländliche Selbstverwaltung nicht gibt und nicht geben kann«, fing er an, und zwar mit einer Heftigkeit, als hätte ihn soeben jemand beleidigt. »Erstens ist es eine Spielerei, man spielt Parlament; ich bin aber weder jung genug noch alt genug, um an Spielereien Vergnügen zu finden. Und zweitens« (er begann zu stottern) »ist das für die feinen Leute im Kreise ein Mittel, um Geld herauszuschlagen. Früher dienten dazu die Vormundschaftsämter und Landschaftsgerichte, jetzt jedoch die Kreisverwaltung. Sie bereichern sich zwar nicht durch Annahme von Bestechungsgeldern, wohl aber durch Bezug von Gehältern, für die sie nichts leisten.« Er brachte das alles so hitzig vor, wie wenn einer der Anwesenden seine Ansicht bestritte.
»Ei sieh einmal! Du befindest dich ja, merke ich, wieder auf einer neuen Entwicklungsstufe; du bist jetzt konservativ«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Je doch, darüber sprechen wir später einmal.«
»Ja, ja, später. Aber ich habe notwendig mit dir zu reden«, versetzte Ljewin mit einem haßerfüllten Blick auf Grinjewitschs Hände.
Stepan Arkadjewitsch lächelte kaum merklich.
»Hast du nicht vor kurzem gesagt, du wolltest nie mehr europäische Kleidung tragen?« fragte er, während er Ljewins neuen Anzug, offenbar das Werk eines französischen Schneiders, musterte. »Ja, ja, ich sehe schon, eine neue Entwicklungsstufe!«
Ljewin errötete plötzlich, aber nicht so, wie erwachsene Leute erröten, nur so ein wenig und ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, sondern so, wie Knaben erröten, die fühlen, daß sie durch ihre Befangenheit lächerlich erscheinen und die nun infolgedessen sich noch mehr schämen und noch mehr erröten, beinah bis zum Weinen. Der Anblick dieses klugen, männlichen Gesichtes in einem so kindlichen Zustande wirkte so befremdend, daß Oblonski die Augen davon wegwandte.
»Also, wo wollen wir denn zusammenkommen? Ich muß nämlich notwendig, ganz notwendig mit dir reden«, sagte Ljewin.
Oblonski überlegte einen Augenblick.
»Wir könnten es so machen: wir fahren jetzt gleich zu Gurin, frühstücken da und reden dabei miteinander. Bis drei Uhr bin ich frei.«
»Das geht nicht«, antwortete Ljewin nach kurzem Nachdenken. »Ich habe jetzt noch eine notwendige Besorgung.«
»Nun gut, dann wollen wir zusammen Mittag essen.«
»Mittag essen? Etwas Besonderes habe ich dir eigentlich nicht zu sagen; es sind nur ein paar Worte; ich wollte dich etwas fragen. Nachher können wir ja miteinander plaudern.«
»So sage doch die paar Worte jetzt gleich; dann können wir uns bei Tische vollständig einer gemütlichen Unterhaltung widmen.«
»Die paar Worte sind nämlich die«, sagte Ljewin. »Übrigens ist es weiter nichts Besonderes.«
Sein Gesicht nahm plötzlich einen ärgerlichen Ausdruck an, der durch die Anstrengung hervorgerufen wurde, mit der er seiner Verlegenheit Herr zu werden suchte.
»Was machen denn Schtscherbazkis? Alles beim alten?« fragte er.
Stepan Arkadjewitsch, der schon lange wußte, daß Ljewin in seine, Stepans, Schwägerin Kitty verliebt war, lächelte leise, und seine Augen blitzten lustig.
»Da hast du nun also deine paar Worte gesagt; ich kann dir aber nicht mit ein paar Worten antworten, weil ... Entschuldige einen Augenblick!«
Ein Sekretär kam herein. Mit einer Art von achtungsvoller Vertraulichkeit und einem gewissen, bei allen Sekretären zu findenden bescheidenen Bewußtsein der eigenen Überlegenheit über den Dienstherrn, was Geschäftskenntnis anlangt, trat er mit einigen Aktenstücken in der Hand an Oblonski heran und begann, unter der Form einer Frage, irgendeine Schwierigkeit auseinanderzusetzen. Stepan Arkadjewitsch hörte ihn nicht bis zu Ende an, sondern unterbrach ihn, indem er ihm freundlich die Hand auf den Rockärmel legte.
»Nein, machen Sie das doch nur so, wie ich gesagt habe«, versetzte er, wobei er den Tadel, der in dieser Bemerkung lag, durch ein Lächeln milderte. Dann erklärte er ihm kurz, wie er die Sache auffasse, und schob die Papiere mit den Worten zurück: »So also machen Sie es, bitte, so, Sachar Nikitisch.«
Verlegen entfernte sich der Sekretär. Ljewin, der während der Erörterung mit dem Sekretär seine Befangenheit vollständig überwunden hatte, stand mit beiden Händen auf eine Stuhllehne gestützt da, und auf seinem lächelnden Gesichte malte sich ein spöttisches Interesse.
»Mir unbegreiflich, mir unbegreiflich«, sagte er.
»Was ist dir denn unbegreiflich?« fragte Oblonski, gleichfalls heiter lächelnd, und holte eine Zigarette hervor. Er erwartete, daß Ljewin wieder einmal in besonderer Weise losbrechen werde.
»Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Dingen ihr euch da abgebt«, erwiderte Ljewin achselzuckend. »Wie kannst du dergleichen nur ernsthaft betreiben!«
»Wieso?«
»Nun, weil es eigentlich doch eine Art Müßiggang ist.«
»Das denkst du so; aber wir sind mit Arbeit überhäuft.«
»Mit papierener Arbeit. Na ja, dafür hast du ja eine Begabung«, fügte Ljewin hinzu.
»Das heißt, du meinst, daß es mir anderweitig mangelt?«
»Kann schon sein«, versetzte Ljewin. »Aber trotzdem bewundere ich deine hervorragenden Eigenschaften und bin stolz darauf, einen so großen Mann zum Freunde zu haben. – Aber du hast mir auf meine Frage noch nicht geantwortet«, fügte er hinzu und blickte mit verzweifelter Anstrengung dem anderen gerade in die Augen.
»Na schön, schön! Warte nur, du kommst auch noch einmal auf unseren Standpunkt. Du bist ja gut dran mit deinen dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk und mit solchen Muskeln und mit solcher Lebensfrische wie ein zwölfjähriges Mädchen, – aber auch du wirst noch auf unsere Seite kommen. Ja, also was deine Frage betrifft: es hat sich da nichts geändert; aber schade, daß du so lange nicht hier gewesen bist.«
»Wieso?« fragte Ljewin erschrocken.
»Nun, es ist nichts Besonderes«, antwortete Oblonski. »Wir sprechen schon noch darüber. Aber zu welchem Zwecke bist du denn eigentlich hergekommen?«
»Ach, darüber können wir ja auch später noch sprechen«, erwiderte Ljewin und wurde wieder rot bis über die Ohren.
»Na schön, gewiß«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Siehst du, ich würde dich gern zu mir einladen; aber meine Frau ist nicht recht wohl. Aber weißt du was? Wenn du die Schtscherbazkischen Damen sehen willst, die sind heute höchstwahrscheinlich von vier bis fünf im Zoologischen Garten. Kitty läuft da Schlittschuh. Fahre da hin; ich hole dich nachher ab, und wir essen dann zusammen irgendwo zu Mittag.«
»Ausgezeichnet! Also auf Wiedersehen!«
»Aber denk auch daran! Daß du es ja nicht etwa vergißt oder wohl gar plötzlich aufs Land zurückfährst! Ich kenne dich!« rief Stepan Arkadjewitsch lachend.
»Nein, nein, du kannst dich auf mich verlassen.«
Erst als er an der Tür war, fiel es Ljewin ein, daß er ja vergessen hatte, sich von Oblonskis Kollegen zu verabschieden; hastig holte er das Versäumte nach und verließ das Zimmer.
»Wohl ein sehr energischer Herr?« bemerkte Grinjewitsch, als Ljewin hinausgegangen war.
»Ja, liebster Freund«, antwortete Stepan Arkadjewitsch, den Kopf hin und her wiegend, »das ist ein Glückskind! Dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk, das ganze Leben noch vor sich, und was für eine Frische! Nicht so wie unsereiner!«
»Sie wollen sich beklagen, Stepan Arkadjewitsch, Sie?«
»Ja, scheußlich geht es einem, gar zu schlimm!« antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.
Als Oblonski an Ljewin die Frage gerichtet hatte, zu welchem Zwecke er denn eigentlich nach Moskau gekommen sei, war Ljewin rot geworden und ärgerte sich nun nachher eben darüber, daß er rot geworden war und es nicht fertiggebracht hatte, ihm zu antworten: ›Ich bin hergekommen, um deiner Schwägerin einen Heiratsantrag zu machen‹, wiewohl dies der einzige Zweck seiner Reise war.
Die Ljewins und die Schtscherbazkis waren alte Moskauer Adelsfamilien und hatten immer in nahen, freundschaftlichen Beziehungen zueinander gestanden. Diese Verbindung hatte sich während Ljewins Studienzeit noch mehr befestigt. Er hatte sich mit dem jungen Fürsten Schtscherbazki, dem Bruder von Dolly und Kitty, zusammen auf den Besuch der Universität vorbereitet und sie mit ihm zugleich bezogen. Zu jener Zeit verkehrte Ljewin viel im Schtscherbazkischen Hause und war in dieses Haus verliebt. So seltsam es auch scheinen mag, Konstantin Ljewin war geradezu in das Haus verliebt, in die Familie, besonders in die weibliche Hälfte der Familie Schtscherbazki. Ljewin selbst konnte sich seiner Mutter nicht entsinnen, und seine einzige Schwester war älter als er, so daß er im Schtscherbazkischen Hause zum ersten Male der Welt einer alten, gebildeten, ehrenhaften Adelsfamilie begegnete, die er im eigenen Hause infolge des Todes seines Vaters und seiner Mutter nicht hatte kennenlernen können. Alle Mitglieder dieser Familie, und besonders der weibliche Teil, erschienen ihm wie von einem geheimnisvollen poetischen Schleier verhüllt, und er nahm an ihnen nicht nur keine Mängel wahr, sondern vermutete auch hinter diesem poetischen verhüllenden Schleier die edelsten Gesinnungen und alle nur denkbaren Vollkommenheiten. Weshalb diese drei jungen Damen tagelang Französich und Englisch sprechen mußten; weshalb sie zu bestimmten Stunden abwechselnd Klavier spielten (die Klänge des Instruments waren oben im Zimmer des Bruders zu hören, wo die beiden Studenten arbeiteten); weshalb alle diese Lehrer, für französische Literatur, für Musik, für Zeichnen, für Tanzen, ins Haus kamen; weshalb zu bestimmten Stunden die drei jungen Damen mit Mademoiselle Linon in der Kutsche nach dem Twerskoi-Boulevard fuhren, alle in ihren Atlaspelzen, und zwar Dolly in einem langen, Natalja in einem halblangen und Kitty in einem ganz kurzen, so daß ihre wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden roten Strümpfen ganz zu sehen waren; warum sie in Begleitung eines Dieners mit einer goldenen Kokarde am Hute auf dem Twerskoi-Boulevard spazierengehen mußten: alles dies und vieles andere, was in ihrer geheimnisvollen Welt geschah, verstand Ljewin nicht; aber er wußte, daß alles, was dort geschah, vortrefflich war, und gerade das Geheimnisvolle all dieser Vorgänge lockte und reizte ihn.
Als Student hätte er sich beinah in Dolly, die Älteste, verliebt; jedoch verheiratete sich diese sehr bald mit Oblonski. Darauf wandte er der zweiten seine Neigung zu; er hatte gleichsam die Empfindung, daß er sich in eine der drei Schwestern verlieben müsse, und konnte sich nur nicht klarwerden, in welche nun eigentlich. Aber auch Natalja fand, gleich nachdem sie in die Gesellschaft eingeführt war, einen Gatten: den Diplomaten Lwow. Kitty war, als Ljewin die Universität verließ, noch ein Kind. Der junge Schtscherbazki, der zur Marine gegangen war, ertrank in der Ostsee, und Ljewins Verkehr mit der Familie Schtscherbazki wurde, trotz seiner Freundschaft mit Oblonski, seltener. Aber als Ljewin, nach einem einjährigen Aufenthalte auf seinem Gute, zu Anfang dieses Winters nach Moskau gekommen war und bei Schtscherbazkis einen Besuch machte, da ging ihm die Erkenntnis auf, in welche von den drei Schwestern sich zu verlieben ihm vom Schicksal bestimmt war.
Man hätte nun meinen sollen, es wäre nichts einfacher gewesen, als daß er, ein Mann von guter Herkunft, zweiunddreißig Jahre alt und eher reich als arm zu nennen, um die Hand der Prinzessin Schtscherbazkaja angehalten hätte; aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er sofort als eine gute Partie erachtet und angenommen worden. Aber Ljewin war verliebt, und daher hatte er die Vorstellung, Kitty sei in jeder Beziehung ein solcher Inbegriff von Vollkommenheit, ein so hoch über allem Irdischen stehendes Wesen, er selbst dagegen ein so irdisches, niedriges Geschöpf, daß gar nicht daran zu denken sei, daß andere und sie selbst ihn ihrer für würdig halten könnten.
Zwei Monate lebte er so in Moskau in einer Art von Benommenheit und traf während dieser Zeit fast täglich mit Kitty in Gesellschaften zusammen, die er zu besuchen begonnen hatte, um sie zu sehen; dann aber glaubte er auf einmal zu erkennen, daß die Sache ganz aussichtslos sei, und fuhr wieder aufs Land.
Ljewins Überzeugung von der Aussichtslosigkeit der Sache beruhte auf seiner Annahme, daß er in den Augen der Eltern als eine unvorteilhafte, der herrlichen Kitty unwürdige Partie erscheine und daß Kitty selbst ihn nicht lieben könne. Die Eltern mußten seiner Meinung nach daran Anstoß nehmen, daß er keine bestimmte Tätigkeit von einer der herkömmlichen Arten hatte und keine Stellung in der Welt einnahm, während seine früheren Kameraden jetzt, da er im Alter von zweiunddreißig Jahren stand, alle schon etwas waren: der eine Oberst und Flügeladjutant, ein anderer Professor, ein anderer Bank- oder Eisenbahndirektor oder Chef einer Regierungsbehörde wie Oblonski; er dagegen (er wußte sehr genau, wie andere mit Notwendigkeit über ihn urteilten), er war eben nur ein Gutsbesitzer, der sich mit Rinderzucht, Schnepfenjagd und Bauten beschäftigte, das heißt ein talentloser Mensch, aus dem nichts geworden war und der, nach den Begriffen der besseren Gesellschaft, eben das tat, was Leute tun, die zu nichts nütze sind.
Die geheimnisvolle, herrliche Kitty selbst aber konnte einen so unschönen Menschen, für den er sich selbst hielt, und ganz besonders einen so gewöhnlichen, in keiner Weise hervorragenden Menschen nicht lieben. Auch sein früheres Verhältnis zu Kitty, das Verhältnis eines Erwachsenen zu einem Kinde, hervorgerufen durch die Freundschaft mit ihrem Bruder, erschien ihm als ein weiteres Hindernis für seine Liebe. Einen unschönen, gutmütigen Menschen, wie er seiner Ansicht nach einer war, konnte man, meinte er, wohl als Freund lieben; aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, wie er selbst sie für Kitty empfand, mußte man ein schöner und namentlich ein bedeutender Mann sein.
Er hatte allerdings schon sagen hören, daß die Frauen oft auch zu unschönen, gewöhnlichen Männern Liebe empfänden; aber er glaubte das nicht, weil er nach seiner eigenen Person urteilte und selbst nur schöne, geheimnisvolle, ausgezeichnete Frauen lieben konnte.
Nachdem er aber zwei Monate in der Einsamkeit auf dem Lande zugebracht hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß das, was er für Kitty empfand, denn doch von wesentlich anderer Art war als die Liebesregungen, die er in seiner ersten Jugendzeit durchgemacht hatte; daß dieses Gefühl ihm keine Minute Ruhe lasse; daß er nicht leben könne, wenn nicht die Frage entschieden werde, ob sie sein Weib werden wolle oder nicht; daß seine Verzweiflung nur aus allerlei willkürlichen Berechnungen entsprungen sei und daß er keinerlei Beweise dafür habe, daß er werde zurückgewiesen werden. So fuhr er denn diesmal nach Moskau mit dem festen Entschlusse, ihr seine Hand anzubieten und sie zu heiraten, wenn sie ihn möge. Andernfalls, – aber er vermochte sich gar nicht zu denken, was aus ihm werden sollte, wenn er abgewiesen würde.
Er kam mit dem Morgenzuge in Moskau an und stieg bei seinem ältesten Bruder mütterlicherseits, Kosnüschew, ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, ging er zu ihm in sein Arbeitszimmer mit der Absicht, ihm sofort zu erzählen, zu welchem Zwecke er hergereist sei, und ihn um seinen Rat zu bitten; aber er fand seinen Bruder nicht allein. Bei ihm saß ein namhafter Professor der Philosophie, der von Charkow nach Moskau vornehmlich in der Absicht herübergekommen war, einen Zwiespalt der Anschauungen aufzuklären, der zwischen ihnen beiden in einer sehr wichtigen philosophischen Frage entstanden war. Der Professor nämlich hatte einen heftigen Kampf gegen die Materialisten geführt; Sergei Kosnüschew aber hatte diesen Kampf mit Interesse verfolgt und, nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen, ihm brieflich seine Einwendungen mitgeteilt; darin hatte er dem Professor den Vorwurf allzu wichtiger Zugeständnisse an die Materialisten gemacht. Und nun war der Professor sofort zu ihm gekommen, um sich mit ihm auszusprechen. Es handelte sich um die zeitgemäße Frage: Gibt es eine Grenze zwischen den psychischen und physiologischen Erscheinungen in der Lebenstätigkeit des Menschen, und wo liegt diese Grenze?
Sergei Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem freundlich-kühlen Lächeln, das ihm allen Leuten gegenüber zur Gewohnheit geworden war, machte ihn mit dem Professor bekannt und setzte dann das Gespräch mit diesem fort.
Der Professor, ein kleines Männchen mit schmaler Stirn und mit einer Brille, hatte für einen Augenblick den Gegenstand des Gespräches verlassen, um den Ankömmling zu begrüßen, fuhr aber in seiner Darlegung fort, ohne Ljewin weiter zu beachten. Ljewin setzte sich hin und wollte warten, bis der Professor weg ginge; aber bald interessierte er sich für den Inhalt des Gespräches.
Ljewin hatte mitunter in Zeitschriften Aufsätze über das Thema gefunden, das hier augenblicklich erörtert wurde, und hatte sie gelesen, weil sie ihn als ein weiterer Ausbau der ihm von seinen naturwissenschaftlichen Universitätsstudien her bekannten Grundgedanken der Naturwissenschaft interessierten; aber niemals hatte er diese wissenschaftlichen Darlegungen über die Entstehung des Menschen als eines körperlichen Wesens, über Reflexe, über Biologie und Soziologie in Verbindung gebracht mit der Frage nach der Bedeutung des Lebens und Todes für ihn selbst, einer Frage, die ihm in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf gegangen war.
Während er dem Gespräche seines Bruders mit dem Professor zuhörte, machte er die Beobachtung, daß sie Fragen der objektiven Wissenschaft mit Fragen des subjektiven Seelenlebens in Verbindung brachten, mehrere Male an diese Fragen sogar ganz dicht herankamen, aber jedesmal, wenn sie sich dem, was ihm als der Kernpunkt erschien, genähert hatten, sich sofort wieder eilig davon entfernten und sich wieder tief in feine Unterscheidungen, Verklausulierungen, Zitate, Andeutungen und Hinweise auf Autoritäten versenkten; nur mit Mühe begriff er, worum es sich handelte.
»Ich kann nicht zugeben«, sagte Sergei Iwanowitsch mit der ihm eigenen Klarheit, Knappheit und Eleganz des Ausdrucks, »ich kann unter keinen Umständen Keiß darin recht geben, daß meine gesamten Vorstellungen von der Außenwelt in Eindrücken ihren Ursprung haben sollen. Gerade den eigentlichen Grundbegriff des Daseins habe ich nicht durch Empfindung erlangt; denn ich besitze gar keinen besonderen Sinn für die Übermittelung dieses Begriffes.«
»Gewiß, aber die Gegner, Wurst, Knaust und Pripasow, antworten Ihnen darauf, daß Ihr Bewußtsein vom Dasein aus der Vereinigung aller Empfindungen entspringt, daß dieses Bewußtsein vom Dasein ein Erzeugnis der Empfindungen ist. Wurst sagt sogar geradezu, sobald es keine Empfindung gebe, könne es auch keinen Daseinsbegriff geben.«
»Ich sage aber im Gegenteil ...«, begann Sergei Iwanowitsch.
Aber an dieser Stelle des Gespräches hatte Ljewin wieder den Eindruck, daß sie, dem eigentlichen Kernpunkt nahe gekommen, wieder im Begriff seien, sich von ihm zu entfernen, und er entschloß sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.
»Mithin ist, wenn meine Sinnesempfindungen vernichtet sind, wenn mein Körper stirbt, auch keinerlei Dasein mehr möglich?« fragte er.
Ärgerlich und mit einer Art von seelischem Schmerzgefühl über diese Unterbrechung blickte der Professor nach dem sonderbaren Frager hin, der mehr den Eindruck eines gewöhnlichen Arbeitsmannes als eines Philosophen machte, und ließ dann seine Augen zu Sergei Iwanowitsch wandern, als ob er fragen wollte: Was soll man darauf antworten? Aber Sergei Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit solchem Kampfeseifer und solcher Einseitigkeit sprach wie der Professor und dessen Kopf geräumig genug war, um sowohl mit dem Professor wissenschaftliche Erörterungen anzustellen wie auch den einfachen, natürlichen Gesichtspunkt zu verstehen, von dem aus jene Frage gestellt war, erwiderte lächelnd:
»Auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu geben, sind wir noch nicht berechtigt.«
»Wir haben keine Unterlagen dazu«, bemerkte der Professor zustimmend und fuhr dann in seinen Darlegungen fort. »Nein«, sagte er, »ich möchte doch darauf hinweisen, daß, wenn auch, wie Pripasow es geradezu ausspricht, die Empfindung den Eindruck zu ihrer Grundlage hat, wir diese beiden Begriffe doch streng auseinanderhalten müssen.«
Ljewin hörte nicht weiter zu und wartete ab, daß der Professor wegginge.
Sobald der Professor gegangen war, wandte sich Sergei Iwanowitsch seinem Bruder zu.
»Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist. Bleibst du lange in Moskau? Was macht die Wirtschaft?«
Ljewin wußte, daß die Wirtschaft seinen älteren Bruder wenig interessierte und er sich nur aus freundlichem Entgegenkommen danach erkundigte; daher beschränkte er sich auf einige Mitteilungen über den Verkauf des Weizens und über Geldangelegenheiten.
Ljewin hatte dem Bruder von seinen Heiratsabsichten sagen und ihn um seinen Rat bitten wollen; er hatte es sich sogar ganz fest vorgenommen. Aber als er seinen Bruder gesehen und sein Gespräch mit dem Professor mit angehört hatte und als er nun den unwillkürlich gönnerhaften Ton hörte, in dem sich der Bruder nach den Wirtschaftsangelegenheiten erkundigte (das Gut, das ihrer Mutter gehört hatte, war nicht geteilt worden, und Ljewin verwaltete beide Anteile), da fühlte er, daß er es nicht fertigbrächte, mit seinem Bruder über seine Absicht, sich zu verheiraten, zu reden. Er hatte die Empfindung, sein Bruder werde die Sache nicht so anschauen, wie es ihm erwünscht wäre.
»Nun, und was macht euere Kreisverwaltung?« fragte Sergei Iwanowitsch, der sich für diese Einrichtung lebhaft interessierte und ihr große Bedeutung beimaß.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Aber bist du denn nicht Mitglied der Verwaltung?«
»Nein, ich bin nicht mehr Mitglied; ich bin ausgetreten«, erwiderte Ljewin. »Ich besuche auch die Versammlungen nicht mehr.«
»Das ist ja schade!« versetzte Sergei Iwanowitsch, die Stirn runzelnd.
Um sein Verhalten zu rechtfertigen, begann Ljewin zu erzählen, wie es bei diesen Versammlungen in seinem Kreise zugehe.
»Ja, so ist das doch immer!« unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch. »Wir Russen sind immer so! Vielleicht ist das ja auch ein ganz guter Zug in unserem Charakter, daß wir einen Blick für das haben, was bei uns mangelhaft ist. Aber wir fassen diese Mängel zu schlimm auf und finden unser Vergnügen an einer ironischen Kritik, die uns immer auf der Zunge bereit liegt. Ich will dir nur sagen: wenn man die Rechte, mit denen unsere ländliche Selbstverwaltung ausgestattet ist, einem anderen europäischen Volke verliehe, – die Deutschen und die Engländer würden auf dem Grundpfeiler dieser Rechte das Gebäude ihrer Freiheit errichten; aber wir lachen und spotten nur.«
»Aber was ist zu machen?« erwiderte Ljewin etwas schuldbewußt. »Das war mein letzter Versuch. Und ich hatte ihn aus ganzem Herzen unternommen. Ich kann nicht mehr. Ich bin dazu unfähig.«
»Unfähig bist du dazu nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, »du betrachtest die Sache nur von einem falschen Standpunkte aus.«
»Mag sein«, antwortete Ljewin bedrückt.
»Weißt du auch schon: unser Bruder Nikolai ist wieder hier.«
Dieser Nikolai war Konstantin Ljewins älterer rechter Bruder, Sergei Iwanowitschs Stiefbruder, ein verkommener Mensch, der den größten Teil seines Vermögens durchgebracht hatte, in ganz sonderbarer, schlechter Gesellschaft verkehrte und mit seinen Brüdern zerfallen war.
»Was sagst du da?« rief Ljewin erschrocken. »Woher weißt du das?«
»Prokofi hat ihn auf der Straße gesehen.«
»Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?« Ljewin sprang vom Stuhle auf, als ob er sogleich zu Nikolai hineilen wolle.
»Es tut mir schon leid, daß ich dir etwas davon gesagt habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und schüttelte den Kopf über das aufgeregte Benehmen seines jüngeren Bruders. »Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, wo er wohnt, und ihm den Wechsel, den er diesem Menschen, dem Trubin, ausgestellt hatte und den ich eingelöst habe, zugesandt. Hier ist die Antwort, die er mir geschickt hat.«
Sergei Iwanowitsch nahm unter dem Briefbeschwerer einen Zettel hervor und reichte ihn seinem Bruder hin. Dieser las folgendes, was in einer sonderbaren, ihm so wohlvertrauten Handschrift geschrieben war: »Ich bitte ergebenst, mich in Ruhe zu lassen. Das ist das einzige, was ich von meinen lieben Brüdern verlange. Nikolai Ljewin.«
Als Ljewin dies durchgelesen hatte, blieb er, ohne den Kopf aufzurichten, mit dem Zettel in der Hand vor Sergei Iwanowitsch stehen.
In seiner Seele kämpften miteinander der Wunsch, den unglücklichen Bruder jetzt zu vergessen, und das Bewußtsein, daß dies eine Schlechtigkeit wäre.
»Er will mich offenbar beleidigen«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »aber mich zu beleidigen ist er nicht imstande; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm zu helfen; aber ich weiß, daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist.«
»Jawohl, jawohl«, versetzte Ljewin. »Ich verstehe und achte dein Benehmen ihm gegenüber; aber ich meinerseits will doch zu ihm gehen.«
»Wenn du dazu Lust hast, so gehe hin; aber raten kann ich dir nicht dazu«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Das heißt, für mich selbst habe ich dabei keine Besorgnis; er wird dich nicht mit mir entzweien; aber in deinem Interesse möchte ich dir raten, lieber nicht hinzugehen. Zu helfen ist ihm nicht. Handle jedoch, wie du willst.«
»Vielleicht ist ihm wirklich nicht zu helfen; aber ich fühle, und ganz besonders in diesem Augenblicke – aber das ist eine andere Sache –, ich fühle, daß ich sonst nicht ruhig sein kann.«
»Nun, dafür habe ich kein rechtes Verständnis«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Eines aber weiß ich«, fügte er hinzu, »es ist dies für uns eine Lehre in der Demut. Ich habe über das, was man Gemeinheit nennt, anders und nachsichtiger zu urteilen angefangen, seitdem unser Bruder Nikolai das geworden ist, was er jetzt ist. Du weißt, was er getan hat.«
»Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« seufzte Ljewin.
Nachdem Ljewin sich von Sergei Iwanowitschs Diener die Wohnung des Bruders hatte angeben lassen, stand er schon im Begriffe, sofort zu ihm zu fahren; aber nach kurzer Überlegung entschied er sich dafür, diesen Besuch bis zum Abend zu verschieben. Vor allen Dingen mußte er, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, die Angelegenheit zur Entscheidung bringen, um derentwillen er nach Moskau gekommen war. Daher fuhr er von seinem Bruder Sergei zu Oblonski nach dessen Dienstgebäude, und nachdem er von diesem Auskunft über Schtscherbazkis erhalten hatte, fuhr er dorthin, wo er nach Oblonskis Angabe Kitty zu treffen hoffte.
Um vier Uhr stieg Ljewin, der sein Herz heftig klopfen fühlte, am Zoologischen Garten aus der Droschke und ging auf einem Fußweg zur Rodelbahn und zur Eisbahn; er wußte zuverlässig, daß er Kitty dort finden werde, da er den Schtscherbazkischen Wagen beim Eingangstor gesehen hatte.
Es war ein heller Frosttag. Am Eingangstor standen in langen Reihen Wagen, vornehme Schlitten und einfache Schlittendroschken; Polizisten führten die Aufsicht. Von gutgekleideten Menschen, deren Hüte im hellen Sonnenscheine glänzten, wimmelte es am Eingange und auf den gesäuberten Fußwegen zwischen den russischen Häuschen mit den geschnitzten Firstbalken; die alten krausen Birken des Gartens ließen, vom Schnee beschwert, alle Zweige herabhängen und sahen aus, als ob sie in neue Festgewänder gekleidet seien.
Während er auf dem Fußwege zur Eisbahn ging, sagte er zu sich selbst: ›Ich darf mich nicht aufregen; ich muß ruhig sein. Warum klopfst du so?‹ redete er sein Herz an. ›Was hast du? Sei still, du dummes Ding!‹ Aber je mehr er sich bemühte, ruhig zu werden, um so schwerer wurde ihm das Atmen. Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an; aber Ljewin erkannte nicht einmal, wer es war. Er näherte sich der Rodelbahn, wo die Ketten der auf und ab fahrenden Schlitten klirrten, die hinabsausenden Schlitten laut auf dem Eise knirschten und fröhliche Stimmen erklangen. Nun ging er noch einige Schritte weiter, und vor ihm breitete sich die Eisbahn aus, und sofort erkannte er unter all den Schlittschuhläufern Kitty.
Er erkannte, daß sie da war, an dem Gefühle der Freude und zugleich der Angst, von dem sein Herz ergriffen wurde. Sie stand, im Gespräch mit einer Dame begriffen, am entgegengesetzten Ende der Eisbahn. Anscheinend war weder an ihrer Kleidung noch an ihrer Haltung etwas Auffallendes; aber für Ljewin war es ebenso leicht, sie aus diesem Menschenschwarm herauszufinden wie einen Rosenstrauch aus Nesseln. Alles wurde von ihr erleuchtet; sie war das Lächeln, das alles umher in heiterem Glanze erstrahlen ließ. ›Kann ich mich wirklich aufs Eis hinunter begeben und zu ihr hingehen?‹ überlegte er. Die Stelle, wo sie stand, erschien ihm als ein unnahbares Heiligtum, und einen Augenblick war er nahe daran, wieder wegzugehen; so bange war ihm zumute. Er mußte sich erst gewaltsam zusammennehmen und sich sagen, daß sich ja dort in ihrer Nähe allerlei Leute bewegten und auch er selbst ja hergekommen sein konnte, um Schlittschuh zu laufen. So stieg er auf das Eis hinunter, vermied es aber, wie man das bei der Sonne tut, Kitty lange anzusehen; aber er sah sie, wie die Sonne, auch ohne hinzublicken.
Auf dem Eise pflegten an diesem Wochentage und zu dieser Tageszeit Angehörige eines bestimmten Gesellschaftskreises zusammenzukommen, die alle untereinander bekannt waren. Da waren Meister im Schlittschuhlaufen, die mit ihrer Kunst glänzten, Anfänger hinter Stuhlschlitten, mit ängstlichen, ungeschickten Bewegungen, neben ganz jungem Volke auch alte Leute, die ihrer Gesundheit wegen liefen; sie alle betrachtete Ljewin als auserwählte Günstlinge des Glückes, weil ihnen vergönnt war, hier in Kittys Nähe zu sein. Aber alle diese Schlittschuhläufer, schien es, waren dabei von der größten Seelenruhe, holten sie ein, überholten sie, redeten sogar mit ihr und vergnügten sich ganz ohne Rücksicht auf sie, indem sie sich das vorzügliche Eis und das schöne Wetter mit Lust zunutze machten.
Nikolai Schtscherbazki, ein Vetter Kittys, saß in kurzer Jacke und engen Hosen, die Schlittschuhe an den Füßen, auf einer Bank und rief, sobald er Ljewin erblickte, ihm zu:
»Sieh da, der erste Schlittschuhläufer Rußlands! Sind Sie schon lange hier? Prächtiges Eis! Schnallen Sie doch die Schlittschuhe an!«
»Ich habe gar keine mit«, antwortete Ljewin und wunderte sich selbst, daß er sich in ihrer Gegenwart so dreist und ungezwungen zu benehmen vermochte; er verlor sie keine Sekunde aus den Augen, obwohl er nicht zu ihr hinblickte. Er fühlte, daß seine Sonne sich ihm näherte. Kitty hatte in einer Ecke gestanden und kam nun, die schmalen Füßchen in den hohen Stiefelchen in stumpfem Winkel aufsetzend, mit augenscheinlicher Zaghaftigkeit auf ihn zugelaufen. Ein Knabe in russischer Tracht, der wie ein Verzweifelter die Arme umherwarf und sich tief vornüber bückte, überholte sie. Sie lief nicht sehr sicher; daher hatte sie die Hände aus dem kleinen, an einer Schnur hängenden Muff herausgezogen und hielt sie in Bereitschaft; sie blickte Ljewin, den sie erkannt hatte, an und lächelte ihm freundlich zu, wobei sie zugleich ihr eigene Ängstlichkeit belächelte. Als sie die erforderliche Schwenkung glücklich ausgeführt hatte, gab sie sich mit dem federnden Füßchen einen kleinen Stoß und glitt gerade auf Schtscherbazki zu; sie ergriff ihn am Arme und nickte Ljewin lächelnd zu. Sie war noch schöner als das Bild, das ihm vorgeschwebt hatte.
Wenn er an sie gedacht hatte, hatte er sich ihr ganzes Persönchen lebhaft vorstellen können, namentlich den stillen Reiz dieses kleinen, blonden Köpfchens mit dem Ausdruck kindlicher Unschuld und Herzensgüte, das so frei auf den wohlgeformten, jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdruckes im Verein mit der schlanken Schönheit ihrer Gestalt bildete an ihr einen besonderen Reiz, für den Ljewin durchaus Verständnis hatte; aber was ihn an ihr immer wie etwas Unerwartetes überraschte, das war der Ausdruck ihrer Augen, dieser sanften, ruhigen, ehrlichen Augen, und ganz besonders ihr Lächeln, das ihn immer in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich so gerührt und so weich gestimmt fühlte, wie er es nach seiner Erinnerung nur an einigen wenigen Tagen seiner frühesten Kindheit gewesen war.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte sie, ihm die Hand reichend. »Danke schön!« fügte sie hinzu, als er das Taschentuch aufhob, das ihr aus dem Muff gefallen war.
»Ich? Ich bin eben erst ... gestern ... das heißt, heute bin ich angekommen«, antwortete Ljewin, der vor Aufregung ihre Frage nicht sogleich verstanden hatte. »Ich wollte bei Ihnen einen Besuch machen«, fuhr er fort, und da ihm in demselben Augenblick einfiel, welche Absicht ihn zu ihr führte, wurde er verlegen und errötete. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie auch Schlittschuh laufen; und Sie laufen sehr gut.«
Sie blickte ihn aufmerksam an, als wollte sie die Ursache seiner Verlegenheit erforschen.
»Ihr Lob ist mir sehr wertvoll. Es hat sich hier eine Überlieferung erhalten, daß Sie der beste Schlittschuhläufer sind«, antwortete sie und klopfte mit ihrer kleinen, in einem schwarzen Handschuh steckenden Hand die Reifnadeln ab, die auf ihren Muff gefallen waren.
»Ja, ich lief früher mit Leidenschaft; ich wollte es zur Meisterschaft bringen.«
»Es scheint, Sie tun alles mit Leidenschaft«, versetzte sie lächelnd. »Ich würde Sie sehr gern einmal laufen sehen. Schnallen Sie sich doch Schlittschuhe an; dann können wir ja zusammen laufen.«
›Zusammen laufen! Ist das denn wirklich möglich?‹ dachte Ljewin, indem er sie anblickte.
»Ich will mir sofort welche anschnallen«, sagte er.
Und er ging hin, um Schlittschuhe anzuschnallen.
»Sie sind ja lange nicht bei uns gewesen, gnädiger Herr«, sagte der Eisbahnpächter, während er seinen Fuß hielt und den Schlittschuh festschraubte. »Nach Ihnen haben wir keinen so guten Läufer hier gehabt. Wird es so gut sein?« fragte er beim Festziehen des Riemens.
»Ja, es ist ganz gut; nur schnell, nur schnell!« antwortete Ljewin und unterdrückte nur mit Mühe ein glückseliges Lächeln, das unwillkürlich auf sein Gesicht trat. ›Ja‹, dachte er, ›das ist Leben, das ist Glück! »Zusammen« hat sie gesagt; »wir können zusammen laufen.« Ob ich es ihr gleich jetzt sage? Aber ich scheue mich gerade deswegen, es ihr zu sagen, weil ich jetzt so glücklich bin, glücklich wenigstens in der Hoffnung. Und später? Aber ich muß es tun, ich muß, ich muß! Weg mit der Schwäche!‹
Ljewin stellte sich auf die Füße, legte den Überzieher ab, nahm auf dem rauhen Boden beim Häuschen einen Anlauf und lief dann auf das glatte Eis hinaus; dort glitt er ohne Anstrengung dahin, wie wenn er durch den bloßen Willen seinen Lauf beschleunigte, verlangsamte und lenkte. Zaghaft näherte er sich ihr; aber wieder beruhigte ihn ihr Lächeln.
Sie reichte ihm die Hand, und nun liefen sie mit gesteigerter Geschwindigkeit nebeneinander her, und je schneller sie liefen, um so fester drückte sie seine Hand.
»Mit Ihnen würde ich es rasch lernen«, sagte sie zu ihm. »Ich habe ein so großes Vertrauen zu Ihnen.«
»Und ich gewinne gleich an Selbstvertrauen, wenn Sie sich auf mich stützen«, erwiderte er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte, und wurde rot. Und wirklich: kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da verlor auch schon ihr Gesicht, wie wenn die Sonne sich hinter dunklem Gewölk verbirgt, all seine Freundlichkeit, und Ljewin bemerkte an ihr das ihm wohlbekannte Mienenspiel, das stets ein Zeichen ernsten Nachdenkens war: auf ihrer glatten Stirn trat ein kleines Fältchen hervor.
»Ist Ihnen etwas unangenehm?« sagte er schnell. »Ich habe allerdings kein Recht, danach zu fragen ...«
»Wieso! Aber nein, es ist mir nichts unangenehm«, antwortete sie kühl und fügte sogleich hinzu: »Haben Sie Mademoiselle Linon nicht begrüßt?«
»Nein, noch nicht.«
»Laufen Sie doch zu ihr hin; sie hat Sie so sehr gern.«
›Was ist das? Ich habe sie erzürnt. Herrgott, steh mir bei!‹ dachte Ljewin und lief zu der alten Französin mit den grauen Löckchen hin, die auf einer Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn wie einen alten Freund.
»Ja, ja, so wachsen wir und werden älter«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf Kitty deutend. »Tiny bear ist schon hübsch groß geworden«, fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an einen Scherz, den er einstmals über die drei Fräulein gemacht hatte: er hatte sie nach den drei Bären in dem englischen Märchen benannt. »Erinnern Sie sich wohl, daß Sie sie früher einmal so genannt haben?«
Er stellte entschieden in Abrede, sich dessen zu entsinnen; aber die Französin lachte schon zehn Jahre über diesen Scherz und fand ihn hübsch.
»Nun, gehen Sie, und laufen Sie weiter! Aber unsere Kitty hat ganz gut laufen gelernt, nicht wahr?«
Als Ljewin wieder zu Kitty hingelaufen kam, war ihre Miene nicht mehr so streng, und auch die Augen blickten offen und freundlich. Aber es schien ihm, als liege in ihrer Freundlichkeit ein besonderer, geflissentlich ruhiger Ton. Und es wurde ihm schwer ums Herz. Nachdem sie ein Weilchen über ihre alte Erzieherin und deren Absonderlichkeiten gesprochen hatte, fragte sie ihn nach seiner Lebensweise.
»Langweilen Sie sich denn im Winter auf dem Lande gar nicht?« fragte sie.
»Nein, ich langweile mich nicht, ich habe viel zu tun«, erwiderte er und fühlte dabei, daß sie ihn durch ihren ruhigen Ton in Schranken hielt und daß er jetzt ebensowenig imstande sein werde, diese Schranken zu durchbrechen, wie er es zu Anfang des Winters gekonnt hatte.
»Sind Sie zu längerem Aufenthalte nach Moskau gekommen?« fragte ihn Kitty.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne zu überlegen, was er sagte. Es kam ihm der Gedanke, wenn er sich wieder diesem ruhig-freundschaftlichen Tone fügte, so werde er auch diesmal abreisen müssen, ohne eine Entscheidung erreicht zu haben; daher beschloß er, sich dagegen aufzulehnen.
»Aber das müssen Sie doch wissen!«
»Nein, ich weiß es nicht. Das wird von Ihnen abhängen«, versetzte er und erschrak sogleich über diese Antwort.
Ob sie nun seine Worte nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – sie schien zu straucheln, stampfte zweimal mit dem Füßchen auf und lief eilig von ihm fort. Sie lief zu Mademoiselle Linon hin, sagte ihr etwas und schlug dann die Richtung nach dem Häuschen ein, wo die Damen sich die Schlittschuhe an- und abschnallen ließen.
›Mein Gott, was habe ich getan! Herr, mein Gott! Steh mir bei; gib mir ein, was ich tun soll!‹ betete Ljewin im stillen. Und da er gleichzeitig ein Bedürfnis nach starker Bewegung empfand, so nahm er einen Anlauf und beschrieb Spiralen nach außen und nach innen zu.
In diesem Augenblick trat ein junger Mann, der beste der neueren Schlittschuhläufer, mit einer Zigarette im Munde und Schlittschuhen an den Füßen aus dem Kaffeehäuschen heraus, nahm einen Anlauf und sprang auf den Schlittschuhen mit Gepolter die Treppenstufen hinab. Unten angelangt, glitt er, ohne auch nur die ungezwungene Haltung der Arme zu verändern, auf dem Eise dahin.
»Aha, das ist ein neues Kunststück«, sagte Ljewin und lief sofort nach oben, um es gleichfalls auszuführen.
»Brechen Sie sich nicht den Hals! Das muß man geübt haben!« rief ihm Nikolai Schtscherbazki zu.
Ljewin stieg die Stufen hinan, nahm oben einen möglichst großen Anlauf und sprang hinunter, wobei er sich bei der ungewohnten Bewegung mit den Armen im Gleichgewicht hielt. Bei der letzten Stufe strauchelte er; jedoch berührte er das Eis dabei kaum mit der Hand; durch eine kräftige Bewegung brachte er sich wieder in die Höhe und lief lachend auf den Schlittschuhen über die Eisfläche weiter.
›Ein lieber, prächtiger Mensch‹, dachte Kitty, die in diesem Augenblicke mit Mademoiselle Linon aus dem Häuschen heraustrat und mit einem stillen, freundlichen Lächeln nach ihm wie nach einem lieben Bruder hinblickte. ›Bin ich wirklich schuld? Habe ich denn etwas Schlimmes getan? Die Leute reden immer von Gefallsucht. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe; aber doch macht mir das Zusammensein mit ihm soviel Vergnügen, und er ist ein so prächtiger Mensch. Aber warum hat er das nur gesagt?‹ dachte sie.
Als Ljewin sah, daß Kitty und ihre Mutter, die auf den Stufen mit ihr zusammengetroffen war, von der Eisbahn weggingen, blieb er, ganz rot von der schnellen Bewegung, stehen und überlegte. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte die Fürstin. »Unser Empfangstag ist immer noch der Donnerstag.«
»Also heute?«
»Wir werden sehr erfreut sein, Sie bei uns zu sehen«, erwiderte die Fürstin in trockenem Tone.
Diesen trockenen Ton empfand Kitty peinlich, und sie konnte sich des Verlangens nicht erwehren, das kühle Wesen der Mutter wiedergutzumachen. Daher wandte sie den Kopf zu Ljewin zurück und sagte lächelnd:
»Auf Wiedersehen!«
Zu derselben Zeit war Stepan Arkadjewitsch, den Hut schief auf dem Kopfe, mit strahlendem Gesichte und blitzenden Augen, wie ein froher Sieger, im Garten erschienen. Aber als er seiner Schwiegermutter begegnete, beantwortete er mit trauriger, bedrückter Miene deren Fragen nach Dollys Gesundheit. Er führte dieses Gespräch mit leiser Stimme und in niedergeschlagener Haltung; aber sobald die Damen weggefahren waren, richtete er sich wieder selbstbewußt auf und faßte Ljewin unter den Arm.
»Nun, wie ist's? Wollen wir fahren?« fragte er. »Ich habe fortwährend an dich gedacht und bin sehr froh, daß du hierher nach der Eisbahn gekommen bist«, sagte er und blickte ihm bedeutsam in die Augen.
»Schön, schön, fahren wir!« antwortete der glückliche Ljewin, dem immer noch so war, als höre er den Ton der Stimme, die zu ihm ›Auf Wiedersehen!‹ gesagt hatte, und als sähe er das Lächeln, mit dem diese Worte gesprochen worden waren.
»Nach dem Hotel d'Angleterre oder nach der Eremitage?«
»Mir ganz gleich.«
»Na, dann nach dem Hotel d'Angleterre«, entschied Stepan Arkadjewitsch.
Er wählte dieses Restaurant deswegen, weil er da mehr schuldig war als in der Eremitage. Aus diesem Grunde hielt er es für unpassend, dieses Hotel zu meiden. »Hast du eine Droschke? Das ist ja vortrefflich; ich habe nämlich meinen Wagen wieder nach Hause geschickt.«
Während der ganzen Fahrt schwiegen die beiden Freunde. Ljewin dachte darüber nach, was jener Wechsel des Ausdrucks auf Kittys Gesicht wohl zu bedeuten gehabt habe, und gab sich bald dem Glauben hin, daß er hoffen dürfe, bald geriet er in Verzweiflung und sah klar ein, daß seine Hoffnung sinnlos sei, fühlte sich aber trotzdem als ein ganz anderer Mensch, völlig unähnlich dem, der er vor ihrem Lächeln und vor den Worten »Auf Wiedersehen!« gewesen war.
Stepan Arkadjewitsch stellte unterwegs in Gedanken die Speisenfolge des Mittagsmahles zusammen.
»Du ißt doch wohl gern Steinbutt?« fragte er Ljewin, als sie an dem Restaurant vorfuhren.
»Was?« erwiderte Ljewin. »Steinbutt? Ja, Steinbutt esse ich leidenschaftlich gern.«
Als Ljewin mit Oblonski in das Hotel trat, drängte sich jenem die Wahrnehmung auf, daß Oblonskis Gesicht und gesamte Gestalt einen ganz besonderen Eindruck machten, gleichsam den Eindruck eines verhaltenen strahlenden Leuchtens. Oblonski legte den Überzieher ab und ging, den Hut schief auf einem Ohr, in den Speisesaal. Während des Gehens erteilte er den tatarischen Kellnern, die im Frack, das Tellertuch unter dem Arm, ihn umdrängten und begleiteten, seine Befehle. Indem er sich nach rechts und links gegen Bekannte verbeugte, die er auch hier in Menge fand und die ihn wie überall freudig begrüßten, ging er an den Schanktisch, trank einen Schnaps, aß ein Stückchen Fisch dazu und machte zu der geschminkten, mit Bändern, Spitzen und Haarwickeln aufgeputzten Französin, die als Kassiererin dasaß, eine Bemerkung, worüber diese laut lachen mußte. Ljewin hingegen verzichtete nur deswegen auf einen Schnaps, weil ihm diese Französin, die ganz aus falschem Haar, poudre de riz und vinaigre de toilette zusammengesetzt zu sein schien, gar zu widerwärtig war. Wie von einem unsauberen Orte trat er schnell von ihr weg. Seine ganze Seele war von der Erinnerung an Kitty erfüllt, und in seinen Augen leuchtete ein Lächeln des Triumphes und des Glückes.
»Bitte, hierher, Euer Durchlaucht; hier werden Euer Durchlaucht ungestört sein«, sagte ein mit besonderer Beflissenheit sich an sie herandrängender alter Tatar mit blassem Gesichte und breiten Hüften, über denen die Frackschöße auseinanderklafften. »Bitte, Euer Durchlaucht«, sagte er auch zu Ljewin; denn zum Zeichen besonderer Verehrung für Stepan Arkadjewitsch wollte er auch dessen Gast achtungsvoll behandeln.
Im Nu hatte er ein frisches Tuch über einen bereits gedeckten runden Tisch unter einem bronzenen Wandleuchter gebreitet und die Samtsessel herangerückt; dann stellte er sich, das Tellertuch und die Speisekarte in den Händen, vor Stepan Arkadjewitsch hin und erwartete seine Bestellungen.
»Wenn Euer Durchlaucht ein besonderes Kabinett befehlen, es wird sofort eines frei werden: Fürst Golizün mit einer Dame. Wir haben frische Austern bekommen.«
»Ah, Austern!«
Stepan Arkadjewitsch überlegte.
»Sollen wir den Kriegsplan ändern, Ljewin?« fragte er. Er hatte den Finger auf die Speisekarte gesetzt, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck ernsten Zweifels. »Sind die Austern auch gut? Nimm dich in acht!«
»Flensburger, Euer Durchlaucht; Ostender haben wir nicht.«
»Ob Flensburger oder andere, darauf kommt es nicht an; aber sind sie auch frisch?«
»Wir haben sie gestern bekommen.«
»Nun also, wie wär's? Wollen wir mit Austern anfangen und demgemäß dann den ganzen Plan umändern? Wie?«
»Mir ganz gleich. Ich äße am liebsten Kohlsuppe und Grütze; aber so etwas gibt es hier ja nicht.«
»Befehlen Sie Grütze à la russe?« fragte der Tatar und beugte sich über Ljewin wie eine Wärterin über ein kleines Kind.
»Nein, ohne Scherz, was du auswählst, wird mir recht sein. Ich bin Schlittschuh gelaufen und habe tüchtigen Appetit. Und du brauchst nicht zu glauben«, fügte er hinzu, als er auf Oblonskis Gesicht eine gewisse Unzufriedenheit bemerkte, »daß ich deine Auswahl nicht werde nach Gebühr zu würdigen wissen. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, gut zu speisen.«
»Es wäre auch schlimm, wenn's nicht der Fall wäre!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Man mag sagen, was man will, das ist einer der schönsten Lebensgenüsse. Nun also, Freundchen, dann gib uns Austern, zwei, oder nein, das ist ein bißchen wenig, drei Dutzend; Suppe mit allerlei Grünzeug darin ...«
»Printanière«, schaltete der Tatar ein. Aber Stepan Arkadjewitsch wollte ihm offenbar nicht den Gefallen tun, die Gerichte französisch zu benennen.
»Mit allerlei Grünzeug darin, verstehst du wohl? Dann Steinbutt mit einer so dicken Tunke, dann – Roastbeef; und sorge dafür, daß es gut ist. Dann Kapaun, nicht wahr? Na, und natürlich Kompott.«
Der Tatar, der sich inzwischen erinnert hatte, daß es eine Eigenheit Stepan Arkadjewitschs war, die Gerichte nicht mit den auf der französischen Speisekarte angegebenen Namen zu bezeichnen, hatte ihm nicht mehr die einzelnen Namen französisch nachgesprochen, machte sich aber nun zum Schluß das Vergnügen, die ganze Bestellung nach der Speisekarte zu wiederholen: »Soupe printanière, turbot sauce Beaumarchais, rosbif à l'anglaise, poularde à l'estragon, macédoine de fruits.« Unmittelbar darauf legte er, als ob seine Bewegungen durch innerlich angebrachte Federn geregelt würden, die eine buchförmig eingebundene Karte, die Speisekarte, hin, ergriff die andere, die Weinkarte, und reichte diese Stepan Arkadjewitsch.
»Was wollen wir trinken?«
»Ich trinke, was du willst, nur nicht zuviel; meinetwegen Champagner«, erwiderte Ljewin.
»Was, gleich von Anfang an? Aber du hast recht; meinetwegen! Trinkst du gern weißgesiegelten?«
»Cachet blanc«, schaltete der Tatar ein.
»Na, dann bring uns zu den Austern diese Marke; nachher wollen wir weiter sehen.«
»Zu Befehl. Und welchen Tischwein befehlen Sie?«
»Bring uns Nuits! Oder nein, lieber einen recht guten Chablis!«
»Zu Befehl. Und den Käse, den Euer Durchlaucht auch sonst immer nehmen?«
»Na ja, Parmesan. Oder bevorzugst du einen anderen?«
»Nein, mir ist es ganz gleich«, erwiderte Ljewin, ohne ein Lächeln unterdrücken zu können.
Der Tatar lief mit flatternden Frackschößen hinaus und kam nach fünf Minuten mit einer Schüssel voll geöffneter Austern in ihren perlmutterglänzenden Schalen und mit einer Flasche zwischen den Fingern wieder hereingeflogen.
Stepan Arkadjewitsch zerknitterte das gestärkte Mundtuch, steckte es mit einem Zipfel unter die Weste, legte in aller Ruhe die Arme auf den Tisch und machte sich an die Austern.
»Nicht übel«, sagte er, während er die Austern mit dem silbernen Gäbelchen aus der schillernden Schale löste und eine nach der anderen verschluckte. »Nicht übel«, wiederholte er und richtete seine feucht schimmernden, glänzenden Augen bald auf Ljewin, bald auf den Tataren.
Ljewin aß gleichfalls von den Austern, obwohl ihm Weißbrot mit Käse mehr zugesagt hätte; aber es machte ihm Vergnügen, seinem Tischgenossen zuzusehen. Sogar der Tatar, der den Pfropfen aus der Flasche gezogen und den schäumenden Wein in die schlankfüßigen, weitschaligen Gläser gegossen hatte, blickte mit merkbarem Lächeln auf Stepan Arkadjewitsch, während er seine weiße Krawatte wieder zurechtschob.
»Du bist wohl kein besonderer Freund von Austern?« sagte Stepan Arkadjewitsch und trank sein Glas aus. »Oder hast du Sorgen, wie?«
Er hätte Ljewin gern fröhlich gesehen. Aber dieser war nicht eigentlich trübe gestimmt, sondern fühlte sich vielmehr in Verlegenheit. Mit dem, was er auf dem Herzen hatte, war ihm sonderbar und unbehaglich zumute in einem solchen Restaurant, zwischen Kabinetten, wo mit Damen gespeist wurde, mitten in diesem Gelaufe und Getreibe; diese ganze Einrichtung mit Bronzefiguren, Spiegeln, Gaskronen und tatarischen Kellnern, all dies war ihm geradezu widerwärtig. Er fürchtete, das zu beflecken, was seine ganze Seele erfüllte.
»Ich? Ja, Sorgen habe ich; aber außerdem macht mich hier die ganze Umgebung verlegen«, antwortete er. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie fremdartig jemandem, der immer auf dem Lande lebt, das alles vorkommt, zum Beispiel auch die Fingernägel des Herrn, den ich bei dir traf.«
»Ja, ja, ich habe es wohl gesehen, daß die Nägel des armen Grinjewitsch dich sehr interessieren«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend.
»Ich kann das nicht vertragen«, antwortete Ljewin. »Versuche doch einmal, dich in meine Seele hineinzuversetzen; stelle dich auf den Standpunkt eines Mannes vom Lande! Wir auf dem Lande geben uns Mühe, unsere Hände in eine solche Verfassung zu bringen, daß sich bequem mit ihnen arbeiten läßt. Darum schneiden wir unsere Nägel kurz und streifen uns manchmal die Ärmel auf. Aber hier lassen die Leute absichtlich ihre Nägel so lang wachsen, wie es nur irgend möglich ist, und befestigen an den Handwurzeln, angeblich als Hemdknöpfe, kleine Schüsseln, um nur ja nicht imstande zu sein, mit den Händen etwas vorzunehmen.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte vergnügt.
»Das soll eben eine Andeutung sein, daß er keine grobe Arbeit zu verrichten braucht. Er arbeitet mit dem Kopfe.«
»Mag sein. Aber fremdartig bleibt es mir dennoch, ebenso wie es mir jetzt seltsam vorkommt, daß, während wir auf dem Lande uns möglichst schnell satt zu essen suchen, um wieder an unsere Arbeit gehen zu können, wir beide hier es darauf anlegen, möglichst lange zu essen, ohne satt zu werden, und zu diesem Zwecke Austern essen.«
»Selbstverständlich tun wir das«, warf Stepan Arkadjewitsch dazwischen. »Aber darin besteht ja gerade das Ziel der Bildung: sich aus allem einen Genuß zu bereiten.«
»Nun, wenn das das Ziel ist, dann möchte ich lieber ein Wilder sein.«
»Du bist ja auch ein Wilder. Ihr Ljewins seid alle Wilde.«
Ljewin seufzte. Er dachte an seinen Bruder Nikolai, und Scham und Traurigkeit überkamen ihn, so daß seine Miene sich verfinsterte; aber Oblonski leitete das Gespräch auf einen Gegenstand, der ihn sofort diese trüben Gedanken vergessen ließ.
»Nun, wie ist's? Kommst du heute abend zu meinen Verwandten, ich meine, zu Schtscherbazkis?« fragte er, indem er die leeren, rauhen Austernschalen von sich schob, sich den Käse heranzog und bedeutsam mit den Augen zwinkerte.
»Ja, ich werde bestimmt hinkommen«, antwortete Ljewin, »obgleich ich den Eindruck hatte, daß die Fürstin mich nur ungern aufforderte.«
»Wie kannst du das denken! So ein Unsinn! Das ist nun einmal ihre Manier so. – Na, nun bring uns die Suppe, lieber Freund! – Das ist so ihre Art, grande dame«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Ich komme auch hin, muß aber vorher erst noch zu der Gräfin Bonina zu einer Gesangsprobe. Na, kannst du bestreiten, daß du ein Wilder bist? Wie ist es denn sonst zu erklären, daß du vor ein paar Monaten urplötzlich aus Moskau verschwandest? Schtscherbazkis haben mich unaufhörlich nach dir gefragt, als müßte ich Bescheid wissen. Und ich weiß doch nur das eine, daß du immer gerade das tust, was sonst niemand tut.«
»Ja«, erwiderte Ljewin langsam und in sichtlicher Erregung. »Du hast recht: ich bin ein Wilder. Nur hat sich das nicht darin gezeigt, daß ich damals wegfuhr, sondern darin, daß ich jetzt wiedergekommen bin. Ich bin jetzt wiedergekommen ...«
»Oh, was bist du für ein glücklicher Mensch!« unterbrach ihn Stepan Arkadjewitsch und blickte ihm in die Augen.
»Weswegen?«
»Am gebrannten Mal erseh ich,
Ob von edler Art ein Roß;
An des Jünglings Aug erspäh ich,
Ob ins Herz ihn Amor schoß«,
deklamierte Stepan Arkadjewitsch. »Du hast noch alles vor dir.«
»Hast du denn schon alles hinter dir?«
»Nein, wenn auch nicht gerade das. Aber du hast noch die Zukunft; ich dagegen habe nur die Gegenwart, und die ist nur soso, halb süß, halb sauer.«
»Wieso denn?«
»Eine verdrießliche Geschichte. Na, aber ich wollte ja nicht von mir reden und könnte dir sowieso nicht alles auseinandersetzen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Also warum bist du denn nach Moskau gekommen? – He du, räum das hier weg!« rief er dem Tataren zu.
»Kannst du es nicht erraten?« versetzte Ljewin, ohne die Augen, in denen ein tiefinnerliches Leuchten lag, von Stepan Arkadjewitsch wegzuwenden.
»Ich errate es schon, kann aber doch nicht anfangen, davon zu reden. Schon danach kannst du beurteilen, ob ich richtig oder nicht richtig rate«, sagte Stepan Arkadjewitsch und blickte Ljewin mit einem feinen Lächeln an.
»Nun, was kannst du mir darüber sagen?« fragte Ljewin mit zitternder Stimme; er fühlte, daß in seinem Gesicht alle Muskeln zitterten. »Wie siehst du die Sache an?«
Stepan Arkadjewitsch trank langsam sein Glas Chablis aus, ohne die Augen von Ljewin wegzuwenden.
»Ich?« erwiderte er. »Ich würde nichts sehnlicher wünschen, nichts sehnlicher! Das wäre das beste, was überhaupt geschehen könnte.«
»Aber bist du auch nicht in einem Irrtum befangen? Du weißt doch, wovon wir sprechen?« fragte Ljewin und blickte seinen Tischgenossen in unruhiger Spannung starr an. »Du meinst also, daß es möglich wäre?«
»Das meine ich allerdings. Warum sollte es nicht möglich sein?«
»Nein, meinst du wirklich, daß es möglich wäre? Nein, sage mir alles, was du darüber denkst! Nun aber, wenn ... wenn mich eine abschlägige Antwort erwartet? – Ich bin sogar überzeugt ...«
»Warum denkst du denn das?« sagte Stepan Arkadjewitsch, über Ljewins Aufregung lächelnd.
»Es scheint mir bisweilen so. Das wäre ja entsetzlich, sowohl für mich wie für sie.«
»Na, für ein junges Mädchen ist jedenfalls nichts Entsetzliches dabei. Jedes junge Mädchen ist auf einen Heiratsantrag stolz.«
»Ja, jedes junge Mädchen, aber nicht sie.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er verstand Ljewins Gefühl sehr wohl und wußte, daß für diesen jetzt alle jungen Mädchen auf der Welt in zwei Klassen zerfielen: die eine Klasse umfaßte alle jungen Mädchen auf der Welt außer ihr, und diese jungen Mädchen hatten sämtlich menschliche Schwächen und waren eben junge Mädchen von ganz gewöhnlichem Schlage; die andere Klasse wurde von ihr allein gebildet, von ihr, die keinerlei Schwächen an sich hatte und hoch über allem stand, was Mensch hieß.
»Warte mal, nimm doch Sauce!« sagte er und hielt Ljewins Hand fest, der die ihm dargereichte Sauce zurückwies.
Gehorsam nahm Ljewin, ließ aber Stepan Arkadjewitsch nicht zum Essen kommen.
»Nein, warte mal, warte mal!« sagte er. »Mach dir doch klar, daß es sich bei dieser Frage für mich um Leben und Tod handelt. Ich habe noch nie mit jemand davon gesprochen und kann auch mit niemand als mit dir davon sprechen. Wir beide, du und ich, sind ja in jeder Beziehung verschieden geartet; anderer Geschmack, andere Anschauungen, alles verschieden; aber ich weiß, daß du mich gern hast und mich verstehst, und darum empfinde ich auch eine so starke, herzliche Zuneigung zu dir. Aber ich beschwöre dich, sei ganz aufrichtig!«
»Was ich für meine Person glaube, habe ich dir schon gesagt«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Ich will dir aber noch mehr sagen: Meine Frau ist ein im höchsten Grade bewundernswertes Wesen ...«, hier seufzte Stepan Arkadjewitsch in Erinnerung an sein Verhältnis zu seiner Frau und fuhr erst nach kurzem Stillschweigen fort: »Sie besitzt die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Sie durchschaut die Menschen durch und durch; und damit nicht genug, sie weiß auch voraus, was geschehen wird, namentlich auf dem Gebiete der Heiraten. So hat sie zum Beispiel vorhergesagt, daß Fräulein Schachowskaja diesen Herrn Brenteln heiraten werde. Kein Mensch wollte es glauben, und doch kam es so. Und sie steht ganz auf deiner Seite.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als sie dich nicht nur gut leiden kann, sondern auch erklärt, Kitty werde ganz sicher deine Frau werden.«
Bei diesen Worten überzog auf einmal ein strahlendes Lächeln Ljewins Gesicht, ja es waren ihm die Tränen der Rührung ganz nahe.
»Das sagt sie?« rief er aus. »Ich habe es ja immer gesagt, daß deine Frau ein herrliches Weib ist. Nun, aber jetzt genug davon, genug!« fügte er hinzu und stand von seinem Platze auf.
»Schön, schön! Aber bleib doch sitzen!«
Jedoch zum Sitzen hatte Ljewin in diesem Augenblick keine Ruhe. Zweimal durchmaß er mit seinen festen Schritten das Zimmer wie einen Käfig und zwinkerte mit den Augen, damit die Tränen nicht zu sehen wären; dann erst setzte er sich wieder an den Tisch.
»Du mußt wissen«, sagte er, »daß das nicht nur so einfach Liebe ist. Verliebt bin ich auch sonst schon mitunter gewesen; aber dies ist etwas ganz anderes. Es ist gar nicht wie mein eigenes Gefühl, sondern als ob eine Art von äußerer Gewalt sich meiner bemächtigt hätte. Ich bin ja damals weggefahren, weil ich zu der Überzeugung gelangt war, daß diese Sache schlechterdings unmöglich sei, verstehst du, unmöglich wie ein Glück, das es auf Erden nicht gibt; aber ich habe mit mir selbst gerungen und sehe ein, daß, wenn ich dies nicht erreiche, es für mich kein Leben gibt. Und nun muß es zur Entscheidung kommen!«
»Warum bist du denn damals eigentlich abgereist?«
»Warte doch nur, warte! Ach, wie viele Gedanken jetzt auf mich einstürmen! Wie vielerlei muß ich dich noch fragen! Höre zu! Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was für eine Wohltat du mir mit dem erwiesen hast, was du mir sagtest. Ich bin so glücklich, daß ich sogar schlecht geworden bin; denn ich habe alles andere darüber vergessen. Ich habe heute erfahren, daß mein Bruder Nikolai ... weißt du, er ist jetzt hier ... auch den habe ich ganz vergessen. Ich habe die Vorstellung, daß auch er glücklich ist. Das ist bei mir wie eine Art Irrsinn. Aber eines ist mir schrecklich. – Du hast dich ja auch verheiratet und wirst dieses Gefühl kennen. – Schrecklich ist mir das Bewußtsein, daß wir keine neuen, reinen Menschen mehr sind, daß wir schon eine Vergangenheit haben, nicht in der Liebe, sondern in der Sünde. – Und nun nähern wir uns auf einmal einem reinen, unschuldigen Wesen. Das ist ab scheulich, und darum muß man sich mit Notwendigkeit unwürdig fühlen.«
»Na, du wirst ja nicht gar so viele Sünden begangen haben.«
»Ach, trotzdem«, sagte Ljewin, »trotzdem! ›Mit Ekel schaue ich auf mein Leben zurück, das ich mit Zittern und Beben verwünsche und bitterlich beklage‹, heißt es in jenem Gebete. Ja.«
»Was ist da zu machen? Es ist in der Welt einmal nicht anders«, antwortete Stepan Arkadjewitsch.
»Es gibt nur einen Trost, wie es in dem Gebete steht, das ich immer so gern gemocht habe: ›Vergib mir nicht nach meinem Verdienst, sondern nach deiner Barmherzigkeit.‹ Auch sie kann mir nur so vergeben.«
Ljewin trank sein Glas aus, und beide schwiegen eine Weile.
»Eines muß ich dir noch mitteilen. Kennst du Wronski?« fragte Stepan Arkadjewitsch darauf seinen Freund.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Warum fragst du?«
»Bring noch eine Flasche!« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an den Tataren, der die Gläser wieder gefüllt hatte und sich um die beiden gerade dann zu schaffen machte, wenn seine Anwesenheit nicht erwünscht war.
»Du solltest Wronski deswegen kennen, weil er einer deiner Nebenbuhler ist.«
»Wer ist dieser Wronski?« rief Ljewin, und der kindlich-schwärmerische Ausdruck seines Gesichtes, über den sich Oblonski soeben noch gefreut hatte, verwandelte sich plötzlich in einen grimmigen, feindseligen.
»Wronski ist einer der Söhne des Grafen Kirill Iwanowitsch Wronski und einer der hervorragendsten Vertreter der Petersburger jeunesse dorée. Ich habe ihn in Twer kennengelernt, als ich dort angestellt war und er zur Rekrutenaushebung hinkam. Er ist furchtbar reich, ein schöner Mann, hat viele gute Beziehungen, Flügeladjutant, und dabei zugleich ein sehr liebenswürdiger, guter Kerl. Aber er ist mehr als nur so ein guter Kerl. Nach dem, wie ich ihn hier kennengelernt habe, ist er ein gebildeter, sehr gescheiter Mensch; er wird es noch einmal weit bringen.«
Ljewin zog ein finsteres Gesicht und schwieg.
»Na also, der erschien hier bald nach deiner Abreise, und soviel ich weiß, ist er in Kitty bis über die Ohren verliebt, und du begreifst wohl, daß die Mutter ...«
»Entschuldige, aber ich begreife gar nichts«, sagte Ljewin mit düsterer Stirn. Und zugleich fiel ihm sein Bruder Nikolai ein und wie schlecht er selbst sei, daß er diesen hatte vergessen können.
»Halt, warte einmal!« sagte Stepan Arkadjewitsch lächelnd und berührte seine Hand. »Ich habe dir mitgeteilt, was ich weiß, und ich wiederhole: in dieser heiklen, zarten Angelegenheit sind, soweit sich dergleichen vorher beurteilen läßt, meines Erachtens die Aussichten auf deiner Seite.«
Ljewin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; sein Gesicht war ganz blaß geworden.
»Ich würde dir aber raten, die Sache möglichst bald zur Entscheidung zu bringen«, fuhr Oblonski fort und füllte ihm das Glas wieder.
»Nein, ich danke, ich kann nicht mehr trinken«, lehnte Ljewin ab und schob das Glas zurück. »Ich würde betrunken werden. – Nun, und du, wie geht es dir denn?« fragte er, offenbar mit dem Wunsche, das Thema zu wechseln.
»Nur noch ein Wort: auf jeden Fall rate ich dir, die Frage mit möglichster Beschleunigung ins reine zu bringen; aber heute schon davon zu reden, dazu würde ich nicht raten«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Mach morgen vormittag dort in der nun einmal üblichen Form einen Besuch und halte um ihre Hand an. Und Gott möge dich segnen!«
»Du wolltest mich doch immer einmal zur Jagd auf dem Lande besuchen? Komm doch in diesem Frühjahr!« erwiderte Ljewin.
Er bereute es jetzt in tiefster Seele, mit Stepan Arkadjewitsch dieses Gespräch begonnen zu haben. Sein Gefühl, ein Gefühl, das nach seiner Meinung ganz eigenartig dastand, war entweiht durch das Gespräch über die gleichen Bemühungen irgendeines Petersburger Offiziers und durch Stepan Arkadjewitschs Mutmaßungen und Ratschläge.
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er begriff völlig, was in Ljewins Seele vorging.
»Ich komme schon noch einmal«, antwortete er. »Ja, liebster Freund, die Weiber, das ist doch der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Auch mir geht es schlimm, recht schlimm. Und alles kommt von den Weibern her. Sage mir doch mal ganz aufrichtig deine Meinung«, fuhr er fort – in der einen Hand hielt er eine Zigarre, die er hervorgeholt hatte, die andere Hand hatte er am Weinglase – »und gib mir einen Rat!«
»In welcher Angelegenheit denn?«
»Hör zu! Nehmen wir an, du wärest verheiratet und liebtest deine Frau, hättest aber eine Leidenschaft zu einem anderen weiblichen Wesen gefaßt ...«
»Entschuldige, aber ich verstehe durchaus nicht, wie jemand ... ebenso wie ich nicht verstehe, was mich veranlassen könnte, jetzt, da ich völlig gesättigt bin, aus einem Bäckerladen im Vorbeigehen einen Kringel zu stehlen.«
Stepan Arkadjewitschs Augen glänzten noch heller als gewöhnlich.
»Warum nicht? Ein Kringel duftet manchmal so gut, daß man nicht widerstehen kann.
Himmlisch war's, wenn ich bezwang
Meine sündige Begier;
Aber wenn's mir nicht gelang,
Hatt ich doch ein groß Pläsier!«
Bei diesen Worten lächelte Stepan Arkadjewitsch fein und listig. Auch Ljewin vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken.
»Ja, aber nun ohne Scherz«, fuhr Oblonski fort. »Verstehst du: ein Mädchen, ein gutes, sanftes, liebendes Wesen, hat einem Manne alles geopfert und steht nun arm und einsam da. Soll nun jetzt, nachdem die Tat bereits geschehen ist, verstehst du wohl, soll der Mann sie nun im Stiche lassen? Allerdings, er wird sich von ihr trennen müssen, um sein Familienleben nicht zu zerstören; aber soll er sie nicht bemitleiden, sie nicht wirtschaftlich sicherstellen, ihren Kummer mildern?«
»Du mußt mich schon entschuldigen. Du weißt, für mich zerfallen alle Frauen in zwei Klassen – das heißt, nein – richtiger so: es gibt Frauen, und es gibt ... Ich habe unter den gefallenen Weibern noch keine reizenden Geschöpfe gesehen und werde solche wohl auch nie unter ihnen sehen; dergleichen Weiber, wie die geschminkte Französin da an der Kasse, mit den Papilloten, das ist in meinen Augen widerwärtiges Geschmeiß, und alle Gefallenen sind von dieser selben Sorte.«
»Und die Sünderin im Evangelium?«
»Ach, fang nicht damit an! Christus hätte jene Worte nie gesprochen, wenn er gewußt hätte, wie sie mißbraucht werden würden. Aus dieser ganzen Geschichte werden immer nur diese Worte angeführt. Übrigens ist das bei mir nicht sowohl Sache des Verstandes wie Sache des Gefühls. Ich habe einen Widerwillen gegen gefallene Weiber. Du ekelst dich vor Spinnen und ich mich vor diesem Geschmeiß. Und dabei hast du die Spinnen gewiß nicht studiert und bist mit ihrem Charakter nicht bekannt; mit mir steht es ebenso.«
»So zu reden wie du, ist kein Kunststück; du verfährst gerade wie jener Herr bei Dickens, der alle schwierigen Fragen mit der linken Hand über die rechte Schulter wirft. Aber die Daseinsberechtigung einer Tatsache ableugnen, das ist noch keine Antwort. Was ist in solcher Lage zu tun? Das sage mir: Was ist zu tun? Deine Frau altert, und du selbst bist noch voll Lebenslust. Ehe du dich dessen versiehst, fühlst du auch schon, daß du deine Frau nicht mehr lieben kannst, wenn du sie auch noch so sehr achtest und verehrst. Und auf einmal steht wie aus dem Boden gewachsen eine wirkliche Liebe da, und du bist verloren, verloren!« stöhnte Stepan Arkadjewitsch niedergeschlagen und verzweifelt.
Ljewin verzog das Gesicht zu einem Lächeln.
»Jawohl, verloren!« fuhr Oblonski fort. »Aber was ist da zu tun?«
»Man darf keine Kringel stehlen.«
Stepan Arkadjewitsch lachte auf.
»O du Moralprediger! Aber mach dir das doch nur klar: Da sind zwei Frauen: die eine kann sich nur auf ihr Recht berufen, und nach diesem Rechte steht ihr deine Liebe zu, die du ihr doch nicht zu geben vermagst; die andere bringt dir alles zum Opfer, ohne irgend etwas zu fordern. Was mußt du da tun? Wie mußt du dich verhalten? Das ist die furchtbare Tragik dieser Lage.«
»Wenn du meine aufrichtige Meinung darüber wissen willst, muß ich dir sagen: ich glaube gar nicht, daß dabei irgendwelche Tragik vorkommen kann. Der Grund ist der: Nach meiner Ansicht dient die Liebe – oder genauer: die beiden Arten der Liebe, die, wie du dich wohl erinnerst, Plato in seinem ›Gastmahl‹ unterscheidet –, also die beiden Arten der Liebe dienen als Prüfstein für die Menschen. Manche Menschen besitzen nur für die eine, manche nur für die andere Art Verständnis. Diejenigen, die nur für die nichtplatonische Art der Liebe Verständnis besitzen, haben kein Recht, von Tragik zu reden. Bei dieser Art der Liebe kann überhaupt keine Tragik vorkommen. Da heißt es: ›Ich danke ergebenst für das genossene Vergnügen und empfehle mich‹, und damit ist die Sache erledigt. Bei der platonischen Liebe aber ist Tragik deswegen unmöglich, weil bei einer solchen Liebe alles klar und rein ist und weil ...«
In diesem Augenblicke fielen ihm aber seine eigenen Sünden und der Seelenkampf ein, den er durchgemacht hatte. Und er fügte ohne Zusammenhang mit dem, was er vorher gesagt hatte, hinzu:
»Es mag übrigens auch sein, daß du recht hast. Sehr möglich ... Aber ich weiß es nicht, ich weiß es schlechterdings nicht.«
»Ja, siehst du wohl«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, »du bist ein durchaus einheitlicher Mensch. Das ist an dir ein Vorzug und zugleich ein Mangel. Du selbst bist ein einheitlicher Charakter und möchtest nun, daß sich auch das ganze Leben aus einheitlichen Erscheinungen zusammensetze, – aber das geht eben nicht an. Da verachtest du zum Beispiel unsere Tätigkeit im Staatsdienste, weil du möchtest, daß diese Tätigkeit sich stets mit ihrem Ziele im Einklang befinde; aber das ist nicht möglich. Du möchtest auch, daß die Tätigkeit eines jeden einzelnen Menschen immer ein bestimmtes Ziel habe und daß Liebe und Eheleben immer zusammenfielen; aber das ist unmöglich. Die ganze bunte Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens setzt sich aus Licht und Schatten zusammen.«
Ljewin seufzte und erwiderte nichts darauf. Er hatte seine eigenen Gedanken und hörte nicht auf das, was Oblonski sagte.
Und auf einmal fühlten sie beide, daß, obgleich sie Freunde waren und obgleich sie zusammen gespeist und Wein getrunken hatten, was sie eigentlich einander hätte noch näherbringen müssen, daß dennoch ein jeder von ihnen nur an sich selbst dachte und sich um den anderen herzlich wenig grämte. Oblonski hatte schon mehr als einmal diese Erfahrung gemacht, daß nach einem gemeinsamen guten Mittagessen statt der zu erwartenden Annäherung vielmehr eine Entfremdung eintritt, und wußte, was in solchen Fällen zu tun sei.
»Die Rechnung!« rief er und begab sich dann in den anstoßenden Saal, wo er auch sogleich einen ihm bekannten Adjutanten traf und sich mit ihm in ein Gespräch über eine Schauspielerin und ihren Liebhaber einließ. Und bei dieser Unterhaltung mit dem Adjutanten fühlte Oblonski sofort, daß ihm leichter zumute wurde und er sich von dem Gespräche mit Ljewin erholte, der ihn immer zu einer übermäßigen geistigen und seelischen Anspannung veranlaßte.
Der Tatar erschien mit der Rechnung im Betrage von sechsundzwanzig Rubeln und einigen Kopeken, wozu dann noch das Trinkgeld kam; aber Ljewin, der als Bewohner des platten Landes zu anderer Zeit einen gewaltigen Schreck über eine Rechnung bekommen hätte, bei der auf sein Teil vierzehn Rubel entfielen, beachtete dies jetzt gar nicht, bezahlte und begab sich nach Hause, um sich umzukleiden und dann zu Schtscherbazkis zu fahren, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte.
Die Prinzessin Kitty Schtscherbazkaja war achtzehn Jahre alt; es war der erste Winter, in dem sie Gesellschaften besuchte. Ihre Erfolge auf diesem Gebiete waren größer als die ihrer beiden älteren Schwestern, sogar größer, als die Fürstin erwartet hatte. Nicht nur, daß die tanzenden jungen Männer auf den Moskauer Bällen fast sämtlich in Kitty verliebt waren, sondern es hatten sich auch gleich im ersten Winter zwei ernstliche Bewerber für sie gefunden: Ljewin und unmittelbar nach dessen Abreise Graf Wronski.
Ljewins Erscheinen in der Moskauer Gesellschaft zu Anfang des Winters, seine häufigen Besuche und seine augenscheinliche Liebe zu Kitty gaben Kittys Eltern den ersten Anlaß, miteinander ernsthaft über die Zukunft ihrer Tochter zu reden, wobei es zwischen dem Fürsten und der Fürstin zum Streit kam. Der Fürst stand auf Ljewins Seite und erklärte, er könne sich für Kitty gar keinen besseren Mann wünschen. Die Fürstin dagegen äußerte sich nach der den Frauen eigenen Gewohnheit, den Kernpunkt einer Frage zu umgehen, dahin, daß Kitty noch zu jung sei, daß Ljewin durch nichts ernste Absichten erkennen lasse, daß Kitty keine Neigung für ihn empfinde, und was es an derartigen Gründen mehr gab; ihren Hauptgrund aber sprach sie nicht aus, daß sie nämlich für ihre Tochter auf eine bessere Partie hoffe, daß Ljewin ihr unsympathisch sei und daß sie ihn in seinem ganzen Wesen nicht verstehe. Als nun Ljewin urplötzlich abreiste, freute sich die Fürstin darüber geradezu und sagte triumphierend zu ihrem Manne: »Siehst du wohl, ich hatte recht!« Und als darauf Wronski erschien, war sie noch viel mehr erfreut, da sie sich immer mehr in ihrer Meinung bestärkt sah, daß Kitty nicht etwa nur eine gute, sondern eine glänzende Partie machen müsse.
Nach der Anschauung der Mutter waren Wronski und Ljewin gar nicht miteinander zu vergleichen. Der Mutter mißfielen an Ljewin sowohl seine seltsamen, schroffen Urteile auf vielen Gebieten wie auch sein unbeholfenes Wesen im gesellschaftlichen Verkehr, das nach ihrer Annahme auf Stolz beruhte; dann sein nach ihren Begriffen ungebildetes Leben auf dem Lande, wo er nur mit dem Vieh und den Bauern zu tun habe; ihr starkes Mißfallen erregte es auch, daß er, der doch in ihre Tochter verliebt war, anderthalb Monate lang bei ihnen im Hause verkehrte und dabei anscheinend irgend etwas abwartete und Beobachtungen anstellte, als ob er fürchte, der Familie durch einen Heiratsantrag eine gar zu große Ehre anzutun, und endlich, daß er kein Verständnis dafür hatte, daß er die Pflicht habe, sich zu erklären, wenn er so auffällig in einem Hause verkehrte, wo ein heiratsfähiges junges Mädchen war. Und dann war er auf einmal abgereist, ohne sich erklärt zu haben. ›Es ist nur recht gut, daß er so wenig Einnehmendes hat, daß Kitty sich nicht hat in ihn verlieben können‹, dachte die Mutter.
Wronski hingegen entsprach durchaus allen Anforderungen der Mutter. Er war sehr reich, klug, angesehen, auf bestem Wege zu einer glänzenden militärisch-höfischen Laufbahn und eine bezaubernde Persönlichkeit. Etwas Besseres zu wünschen, war einfach unmöglich.
Wronski machte auf den Bällen Kitty offenkundig den Hof, tanzte viel mit ihr und verkehrte im Hause; somit war an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten nicht zu zweifeln. Aber trotzdem befand sich die Mutter diesen ganzen Winter über in arger Unruhe und Aufregung.
Bei der eigenen Verheiratung der Fürstin vor dreißig und etlichen Jahren hatte eine Tante das Amt der Vermittlerin übernommen. Der Freier, über den man schon vorher alles Erforderliche in Erfahrung gebracht hatte, erschien im Hause, nahm das junge Mädchen in Augenschein, um das er sich bewerben wollte, und wurde seinerseits prüfend betrachtet; die vermittelnde Tante erhielt von einer jeden Partei Mitteilung über den empfangenen Eindruck und gab diese Mitteilung an die andere Partei weiter; der Eindruck war auf beiden Seiten gut; darauf wurde an einem festgesetzten Tage den Eltern der erwartete Antrag gemacht und von ihnen angenommen. Alles war sehr glatt und einfach vonstatten gegangen. Wenigstens schien es jetzt der Fürstin so. Aber bei ihren eigenen Töchtern mußte sie die Erfahrung machen, wie schwer und knifflig die anscheinend so einfache Aufgabe, die Töchter zu verheiraten, in Wirklichkeit sei. Schon bei der Verheiratung der beiden älteren Töchter, Darja und Natalja, wieviel Angst hatte sie dabei ausgestanden, wieviel sorgenvolle Gedanken in ihrem Kopfe umhergewälzt, wieviel Geld darangewendet, wieviel Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Manne durchgekämpft! Und jetzt, da die Jüngste in die Gesellschaft eintrat, wiederholten sich dieselben Befürchtungen, dieselben Zweifel, und die Streitigkeiten mit ihrem Manne gestalteten sich noch erheblich schärfer als die wegen der älteren Töchter. Der alte Fürst war, wie alle Väter, besonders peinlich in der Sorge für den reinen, ehrenhaften Ruf seiner Töchter; er war auf die Töchter in unvernünftiger Weise eifersüchtig, namentlich auf Kitty, die sein Liebling war, und machte der Fürstin alle Augenblicke unangenehme Szenen, weil sie die Tochter ins Gerede bringe. Die Fürstin war das schon gewohnt geworden, als es sich noch um die ersten Töchter gehandelt hatte; aber jetzt fühlte sie, daß zu der Peinlichkeit, wie sie der Fürst an den Tag legte, mehr Grund vorhanden sei. Sie sah, daß sich in der letzten Zeit gar manches in den Gebräuchen der Gesellschaft geändert hatte und die Pflichten einer Mutter noch schwerer geworden waren. Sie sah, daß Kittys Altersgenossinnen allerlei Vereine bildeten, allerlei Vorlesungen besuchten, mit Männern in freierer Form umgingen, ohne Begleitung durch die Stadt fuhren, großenteils den Knicks abgeschafft hatten und, was die Hauptsache war, alle fest davon überzeugt waren, daß die Wahl eines Gatten für sie ihre eigene Angelegenheit, nicht die der Eltern sei. ›Heutzutage geht es bei der Eheschließung nicht mehr so zu wie früher‹, dachten und sagten alle diese jungen Mädchen und sogar alle älteren Leute. Aber wie man es heutzutage mit der Verheiratung der Töchter zu halten habe, das konnte die Fürstin von niemandem in Erfahrung bringen. Die französische Sitte, bei der die Eltern über das Schicksal der Kinder entscheiden, hatte in Rußland keinen Eingang gefunden und wurde so gut wie allgemein verworfen. Die englische Sitte, den jungen Mädchen völlige Freiheit zu lassen, war gleichfalls nicht angenommen worden und erschien in der russischen Gesellschaft als unmöglich. Und die russische Sitte der Heiratsvermittelung galt als abgeschmackt, und alle machten sich darüber lustig, auch die Fürstin selbst. Wie nun aber die Töchter und die Eltern sich in dieser wichtigen Sache zu verhalten hatten, das wußte kein Mensch zu sagen. Alle, mit denen die Fürstin darüber ins Gespräch kam, sagten zu ihr nur: »Aber ich bitte Sie, in unserer Zeit ist es doch wahrhaftig angezeigt, diesen veralteten Brauch aufzugeben. Die jungen Leute sollen ja die Ehe eingehen und nicht die Eltern; also muß man auch die jungen Leute sich versorgen lassen, wie sie selbst wollen.« Aber die, die keine Töchter hatten, konnten leicht so reden; die Fürstin dagegen mußte sich sagen, daß bei freier Möglichkeit der Annäherung ihre Tochter sich auch in einen Mann verlieben könne, der gar nicht beabsichtigte, sie zu heiraten, oder auch in einen solchen, der nicht zum Gatten für sie tauge. Und mochte man auch der Fürstin mit noch so starken Gründen zu beweisen suchen, daß in unserer Zeit die jungen Leute sich ihr Schicksal selbst gestalten müßten, sie vermochte das ebensowenig zu glauben, wie sie hätte glauben können, daß irgendwann in Zukunft für fünfjährige Kinder das beste Spielzeug geladene Pistolen wären. Und daher beunruhigte sich die Fürstin um Kitty mehr, als sie es bei ihren älteren Töchtern getan hatte.
Jetzt fürchtete sie, Wronski könnte sich darauf beschränken, ihrer Tochter lediglich die Kur zu machen. Sie sah, daß Kitty sich bereits in ihn verliebt hatte; aber sie tröstete sich damit, daß er ein Ehrenmann sei und sich deshalb ein solches Verhalten nicht werde zuschulden kommen lassen. Aber zugleich entging ihr nicht, wie leicht es bei der heutigen Freiheit des Verkehrs sei, einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und wie leichtfertig im allgemeinen die Männer über eine solche Schuld denken. In der vergangenen Woche hatte Kitty ihrer Mutter ein Gespräch erzählt, das sie mit Wronski bei einer Masurka gehabt hatte. Durch das Gehörte hatte sich die Fürstin allerdings teilweise beruhigt gefühlt; aber ganz ruhig vermochte sie nicht zu sein. Wronski hatte zu Kitty gesagt, er und sein Bruder seien beide so daran gewöhnt, sich in allen Stücken ihrer Mutter unterzuordnen, daß sie nie etwas Wichtiges unternehmen würden, ohne vorher ihren Rat eingeholt zu haben. »Auch jetzt erwarte ich die Ankunft meiner Mutter aus Petersburg wie ein besonderes Glück«, hatte er gesagt.
Kitty hatte das ihrer Mutter erzählt, ohne diesen Worten besondere Bedeutung beizumessen. Aber die Mutter faßte es anders auf. Sie wußte, daß die Ankunft der alten Gräfin von Tag zu Tag erwartet wurde, und wußte, daß diese über die von ihrem Sohne getroffene Wahl erfreut sein werde; sie wunderte sich freilich, daß er aus Furcht, seine Mutter zu kränken, bisher noch keinen Antrag gemacht hatte; jedoch wünschte sie so sehnlich sowohl diese Ehe selbst wie auch in allererster Linie endlich die Befreiung von all diesen Sorgen und Unruhen, daß sie an die in Wronskis Worten anscheinend liegende Begründung seines Verhaltens glaubte. Wie schmerzlich es auch jetzt für die Fürstin war, das Unglück ihrer ältesten Tochter Dolly mit ansehen zu müssen, die eine Trennung von ihrem Manne vorhatte, so drängte doch die Aufregung über das demnächst sich entscheidende Schicksal der jüngsten Tochter alle anderen Gefühle bei ihr zurück. Der heutige Tag hatte ihr durch Ljewins plötzliches Wiedererscheinen eine neue Beunruhigung gebracht. Sie fürchtete, daß ihre Tochter, die früher, wie es ihr vorgekommen war, gegen Ljewin eine freundliche Gesinnung gehegt hatte, aus übertriebener Ehrlichkeit Wronski einen Korb geben und überhaupt Ljewins Ankunft die dem Abschluß schon so nahe Angelegenheit verwirren oder verzögern könnte.
»Ist er schon vor längerer Zeit angekommen?« fragte die Fürstin mit Bezug auf Ljewin, als sie nach Hause zurückfuhren.
»Heute, maman.«
»Ich möchte dir nur das eine sagen ...«, begann die Fürstin, und an ihrem ernsten, eine lebhafte Erregung bekundenden Gesichte erriet Kitty, wovon die Rede sein sollte.
»Mama«, sagte sie, indem sie sich schnell zu ihr hinwandte und blutrot wurde, »bitte, bitte, sprechen Sie nicht von dieser Sache! Ich weiß alles, alles weiß ich!«
Sie wünschte dasselbe, was die Mutter wünschte; aber die Gründe, die die Mutter zu diesem Wunsche veranlaßten, versetzten sie in Entrüstung.
»Ich wollte nur sagen, nachdem du dem einen Hoffnung gemacht hast ...«
»Mama, liebste Mama, ich bitte Sie inständig, sprechen Sie nicht davon! Es ist so schrecklich, davon zu sprechen.«
»Nun, nun, dann will ich es lassen«, erwiderte die Mutter, als sie Tränen in Kittys Augen sah. »Nur eines, mein Herzchen: du hast mir versprochen, keine Geheimnisse vor mir zu haben. Wirst du deinem Versprechen treu bleiben?«
»Niemals werde ich Ihnen etwas verheimlichen, Mama, nichts, nichts!« antwortete Kitty errötend und blickte der Mutter gerade in die Augen. »Aber ich habe Ihnen jetzt nichts mitzuteilen ... Ich ... ich ... beim besten Willen weiß ich nicht, was ich Ihnen sagen könnte, und wie ... ich weiß nicht ...«
›Nein, mit diesen Augen kann sie keine Unwahrheit sagen‹, dachte die Mutter und lächelte über die Aufregung und das Glück ihres Kindes. Sie lächelte darüber, wie großartig und bedeutungsvoll der armen Kleinen das erschien, was jetzt in ihrem Herzen vorging.
Kitty machte in der Zeit nach dem Mittagessen bis zum Abend ähnliche Empfindungen durch wie ein Jüngling vor einer Schlacht. Ihr Herz pochte stark, und sie konnte mit ihren Gedanken bei keinem Gegenstande verweilen.
Sie fühlte, daß der heutige Abend, an dem die beiden jungen Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, zum ersten Male miteinander zusammentreffen sollten, ihr die Entscheidung ihres Schicksals bringen mußte. Und unaufhörlich stellte sie sich die beiden Nebenbuhler vor, bald einen jeden einzeln für sich, bald beide zusammen. Wenn sie an die Vergangenheit dachte, so verweilte sie mit Vergnügen und Rührung bei der Erinnerung an ihre Beziehungen zu Ljewin. Die Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an Ljewins Freundschaft mit ihrem verstorbenen Bruder verliehen ihrem Verhältnis zu ihm einen besonderen poetischen Reiz. Seine Liebe zu ihr, von der sie fest überzeugt war, schmeichelte ihr und bereitete ihr Freude. So konnte sie bei der Erinnerung an Ljewin leichten, freudigen Herzens sein. Dagegen mischte sich in die Erinnerung an Wronski immer eine Art von unbehaglichem Gefühl, obgleich er ein außerordentlich weltgewandtes, durchaus ruhiges Wesen hatte; als ob irgend etwas Unwahres nicht sowohl in ihm – denn er war überaus schlicht und herzlich – wie vielmehr in ihr selbst wäre, während sie sich Ljewin gegenüber völlig klar und unbefangen fühlte. Dafür aber trat ihr, sobald sie an die Zukunft an Wronskis Seite dachte, ein Bild voll Glanz und Glück vor Augen; an Ljewins Seite erschien ihr die Zukunft wie von einem Nebelschleier verhüllt.
Als sie sich in das obere Stockwerk begeben hatte, um sich umzukleiden, und dort in den Spiegel blickte, bemerkte sie mit Freude, daß sie einen ihrer guten Tage hatte und sich im Vollbesitz aller ihrer Kräfte befand, – und das war ja auch so nötig für alles, was ihr bevorstand. Sie fühlte sich imstande, die äußere Ruhe zu bewahren und sich mit freier Anmut zu bewegen.
Als sie um halb acht Uhr in den Salon trat, meldete der Diener: »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin.« Die Fürstin befand sich noch in ihrem Zimmer, auch der Fürst war noch nicht im Salon. ›Also jetzt kommt es!‹ dachte Kitty, und alles Blut strömte ihr zum Herzen. Sie erschrak über ihre Blässe, als sie in den Spiegel blickte.
Jetzt war sie sich ganz klar darüber, daß er nur deshalb so früh gekommen war, um sie allein zu treffen und ihr einen Antrag zu machen. Und jetzt zum ersten Male erschien ihr die ganze Sache auch von einer ganz anderen, neuen Seite. Erst jetzt begriff sie, daß die Frage nicht sie allein anginge – wen sie liebe und mit wem sie glücklich werden solle –, sondern daß sie im nächsten Augenblick genötigt sein werde, einen Menschen, den sie gern hatte, zu verletzen, und aufs grausamste zu verletzen. Und wofür? Dafür, daß dieser gute Mensch sie liebte, in sie verliebt war. Aber es war nicht zu vermeiden, es ging nicht anders, es mußte sein.
›Mein Gott, muß ich es ihm wirklich selbst sagen?‹ dachte sie. ›Soll ich ihm sagen, daß ich ihn nicht gern habe? Das wäre eine Unwahrheit. Was soll ich ihm denn nur sagen? Soll ich ihm sagen, daß ich einen anderen liebe? Nein, das kann ich unmöglich. Ich will weggehen, ja, ich will weggehen!‹
Sie war schon dicht an der Tür, als sie seine Schritte hörte. ›Nein, das wäre nicht ehrenhaft. Warum soll ich mich fürchten? Ich habe nichts Böses getan. Was sein muß, muß sein! Ich werde die Wahrheit sagen. Und ihm gegenüber kann mir das nicht peinlich sein. – Da ist er!‹ sagte sie zu sich selbst, als sie seine kräftige und dabei doch schüchterne Gestalt mit den glänzenden, auf sie gerichteten Augen erblickte. Sie sah ihm offen ins Gesicht, als wollte sie ihn um Schonung anflehen, und reichte ihm die Hand.
»Ich komme zu unrichtiger Zeit, es scheint noch zu früh zu sein«, sagte er, sich in dem leeren Salon um blickend. Als er sah, daß seine Erwartung eingetroffen war und ihn nichts hinderte, sich auszusprechen, wurde sein Gesicht tiefernst.
»Oh, nicht doch!« erwiderte Kitty und setzte sich an den Tisch.
»Gerade das hatte ich gewünscht, Sie allein zu treffen«, begann er, ohne sich zu setzen und ohne sie anzusehen, um nicht den Mut zu verlieren.
»Mama kommt sofort. Sie war gestern sehr müde. Gestern ...«
Sie sprach, ohne selbst zu wissen, was ihre Lippen redeten, und ohne ihren flehenden, traulich-freundlichen Blick von ihm abzuwenden.
Er sah sie an; sie errötete und verstummte.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht wüßte, ob ich für längere Zeit hierher nach Moskau gekommen sei und daß das von Ihnen abhängen werde ...«
Sie senkte den Kopf immer tiefer und tiefer hinab und wußte jetzt selbst nicht, was sie auf die herannahende Frage antworten werde.
»... daß das von Ihnen abhängen werde«, sagte er noch einmal. »Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ... Ich bin nach Moskau gekommen, um ... um ... Werden Sie mein Weib!« kam es auf einmal heraus, ohne daß er selbst gewußt hätte, was er sprach; aber da er fühlte, daß das Schrecklichste nun gesagt war, hielt er inne und blickte sie an.
Sie atmete schwer, ohne ihn anzusehen. Ein Wonnegefühl durchströmte sie; ihre ganze Seele war übervoll von Glücksempfindung. Sie hatte nie erwartet, daß ein Liebesgeständnis von einer Seite auf sie einen so gewaltigen Eindruck machen werde. Aber dies dauerte nur einen Augenblick. Dann tauchte bei ihr der Gedanke an Wronski auf. Sie hob ihre hellen, ehrlichen Augen zu Ljewin in die Höhe, und als sie die Verzweiflung in seinem Gesichte las, antwortete sie hastig:
»Es kann nicht sein. – Verzeihen Sie mir!«
Wie nahe hatte sie ihm noch einen Augenblick vorher gestanden, welche wichtige Stellung hatte sie in seinem Leben eingenommen! Und wie fremd, wie fern war sie ihm jetzt auf einmal!
»Es konnte nicht anders kommen«, sagte er, ohne sie anzusehen.
Er verbeugte sich und wollte fortgehen.
Aber in diesem Augenblick trat die Fürstin ein. Ein Erschrecken malte sich auf ihrem Gesichte, als sie die beiden so allein und ihre erregten Mienen sah. Ljewin verbeugte sich vor ihr, ohne ein Wort zu sagen; Kitty schwieg und hob die Augen nicht empor. ›Gott sei Dank, sie hat ihm einen Korb gegeben‹, dachte die Mutter, und auf ihrem Gesichte strahlte das gewöhnliche Lächeln auf, mit dem sie an jedem Donnerstage ihre Gäste begrüßte. Sie setzte sich und begann Ljewin über sein Leben auf dem Lande auszufragen. Er hatte gleichfalls wieder Platz genommen und wartete nur auf die Ankunft anderer Gäste, um dann unbemerkt wegzugehen.
Fünf Minuten darauf trat eine Freundin Kittys ein, die sich im vorigen Winter verheiratet hatte, eine Gräfin Northstone.
Dies war eine trockene, gelbliche, kränkliche, nervöse Dame mit schwarzen, glänzenden Augen. Sie mochte Kitty sehr gern, und diese freundschaftliche Gesinnung gegen sie äußerte sich, wie das bei der Freundschaft verheirateter Frauen mit jungen Mädchen stets der Fall ist, in dem Wunsche, Kitty in einer ihrem eigenen Ideale von Glück entsprechenden Weise unter die Haube zu bringen. Sie strebte danach, daß Kitty den Grafen Wronski zum Manne bekäme. Ljewin, den sie zu Anfang des Winters häufig bei Schtscherbazkis getroffen hatte, war ihr immer unsympathisch gewesen. Eine stete Lieblingsbeschäftigung von ihr beim Zusammentreffen mit ihm war es, sich über ihn lustig zu machen.
›Ich habe es gern, wenn er von seinem erhabenen Gipfel auf mich herabblickt und entweder im Gespräch mit mir seine klugen Auseinandersetzungen abbricht, weil ich ihm doch zu dumm dafür bin, oder auch zu mir herabsteigt. Das habe ich ganz besonders gern, dieses Herabsteigen! Ich freue mich sehr darüber, daß er mich nicht leiden kann‹, so pflegte sie sich über ihn zu äußern.
Sie hatte recht, da Ljewin sie in der Tat nicht leiden konnte und sie gerade wegen derjenigen Eigenschaften geringschätzte, auf die sie stolz war und die sie sich als Vorzug anrechnete, nämlich wegen ihrer Nervosität und wegen ihrer blasierten Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber allem Unverfeinerten und Schlicht-Realistischen.
Zwischen der Gräfin Northstone und Ljewin hatte sich ein in den Kreisen der höheren Gesellschaft nicht selten zu findendes Verhältnis herausgebildet, daß nämlich zwei Menschen zwar äußerlich in freundlicher Form miteinander verkehren, dabei aber sich gegenseitig in dem Maße geringschätzen, daß sie einan der nicht einmal ernst nehmen können und sogar einer sich vom anderen nicht beleidigt fühlen kann.
Die Gräfin Northstone fiel sogleich über Ljewin her.
»Ah, Konstantin Dmitrijewitsch! Sind wir wieder einmal nach unserem sittenlosen Babel gekommen?« sagte sie und reichte ihm ihre winzig kleine, gelbe Hand; sie zitierte damit einen Ausdruck, den er zu Anfang des Winters einmal gebraucht hatte, daß Moskau ein Babel sei. »Nun, hat sich das Babel gebessert, oder haben Sie sich verschlechtert?« fügte sie hinzu und sah mit spöttischem Lächeln zur Seite nach Kitty hin.
»Es ist mir sehr schmeichelhaft, Gräfin, daß Sie meine Worte so gut im Gedächtnis haben«, entgegnete Ljewin, dem es nun schon einigermaßen gelungen war, seine Fassung wiederzugewinnen, und der nun sofort seine herkömmlichen scherzhaft-feindlichen Beziehungen zu der Gräfin Northstone wieder aufnahm. »Offenbar haben sie Ihnen einen starken Eindruck gemacht.«
»Das versteht sich! Ich schreibe mir alles auf. Nun, Kitty, bist du wieder Schlittschuh gelaufen?«
Sie begann eine Unterhaltung mit Kitty. So wenig es sich auch für Ljewin schicken mochte, jetzt wegzugehen, so fand er es doch leichter, diese Ungeschicklichkeit zu begehen, als den ganzen Abend dazubleiben und Kitty zu sehen, die bisweilen nach ihm hinschaute, aber seinem Blick auswich. Er wollte gerade aufstehen, da wandte die Fürstin, die bemerkt hatte, daß er schwieg, sich ihm zu.
»Sind Sie auf längere Zeit nach Moskau gekommen? Sie sind ja wohl bei der Kreisverwaltung tätig und können darum nicht lange fort?«
»Nein, Fürstin, bei der Kreisverwaltung bin ich nicht mehr tätig«, antwortete er. »Ich bin auf ein paar Tage hergekommen.«
›Es muß etwas Besonderes mit ihm los sein‹, dachte die Gräfin Northstone, der sein ernster, strenger Gesichtsausdruck auffiel. ›Er läßt sich heute gar nicht zu einer seiner gewohnten Auseinandersetzungen verleiten. Aber ich werde ihn schon herauslocken. Es macht mir das größte Vergnügen, ihn in Kittys Gegenwart zum Narren zu halten. Das will ich auch heute tun.‹
»Konstantin Dmitrijewitsch«, redete sie ihn wieder an, »bitte, erklären Sie mir doch einen wunderlichen Fall, der uns vorgekommen ist; Sie verstehen sich ja auf all diese Dinge: Auf unserem Gute im Gouvernement Kaluga haben die sämtlichen Bauern mit ihren Weibern alles, was sie besaßen, vertrunken und bezahlen uns jetzt nichts. Wie soll man das auffassen? Sie loben ja die Bauern immer so sehr.«
In diesem Augenblick trat noch eine Dame ins Zimmer, und Ljewin stand auf.
»Entschuldigen Sie mich, Gräfin, aber ich verstehe wirklich nichts davon und kann Ihnen nichts darüber sagen«, entgegnete er und blickte zu einem Offizier hin, der hinter der Dame eintrat.
›Das muß Wronski sein‹, dachte Ljewin und schaute, um Gewißheit zu haben, zu Kitty hin. Diese hatte den Eintretenden bereits erblickt und sah sich jetzt nach Ljewin um. Und aus diesem einen Blicke ihrer unwillkürlich aufleuchtenden Augen erkannte Ljewin, daß sie diesen Mann liebte, und erkannte es mit solcher Sicherheit, wie wenn sie es ihm mit Worten mitgeteilt hätte. Aber was für ein Mann war dieser Wronski?
Jetzt konnte Ljewin, mochte es nun wohlgetan sein oder nicht, sich nicht dazu entschließen, wegzugehen; er mußte feststellen, was für ein Mann das war, den sie lieben konnte.
Es gibt Leute, die, wenn sie mit jemandem zusammentreffen, der auf irgendeinem Gebiete ihr glücklicher Nebenbuhler ist, sofort geneigt sind, von allem, was Gutes an ihm ist, die Augen wegzuwenden und nur das Schlechte zu sehen. Und wiederum gibt es Leute, die in ganz entgegengesetztem Verfahren eifrig danach verlangen, an diesem glücklichen Nebenbuhler diejenigen Eigenschaften herauszufinden, durch die er ihnen den Rang abgelaufen hat, und die an ihm nur das Gute suchen, mag ihnen auch der Schmerz fast das Herz abdrücken. Ljewin gehörte zu dieser Art. Und es wurde ihm nicht schwer, bei Wronski das Gute und Anziehende herauszufinden. Es sprang ihm sofort in die Augen. Wronski war ein Mann von mäßiger Größe, kräftig gebaut, brünett, mit einem hübschen, gutmütigen Gesichte, das einen außerordentlich ruhigen, festen Ausdruck trug. In seinem Gesicht und an seiner ganzen Gestalt, von dem kurz geschorenen dunklen Haar und dem frisch rasierten Kinn bis zu der bequem sitzenden nagelneuen Uniform, war alles an ihm einfach und zugleich vornehm. Wronski ließ zunächst die mit ihm ziemlich gleichzeitig eingetretene Dame zur Fürstin hingehen und trat dann selbst zu dieser und darauf zu Kitty heran.
In dem Augenblicke, als er zu ihr trat, leuchtete in seinen Augen eine besondere Zärtlichkeit auf; mit einem ganz leisen, glücklichen, bescheiden triumphierenden Lächeln (so schien es Ljewin) beugte er sich in respektvoller, ruhiger Bewegung zu ihr hinab und streckte ihr seine kleine, aber breite Hand entgegen.
Nachdem er alle Anwesenden begrüßt und mit jedem ein paar Worte gesprochen hatte, setzte er sich hin, ohne Ljewin auch nur angesehen zu haben, der seinerseits kein Auge von ihm verwandte.
»Gestatten die Herren, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte die Fürstin, auf Ljewin weisend. »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, Graf Alexei Kirillowitsch Wronski.«
Wronski stand auf, blickte Ljewin freundlich in die Augen und drückte ihm die Hand.
»Ich sollte ja wohl in diesem Winter einmal mit Ihnen zusammen an einem Diner teilnehmen«, sagte er mit seinem offenen, ungekünstelten Lächeln. »Aber Sie waren ganz unerwartet wieder aufs Land gereist.«
»Konstantin Dmitrijewitsch verachtet und haßt die Stadt und uns Städter«, bemerkte die Gräfin Northstone.
»Meine Worte müssen auf Sie einen starken Eindruck gemacht haben, da Sie sie so gut im Gedächtnis bewahren«, erwiderte Ljewin, errötete aber sofort, da ihm einfiel, daß er dasselbe schon vorhin gesagt hatte.
Wronski blickte Ljewin und die Gräfin Northstone an und lächelte.
»Sie leben immer auf dem Lande?« fragte er. »Ich denke mir, im Winter ist es da recht langweilig.«
»Wenn man seine Tätigkeit hat, ist es nicht langweilig; auch langweile ich mich nie, wenn ich mit mir allein bin«, versetzte Ljewin in etwas scharfem Tone.
»Ich liebe das Landleben«, sagte Wronski, der Ljewins Ton wohl bemerkte, aber tat, als ob ihm nichts auffiele.
»Aber Sie würden sich hoffentlich nicht dazu verstehen, immer auf dem Lande zu leben, Graf?« fragte die Gräfin Northstone.
»Das weiß ich nicht. Auf längere Zeit habe ich es noch nicht versucht. Ich habe einmal eine seltsame Empfindung durchgemacht«, fuhr er fort. »Ich habe mich nach dem Landleben, nach einem russischen Dorfe mit seinen Bauern und Bastschuhen nirgends so gesehnt wie in Nizza, wo ich mit meiner Mutter einen Winter zubrachte. Nizza ist ja an und für sich langweilig, wie Sie wissen, auch Neapel und Sorrent; schön sind sie nur bei kurzem Aufenthalt. Und gerade dort kommt einem besonders lebhaft die Erinnerung an Rußland und besonders an unsere Dörfer. Sie sind gleichsam ...«
Während er sprach, wandte er sich sowohl an Kitty wie auch an Ljewin und ließ seinen ruhigen, freundlichen Blick von einem zum anderen gleiten; er redete offenbar, wie es ihm gerade in den Sinn kam.
Als er bemerkte, daß die Gräfin Northstone etwas sagen wollte, hielt er inne, ohne den begonnenen Satz zu Ende zu bringen, und hörte ihr aufmerksam zu.
Das Gespräch stockte keinen Augenblick, so daß die alte Fürstin, die für den Fall etwa eintretenden Stoffmangels immer zwei schwere Geschütze in Reserve hielt, den Vergleich der klassischen Bildung mit der Realbildung und die allgemeine Wehrpflicht, diese nicht ins Treffen zu bringen brauchte und die Gräfin Northstone keine Gelegenheit fand, Ljewin aufzuziehen.
Ljewin wünschte wohl, sich an dem allgemeinen Gespräche zu beteiligen, war aber nicht dazu imstande. Jeden Augenblick sagte er sich: ›Jetzt will ich gehen‹, ging aber doch nicht, als wenn er noch auf etwas wartete.
Es war auf Tischrücken und Geister die Rede gekommen, und die Gräfin Northstone, die an den Spiritismus glaubte, begann von wunderbaren Vorgängen zu erzählen, die sie mit angesehen habe.
»Ach, Gräfin, zu den Leuten müssen Sie mich jedenfalls einmal mit hinnehmen, ich bitte Sie um alles in der Welt, nehmen Sie mich mit hin! Ich habe noch nie etwas Übernatürliches gesehen, obgleich ich überall danach suche«, sagte Wronski lächelnd.
»Nun gut, also nächsten Sonnabend«, antwortete die Gräfin Northstone. »Wie steht es mit Ihnen, Konstantin Dmitrijewitsch, glauben Sie daran?« wandte sie sich an Ljewin.
»Warum fragen Sie mich? Sie wissen ja, was ich sagen werde.«
»Aber ich möchte gern Ihre Ansicht hören.«
»Meine Ansicht ist nur die«, antwortete Ljewin, »diese tanzenden Tische beweisen, daß die sogenannte gebildete Gesellschaft in geistiger Hinsicht nicht höher steht als die Bauern. Die Bauern glauben an den bösen Blick und an Behexung des Viehs und an Liebeszauber, und wir ...«
»Also Sie glauben nicht daran?«
»Ich kann nicht daran glauben, Gräfin.«
»Aber wenn ich es doch mit eigenen Augen gesehen habe?«
»Die Bauersfrauen erzählen auch, daß sie mit eigenen Augen Hauskobolde gesehen haben.«
»Sie meinen also, daß ich die Unwahrheit sage?«
Sie lachte ärgerlich und gereizt.
»Nicht doch, Mascha; Konstantin Dmitrijewitsch sagt doch nur, daß er nicht daran glauben kann«, suchte Kitty zu vermitteln. Sie errötete aus Teilnahme für Ljewin, und dieser, der das richtig verstand, wollte eben, nun noch mehr gereizt, eine Antwort geben, da kam Wronski mit seinem offenen, heiteren Lächeln dem Gespräche, das unerfreulich zu werden drohte, zu Hilfe.
»Sie stellen also die Möglichkeit völlig in Abrede?« fragte er. »Warum denn? Wir geben doch das Vorhandensein der Elektrizität zu, deren Wesen uns gleichfalls dunkel ist; warum könnte es nicht eine neue, uns noch unbekannte Kraft geben, die ...«
»Als die Elektrizität entdeckt wurde«, unterbrach ihn Ljewin erregt, »wurde zunächst nur ihre äußere Erscheinungsform entdeckt; welches der Ursprung der Elektrizität sei und welche Wirkungen sie hervorbringe, das blieb unbekannt, und Jahrhunderte vergingen, ehe man daran dachte, sie praktisch zu verwenden. Die Spiritisten dagegen begannen damit, daß sie die Tische schreiben und die Geister zu Besuch kommen ließen, und sagten dann erst, das sei eine unbekannte Kraft.«
Wronski hörte, wie er das immer tat, aufmerksam zu und interessierte sich augenscheinlich für das, was Ljewin sagte.
»Ja, aber die Spiritisten sagen: ›Jetzt wissen wir noch nicht, was für eine Kraft das ist; aber eine Kraft ist da, und man sieht, unter welchen Bedingungen sie wirkt. Mögen die Gelehrten erforschen, worin diese Kraft besteht.‹ Nein, ich kann nicht sagen, warum das nicht eine neue Kraft sein könnte, wenn sie ...«
»Darum nicht«, unterbrach ihn Ljewin wieder, »weil bei der Elektrizität jedesmal, wenn Sie ein Stück Harz an Wolle reiben, eine bestimmte Erscheinung eintritt, hier aber nicht jedesmal; folglich liegt keine Naturerscheinung vor.«
Wronski, der wohl das Gefühl hatte, daß das Gespräch einen für einen Salon zu ernsten Charakter annahm, erwiderte nichts weiter, sondern wandte sich in der Absicht, das Gesprächsthema zu wechseln, mit heiterem Lächeln den Damen zu.
»Lassen Sie uns doch gleich einmal einen Versuch anstellen, Gräfin!« fing er an; aber Ljewin wollte seinen Gedanken gern erst noch vollständig aussprechen.
»Ich bin der Meinung«, fuhr er fort, »daß dieser Versuch der Spiritisten, ihre Wunder durch irgendeine neue Kraft zu erklären, ganz erfolglos ist. Sie reden geradeheraus von einer unkörperlichen Kraft und suchen ihr doch durch das materielle Experiment beizukommen.«
Alle warteten darauf, daß er schlösse, und er fühlte das.
»Ich glaube, Sie würden ein vorzügliches Medium sein«, sagte die Gräfin Northstone. »Sie haben so etwas Schwärmerisches an sich.«
Ljewin öffnete den Mund und wollte etwas erwidern; aber er errötete und schwieg.
»Wollen wir es gleich einmal mit dem Tischrücken versuchen, Prinzessin?« sagte Wronski. »Sie erlauben es doch, Fürstin?«
Er stand auf und suchte mit den Augen nach einem Tischchen.
Kitty erhob sich, um ein Tischchen zu beschaffen, und als sie bei Ljewin vorbeiging, begegneten sich ihre Blicke. Er tat ihr in tiefster Seele leid, um so mehr, als sie selbst die Ursache des Unglücks war, um dessentwillen sie ihn bemitleidete. ›Wenn für mich Verzeihung möglich ist, so verzeihen Sie mir!‹ sagte ihr Blick. ›Ich bin so glücklich.‹
›Ich hasse alle Menschen, auch Sie und mich selbst‹, antwortete sein Blick, und er griff nach sei nem Hute. Es war ihm aber nicht beschieden, davonzukommen. Gerade als die anderen sich um ein Tischchen gruppierten und Ljewin fortgehen wollte, trat der alte Fürst ein und wandte sich, nachdem er die Damen begrüßt hatte, Ljewin zu.
»Ah!« rief er erfreut. »Sind Sie schon lange hier in Moskau? Ich wußte gar nicht, daß du hier bist. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen!«
Der alte Fürst nannte Ljewin manchmal du, manchmal Sie. Er umarmte ihn und beachtete, während er mit ihm sprach, Wronski nicht, der aufgestanden war und ruhig wartete, bis sich der Fürst ihm zuwenden würde.
Kitty fühlte, wie drückend nach dem, was vorgefallen war, für Ljewin die Liebenswürdigkeit ihres Vaters sein müsse. Sie bemerkte auch, wie kühl ihr Vater endlich Wronskis Verbeugung erwiderte und wie Wronski mit freundlicher Verwunderung ihren Vater anblickte und sich vergebens bemühte, zu begreifen, was wohl der Grund einer unfreundlichen Stimmung gegen ihn sein könne, und sie errötete.
»Überlassen Sie uns Konstantin Dmitrijewitsch, Fürst!« sagte die Gräfin Northstone. »Wir möchten gern ein Experiment vornehmen.«
»Was für ein Experiment? Wohl Tischrücken? Na, nehmen Sie es mir nicht übel, meine Damen und Herren, aber meiner Ansicht nach ist das Ringspiel weit vergnüglicher«, sagte der alte Fürst und blickte dabei Wronski an, in dem er den Anstifter erriet. »Im Ringspiel liegt doch noch ein Sinn.«
Wronski sah mit einem festen Blick den Fürsten erstaunt an und begann dann sofort mit einem kaum merklichen Lächeln sich mit der Gräfin Northstone von dem großen Balle zu unterhalten, der in der nächsten Woche bevorstand.
»Ich hoffe, daß auch Sie dort sein werden«, wandte er sich an Kitty.
Sobald sich der Fürst von ihm weggewandt hatte, ging Ljewin unbemerkt hinaus, und der letzte Eindruck, den er von dieser Abendgesellschaft mit sich nahm, war Kittys lächelndes, glückliches Gesicht, mit dem sie Wronskis Frage nach dem Balle beantwortete.
Nachdem die Abendgesellschaft ihr Ende gefunden hatte, erzählte Kitty ihrer Mutter ihr Gespräch mit Ljewin, und trotz allem Mitleid, das sie für ihn empfand, machte ihr doch der Gedanke Freude, daß sie ›einen Antrag gehabt habe‹. Sie war nicht im geringsten im Zweifel, daß sie gehandelt habe, wie sie eben habe handeln müssen. Aber im Bett konnte sie lange Zeit nicht einschlafen. Ein bestimmter Eindruck wollte gar nicht aus ihrer Erinnerung weichen. Es war Ljewins Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen und den finster und traurig darunter hervorblickenden guten Augen, wie er dastand und ihrem Vater zuhörte und nach ihr und Wronski hinblickte. Und er tat ihr so leid, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Aber im nächsten Augenblick erinnerte sie sich an den, für den sie ihn hingegeben hatte. Lebhaft stellte sie sich dieses männliche, feste Gesicht vor, diese vornehme Ruhe, und die Herzensgüte, die aus seinem ganzen Benehmen gegen alle und jedermann hervorleuchtete; sie dachte daran, wie der, den sie liebte, sie wieder liebte, und es wurde ihr wieder froh ums Herz, und mit glückseligem Lächeln drückte sie den Kopf in das Kissen. ›Er tut mir leid, er tut mir leid; aber was sollte ich tun? Ich habe keine Schuld‹, sagte sie zu sich selbst; aber eine innere Stimme sprach anders zu ihr. Ob sie bereute, Ljewin an sich gezogen oder ihn zurückgewiesen zu haben, das wußte sie selbst nicht. Aber ihr Glück war durch Zweifel getrübt. »Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich!« sprach sie im Einschlafen vor sich hin.
Zu derselben Zeit spielte sich unten in dem kleinen Arbeitszimmer des Fürsten eine jener Szenen ab, wie sie sich häufig wegen der Lieblingstochter zwischen den Eltern wiederholten.
»Was ich damit sagen will? Das will ich sagen!« rief der Fürst; dabei fuchtelte er mit den Armen umher, schlug dann aber gleich wieder seinen mit Eichhornfell gefütterten Schlafrock übereinander. »Daß Sie keinen Stolz, keine Würde besitzen, daß Sie unsere Tochter bloßstellen und unglücklich machen durch diese nichtswürdige, dumme Ehestifterei!«
»Aber ich bitte dich, um Gottes willen, Fürst, was habe ich denn getan?« rief die Fürstin, beinahe in Tränen ausbrechend.
Glücklich und zufrieden war sie nach dem Gespräche mit ihrer Tochter zum Fürsten gekommen, um ihm wie gewöhnlich gute Nacht zu sagen; zwar von Ljewins Antrage und Kittys abschlägiger Antwort hatte sie ihrem Mann nichts sagen wollen; aber sie hatte ihm doch angedeutet, daß sie die Angelegenheit mit Wronski als ganz sicher betrachte und daß sie zur Entscheidung kommen werde, sobald seine Mutter einträfe. Bei diesen Worten war der Fürst plötzlich aufgefahren und hatte in derben Ausdrücken zu schelten angefangen.
»Was Sie getan haben? Das liegt auf der Hand: Erstens haben Sie einen Freier angelockt, und ganz Moskau wird darüber reden, und mit Fug und Recht. Wenn Sie Abendgesellschaften veranstalten, dann sollten Sie allerlei Leute einladen und nicht nur ausgewählte Heiratskandidaten. Laden Sie alle diese Windhunde ein« (so nannte der Fürst die jungen Männer von Moskau), »nehmen Sie einen Klavierspieler an und lassen Sie sie tanzen; aber nicht so wie heute, nur Heiratskandidaten, um etwas zusammenzukuppeln. Mir ist es ekelhaft, das mit anzusehen, geradezu ekelhaft; aber Sie haben es erreicht, dem Kinde den Kopf zu verdrehen. Ljewin ist ein tausendmal wertvollerer Mensch. Dagegen dieser Petersburger Geck, solche Dutzendware, alle nach derselben Schablone, und sämtlich Schund. Aber wenn er auch ein Prinz von Geblüt wäre, meine Tochter hat es nicht nötig, sich einen Freier verschaffen zu lassen!«
»Aber was habe ich denn getan?«
»Sie hören es ja!« schrie der Fürst zornig.
»Soviel ich weiß«, unterbrach ihn die Fürstin, »wenn es nur nach dir ginge, würden wir unsere Tochter niemals verheiraten. Dann könnten wir auch lieber aufs Land hinausziehen.«
»Das wäre auch das beste!«
»So höre doch nur! Bin ich etwa entgegenkommend gewesen? Doch nicht im entferntesten. Ein junger Mann, und ein sehr netter junger Mann, hat sich in sie verliebt, und es scheint, daß sie ...«
»Jawohl, jetzt heißt es: ›Es scheint!‹ Aber wenn sie sich nun wirklich in ihn verliebt und er ans Heiraten ebensowenig denkt wie ich? – Ich mag dieses Getue gar nicht ansehen! ›Ah, der Spiritismus! Ah, Nizza! Ah, auf dem Balle!‹« Der Fürst versuchte, die Rolle seiner Frau zu spielen, und knickste bei jedem Worte. »So führen wir Kittys Unglück herbei, und sie setzt sich wirklich in den Kopf, daß dieser Mensch ...«
»Wieso glaubst du denn das von ihm?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es; für so etwas haben wir Männer Blick und ihr Weiber nicht. Ich sehe da einen jungen Mann, der ernste Absichten hat, das ist Ljewin; und ich sehe da einen hohlen Patron, diesen lockeren Zeisig, der sich nur amüsieren will.«
»Du hast dich nun einmal in diese Vorstellung verrannt ...«
»Du wirst schon noch an das denken, was ich gesagt habe, aber wenn's zu spät ist; gerade wie bei der armen Dolly.«
»Nun gut, gut, wir wollen nicht weiter davon reden«, fiel ihm die Fürstin ins Wort, der die Erinnerung an die unglückliche Dolly zu schmerzlich war.
»Na schön, dann gute Nacht!«
Die Gatten bekreuzten und küßten einander; aber sie fühlten beim Auseinandergehen, daß jeder von ihnen bei seiner Meinung blieb.
Die Fürstin war vorher fest davon überzeugt gewesen, daß der heutige Abend über Kittys Geschick entschieden habe und daß an Wronskis Absichten kein Zweifel möglich sei; aber die Worte ihres Mannes hatten sie doch in dieser Überzeugung wankend gemacht. Und als sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, wiederholte sie, ganz wie Kitty, in banger Sorge vor der unbekannten Zukunft, mehrmals im stillen: ›Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich!‹
Wronski hatte niemals ein Familienleben gekannt. Seine Mutter war in ihrer Jugend eine glänzende Weltdame gewesen und hatte während ihrer Ehe, besonders aber nachher, mancherlei Liebesverhältnisse gehabt, die der gesamten feineren Gesellschaft bekannt waren. Seinen Vater hatte er kaum gekannt; er war im Pagenkorps erzogen worden.
Nachdem er das Korps als ein sehr junger, glänzender Leutnant verlassen hatte, geriet er sogleich in die Kreise der reichen Offiziere Petersburgs hinein. Seine Liebesgeschichten spielten alle außerhalb der vornehmen Petersburger Gesellschaft, obgleich er ab und zu auch dort verkehrte.
In Moskau lernte er nach dem üppigen, rohen Petersburger Leben zum ersten Male den Reiz des Umgangs mit einem liebenswürdigen, unschuldigen Mädchen aus guter Familie kennen, das ihn liebgewonnen hatte. Es kam ihm nicht im entferntesten in den Sinn, daß in seinem Verhältnisse zu Kitty irgend etwas Schlechtes liegen könne. Auf den Bällen tanzte er vorzugsweise mit ihr; er verkehrte im Hause ihrer Eltern. Er redete mit ihr so, wie man gewöhnlich in Gesellschaft redet, allerlei unbedeutendes Zeug; aber unwillkürlich verlieh er diesem unbedeutenden Zeuge für Kitty einen bedeutsamen Unterton. Obwohl er nichts zu ihr sagte, was er nicht hätte vor aller Ohren sagen können, fühlte er doch, daß sie immer mehr und mehr in eine gewisse Abhängigkeit von ihm hineingeriet, und je deutlicher er das merkte, um so angenehmer war seine Empfindung dabei und um so zärtlicher wurde sein Gefühl für sie. Er wußte nicht, daß eine Handlungsweise wie die seinige Kitty gegenüber einen bestimmten Namen trägt, daß das, ohne die Absicht, sie zu heiraten, eine Betörung junger Mädchen ist und daß solche Betörung zu den schlechten Streichen gehört, wie sie bei vornehmen jungen Männern wie ihm nur zu gewöhnlich sind. Er hatte die Vorstellung, als sei er der erste, der dieses Vergnügen entdeckt habe, und freute sich dieser seiner Entdeckung.
Hätte er hören können, was Kittys Eltern an diesem Abend miteinander sprachen, hätte er erfahren, wie die Sache vom Standpunkte der Familie aus betrachtet wurde, daß er Kitty unglücklich machen würde, wenn er sie nicht heiratete, so hätte er sich höchlich gewundert und es nicht geglaubt. Er konnte nicht glauben, daß das, was ihm und namentlich auch ihr ein so großes, schönes Vergnügen bereitete, etwas Schlechtes sei. Und noch weniger hätte er glauben können, daß es seine Pflicht sei, sie zu heiraten.
Daß er sich verheiraten werde, war ihm überhaupt noch nie als möglich erschienen. Das Familienleben hatte für ihn nichts Verlockendes; ja, mit dem Begriffe der Familie und besonders des Ehemannes verband er, in Übereinstimmung mit der in der Junggesellenwelt, in der er lebte, allgemein üblichen Anschauung, die Vorstellung von etwas Fremdartigem, Feindlichem und namentlich von etwas Lächerlichem. Aber obgleich Wronski nicht die geringste Ahnung von dem Inhalte des elterlichen Gespräches hatte, so fühlte er doch, als er an diesem Abende von Schtscherbazkis wegging, daß das geheime seelische Band, das zwischen ihm und Kitty vorhanden war, durch den heutigen Abend so sehr an Festigkeit zugenommen habe, daß er etwas unternehmen müsse. Aber was er unternehmen könne oder müsse, das vermochte er sich nicht zu sagen.
›Das ist ja eben das Reizvolle‹, dachte er, als er auf dem Heimwege von Schtscherbazkis begriffen war und, wie immer, von ihnen ein angenehmes Gefühl der Reinheit und Frische mitnahm (das allerdings zum Teil auch davon herrührte, daß er den ganzen Abend über nicht geraucht hatte) und zugleich ein ihm neues Gefühl der Rührung über Kittys Liebe zu ihm, › ... das ist ja eben das Reizvolle, daß weder von meiner noch von ihrer Seite bis jetzt etwas ausgesprochen ist und wir einander doch bei diesem geheimen Gespräche der Blicke und des Stimmklanges verstanden haben; und auf diese Art hat sie mir heute deutlicher als sonst je gesagt, daß sie mich liebt. Und wie lieb, wie schlicht und wie zutraulich kam es heraus! Ich fühle, daß ich ein Herz habe und daß viel Gutes in mir lebt. O diese lieben, verliebten Augen, als sie sagte: »und sehr«! – Na, und was ist dabei? Nichts, gar nichts. Mir macht es Vergnügen und ihr auch.‹ Und nun überlegte er, wo er wohl diesen Abend beschließen könne.
Er ging in Gedanken die Orte durch, wo er hingehen könnte. ›In den Klub? Eine Partie Besik und eine Flasche Champagner mit Ignatow? Nein, dahin mag ich nicht. Ins Château des fleurs? Da träfe ich Oblonski. Aber Couplets und Cancan? Nein, das ist mir jetzt zuwider geworden. Gerade darum verkehre ich so gern bei Schtscherbazkis, weil ich da selbst ein besserer Mensch werde. Ich will nach Hause fahren!‹ Er ging im Hotel Dussot geradenwegs auf sein Zimmer, ließ sich ein Abendessen dorthin bringen, kleidete sich dann aus und hatte den Kopf kaum auf das Kissen gelegt, als er auch schon in festen Schlaf versank.
Am anderen Morgen um elf Uhr fuhr Wronski nach dem Bahnhofe der Petersburger Eisenbahn, um seine Mutter abzuholen, und der erste, den er auf den Stufen der großen Treppe traf, war Oblonski, der mit demselben Zuge seine Schwester erwartete.
»Ah, Euer Erlaucht!« rief Oblonski. »Wen erwartest du denn?«
»Ich erwarte meine Mutter«, antwortete Wronski und lächelte, wie eben alle Leute zu lächeln pflegten, die mit Oblonski zusammentrafen; er drückte ihm die Hand und ging mit ihm zusammen weiter die Treppe hinauf. »Sie muß mit diesem Zuge aus Petersburg eintreffen.«
»Bis zwei Uhr habe ich in dieser Nacht auf dich gewartet. Wo bist du denn von Schtscherbazkis hingefahren?«
»Nach Hause«, erwiderte Wronski. »Offen gestanden, ich war gestern nach dem Besuche bei Schtscherbazkis in so vergnügter Stimmung, daß ich keine Lust hatte, noch anderswohin zu fahren.«
»Am gebrannten Mal erseh ich,
Ob von edler Art ein Roß;
An des Jünglings Aug erspäh ich,
Ob ins Herz ihn Amor schoß«,
deklamierte Stepan Arkadjewitsch, geradeso wie tags zuvor bei dem Zusammensein mit Ljewin.
Wronski lächelte dazu mit einer Miene, als wollte er das nicht gerade ableugnen, ging aber sofort zu einem anderen Gegenstande über.
»Und wen willst du denn abholen?« fragte er.
»Ich? Eine sehr hübsche Frau«, erwiderte Oblonski.
»Ei, sieh mal!«
»Honny soit qui mal y pense! Meine Schwester Anna.«
»Ah so! Das ist Frau Karenina?« fragte Wronski.
»Du kennst sie doch?«
»Ich glaube wohl. Oder doch nicht? – Ich besinne mich wirklich nicht«, antwortete Wronski zerstreut; der Name Karenina rief bei ihm eine dunkle Vorstellung von etwas Pedantischem, Langweiligem hervor.
»Aber meinen berühmten Schwager Alexei Alexandrowitsch wirst du doch sicherlich kennen. Den kennt ja die ganze Welt.«
»Ja, das heißt, ich kenne ihn par renommée und von Ansehen. Ich weiß, daß er ein kluger, gelehrter Mann, so etwas ganz Großartiges ist. Aber du weißt, dergleichen ist nicht in meiner – not in my line«, versetzte Wronski.
»Ja, er ist ein sehr bedeutender Mensch; ein bißchen sehr konservativ, aber ein prächtiger Mensch«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch, »ein ganz prächtiger Mensch.«
»Nun, das ist ja schön für ihn«, sagte Wronski lächelnd. »Ah, du bist ja auch hier!« wandte er sich an den alten Diener seiner Mutter, einen Mann von großer Gestalt, der an der Tür stand. »Komm nur mit hinein!«
Wronski fühlte sich in der letzten Zeit – ganz abgesehen von der Anziehungskraft, die Oblonskis sympathisches Wesen auf alle Leute ausübte – zu ihm auch deshalb hingezogen, weil er immer in ihm Kittys Schwager sah.
»Nun, wie steht's? Werden wir nächsten Sonntag das Souper zu Ehren der Diva zustande bringen?« fragte er ihn lächelnd und faßte ihn unter den Arm.
»Unzweifelhaft. Ich sammle Unterschriften dazu. – Da fällt mir ein: hast du gestern meinen Freund Ljewin kennengelernt?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Gewiß. Aber er ging sehr früh fort.«
»Ein ganzer Prachtkerl«, fuhr Oblonski fort. »Nicht wahr?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Wronski, »woher das kommt, daß alle Moskauer – die, mit denen ich jedesmal rede, selbstverständlich ausgenommen«, schob er scherzend ein – »eine eigentümliche Schroffheit an sich haben. Es ist immer, als ob sie sich auf die Hinterbeine stellten, als ob sie sich ärgerten und es einem gehörig geben wollten.«
»Ja, so ist es, wahrhaftig, das stimmt«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch heiter lachend.
»Nun, kommt der Zug bald?« wandte sich Wronski an einen Bahnbeamten.
»Er ist schon gemeldet«, antwortete dieser.
Das Herannahen des Zuges machte sich durch mancherlei Anzeichen immer mehr bemerkbar: Bahnbeamte waren in eifriger Bewegung, um die Vorbereitungen zu seinem Empfange zu treffen, Gepäckträger liefen hierhin und dorthin, es erschienen Gendarmen und die höheren Stationsbeamten, es fand sich ein zahlreiches Publikum ein, um Ankommende abzuholen. Durch den Kältedunst hindurch sah man Arbeiter in kurzen Pelzen und weichen Filzstiefeln über die Schienen der sich mannigfach miteinander verschlingenden Gleise laufen. Man hörte das Pfeifen einer Lokomotive auf einem vom Bahnsteige weiter ab liegenden Gleise und wie eine schwere Masse in Bewegung gesetzt wurde.
»Nein«, sagte Stepan Arkadjewitsch, der die größte Lust verspürte, Wronski etwas von Ljewins Absichten auf Kitty zu erzählen, »nein, du hast meinen lieben Ljewin doch nicht richtig beurteilt. Er ist ein sehr nervöser Mensch und wird manchmal unangenehm, das ist ja wahr; aber dafür ist er auch zu anderen Zeiten außerordentlich nett. Er ist ein durchaus ehrenhafter, aufrichtiger Charakter und hat ein goldenes Herz. Gestern lagen allerdings ganz besondere Gründe vor«, fuhr Stepan Arkadjewitsch mit vielsagendem Lächeln fort; er hatte das aufrichtige Mitgefühl, das er tags zuvor für seinen Freund empfunden hatte, vollständig vergessen und empfand jetzt etwas ganz Ähnliches, aber für Wronski. »Ja, es war ein Grund vorhanden, aus dem er entweder besonders glücklich oder besonders unglücklich sein konnte.«
Wronski blieb stehen und fragte geradezu: »Was meinst du für einen Grund? Hat er etwa deiner Schwägerin einen Heiratsantrag gemacht?«
»Leicht möglich«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Ich hatte gestern den Eindruck, als ob er so etwas vor hätte. Und wenn er früh wegging und übler Laune war, so wird es wohl so gewesen sein. Er ist schon so lange in sie verliebt und tut mir außerordentlich leid.«
»Sieh, sieh! – Ich glaube übrigens, daß sie auf eine bessere Partie rechnen kann«, sagte Wronski, nahm eine selbstbewußte Haltung an und setzte seine Wanderung auf dem Bahnsteige fort. »Übrigens kenne ich ihn zu wenig«, fügte er hinzu. »Ja, das ist wohl eine unangenehme Lage! Darum ziehen auch die meisten den Umgang mit Damen der Halbwelt vor. Ein Mißerfolg bei einer solchen beweist nur, daß man nicht genug Geld hatte; aber hier liegt man mit seinem persönlichen Werte auf der Waagschale. – Aber da kommt der Zug.«
Wirklich pfiff in der Ferne bereits die Lokomotive. Nach einigen Augenblicken erzitterte der Bahnsteig, und keuchend ihren Dampf ausstoßend, den die Kälte sogleich herunterdrückte, rollte die Lokomotive heran, mit dem langsam und taktmäßig sich zusammenbiegenden und ausstreckenden Hebel des Mittelrades und mit dem grüßenden, dick vermummten, reifbedeckten Maschinisten. Und hinter dem Tender, immer langsamer und mit immer stärkerer Erschütterung des Bahnsteiges, glitt der Wagen mit dem Gepäck und mit einem winselnden Hunde vorüber; endlich folgten die Personenwagen und blieben mit einem letzten Zittern stehen.
Der Zugführer, eine hübsche, männliche Erscheinung, hatte noch während des Fahrens seine Signalpfeife ertönen lassen und sprang nun ab; unmittelbar nach ihm stiegen ungeduldige Fahrgäste einzeln aus: ein Gardeoffizier in sehr gerader Haltung, mit strenger Miene um sich blickend, ein vergnügt lächelnder junger, beweglicher Kaufmann mit einer Handtasche, ein Bauer mit einem Quersack auf der Schulter.
Wronski, der neben Oblonski stand, betrachtete die Wagen und die Aussteigenden und hatte seine Mutter vollständig vergessen. Was er soeben über Kitty er fahren hatte, regte ihn auf und freute ihn. Unwillkürlich hob sich seine Brust, und seine Augen leuchteten. Er fühlte sich als Sieger.
»Die Gräfin Wronskaja befindet sich in jenem Abteil dort«, sagte der forsche Zugführer, der an Wronski herantrat.
Diese Worte des Zugführers rüttelten ihn aus seinen Gedanken auf und brachten ihm wieder seine Mutter und das bevorstehende Wiedersehen mit ihr in Erinnerung. Im Grunde seines Herzens hegte er keine besondere Verehrung für seine Mutter und auch keine Liebe, ohne sich über den Grund dafür eigentlich klar zu sein; jedoch konnte er, in Übereinstimmung mit den Anschauungen der Kreise, in denen er lebte, und infolge seiner Erziehung, sich gar kein anderes Verhältnis zu seiner Mutter vorstellen als das des unbedingten Gehorsams und der größten Hochachtung, und er bekundete Gehorsam und Hochachtung nach außen hin mit um so größerer Beflissenheit, je weniger er seine Mutter im Herzen verehrte und liebte.
Wronski folgte dem Zugführer zu dem Wagen und blieb am Eingang des Abteils stehen, um eine aussteigende Dame vorüberzulassen.
Mit dem erfahrenen Urteile des Weltmannes hatte Wronski beim ersten Blicke auf die äußere Erscheinung dieser Dame ihre Zugehörigkeit zur besten Gesellschaft festgestellt. Er entschuldigte sich und schickte sich nun an, in den Wagen einzusteigen, fühlte sich jedoch veranlaßt, sich noch einmal nach ihr umzusehen, nicht deshalb, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen ihrer vornehmen Erscheinung und bescheidenen Anmut, die in ihrer ganzen Gestalt zur Erscheinung kam, sondern weil in dem Ausdrucke des lieblichen Gesichtes, als sie an ihm vorbeiging, etwas ganz besonders Angenehmes und Freundliches gelegen hatte. Als er sich umschaute, wandte sie gleichfalls den Kopf zurück. Die glänzenden grauen, durch die dichten Wimpern schwarz erscheinenden Augen richteten sich mit prüfender Aufmerksamkeit und freundlichem Ausdrucke auf sein Gesicht, als ob sie in ihm einen Bekannten erkenne, wandten sich dann aber sofort von ihm ab und der vorüberströmenden Menge zu, als wenn sie dort jemand suchten. Dieser kurze Blick hatte Wronski doch die verhaltene Lebhaftigkeit erkennen lassen, die wie ein Schimmer auf ihrem Gesichte spielte und zwischen den glänzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als schlösse ihr Wesen eine solche Überfülle von Lebenslust ein, daß diese sich unwillkürlich bald in dem Glanze der Augen, bald in dem Lächeln des Mundes bekunden müsse. Und wenn sie diesen Glanz in den Augen absichtlich dämpfte, so leuchtete er wider ihren Willen in dem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf.
Wronski stieg in den Wagen. Seine Mutter, eine hagere alte Dame mit schwarzen Augen und schwarzen Löckchen, betrachtete ihren Sohn mit zusammengekniffenen Augen und lächelte dann ein wenig mit den schmalen Lippen. Darauf erhob sie sich von dem Polstersitze, übergab der Kammerjungfer eine kleine Reisetasche und streckte ihrem Sohne ihre kleine, trockene Hand zum Kusse hin; dann hob sie seinen Kopf von ihrer Hand in die Höhe und küßte ihn auf die Wangen.
»Hast du mein Telegramm erhalten?« fragte sie. »Bist du gesund? Ja? Nun, Gott sei Dank!«
»Hatten Sie eine gute Fahrt?« fragte der Sohn seinerseits, indem er sich neben sie setzte und unwillkürlich nach einer weiblichen Stimme vor der Tür hinhorchte. Er wußte, daß es die Stimme der Dame war, der er beim Hereinkommen begegnet war.
»Ich kann trotzdem nicht darauf eingehen«, sagte die Stimme der Dame.
»Das ist so eine Petersburger Anschauung, gnädige Frau.«
»Nicht eine Petersburger Anschauung, sondern einfach eine weibliche.«
»Schade, nun, dann gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.«
»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch! Bitte, sehen Sie sich doch einmal um, ob mein Bruder nicht da ist, und schicken Sie ihn zu mir her!« sagte die Dame dicht an der Tür und kam wieder in das Abteil herein.
»Nun, haben Sie Ihren Bruder gefunden?« fragte die Gräfin Wronskaja, sich zu der Dame wendend.
Wronski wurde sich jetzt darüber klar, daß dies Frau Karenina sein müsse.
»Ihr Bruder ist hier«, sagte er und erhob sich. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sogleich erkannt habe; aber unsere Bekanntschaft ist ja nur so kurz gewesen«, fuhr er mit einer Verbeugung fort, »daß Sie sich meiner gewiß gar nicht erinnern.«
»O doch«, versetzte sie, »und ich hätte Sie auch wiedererkannt, da Ihre liebe Mutter und ich auf der ganzen Reise fast nur von Ihnen gesprochen haben.« Bei diesen Worten ließ sie endlich ihre bisher zurückgedämmte Lebhaftigkeit in einem Lächeln zum Ausdruck kommen. »Aber meinen Bruder sehe ich trotz dem nicht.«
»Rufe ihn doch, Alexei!« sagte die alte Gräfin.
Wronski trat auf den Bahnsteig hinaus und rief: »Oblonski! Hier!«
Aber Frau Karenina wartete nicht so lange, bis ihr Bruder herankam, sondern stieg, sobald sie ihn erblickte, mit festem, leichtem Schritte aus dem Wagen. Und sobald der Bruder zu ihr trat, legte sie mit einer Bewegung, von deren Entschiedenheit und Anmut Wronski überrascht war, ihm den linken Arm um den Hals, zog den Bruder rasch an sich und küßte ihn herzhaft. Wronski blickte unverwandt zu ihr hin und lächelte, ohne selbst recht zu wissen, worüber. Aber da erinnerte er sich, daß seine Mutter auf ihn wartete, und stieg wieder in den Wagen.
»Nicht wahr, eine allerliebste Frau?« sagte die Gräfin mit Bezug auf Frau Karenina. »Ihr Mann hat sie zu mir in dieses Abteil gebracht, und ich habe meine rechte Freude an ihr gehabt. Auf der ganzen Fahrt haben wir uns miteinander unterhalten. Nun, und du, wie man hört ... vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cher, tant mieux.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, maman«, antwortete der Sohn in trockenem Tone. »Aber wenn's Ihnen recht ist, maman, wollen wir jetzt gehen.«
Frau Karenina kam wieder in den Wagen herein, um von der Gräfin Abschied zu nehmen.
»Sehen Sie wohl, Gräfin, Sie haben jetzt Ihren Sohn gefunden und ich meinen Bruder«, sagte sie heiter. »Und mein Vorrat an Geschichten war auch vollständig erschöpft; weiter hätte ich nichts mehr zu erzählen gehabt.«
»Oh, nicht doch!« erwiderte die Gräfin und faßte sie bei der Hand. »Mit Ihnen könnte ich rund um die Welt reisen und würde mich nicht langweilen. Sie gehören zu jenen liebenswürdigen Frauen, mit denen es sich angenehm bald einmal plaudern, bald einmal schweigen läßt. Und über Ihren Sohn machen Sie sich nur, bitte, keine Gedanken; immer bei einem Kinde zu bleiben, ist ja doch nicht möglich.«
Frau Karenina stand da, ohne sich zu bewegen, in sehr gerader Haltung; ihre Augen lächelten.
»Anna Arkadjewna«, bemerkte die Gräfin erklärend zu ihrem Sohne, »hat ein Söhnchen, ich glaube von acht Jahren; sie hat sich bisher noch nie von ihm getrennt und grämt sich nun darüber, daß sie ihn verlassen hat.«
»Ja, die Gräfin und ich haben die ganze Zeit über von unseren Söhnen gesprochen, sie von dem ihrigen und ich von dem meinigen«, sagte Frau Karenina, und wieder erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, ein freundliches Lächeln, das Wronski galt.
»Das hat Sie höchstwahrscheinlich sehr gelangweilt«, antwortete er, indem er diesen Ball der Koketterie, den sie ihm zuwarf, sofort im Fluge auffing. Aber sie hatte offenbar keine Lust, das Gespräch in diesem Tone fortzusetzen, und wandte sich wieder der alten Gräfin zu:
»Ich danke Ihnen sehr. Die Reise ist mir so schnell vergangen, daß ich es gar nicht gemerkt habe. Auf Wiedersehen, Gräfin!«
»Leben Sie wohl, meine Beste!« erwiderte die Gräfin. »Lassen Sie mich Ihr liebes Gesichtchen küssen. Als alte Frau sage ich Ihnen einfach und geradezu, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe.«
Wie herkömmlich auch diese Redensart war, Frau Karenina hielt sie offenbar für aufrichtig gemeint und freute sich herzlich darüber. Sie errötete, beugte sich ein wenig hinab und bot ihre Wangen den Lippen der Gräfin dar; dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, das bei ihr so oft zwischen Lippen und Augen hin und her wanderte, Wronski die Hand. Er drückte diese kleine Hand und empfand mit innigem Vergnügen, wie einen besonderen Genuß, den kräftigen Druck, mit dem sie fest und ungezwungen die seine schüttelte. Dann verließ sie das Abteil mit dem raschen Gange, der ihren ziemlich vollen Körper mit so erstaunlicher Leichtigkeit trug.
»Eine allerliebste Frau!« sagte die alte Dame.
Dasselbe dachte auch ihr Sohn. Er folgte ihr mit den Augen, bis ihre anmutige Gestalt verschwunden war, und sein Gesicht behielt den lächelnden Ausdruck bei. Durch das Fenster sah er noch, wie sie zu ihrem Bruder trat, ihre Hand auf seinen Arm legte und ein lebhaftes Gespräch mit ihm begann, das offenbar auf ihn, Wronski, keinerlei Bezug hatte, und das verdroß ihn.
»Also, maman, Sie sind ganz wohlauf?« fragte er noch einmal, zu seiner Mutter gewendet.
»Vollkommen, es geht alles vorzüglich. Alexander war sehr liebenswürdig. Und Warja ist sehr hübsch geworden. Sie hat etwas überaus Interessantes.«
Damit begann sie wieder von den Dingen zu erzählen, die sie am meisten interessierten: von der Taufe ihres Enkels, zu der sie nach Petersburg gereist war, und von der außerordentlich gnädigen Gesinnung des Kaisers gegen ihren ältesten Sohn.
»Da ist auch Lawrenti«, sagte Wronski, durch das Fenster hinausblickend. »Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir jetzt gehen.«
Der alte Haushofmeister, der die Gräfin auf der Reise begleitet hatte, erschien im Wagen mit der Meldung, daß alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.
»Gehen wir!« sagte Wronski. »Jetzt ist es nicht mehr so voll auf dem Bahnsteig.«
Das Mädchen nahm die Reisetasche und das Hündchen, der Haushofmeister und ein Gepäckträger das übrige Handgepäck. Wronski reichte der Mutter den Arm; aber als sie eben aus dem Wagen gestiegen waren, liefen plötzlich einige Männer mit erschrockenen Gesichtern an ihnen vorbei, darunter auch der Stationsvorsteher mit seiner grellfarbigen Mütze. Offenbar war etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Alles lief vom Zuge weg nach hinten.
»Was gibt es? – Was ist los? – Wo? – Er ist umgestoßen worden. – Überfahren!« wurde unter den Vorübereilenden gerufen.
Stepan Arkadjewitsch und seine Schwester, die ihn untergefaßt hatte, kamen ebenfalls mit erschrockenen Gesichtern wieder zurück und blieben, um aus dem Gedränge herauszukommen, an der Tür des Wagens stehen.
Die Damen stiegen wieder in den Wagen ein; Wronski und Stepan Arkadjewitsch aber folgten dem Menschenschwarm, um Näheres über den Unfall zu erfahren.
Ein Bahnwärter hatte, mochte er nun betrunken oder wegen der starken Kälte zu sehr eingemummt gewesen sein, einen Zug, der beim Rangieren zurückgeschoben wurde, nicht gehört und war zermalmt worden.
Noch ehe die beiden Herren zurückkehrten, erfuhren die Damen diese Einzelheiten durch den Haushofmeister.
Oblonski und Wronski hatten beide den entstellten Leichnam gesehen. Oblonski litt offenbar sehr unter diesem Eindrucke. Er hatte die Stirn gerunzelt und schien dem Weinen nahe zu sein.
»Ach, wie schrecklich! Ach, Anna, wenn du das gesehen hättest! Ach, wie schrecklich!« rief er einmal über das andere.
Wronski schwieg; sein hübsches Gesicht war ernst, aber vollkommen ruhig.
»Ach, wenn Sie das gesehen hätten, Gräfin!« redete Stepan Arkadjewitsch weiter. »Auch seine Frau ist dabei. – Es war schrecklich, sie anzusehen. Sie warf sich über den Leichnam hin. Die Leute sagten, der Mann wäre der einzige Ernährer einer sehr großen Familie gewesen. Ja, es ist schrecklich!«
»Läßt sich denn nichts für die Frau tun?« fragte Frau Karenina flüsternd in heftiger Erregung.
Wronski blickte sie an und verließ sofort den Wagen.
»Ich komme gleich wieder, maman«, sagte er dabei, indem er sich in der Tür umdrehte.
Als er nach ein paar Minuten zurückkam, erzählte Stepan Arkadjewitsch der Gräfin bereits etwas über eine neue Sängerin; die Gräfin blickte, auf ihren Sohn wartend, ungeduldig nach der Tür.
»Nun, dann wollen wir gehen«, sagte der eintretende Wronski.
Sie gingen zusammen, Wronski mit seiner Mutter voran, dahinter Frau Karenina mit ihrem Bruder. Am Ausgang holte sie der Stationsvorsteher ein und trat an Wronski heran.
»Sie haben meinem Assistenten zweihundert Rubel eingehändigt; haben Sie die Güte, sich darüber zu äußern, für wen das Geld bestimmt ist.«
»Für die Witwe«, antwortete Wronski achselzuckend. »Ich verstehe nicht, was da noch zu fragen ist.«
»Das haben Sie getan?« rief Oblonski von hinten her und fügte, indem er den Arm seiner Schwester an sich drückte, hinzu: »Allerliebst, allerliebst! Ein Prachtmensch, nicht wahr? Ich empfehle mich Ihnen, Gräfin.«
Er blieb mit seiner Schwester stehen, um sich nach deren Kammerjungfer umzusehen.
Als sie aus dem Bahnhofstor hinaustraten, war das Wronskische Geschirr schon weggefahren. Die Leute, die hinausgingen, sprachen immer noch von dem Vorgefallenen.
»Ein entsetzlicher Tod!« sagte ein vorübergehender Herr. »Es heißt, er wäre in zwei Stücke zerschnitten.«
»Ich meine im Gegenteil, ein so plötzlicher Tod ist der leichteste, den man sich nur denken kann«, bemerkte ein anderer.
»Unverantwortlich, daß gegen so etwas keine Vorsichtsmaßregeln getroffen werden«, sagte ein dritter.
Frau Karenina stieg in den Wagen, und Stepan Arkadjewitsch sah mit Erstaunen, daß ihre Lippen zitterten und sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.
»Was ist dir, Anna?« fragte er, als sie ein paar hundert Schritte gefahren waren.
»Eine üble Vorbedeutung!« sagte sie.
»Was für Torheiten!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Du bist hergekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir gar nicht denken, wieviel ich mir von deiner Einwirkung verspreche.«
»Kennst du Wronski schon lange?« fragte sie.
»Ja. Weißt du, wir hoffen, daß er Kitty heiraten wird.«
»Ja?« sagte Anna leise. »Nun, aber jetzt wollen wir von dir sprechen«, fügte sie hinzu und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie durch diese Körperbewegung etwas verscheuchen, was sich ihr aufdrängte und sie störte. »Wir wollen von deinen Angelegenheiten sprechen. Ich habe einen Brief erhalten, und da bin ich nun hergekommen.«
»Ja, ich setze auf dich meine ganze Hoffnung«, versetzte Stepan Arkadjewitsch.
»Nun, so erzähle mir alles!«
Und Stepan Arkadjewitsch begann zu erzählen.
Als sie vor dem Hause angelangt waren, war er seiner Schwester beim Aussteigen behilflich, seufzte schwer, drückte ihr die Hand und begab sich nach sei nem Amtsgebäude.
Als Anna eintrat, saß Dolly in einem kleinen Wohnzimmer mit einem hellblonden, dickbäckigen Knaben zusammen, der schon jetzt seinem Vater sehr ähnlich sah, und hörte ihm seine Aufgaben aus dem französischen Lesebuche ab. Der Knabe las und drehte dabei mit den Fingern einen Knopf seiner Jacke herum, der kaum noch daran festhing, und bemühte sich, ihn ganz abzureißen. Die Mutter hatte ihm schon mehrere Male die Hand davon weggenommen; aber das dicke Händchen faßte immer wieder nach dem Knopfe. Die Mutter riß den Knopf ab und steckte ihn in die Tasche.
»Du mußt die Hände still halten, Grigori«, sagte sie und griff wieder nach ihrer Decke, einer Arbeit, die sie schon vor langer Zeit angefangen hatte und die sie immer in schweren Stunden zur Hand nahm; auch jetzt häkelte sie nervös daran, indem sie bald mit dem Finger hin und her schlug, bald die Maschen zählte. Obgleich sie tags zuvor ihrem Manne hatte sagen lassen, daß es sie nichts weiter angehe, ob seine Schwester komme oder nicht, so hatte sie doch alles für ihre Ankunft vorbereitet und erwartete ihre Schwägerin in großer Aufregung.
Dolly war von ihrem Kummer niedergebeugt und konnte kaum an etwas anderes denken. Aber dennoch überlegte sie, daß ihre Schwägerin Anna die Frau eines der einflußreichsten Männer in Petersburg und selbst eine Petersburger grande dame sei. Und infolgedessen brachte sie das, was sie ihrem Manne angekündigt hatte, nicht zur Ausführung, das heißt, sie ignorierte die Ankunft ihrer Schwägerin nicht. ›Schließlich hat ja Anna dabei keine Schuld‹, dachte Dolly. ›Ich weiß von ihr nur Gutes und habe persönlich von ihr nur Liebes und Freundliches erfahren.‹ Allerdings hatte ihr, soweit sie sich des Eindrucks erinnern konnte, den sie in Petersburg bei Karenins empfangen hatte, dieses Haus selbst nicht gefallen; in der gesamten Einrichtung ihres Familienlebens war ein gewisser Mangel an Offenheit spürbar gewesen. ›Aber warum sollte ich sie nicht empfangen? Wenn sie sich nur nicht beikommen läßt, mich trösten zu wollen!‹ dachte Dolly. ›Alle möglichen Trostgründe und Ermahnungen, und daß es Christenpflicht ist, zu verzeihen, das alles habe ich ja schon tausendmal überdacht; aber das alles hilft mir nichts.‹
Alle diese Tage her war Dolly mit ihren Kindern allein gewesen. Mit jemandem über ihren Kummer reden, das mochte sie nicht, und mit diesem Kummer auf dem Herzen von anderen Dingen zu sprechen, dazu war sie nicht imstande. Aber sie wußte, daß sie Anna gegenüber auf die eine oder andere Weise dazu kommen werde, sich völlig auszusprechen, und bald freute sie der Gedanke daran, wie sie das alles aussprechen werde, bald war es ihr kränkend, daß sie über ihre Demütigung mit ihr, seiner Schwester, sprechen und von ihr billige tröstende und ermahnende Redensarten werde anhören müssen.
Wie das oft vorkommt, erwartete sie sie, fortwährend nach der Uhr blickend, jeden Augenblick und verpaßte dabei gerade den Augenblick, da der Besuch kam, so daß sie das Klingeln nicht hörte.
Anna war bereits in der Tür, als Dolly das Rascheln eines Frauenkleides und das Geräusch leichter Schritte hörte; sie blickte sich um, und auf ihrem abgehärmten Gesichte zeigte sich ein Ausdruck nicht sowohl der Freude wie der Überraschung. Sie stand auf und umarmte ihre Schwägerin.
»Wie? Du bist schon da?« sagte Dolly und küßte sie.
»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen, Dolly!«
»Ich freue mich auch«, antwortete Dolly mit einem schwachen Lächeln und suchte aus Annas Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie schon alles wisse. ›Sicherlich weiß sie es‹, dachte sie, als sie auf Annas Gesicht einen Ausdruck mitleidiger Teilnahme bemerkte. »Nun komm, ich will dich in dein Zimmer führen«, fuhr sie fort, bemüht, den Augenblick der Aussprache möglichst hinauszuschieben.
»Ist das Grigori? Mein Gott, wie ist der Junge gewachsen!« sagte Anna und küßte ihn, ohne die Augen von Dolly abzuwenden. Sie blieb stehen und sagte errötend? »Ach, laß uns doch noch ein Weilchen hierbleiben!«
Sie nahm das Tuch und den Hut ab, und da sie mit diesem an einer Strähne ihres schwarzen, durchweg lockigen Haares hängenblieb, so schüttelte sie mit dem Kopfe und machte dadurch das Haar wieder los.
»Du strahlst ja nur so von Glück und Gesundheit!« sagte Dolly beinahe neidisch.
»Ich? – O ja«, versetzte Anna. »Mein Gott, da ist ja Tanja!« wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu, das hereingelaufen kam. »Sie ist ebenso alt wie mein Sergei«, fügte sie hinzu, nahm sie bei der Hand und küßte sie. »Ein reizendes Kind, ganz reizend! Du mußt mir deine Kinderchen alle zeigen.«
Sie zählte sie auf und kannte nicht nur ihre Namen, sondern wußte auch ihr Alter nach Jahren und Monaten, und welchen Charakter ein jedes besaß, und welche Krankheiten die einzelnen durchgemacht hatten. Gegen dieses teilnehmende Interesse konnte Dolly ihr Herz nicht verschließen.
»Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen«, sagte sie. »Mein Wasili schläft leider gerade.«
Nachdem sie die Kinder angesehen hatten, setzten sie sich, nun allein, im Wohnzimmer an den Kaffeetisch. Anna fingerte am Präsentierbrett umher und schob es dann von sich weg.
»Dolly«, hob sie an, »er hat mit mir gesprochen.«
Dolly wandte die Augen mit kaltem Blicke zu Anna hin. Sie erwartete jetzt erheuchelte Teilnahmsbezeigungen; aber Anna sagte nichts Derartiges.
»Dolly, liebe Dolly«, fuhr sie fort, »ich will weder ihn zu verteidigen noch dich zu trösten suchen; das ist unmöglich. Ich will dir nur einfach sagen, daß du mir so leid tust, mein Herzchen, von ganzer Seele leid!«
Unter den dichten Wimpern ihrer glänzenden Augen drängten sich Tränen hervor. Sie rückte näher an ihre Schwägerin heran und ergriff mit ihrer eigenen festen kleinen Hand die Dollys. Dolly rückte nicht von ihr weg; aber ihr Gesicht verlor seinen starren Ausdruck nicht. Sie erwiderte:
»Mich zu trösten, ist unmöglich. Nach dem, was vorgefallen ist, ist alles verloren, alles zerstört!«
Aber sobald sie das gesagt hatte, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich weicher. Anna hob die dürre, magere Hand Dollys in die Höhe, küßte sie und sagte:
»Aber Dolly, was ist nun zu tun, was ist nun zu tun? Wie verhält man sich am besten in dieser schrecklichen Lage? Das ist's, was nun erwogen werden muß.«
»Es ist alles zu Ende; weiter kann ich nichts sagen«, antwortete Dolly. »Und, weißt du, das allerschlimmste ist, daß ich ihn nicht verlassen kann, der Kinder wegen; ich bin gebunden. Aber mit ihm länger zusammenleben, das kann ich auch nicht; es ist mir eine Qual, ihn zu sehen.«
»Dolly, liebe, gute Dolly, er hat es mir ja schon gesagt; aber ich möchte es doch auch von dir hören; bitte, sage mir alles!«
Dolly blickte sie fragend an.
Aufrichtige Teilnahme und herzliche Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.
»Nun gut!« sagte sie plötzlich. »Aber ich muß von vorn anfangen. Du weißt, wie ich heiratete. Bei der Art, in der mich maman erzogen hatte, war ich nicht nur unschuldig geblieben, sondern geradezu dumm. Ich wußte von nichts. Ich weiß, es heißt, daß die Männer ihren Frauen ihr Vorleben erzählen; aber Stiwa«, sie verbesserte sich, »Stepan Arkadjewitsch hat mir nichts gesagt. Du wirst es kaum glauben, aber ich hatte bis auf die neueste Zeit gemeint, ich wäre die einzige Frau, der er nähergetreten sei. So habe ich acht Jahre lang gelebt. Verstehe wohl: ich habe keine Untreue geargwöhnt, ja ich habe so etwas geradezu für unmöglich gehalten. Und nun stelle dir vor, wie einem zumute ist, wenn man in solchen Anschauungen dahinlebt und nun auf einmal solche entsetzliche, abscheuliche Dinge hören muß. Verstehe wohl: wenn man sich in festem Glauben für eine glückliche Frau hält und dann auf einmal ...« Dolly suchte ein Schluchzen zu unterdrücken, »... wenn man dann auf einmal einen Brief zu lesen bekommt – einen Brief von ihm an seine Geliebte, unsere frühere Erzieherin. Nein, das ist zu furchtbar!« Sie zog eilig das Taschentuch heraus und verbarg ihr Gesicht darin. »Ich könnte es noch begreifen, wenn er sich von einer augenblicklichen Leidenschaft hätte hinreißen lassen«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »aber mich mit Vorbedacht, in listiger Weise zu hintergehen – und mit wem! Daß er es fertigbringen konnte, mein Mann zu bleiben und gleichzeitig mit ihr ein Verhältnis zu haben, das ist furchtbar! Du kannst es nicht begreifen.«
»Doch, ich begreife es! Ich begreife es, liebe Dolly, ich begreife es«, antwortete Anna und drückte ihr die Hand.
»Und meinst du etwa, daß er für die ganze Furchtbarkeit meiner Lage Verständnis hat?« fuhr Dolly fort. »Nicht im entferntesten! Er ist glücklich und zufrieden.«
»O nein!« unterbrach Anna sie rasch. »Er ist in einem bedauernswerten Zustande, ganz gebrochen von Reue ...«
»Ist er denn überhaupt fähig zu bereuen?« unterbrach Dolly ihre Schwägerin und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht.
»Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn nicht ohne das tiefste Mitleid ansehen können. Wir kennen ihn ja alle beide. Er ist von guter Gemütsart; aber er hat auch seinen Stolz, und jetzt fühlt er sich tief gedemütigt. Was mich am meisten gerührt hat« (hier hatte Anna mit richtigem Empfinden herausgefühlt, welches Argument am ehesten Eindruck auf Dolly machen konnte), »zwei Dinge sind es, die ihn heftig quälen: erstens, daß er sich vor den Kindern schämen muß, und dann, daß er, der doch dich so liebt – ja, ja, er liebt dich über alles in der Welt –«, fügte sie schnell hinzu, um Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen zu lassen, »daß er dir solchen Schmerz angetan und dir einen so schweren Schlag zugefügt hat. ›Nein, nein, sie wird mir nicht verzeihen‹, sagte er immer wieder.«
Dolly blickte nachdenklich an der Schwägerin vorbei, während sie deren Worte anhörte.
»Ja, daß sein Zustand schrecklich ist, das verstehe ich«, sagte sie; »der Schuldige ist schlimmer daran als der Unschuldige, – wenn er eben fühlt, daß das ganze Unglück durch seine Schuld gekommen ist. Aber wie kann ich ihm verzeihen, wie kann ich wieder sein Weib sein, nachdem er mit jener Person in Beziehungen gestanden hat? Es würde mir eine Qual sein, künftig mit ihm zusammen zu leben, eben deshalb, weil ich meine frühere Liebe zu ihm nicht aus meinem Gedächtnisse tilgen kann.«
Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte.
Aber wie mit Absicht begann sie jedesmal, wenn sie weich wurde, wieder von dem zu sprechen, was sie so schwer gekränkt hatte.
»Sie ist ja jung und hübsch«, fuhr sie fort. »Aber verstehst du auch wohl, Anna, durch wen ich meine Jugend und meine Schönheit verloren habe? Durch ihn und seine Kinder. Ich habe einen schweren Dienst bei ihm gehabt, und in dieser Dienstzeit ist alles, was ich Gutes hatte, draufgegangen, und nun ist ihm natürlich dieses frische, wenn auch gemeine Geschöpf angenehmer. Sie haben gewiß untereinander über mich gesprochen, oder sie haben, was noch schlimmer wäre, mich mit Stillschweigen übergangen, – verstehst du wohl?«
Von neuem glühten ihr die Augen vor Haß.
»Und wenn er nun nach allem, was geschehen ist, mir später irgend etwas sagt, – werde ich ihm dann etwas glauben können? Niemals. Nein, nun ist alles zu Ende, alles, was mir ein Trost, ein Lohn für alle meine Mühen und Leiden war. – Kannst du das glauben: ich habe soeben Grigori unterrichtet; früher war mir das eine Freude, jetzt ist es mir eine Qual. Wozu mühe ich mich ab und quäle mich? Was sollen mir die Kinder? Es ist entsetzlich, daß meine Seele auf einmal so umgewandelt ist und ich statt Liebe und Zärtlichkeit nur Haß gegen ihn empfinde, jawohl, Haß. Ich könnte ihn töten und ...«
»Dolly, liebste Dolly, ich kann dir das nachfühlen; aber martere dich nicht so! Du bist so erbittert und aufgeregt, daß du vieles in einem falschen Lichte siehst.«
Dolly antwortete nicht, und einige Minuten lang schwiegen beide.
»Was soll ich tun? Ersinne du etwas, Anna! Hilf mir! Ich habe alles hin und her erwogen und sehe keinen Ausweg.«
Einen Rettungsweg vermochte auch Anna nicht zu ersinnen; aber jedes Wort, jede Miene ihrer Schwägerin griff ihr ans Herz.
»Ich will dir nur eines sagen«, begann Anna, »ich bin seine Schwester und kenne seinen Charakter; ich weiß, daß er imstande ist, alles zu vergessen, alles« (sie machte eine Handbewegung vor ihrer Stirn), »daß er imstande ist, sich haltlos hinreißen zu lassen, daß er aber dann auch wieder dem Gefühle tiefster Reue zugänglich ist. Er kann es jetzt gar nicht verstehen und begreifen, wie er das überhaupt hat tun können, was er getan hat.«
»Nein doch, er begreift es und hat es immer begriffen!« unterbrach Dolly sie. »Aber ich, – du vergißt mich ja ganz dabei, – ist mir denn leichter ums Herz?«
»Höre doch nur! Als er mit mir sprach, da hatte ich – das will ich dir offen gestehen – noch kein rechtes Verständnis für die ganze Furchtbarkeit deiner Lage. Ich sah nur, wie es um ihn stand und daß euer Familienleben zerstört war, und er jammerte mich. Aber nachdem ich nun mit dir gesprochen habe, sehe ich als Frau doch noch etwas anderes; ich sehe deine Leiden, und ich kann dir gar nicht ausdrücken, wie sehr du mich dauerst! Aber, liebe Dolly, ich habe volles Verständnis für deine Leiden; nur eines weiß ich nicht: ich weiß nicht ... ich weiß nicht, wieviel Liebe zu ihm noch in deiner Seele vorhanden ist. Das weißt nur du, – ob du ihn noch so weit liebst, daß du ihm verzeihen kannst. Wenn das der Fall ist, dann verzeih ihm!«
»Nein ...«, begann Dolly, aber Anna fiel ihr ins Wort, indem sie noch einmal ihre Hand küßte.
»Ich kenne die Welt besser als du«, sagte sie. »Ich kenne solche Männer, wie Stiwa einer ist, und weiß, wie sie solche Dinge ansehen. Du sagst, er habe mit ihr über dich gesprochen. Das ist bestimmt nicht der Fall. Solche Männer lassen sich wohl eine Untreue zuschulden kommen, aber ihr häuslicher Herd und ihre Gattin, das ist doch für sie ein Heiligtum. Jene Frauenspersonen sind ihnen im Grunde doch immer verächtlich und können in die Familie keine Störung hineinbringen. Zwischen ihnen und der Familie ziehen die Männer sozusagen eine unüberschreitbare Grenzlinie. Ich begreife das nicht recht, aber es ist so.«
»Ja, aber er hat sie doch geküßt!«
»Liebste Dolly, hör zu! Ich habe Stiwa gesehen, als er in dich verliebt war. Ich erinnere mich jener Zeit, als er zu mir kam und ihm jedesmal die Tränen über die Backen flossen, wenn er von dir sprach; du warst in seinen Augen wie ein hehres Wunderwesen der Poesie. Und ich weiß, daß du immer höher in seiner Liebe und Achtung gestiegen bist, je länger er mit dir zusammen gelebt hat. Wir haben manchmal über ihn gelacht, weil er hinter jedem Worte hinzusetzte: ›Dolly ist eine bewundernswürdige Frau.‹ Du warst für ihn immer eine Gottheit und bist es geblieben, und sein Herz weiß nichts von dieser Verirrung.«
»Aber wenn sich diese Verirrung wiederholt?«
»Das ist unmöglich, soviel ich davon verstehe.«
»Ja, aber würdest du ihm denn verzeihen?«
»Das weiß ich nicht; ich kann es nicht beurteilen. – Oder doch, ich kann es beurteilen«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort, nachdem sie im Geiste gleichsam die ganze Lage zusammengefaßt und auf die Waage gelegt hatte, und sie fügte hinzu: »Ja, ich kann es beurteilen, ich kann es wirklich. Ja, ich würde ihm verzeihen. Ich wäre wohl nach dem Geschehenen nicht mehr dieselbe wie vorher, das mag sein; aber ich würde ihm verzeihen und würde ihm so verzeihen, als ob das nicht geschehen wäre, überhaupt nicht geschehen wäre.«
»Ja, selbstverständlich«, fiel ihr Dolly hastig ins Wort, als ob jene nur ausspräche, was sie selbst sich schon oft gesagt habe. »Sonst wäre es ja keine Verzeihung. Wenn man einmal verzeihen will, dann muß man es auch völlig und ganz tun. Aber komm nun, ich möchte dich in dein Zimmer führen«, sagte sie, indem sie sich erhob, und umarmte Anna im Gehen. »Liebe Anna, wie freue ich mich, daß du gekommen bist! Mir ist jetzt leichter ums Herz, viel leichter.«
Diesen ganzen Tag blieb Anna zu Hause, das heißt bei Oblonskis, und empfing niemanden, obgleich mehrere ihrer Bekannten, die bereits von ihrer Anwesenheit gehört hatten, gleich an diesem Tage vorsprachen. Anna verbrachte den ganzen Vormittag mit Dolly und den Kindern zusammen. Nur ihrem Bruder schickte sie ein Briefchen, er möge unter allen Umständen zu Hause zu Mittag essen. »Komm! Gott ist barmherzig«, schrieb sie ihm.
Oblonski speiste zu Hause; das Gespräch bei Tische war allgemein, auch seine Frau sprach mit ihm und nannte ihn dabei du, was sie vorher nicht getan hatte. In dem Verhältnisse des Gatten zur Gattin dauerte die bisherige Entfremdung fort, aber es war jetzt von keiner Trennung mehr die Rede, und Stepan Arkadjewitsch sah die Möglichkeit einer Aussprache und Versöhnung.
Gleich nach dem Mittagessen kam Kitty. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur wenig, und kam jetzt zu ihrer Schwester nicht ohne eine leise Bangigkeit, wie diese Petersburger Weltdame, von der alle des Rühmens voll waren, sie wohl aufnehmen werde. Aber sie gefiel Anna Arkadjewna, das merkte sie sofort. Anna war augenscheinlich entzückt von dem schönen jungen Mädchen, und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind. Anna machte gar nicht den Eindruck einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Sohnes, sondern ähnelte eher einem zwanzigjährigen Mädchen in der Biegsamkeit ihrer Bewegungen, in der Frische ihres Wesens und in der ein wenig zurückgehaltenen Lebhaftigkeit des Gesichtes, die bald in einem Lächeln, bald in einem Blicke zum Durchbruch kam, wenn nur nicht der ernste, bisweilen sogar traurige Ausdruck ihrer Augen gewesen wäre, der Kitty betroffen machte und dabei, doch anzog. Kitty fühlte, daß Anna sich vollkommen natürlich gab und nichts verbarg, daß aber in ihrer Seele eine Welt von höheren Gedanken ruhte, von ernsten, poetischen Gedanken, die ihr, dem jungen Mädchen, unfaßbar waren.
Als Dolly sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer begeben hatte, stand Anna rasch auf und trat zu ihrem Bruder, der sich gerade eine Zigarre anzündete.
»Stiwa«, sagte sie, indem sie ihm lustig zuzwinkerte, ihn bekreuzte und mit den Augen zur Tür wies, »geh, und Gott möge dir beistehen!«
Er verstand sie, warf die Zigarre beiseite und verschwand hinter der Tür.
Als Stepan Arkadjewitsch das Zimmer verlassen hatte, kehrte Anna zu dem Sofa zurück, auf dem sie gesessen hatte, von den Kindern umringt. Ob es nun daher kam, daß die Kinder sahen, wie sehr ihre Mama diese Tante liebte, oder daher, daß sie selbst an ihr ein besonderes Gefallen gefunden hatten: genug, die beiden älteren und, ihrem Beispiel folgend, auch die jüngeren hatten sich, wie man das bei Kindern nicht selten sieht, schon vor dem Mittagessen wie die Kletten an die neue Tante gehängt und waren keinen Augenblick von ihr gewichen. Ja, es hatte sich bei ihnen eine Art Spiel herausgebildet, das darin bestand, möglichst nahe neben der Tante zu sitzen, sie anzufassen, ihre kleine Hand zu halten und zu küssen oder wenigstens den Faltenbesatz ihres Kleides zu berühren.
»Halt, halt! So, wie wir vorher gesessen haben!« sagte Anna Arkadjewna, indem sie sich wieder auf ihren Platz setzte.
Grigori schob von neuem den Kopf unter ihren Arm, schmiegte sich mit dem Kopfe an ihr Kleid und strahlte vor Stolz und Glück.
»Also jetzt sagen Sie mir, bitte, wann eigentlich der Ball sein wird«, wandte sich Anna an Kitty.
»In der nächsten Woche. Und es wird ein sehr schöner Ball werden. Einer von den Bällen, auf denen man immer vergnügt ist.«
»Gibt es denn solche, auf denen man immer vergnügt ist?« fragte Anna mit einem leisen, heiteren Lachen.
»Ja, es ist merkwürdig, aber es gibt solche. Bei Bobrischtschews geht es immer lustig zu, auch bei Nikitins, aber bei Meschkows ist es immer langweilig. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?«
»Nein, mein Herz, für mich gibt es solche Bälle nicht mehr, auf denen es lustig ist«, erwiderte Anna, und Kitty erblickte in ihren Augen jene besondere Welt, die ihr verschlossen blieb. »Für mich gibt es nur solche, auf denen es weniger öde und langweilig ist als auf anderen.«
»Wie können Sie sich denn auf einem Balle langweilen?«
»Warum sollte gerade ich mich auf einem Balle nicht langweilen?« fragte Anna.
Kitty merkte, daß Anna im voraus wußte, welche Antwort nun folgen werde.
»Weil Sie immer die Schönste von allen sind.«
Anna besaß die Eigenschaft, leicht zu erröten. Auch jetzt wurde sie rot und erwiderte:
»Erstens ist das ganz und gar nicht der Fall, und zweitens, selbst wenn es der Fall wäre, was hätte ich davon?«
»Werden Sie diesen Ball besuchen?« fragte Kitty.
»Ich glaube, ich werde wohl nicht umhinkönnen. Da, nimm ihn«, sagte sie zu Tanja, die an einem Ringe zog, der sich leicht von Annas schlankem, an der Spitze dünner werdendem Finger streifen ließ.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie hinkämen. Ich möchte Sie so gern auf einem Balle sehen.«
»Dann wird mir, wenn ich wirklich hin muß, wenigstens der Gedanke tröstlich sein, daß ich Ihnen damit ein Vergnügen mache. – Grigori, in meinem Haar darfst du aber nicht zausen; das ist auch so schon immer unordentlich genug«, sagte sie und brachte eine losgegangene Strähne in Ordnung, mit der Grigori gespielt hatte.
»Ich stelle Sie mir auf dem Balle in Lila vor.«
»Warum denn gerade in Lila?« fragte Anna lächelnd. »Aber nun, Kinder, müßt ihr gehen. Hört ihr wohl? Miß Hull ruft euch zum Teetrinken«, sagte sie, indem sie sich von den Kindern losmachte und sie in das Eßzimmer schob. »Ich weiß auch, warum Sie mich auf diesem Balle sehen möchten. Sie erwarten für sich etwas Wichtiges von diesem Balle, und da möchten Sie, daß alle dabei wären und Anteil daran nähmen.«
»Woher wissen Sie das? – Nun ja!«
»Oh, in was für einem schönen Alter stehen Sie!« fuhr Anna fort. »Ich kenne aus der Erinnerung diesen bläulichen Nebel, ähnlich wie der auf den Schweizer Bergen, diesen Nebel, der unseren Augen alles verhüllt in jener seligen Zeit, da die Kindheit eben zu Ende geht und dieser weite, glückliche, lustige Tummelplatz sich dem Dahinwandelnden immer mehr und mehr zu einem schmalen Pfade verengt; frohen Herzens begibt man sich auf diesen Pfad und doch nicht ohne Bangigkeit, mag er auch noch so sonnig und schön erscheinen. – Wer hätte das nicht durchgemacht?«
Kitty lächelte und schwieg. ›Aber wie, ja wie mag sie das durchgemacht haben? Wie gern möchte ich ihren ganzen Liebesroman kennen‹, dachte Kitty in Erinnerung daran, wie schrecklich prosaisch Annas Mann, Alexei Alexandrowitsch, aussah.
»Ja, ja, ich weiß etwas von Ihrem Geheimnisse«, fuhr Anna fort. »Stiwa hat mir davon erzählt, und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück; er gefällt mir sehr. Ich bin mit Wronski auf dem Bahnhof zusammengetroffen.«
»Ach, war er da?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen denn Stiwa gesagt?«
»Stiwa hat alles ausgeplaudert. Und ich würde mich sehr, sehr freuen. – Ich bin gestern mit Wronskis Mutter zusammen hierher gereist«, fuhr sie fort, »und die Mutter hat zu mir ununterbrochen von ihm geredet; er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie eingenommen Mütter oft von ihren Kindern sind, aber ...«
»Was hat Ihnen denn seine Mutter erzählt?«
»Oh, vieles, vieles! Ich weiß ja, daß er ihr Liebling ist; aber so viel ist doch sicher, daß er eine vornehme, ritterliche Gesinnung besitzt. So erzählte sie mir zum Beispiel, er habe das ganze Vermögen seinem Bruder überlassen wollen; schon als Knabe habe er eine außerordentliche Tat vollbracht, indem er eine Frau aus dem Wasser gerettet hat. Mit einem Worte: ein Held«, sagte Anna lächelnd; sie dachte dabei auch an die zweihundert Rubel, die er auf dem Bahnhofe für die Hinterbliebenen des Verunglückten gespendet hatte.
Aber von diesen zweihundert Rubeln erzählte sie nichts. Eine unwillkürliche Abneigung hinderte sie daran, dies zu erwähnen. Sie fühlte, daß in dieser Handlung etwas gelegen hatte, was zu ihr in einer persönlichen Beziehung stand und was nicht hätte sein dürfen.
»Sie hat mich sehr gebeten, sie doch zu besuchen«, fuhr Anna fort. »Ich freue mich darauf, die alte Dame wiederzusehen, und will morgen zu ihr fahren. Aber Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly in ihrem Zimmer«, fügte Anna, das Gesprächsthema wechselnd, hinzu und stand auf. Kitty hatte den Eindruck, daß sie mit irgend etwas unzufrieden sei.
»Nein, ich zuerst! Nein, ich!« schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna hereingestürmt kamen.
»Alle zugleich!« rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden.
Als der Tee für die Erwachsenen aufgetragen war, kam Dolly aus ihrem Zimmer. Stepan Arkadjewitsch kam nicht mit ihr; er mußte wohl das Zimmer seiner Frau durch den hinteren Ausgang verlassen haben.
»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt sein«, bemerkte Dolly, zu Anna gewendet. »Ich möchte dich doch lieber hier unten unterbringen; wir sind dann auch näher beieinander.«
»Ach, ich bitte dringend, macht euch doch um mich keine Sorge!« antwortete Anna und blickte dabei ihre Schwägerin forschend an, um zu ersehen, ob eine Aussöhnung stattgefunden habe oder nicht.
»Es wird dir hier nur zu hell sein zum Schlafen«, bemerkte Dolly.
»Ich versichere dir, ich schlafe immer und überall wie ein Murmeltier.«
»Wovon ist denn die Rede?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der aus seinem Zimmer kam; er wandte sich mit dieser Frage an seine Frau.
An seinem Tone erkannten sowohl Kitty wie auch Anna sofort, daß eine Aussöhnung zustande gekommen war.
»Ich möchte Anna hier unten unterbringen; aber dann müssen andere Fenstervorhänge aufgehängt wer den. Das versteht keiner ordentlich zu machen; ich muß es schon selbst tun«, antwortete Dolly, ihm zugewandt.
›Ob sie sich auch wirklich vollständig ausgesöhnt haben?‹ dachte Anna, als sie Dollys kühlen, ruhigen Ton hörte.
»Ach, mach dir doch nicht immer so viel Mühe, Dolly!« sagte ihr Mann. »Wenn du willst, so kann ich ja alles zurechtmachen.«
›Ja, sie haben sich bestimmt ausgesöhnt‹, dachte Anna.
»Das kenne ich schon, wie du alles zurechtmachst«, antwortete Dolly. »Du gibst deinem Matwei irgendwelche ganz unmögliche Anweisungen, und dann gehst du davon, und er macht dann lauter dummes Zeug«, und während Dolly das sagte, verzog sie mit ihrem üblichen spöttischen Lächeln die Mundwinkel.
›Aussöhnung, völlig, völlige Aussöhnung!‹ dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und voll Freude darüber, daß es ihr gelungen war, dies zustande zu bringen, trat sie an Dolly heran und küßte sie.
»So ist das ganz und gar nicht; warum verachtest du mich und Matwei so?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch, sich seiner Frau zuwendend, mit einem kaum bemerkbaren Lächeln.
Den ganzen Abend über hatte alles, was Dolly zu ihrem Manne sagte, eine leise ironische Färbung, wie das auch früher immer so gewesen war, und Stepan Arkadjewitsch war zufrieden und heiter, jedoch nur so weit, daß er doch dabei andeutete, er habe trotz der erhaltenen Verzeihung seine Schuld keineswegs vergessen.
Um halb zehn Uhr wurde dieses besondere muntere und vergnügliche abendliche Familiengespräch am Teetische bei Oblonskis durch ein anscheinend ganz unbedeutendes Ereignis unterbrochen; aber dieses unbedeutende Ereignis erschien aus eigentümlichen Gründen allen als etwas sehr Bemerkenswertes. Man sprach von einer gemeinsamen Petersburger Bekannten, da stand Anna eilig auf.
»Ich habe ein Bild von ihr in meinem Album bei mir«, sagte sie. »Und bei dieser Gelegenheit kann ich euch auch meinen kleinen Sergei zeigen«, fügte sie mit einem stolzen, mütterlichen Lächeln hinzu.
Nach neun Uhr, wo sie ihrem Söhnchen gewöhnlich gute Nacht sagte, ihn auch oft, ehe sie zu einem Balle fuhr, selbst zu Bett brachte, war ihr heute traurig zumute geworden, weil sie so weit von ihm entfernt war; und wovon die Rede auch sein mochte, sie kehrte mit ihren Gedanken immer wieder zu ihrem kleinen, krausköpfigen Sergei zurück. Sie wollte gern sein Bild betrachten und von ihm sprechen. Daher benutzte sie den ersten Vorwand, der sich darbot, stand auf und ging mit ihrem leichten, festen Gang hinaus, um das Album zu holen. Die Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte, mündete auf den Vorplatz der großen geheizten Haupttreppe.
In dem Augenblicke, da sie aus dem Wohnzimmer trat, ertönte in der Flurhalle die Klingel.
»Wer kann das sein?« sagte Dolly.
»Es ist noch zu früh, als daß es jemand sein könnte, der mich abholen soll; und für einen Besuch wieder ist es zu spät«, bemerkte Kitty.
»Wahrscheinlich jemand mit Akten«, setzte Stepan Arkadjewitsch hinzu. Als Anna an der Haupttreppe vorbeikam, lief gerade ein Diener hinauf, um den Ankömmling zu melden; dieser selbst stand unten neben der Flurlampe. Anna, die hinunterblickte, erkannte sofort Wronski, und ein seltsames Gefühl, aus Freude und Furcht gemischt, regte sich plötzlich in ihrem Herzen. Er stand da, ohne den Überzieher abzulegen, und zog gerade etwas aus der Tasche. In dem Augenblicke, da sie in eine Linie mit dem Mittelraume des Treppenhauses gelangt war, hob er die Augen in die Höhe, erblickte sie, und in dem Ausdrucke seines Gesichtes wurde etwas wie Beschämung und Schreck sichtbar. Sie ging mit leicht gesenktem Kopfe vorüber; aber hinter sich hörte sie die laute Stimme Stepan Arkadjewitschs, der den späten Besucher zum Nähertreten aufforderte, und die mäßig laute, weiche, ruhige Stimme Wronskis, der dies ablehnte.
Als Anna mit dem Album zurückkehrte, war er nicht mehr da, und Stepan Arkadjewitsch erzählte, er sei nur hergekommen, um sich wegen eines Diners zu erkundigen, das sie am nächsten Tage einer soeben in Moskau eingetroffenen Berühmtheit zu Ehren geben wollten. »Er wollte durchaus nicht hereinkommen; ein sonderbarer Mensch!« fügte Stepan Arkadjewitsch hinzu.
Kitty errötete. Sie glaubte, sie allein wüßte, weshalb er gekommen sei und weshalb er nicht habe eintreten wollen. ›Er ist bei uns gewesen‹, dachte sie, ›hat mich nicht getroffen und hat sich gedacht, daß ich hier sein würde; aber er hat nicht hereinkommen mögen, weil er meinte, es sei schon zu spät, und weil Anna hier ist.‹
Alle sahen einander an, ohne etwas zu sagen; dann begannen sie Annas Album zu besehen.
An sich lag nichts Ungewöhnliches und Befremdliches darin, daß jemand um halb zehn bei einem Freunde vorsprach, um Näheres über ein geplantes Diner zu hören, dabei aber nicht ins Zimmer kommen wollte; aber dennoch erschien es allen auffällig. Mehr noch als die anderen war Anna der Ansicht, daß dieses Verhalten auffällig und nicht passend sei.
Der Ball begann eben, als Kitty mit ihrer Mutter die große, von Licht überflutete Treppe hinanstieg, auf der blühende Topfgewächse und gepuderte Lakaien in roten Röcken aufgestellt waren. Aus den Sälen drang das dumpfe Geräusch der sich darin bewegenden Menschenmenge heraus, gleichmäßig wie das Summen in einem Bienenstocke, und während sie auf einem Treppenabsatz zwischen der dort aufgestellten Orangerie vor dem Spiegel die Frisuren und Kleider in Ordnung brachten, ertönten aus dem Tanzsaale die rhythmischen Geigenklänge des Orchesters, das den ersten Walzer anstimmte. Ein bejahrter Herr in Zivil, der sich vor einem anderen Spiegel die grauen Haare an den Schläfen zurechtgebürstet hatte und eine Wolke von Wohlgeruch um sich verbreitete, traf mit ihnen auf der Treppe zusammen und trat zur Seite, wobei er die ihm unbekannte Kitty mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Ein bartloser Jüngling mit sehr tief ausgeschnittener Weste, einer der Salonmenschen, die der Fürst Schtscherbazki Windhunde zu nennen pflegte, brachte im Gehen seine weiße Krawatte in Ordnung, verbeugte sich vor ihnen, kehrte, nachdem er schon vorbeigelaufen war, wieder um und bat Kitty um eine Quadrille. Die erste Quadrille war schon an Wronski vergeben; sie mußte also diesem jungen Manne die zweite zuteilen. Ein Offizier, der gerade dabei war, sich den einen Handschuh zuzuknöpfen, trat an der Tür zur Seite und musterte, sich den Schnurrbart glattstreichend, beifällig die einem Röschen gleichende Kitty.
Obgleich die Toilette, die Frisur und alle die anderen Zurüstungen zum Balle Kitty viel Mühe und viel Überlegungen gekostet hatten, trat sie doch jetzt in ihrem kunstvollen Tüllkleide über einem rosa Unterkleide auf dem Balle so frei und ungezwungen auf, als ob all diese Rosetten, Spitzen und sonstigen Bestandteile der Toilette ihre und ihrer Hausgenossen eifrige Tätigkeit auch nicht für einen Augenblick in Anspruch genommen hätten, als ob sie in diesem Tüll, in diesen Spitzen, mit dieser hohen, von einer Rose nebst zwei Blättchen gekrönten Frisur geboren wäre.
Als beim Eintritt in den Saal die alte Fürstin ihr das Gürtelband, das sich umgeschlagen hatte, wieder in Ordnung bringen wollte, wehrte Kitty leise ab. Sie hatte die Empfindung, jetzt müsse alles an ihr ganz von selbst schön und anmutig sein, so daß keinerlei Verbesserung mehr nötig sei.
Kitty hatte heute einen ihrer glücklichen Tage. Nirgends saß das Kleid zu eng; nirgends war die Spitzenborte hinuntergerutscht; keine Rosette war zerdrückt oder abgerissen; die rosa Ballschuhe mit den hohen, geschweiften Absätzen drückten nicht, sondern waren eine Lust für die Füßchen. Die dichten, hellblonden Bandeaus saßen auf dem kleinen Köpfchen fest wie das eigene Haar. Die drei Knöpfe an jedem der langen Handschuhe, die eng anliegend die Hände umschlossen, ohne deren Form zu verändern, hatten sich alle zuknöpfen lassen; keiner war abgerissen. Das schwarze Samtband, an dem ein Medaillon hing, umgab ihren Hals besonders anmutig. Dieses Samtband war geradezu entzückend, und als Kitty zu Hause ihren Hals im Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl gehabt, wie wenn dieses Samtband reden könnte. Und wenn bei allen übrigen Bestandteilen ihrer Toilette vielleicht noch ein Zweifel an deren höchster Vollendung möglich war, das Samtband war einfach entzückend. Auch hier auf dem Balle lächelte Kitty, als sie es im Spiegel erblickte. In den entblößten Schultern und Armen empfand Kitty eine marmorartige Kühle, ein Gefühl, das sie ganz besonders gern hatte. Ihre Augen leuchteten, und die roten Lippen konnten im Bewußtsein, wie reizend sie waren, ein Lächeln nicht unterdrücken.
Kaum hatte sie den Saal betreten und sich zu der Schar der Damen begeben, die, einem bunten Durcheinander von Tüll, Bändern, Spitzen und Blumen gleichend, auf Aufforderungen zum Tanze warteten (Kitty hatte in diesem Schwarm nie lange zu stehen brauchen), als sie auch schon zum Walzer aufgefordert wurde, und zwar von einem Kavalier ersten Ranges, dem tonangebenden Kavalier auf dem Gebiete des Ball-Lebens, dem berühmten Ballordner und Zeremonienmeister Jegor Korsunski, einem hübschen, stattlichen, verheirateten Manne. Er hatte soeben die Gräfin Bonina verlassen, mit der er den ersten Walzer getanzt hatte, und musterte »seine Truppen«, das heißt die zum Tanz angetretenen Paare, da erblickte er die eintretende Kitty, eilte mit jenem besonderen, nur den Ballordnern eigenen, ungezwungenen, wiegenden Gange auf sie zu, verbeugte sich und hob, ohne auch nur zu fragen, ob es ihr recht sei, den Arm, um ihn um ihre schlanke Taille zu legen. Sie blickte sich um, wem sie ihren Fächer übergeben könnte, und die Hausfrau nahm ihn ihr, freundlich lächelnd, ab.
»Wie schön, daß Sie so pünktlich gekommen sind«, sagte er, während er ihre Hüfte umfaßte. »Dieses Zuspätkommen ist auch eine zu arge Unsitte.«
Sie legte den gebogenen linken Arm auf seine Schulter, und die kleinen Füßchen in den rosa Schuhen bewegten sich hurtig, leicht und gleichmäßig nach dem Takte der Musik auf dem glatten Parkett.
»Es ist geradezu eine Erholung, mit Ihnen Walzer zu tanzen«, sagte er nach den ersten ruhigen Walzerschritten. »Eine ganz entzückende Leichtigkeit und précision«, – er sagte ihr dasselbe, was er fast allen Damen seiner Bekanntschaft sagte.
Sie lächelte über sein Lob und fuhr fort, über seine Schulter hinweg sich im Saale umzusehen. Sie war kein Neuling, für den auf einem Balle alle Gesichter zu einem einzigen zauberhaften Gesamteindrucke zusammenfließen, aber sie war auch keine jener jungen Damen, die von ihren Müttern auf alle Bälle geschleppt werden und dort alle Gesichter schon so genau kennen, daß sie sie gar nicht mehr sehen mögen, sondern sie nahm eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Gegensätzen ein: sie war wohl erregt, hatte sich aber dabei doch so weit in der Gewalt, daß sie Beobachtungen anstellen konnte. In der linken Ecke des Saales hatte sich, wie sie sah, die Creme der Gesellschaft aufgestellt. Da war die schöne, fast bis zur Unmöglichkeit dekolletierte Liddy, die Frau des Herrn Korsunski; da war die Hausfrau; da saß mit seiner weithin leuchtenden Glatze Herr Kriwin, der sich immer dort aufhielt, wo sich die Spitzen der Gesellschaft befanden; dorthin richteten die jungen Herren ihre Blicke, ohne daß sie doch gewagt hätten, hinzugehen; und dort fand sie auch mit den Augen ihren Schwager Stiwa heraus, und dann erblickte sie Annas schönen Kopf und entzückende Gestalt in einem schwarzen Samtkleide. Auch ›er‹ war dort. Kitty hatte ihn seit dem Abende, da sie Ljewins Antrag abgelehnt hatte, nicht wiedergesehen. Mit ihren scharfen Augen erkannte sie ihn sofort und bemerkte sogar, daß er zu ihr herüberschaute.
»Nun, noch eine Runde? Sie sind doch nicht ermüdet?« fragte Korsunski, der ein wenig außer Atem gekommen war.
»Nein, ich danke.«
»Wohin darf ich Sie führen?«
»Ich glaube, dort ist Frau Karenina. Führen Sie mich, bitte, zu ihr!« – »Wie Sie befehlen.«
Und Korsunski walzte mit kürzer abgemessenen Schritten gerade auf die Gruppe in der linken Ecke des Saales zu, wobei er fortwährend sagte: ›Pardon, mes dames, pardon, pardon, mes dames!‹ und in diesem Meere von Spitzen, Tüll und Bändern so geschickt kreuzte, daß er auch nicht an einem Flitterchen anhakte; dann schwenkte er seine Dame in kurzer Wendung herum, so daß ihre schlanken Beinchen in den durchbrochenen Strümpfen sichtbar wurden und ihre Schleppe sich fächerförmig ausbreitete und Kriwins Knie bedeckte. Korsunski verbeugte sich, drückte die Brust in dem weiten Westenausschnitt nach vorn heraus und reichte Kitty den Arm, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen. Errötend nahm Kitty ihre Schleppe von Kriwins Knien herunter und blickte dann, ein wenig schwindlig, umher, um Anna herauszufinden. Anna war nicht in Lila, wie Kitty das für das einzig Gegebene gehalten hatte, sondern trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Samtkleid, das ihre vollen, wie aus altem Elfenbein gedrechselten Schultern, die Büste und die rundlichen Arme mit den feinen, schmalen Handgelenken frei ließ. Das ganze Kleid war mit venezianischer Stickerei besetzt. Auf dem Kopfe trug sie in dem schwarzen Haare, lauter eigenem ohne fremden Zusatz, eine kleine Girlande von Stiefmütterchen, und ein Sträußchen ebendieser Blumen steckte zwischen weißen Spitzen an dem schwarzen Gürtelbande. Ihre Frisur hatte nichts Auffallendes. Auffällig waren nur diese überaus reizenden, eigenwilligen, kurzen Ringel des lockigen Haares, die überall, am Nacken und an den Schläfen, vom Kopfe abstanden. Um den glatten, kräftigen Hals schlang sich eine Perlenschnur.
Kitty hatte Anna täglich gesehen und sich geradezu in sie verliebt. Sie hatte sie sich durchaus in Lila vorgestellt; aber als sie sie jetzt in Schwarz erblickte, da kam sie zu der Erkenntnis, daß sie Annas Reiz vorher nicht in vollem Umfange erfaßt hatte. Sie sah sie jetzt in einer völlig neuen, überraschenden Erscheinungsform. Jetzt begriff sie, daß Anna nicht Lila tragen durfte und daß ihr Reiz gerade darin bestand, daß sie, gleichsam wie ein Bild aus dem Rahmen, aus ihrer Toilette heraustrat und daß man über ihrer Person ihre Toilette nicht beachtete. Und wirklich sah man dieses schwarze Kleid mit den prachtvollen Spitzen an ihr eigentlich gar nicht; das Kleid war nur der Rahmen, und sichtbar war nur sie in ihrer Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit sowie in ihrer Heiterkeit und Lebhaftigkeit.
Sie stand, wie immer, in sehr gerader Haltung da und redete gerade mit dem Hausherrn, indem sie den Kopf leicht zu ihm hinwandte, als Kitty an diese Gruppe herantrat.
»Nein, ich will keinen Stein auf sie werfen«, antwortete sie auf etwas, was er gesagt hatte, »verstehen kann ich es allerdings nicht, wie das möglich war«, fuhr sie achselzuckend fort. Dann wandte sie sich sogleich mit einem liebenswürdigen, gönnerhaften Lächeln zu Kitty. Mit schnellem Frauenblicke musterte sie deren Toilette und gab dann durch eine kaum bemerkbare, aber für Kitty verständliche Kopfbewegung ihren Beifall sowohl für die Toilette wie auch für die Schönheit der Trägerin zu verstehen. »Sie sind ja in den Saal hereingetanzt gekommen«, fügte sie hinzu.
»Das ist eine meiner treuesten Gehilfinnen«, sagte Korsunski und verbeugte sich vor Anna Arkadjewna, die er noch nicht begrüßt hatte. »Die Prinzessin trägt außerordentlich viel dazu bei, einen Ball heiter und schön zu gestalten. Anna Arkadjewna, einen Walzer«, sagte er, sich verneigend.
»Sie kennen einander schon?« fragte der Hausherr.
»Mit wem wären meine Frau und ich nicht bekannt? Wir sind wie weiße Wölfe, uns kennt jeder«, versetzte Korsunski. »Einen Walzer, Anna Arkadjewna!«
»Ich tanze nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete sie.
»Aber heute ist es nicht zu vermeiden«, entgegnete Korsunski.
In diesem Augenblicke trat Wronski heran.
»Nun, wenn es denn heute für mich unvermeidlich ist, zu tanzen, so kommen Sie!« sagte sie, ohne Wronskis Verbeugung zu beachten, und legte schnell die Hand auf Korsunskis Schulter.
›Was mag sie nur gegen ihn haben?‹ dachte Kitty; sie hatte recht wohl gemerkt, daß Anna den Gruß Wronskis absichtlich nicht erwidert hatte. Wronski trat nun auf Kitty zu, erinnerte sie an die ihm versprochene erste Quadrille und äußerte sein Bedauern darüber, daß er diese ganze Zeit her nicht das Vergnügen gehabt habe, sie zu sehen. Kitty blickte voll Bewunderung zu der tanzenden Anna hin und hörte gleichzeitig auf das, was Wronski sagte. Sie erwartete, daß er sie zum Walzer auffordern werde; aber er tat es nicht, und sie blickte ihn verwundert an. Er errötete und bat sie nun eilig um den Tanz; aber kaum hatte er ihre schlanke Hüfte umfaßt und den ersten Schritt gemacht, als die Musik plötzlich aufhörte. Kitty schaute in sein Gesicht, das dem ihren so nahe war, und noch lange nachher, noch jahrelang, erfüllte der Gedanke an diesen Blick voll Liebe, den er unerwidert gelassen hatte, ihr Herz mit einem bitteren, bitteren Gefühl der Scham.
»Pardon, pardon! Walzer, Walzer!« rief von der anderen Seite des Saales her Korsunski, faßte selbst die erste junge Dame um, die ihm in den Weg kam, und tanzte weiter.
Wronski tanzte mit Kitty den Walzer. Nach dem Tanz begab sich Kitty zu ihrer Mutter und hatte kaum ein paar Worte mit der Gräfin Northstone gesprochen, als auch schon Wronski kam, um sie zur ersten Quadrille zu holen. Während der Quadrille sprachen die beiden nichts von Bedeutung miteinander; die Unterhaltung berührte sprungweise die verschiedensten Gegenstände. Bald sprach Wronski von Herrn Korsunski und Frau Korsunskaja, von denen er eine höchst unterhaltsame Schilderung entwarf, indem er sie als nette Kinderchen von vierzig Jahren kennzeichnete, bald von dem in Aussicht genommenen Liebhabertheater, und nur ein einziges Mal ging das Gespräch Kitty näher an, und zwar berührte es bei ihr einen empfindlichen Punkt, als er sich nach Ljewin erkundigte, ob der auch hier sei, und hinzufügte, er habe ihm sehr gut gefallen. Aber von dieser Quadrille hatte Kitty auch nicht mehr erwartet; sie wartete mit Herzklopfen auf die Masurka. Bei der Masurka, meinte sie, müsse alles zur Entscheidung kommen. Daß er sie während der Quadrille nicht zur Masurka aufforderte, beunruhigte sie nicht weiter. Sie hielt es für selbstverständlich, daß sie wie auf den früheren Bällen auch diesmal die Masurka mit ihm tanzen werde, und wies fünf Herren ab, von denen sie aufgefordert wurde, da sie bereits vergeben sei. Der ganze Ball bis zur letzten Quadrille war für Kitty ein märchenhafter Traum voll heiterer Farben, Klänge und Bewegungen. Sie tanzte fast ununterbrochen; nur wenn sie sich zu müde fühlte und der Erholung bedurfte, ließ sie eine Pause eintreten. Die letzte Quadrille tanzte sie mit einem langweiligen jungen Manne, dem sie nicht gut hatte einen Korb geben können, und es traf sich, daß sie dabei Wronski und Anna zum Gegenüber hatte. Sie war mit Anna seit der Begegnung gleich zu Beginn des Balles nicht wieder in Berührung gekommen und sah sie nun auf einmal in einem ganz neuen, überraschenden Zustande wieder. Sie nahm an ihr die ihr selbst so wohlbekannten Merkmale jener Erregung wahr, die durch einen persönlichen Erfolg hervorgerufen wird. Sie sah, daß Anna wie berauscht war von dem Gefühle des Triumphes darüber, daß sie Entzücken erregt habe. Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Anzeichen und sah sie jetzt bei Anna – sie sah den zitternden, aufleuchtenden Glanz in ihren Augen und das Lächeln des Glücks und der Aufregung, das unwillkürlich ihren Mund umspielte, und die vollendete Anmut, Sicherheit und Leichtigkeit aller Bewegungen.
›Wer ist es?‹ fragte sie sich selbst. ›Alle oder ein einzelner?‹ Während der junge Mann, mit dem sie tanzte, sich abquälte, sie zu unterhalten, aber den Faden verlor, ohne daß er ihn hätte wiederfinden können oder sie ihm zu Hilfe gekommen wäre, und während sie äußerlich heiter den lauten Kommandos des Herrn Korsunski Folge leistete, der alle Tanzenden bald zur grande ronde, bald zur chaîne formierte, beobachtete sie unterdessen, und ihr Herz krampfte sich immer schmerzlicher zusammen. ›Nein, nicht daß sie das Wohlgefallen vieler gefunden, sondern daß sie das Entzücken eines einzelnen erregt hat, das hat sie so berauscht. Und wer ist dieser eine? Sollte er es sein, er?‹ Jedesmal, wenn er zu Anna sprach, leuchtete in ihren Augen ein freudiger Glanz auf, und ein glückliches Lächeln trat auf ihre roten Lippen. Es schien, als gäbe sie sich Mühe, diese Zeichen ihrer Freude zu unterdrücken; aber sie drangen auf ihrem Gesichte aus eigener Kraft hervor. ›Und wie ist es mit ihm?‹ fragte sich Kitty, blickte ihn an und erschrak heftig. Das, was ihr in Annas Gesicht klar wie in einem Spiegel entgegengetreten war, ebendasselbe erblickte sie auch bei ihm. Wo war seine sonst immer so ruhige, sichere Haltung geblieben, wo der sorglose, unbekümmerte Ausdruck seines Gesichtes? Jetzt war das alles verändert: jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, neigte er ein wenig den Kopf, als wolle er vor ihr niederfallen, und in seinem Blicke lag unausgesetzt der Ausdruck völliger Ergebenheit und einer gewissen Bangigkeit. ›Ich möchte dich nicht durch meine Leidenschaft beleidigen‹, schien jedesmal sein Blick zu sagen. ›Ich möchte mich retten und weiß nicht, wie.‹ Auf seinem Gesichte lag ein Ausdruck, wie ihn Kitty noch nie an ihm kennengelernt hatte.
Sie unterhielten sich über gemeinsame Bekannte und führten ein ganz gleichgültiges Gespräch, aber Kitty hatte die Empfindung, daß jedes von ihnen gesprochene Wort das Schicksal der beiden sowie auch ihr eigenes entscheide. Und seltsam: obgleich sie in Wirklichkeit nur davon redeten, wie lächerlich sich Iwan Iwanowitsch mit seinem Französischsprechen mache, und daß Fräulein Jelezkaja doch wohl eine bessere Partie hätte finden können, so hatten dabei doch diese Worte für sie eine besondere Bedeutung, und sie fühlten das nicht minder als Kitty. Der ganze Ball, die ganze Welt, alles umzog sich in Kittys Seele wie mit einem dichten Nebel. Nur die strenge Schule der Erziehung, durch die sie hindurchgegangen war, hielt sie aufrecht und zwang sie, das zu tun, was von ihr verlangt wurde, das heißt zu tanzen, auf Fragen zu antworten, die Unterhaltung weiterzuspinnen, ja sogar zu lächeln. Aber vor dem Beginne der Masurka, als schon die Stühle dazu in Ordnung gestellt wurden und bereits einige Paare sich aus den kleineren Sälen in den Hauptsaal begaben, da kam für Kitty ein Augenblick der Verzweiflung und des Entsetzens. Fünf Herren hatte sie abgewiesen, und nun war sie zur Masurka gar nicht aufgefordert! Es war auch nicht mehr zu hoffen, daß sie jetzt noch würde aufgefordert werden, gerade deswegen, weil sie stets eine so begehrte Tänzerin gewesen war und somit niemand auf den Gedanken kommen konnte, daß sie noch nicht vergeben sei. Der einzige Ausweg war nun, der Mutter zu sagen, daß sie krank sei, und nach Hause zu fahren; aber dazu hatte sie nicht die Kraft. Sie fühlte sich völlig gebrochen.
Sie zog sich in ein kleines Nebenzimmer zurück und ließ sich an dessen fernstem Ende auf einen Sessel sinken. Der luftige Rock ihres Ballkleides bauschte sich wie eine Wolke um ihre schlanke Gestalt; der eine der entblößten, schmächtigen, zarten Mädchenarme hing kraftlos herab und versank in den Falten der rosa Tunika; in der anderen Hand hielt sie den Fächer und wehte mit kurzen, schnellen Bewegungen ihrem glühenden Gesichte Kühlung zu. Äußerlich glich sie einem Schmetterlinge, der sich soeben auf einem Halm niedergelassen hat und jeden Augenblick bereit ist, seine bunt schillernden Flügel wieder auseinanderzufalten und aufzuflattern; aber in schroffem Gegensatze zu dieser Ähnlichkeit preßte furchtbare Verzweiflung ihr das Herz zusammen.
»Aber vielleicht irre ich mich, vielleicht ist es gar nicht so?« Und wieder rief sie sich alles, was sie gesehen hatte, ins Gedächtnis zurück.
»Aber Kitty, was hat das zu bedeuten?« fragte die Gräfin Northstone, die auf dem Teppich, ohne daß Kitty es gehört hatte, zu ihr herangekommen war. »Das verstehe ich ja gar nicht.«
Kittys Unterlippe bebte; rasch stand sie auf.
»Tanzt du denn die Masurka nicht mit, Kitty?«
»Nein, nein«, antwortete Kitty; ihre Stimme zitterte von verhaltenen Tränen.
»Ich stand dabei, als er sie zur Masurka aufforderte«, sagte die Gräfin Northstone, die mit Sicherheit voraussetzte, daß Kitty verstände, wer »er« und »sie« seien.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (1863 - 1944)
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9264-7
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