Selma Lagerlöf
Unsichtbare Bande
Erzählungen
Deutsch von Marie Franzos
1. elektronische Auflage
verlag.bucher@gmail.com, Basel 2014
I
So traulich wie ein Heim steht das kleine Städtchen vor mir. Es ist so klein, daß ich alle seine Winkel und Ecken kennen lernen, mit jedem Kinde gut Freund werden und alle Hunde beim Namen rufen konnte. Wer über die Straße ging, wußte, bei welchem Fenster er den Blick aufschlagen mußte, um ein schönes Gesicht hinter der Scheibe zu erblicken, und wer durch den Stadtpark wanderte, kannte die Zeit, wann er da gehen mußte, um die Person zu treffen, die er treffen wollte.
Auf die schönen Rosen im Nachbargarten war man fast ebenso stolz, als wenn sie im eignen gestanden hätten. Geschah etwas, was kleinlich oder gewöhnlich war, so schämte man sich, als wäre es in der eignen Familie passiert, aber bei dem allergeringsten Ereignis, einer Feuersbrunst oder einer Marktschlägerei, brüstete man sich und sagte: „Seht nur, welches Gemeinwesen! Geschehen solche Dinge anderswo? Welche wunderbare Stadt!“
Und in dieser meiner geliebten Stadt verändert sich nichts. Komme ich wieder einmal hin, so werde ich dieselben Häuser und Kaufläden wiederfinden, die ich von altersher kenne, dieselben Gruben im Steinpflaster werden mich zu Fall bringen, dieselben steifen Lindenhecken, dieselben rundgeschnittenen Fliedersträucher meinen bewundernden Blick fesseln. Wieder werde ich sehen, wie der alte Ratsherr, der die ganze Stadt regiert, mit elefantenschweren Schritten die Straße hinabgewandert kommt. Patriarch und Vorsehung, welch ein Gefühl derSicherheit hat man nicht, wenn man dich so wandern sieht! Und der taube Halfvorson wird noch immer in seinem Garten umhergehen und graben, während seine wasserklaren Augen suchend starren, als wollten sie sagen: „Alles, alles haben wir durchforscht, jetzt Erde, wollen wir uns bis in dein Innerstes bohren.“
Aber wer nicht mehr da sein wird, das ist der kleine runde Peter Nord. Ihr wißt doch, der kleine Wermländer, der in Halfvorsons Kramladen stand, er, der die Kunden mit seinen kleinen mechanischen Erfindungen und seinen weißen Mäusen unterhielt. Von ihm ist eine ganze Geschichte zu erzählen. Über alles und alle in der Stadt gibt es Geschichten. Nirgends geschehen so wunderliche Dinge.
Er war ein Bauernjunge, der kleine Peter Nord. Er war klein und rund, er war braunäugig und hatte ein lachendes Gesicht. Sein Haar war heller als Birkenlaub im Herbst, die Wangen waren rot und flaumig. Und ein Wermländer war er. Niemand, der ihn sah, konnte glauben, daß er aus einem andern Lande komme. Mit prächtigen Eigenschaften hatte ihn die treffliche Heimat ausgerüstet. Hurtig war er bei seiner Arbeit, rasch mit den Fingern, flink mit der Zunge, klar im Kopfe. Und dazu ein Narr, gutmütig und hoch hinaus, gefällig und streitlustig, neugierig und plapperhaft. Der Tollkopf, er war nicht imstande, einem Bürgermeister größre Ehrfurcht zu zeigen, als einem Bettler. Aber Herz hatte er, verliebt war er jeden zweiten Tag, und die ganze Stadt zog er ins Vertrauen.
Die Arbeit im Laden verrichtete dieses glücklich veranlagte Kind in irgendeiner übernatürlichen Weise. Die Kunden wurden bedient, während er die weißen Mäuse fütterte. Geld wurde gewechselt und gezählt, während er seine kleinen, selbstgehenden Wagen mit Rädern versah. Und indes er den Kunden von seiner allerletzten Verliebtheit erzählte, ließ er das Litermaß nicht aus den Augen, aus dem der braune Sirup sich sachte herabringelte. Und es machte den bewundernden Zuhörern Spaß, zu sehen, wie er plötzlich über den Ladentisch sprang und auf die Straße stürzte, wo er mit einem vorbeigehenden Gassenjungen einen Strauß ausfocht, um dann mit ruhiger Stirn in den Laden zurückzukehren und den Knoten an einem Paket zu knüpfen oder ein Stück Stoff fertig zu messen.
War es nicht natürlich, daß er der Günstling der ganzen Stadt wurde? Wir fühlten uns alle verpflichtet, bei Halfvorson einzukaufen, seit Peter Nord hingekommen war. Und selbst der alte Ratsherr war stolz, wenn Peter Nord ihn in eine dunkle Ecke zog und ihm den Käfig mit den weißen Mäusen zeigte. Es war sehr spannend und aufregend, die Mäuse zu zeigen, denn Halfvorson hatte ihm verboten, sie im Laden zu halten.
Da aber kamen mitten in dem heller werdenden Februar ein paar trübe Tage mit nebligem Tauwetter. Peter Nord wurde auf einmal ernst und still. Er ließ die weißen Mäuse ihren Drahtkäfig benagen, ohne sie zu füttern. Er versah seine Obliegenheiten tadellos. Er balgte sich nicht mit den Gassenjungen. Konnte Peter Nord es vielleicht nicht vertragen, daß das Wetter umgeschlagen hatte?
Ach nein, die Sache war die, daß er einen Fünfzigkronenschein oben auf einem der Wandbretter gefunden hatte. Er hatte geglaubt, daß er mit einem Stoffballen hinaufgeschleudert worden war, und ganz unbemerkt hatte er ihn unter einen Pack gestreiften Kattun geschoben, der damals unmodern war und nie von den Wandbrettern heruntergenommen wurde.
Der Knabe hegte in seinem Herzen einen unbändigen Groll gegen Halfvorson, der ihm eine ganze Mäusefamilie totgeschlagen hatte, und nun wollte er sich rächen. Noch sah er die weiße Mutter mitten unter ihren hilflosen Jungen vor sich. Sie hatte keinen einzigen Versuch gemacht zu fliehen, sondern war in unerschütterlichem Heldenmut auf ihrem Platz liegen geblieben und hatte den herzlosen Mörder aus roten brennenden Augen angestarrt. Verdiente dieser nicht auch eine angstvolle Stunde? Peter Nord wollte sehen, wie er totenbleich aus dem Kontor stürzte und nach dem Fünfzigkronenschein suchte. Er wollte dieselbe Angst in seinen wasserklaren Augen sehen, die er in den granatroten der weißen Maus erblickt hatte. Der Krämer sollte nur suchen, er sollte den ganzen Laden umkehren, bevor Peter Nord ihn die Banknote finden ließ.
Aber der Fünfzigkronenschein blieb den ganzen Tag in seinem Versteck liegen, ohne daß jemand danach fragte. Er war ganz neu, bunt und leuchtend und hatte die Zahl Fünfzig groß in allen Ecken. Wenn Peter Nord allein im Laden war, lehnte er eine Leiter an die Regale und kletterte zu dem Kattunballen hinauf. Dann zog er den Fünfzigkronenschein hervor, entfaltete ihn und bewunderte seine Schönheit. Mitten im eifrigsten Handeln konnte er Angst bekommen, daß dem Fünfzigkronenschein etwas zugestoßen sei. Dann tat er, als suchte er etwas auf dem Wandbrett und tastete unter dem Kattunballen herum, bis er den glatten Schein unter seinen Fingern rascheln fühlte.
Dieser Schein hatte mit einem Male eine übernatürliche Gewalt über ihn erlangt. Ob wohl etwas Lebendiges darin war? Die von breiten Ringen umgebenen Zahlen waren wie saugende Augen. Der Knabe küßte sie alle und flüsterte. „Solche wie du möchte ich viele haben, furchtbar viele.“
Er begann sich allerlei Gedanken über den Schein zu machen, und darüber, daß Halfvorson nicht danach fragte. Vielleicht gehörte er gar nicht Halfvorson? Vielleicht lag er schon lange im Laden? Vielleicht hatte er überhaupt keinen Besitzer mehr?
Gedanken sind ansteckend. – Beim Abendbrot hatte Halfvorson angefangen, von Geld und Geldmenschen zu sprechen. Er erzählte Peter Nord von allen den armen Jungen, die Reichtümer gesammelt hatten. Er begann mit Whittington und schloß mit Astor und Jay Gould. Halfvorson kannte ihre ganze Geschichte, er wußte, wie sie gestrebt und entbehrt, was sie erfunden und gewagt hatten. Er wurde ganz beredt, als er auf alles dies kam. Er durchlebte die Leiden der jungen Geldmenschen, er begleitete sie bei ihren Erfolgen, er jubelte bei ihrem Sieg. Peter Nord hörte ganz gespannt zu.
Halfvorson war vollkommen taub, aber dies war kein Hindernis für ein Gespräch, denn er las einem alles, was man sagte, von den Lippen ab. Hingegen konnte er seine eigne Stimme nicht hören. Die rollte darum so wunderlich eintönig dahin, wie das Tosen eines fernen Wasserfalls. Aber diese wunderliche Art zu sprechen bewirkte es, daß alles, was er sagte, einem im Ohr nachhallte, so daß man es viele Tage nicht abschütteln konnte. Armer Peter Nord!
„Was unumgänglich notwendig ist, um reich zu werden,“ sagte Halfvorson, „das ist der Heckepfennig. Aber den kann man nicht verdienen. Merke dir, den haben alle auf der Straße gefunden, oder zwischen dem Futter und dem Oberstoff eines Rockes, den sie auf einer Auktion gekauft haben, oder sie haben ihn im Spiel gewonnen, oder von einer schönen und barmherzigen Dame als Almosen bekommen. Aber nachdem sie im Besitze dieser gesegneten Münze waren, ist ihnen alles geglückt. Der Geldstrom sprudelte daraus hervor wie aus einer Quelle. Das erste, was nottut, Peter Nord, das ist der Heckepfennig.“
Halfvorsons Stimme klang immer dumpfer und dumpfer. Der junge Peter Nord saß wie betäubt da und sah eitel Gold vor sich. Auf dem Tuche des Eßtisches stapelten sich Haufen von Dukaten auf, auf dem Fußboden wogte es weiß von Silber, und die wirren Muster der schmutzigen Tapeten verwandelten sich in Bankscheine, groß wie Tischtücher. Aber gerade vor seinen Augen flatterte die Zahl Fünfzig, von breiten Ringen umgeben, und lockte ihn wie die schönsten Augen. „Wer weiß,“ lächelten die Augen, „vielleicht ist der Fünfzigkronenschein droben auf dem Wandbrett solch ein Heckepfennig?“
„Merke nun wohl,“ sagte Halfvorson, „nächst dem Heckepfennig sind noch zwei Dinge für den notwendig, der es weit bringen will. Arbeit, eisenharte Arbeit, Peter Nord, heißt das eine Ding; und das andre heißt Verzicht. Verzicht auf Liebe und Spiel, auf Plaudern und Lachen, auf den Morgenschlummer und den Abendspaziergang. Wahrlich, wahrlich, zwei Dinge sind notwendig für den, der das Glück erobern will. Arbeit heißt das eine, und das andre Verzicht.“
Peter Nord sah aus, als wenn er weinen wollte. Freilich wollte er reich, freilich wollte er glücklich werden, aber das Glück sollte nicht so ängstlich kommen, nicht so sauer erworben sein. Ganz von selbst sollte sie sich einstellen, Frau Fortuna. Wenn Peter Nord sich gerade mit den Gassenjungen balgte, dann sollte die edle Dame ihre Sänfte an der Ladentür halten lassen und dem Wermlandjungen den Platz an ihrer Seite anbieten. Aber jetzt grollte Halfvorsons Stimme noch immer in seinen Ohren. Sein ganzes Hirn ward davon erfüllt. Er glaubte nichts andres, wußte nichts andres. Arbeit und Verzicht, Arbeit und Verzicht, das war das Leben und des Lebens Ziel. Er begehrte nichts andres, er wagte nicht zu glauben, daß er sich je etwas andres gewünscht hatte.
Am nächsten Tage getraute er sich gar nicht, den Fünfzigkronenschein zu küssen, er wagte es nicht einmal, ihn anzusehen. Er war still und gedrückt, ordentlich und fleißig. Alle seine Obliegenheiten versah er so tadellos, daß jeder merken konnte, daß etwas mit ihm los sein mußte. Der alte Ratsherr hatte Mitleid mit dem Jungen und tat, was er konnte, um ihn zu trösten.
„Gehst du heute abend auf den Fastnachtsball?“ fragte der Alte. „So, so, nein? Ja, dann will ich dich einladen, Peter Nord. Und laß mich sehen, daß du hinkommst, sonst erzähle ich Halfvorson, wo du deinen Mäusekäfig hast.“
Peter Nord seufzte und versprach, auf den Ball zu gehen.
Fastnachtsball, man denke, daß Peter Nord auf den Fastnachtsball sollte. Peter Nord sollte alle schönen Damen der Stadt sehen, fein, weiß gekleidet, blumengeschmückt. Aber Peter Nord durfte natürlich mit keiner einzigen von ihnen tanzen. Nun, das war ihm auch einerlei. Er war nicht in der Laune zu tanzen.
Auf dem Balle lehnte er in einer Tür und machte nicht einen Schritt zum Tanze. Einige hatten ihn zu überreden versucht, aber er war standhaft gewesen und hatte nein gesagt. Er könne diese Tänze nicht. Auch würde keine von diesen feinen Damen mit ihm tanzen wollen. Er war allzu gering für sie.
Aber wie er so dastand, begann es in seinen Augen zu funkeln und zu leuchten, und er fühlte, wie die Freude durch alle Glieder zuckte. Es kam von der Tanzmusik, es kam vom Blumenduft, es kam von allen den schönen Gesichtern, die er vor sich hatte. Nach einem kleinen Weilchen schon war er so strahlend froh, daß, wenn Freude Feuer wäre, die Flammen lichterloh um ihn aufgelodert wären. Und wenn die Liebe es wäre, wie so viele behaupten, dann wäre es ihm auch nicht besser ergangen. Er war immer in irgendein schönes Mädchen verliebt, aber bis jetzt immer nur in eine zugleich. Doch als er jetzt alle diese schönen Damen auf einmal sah, da verheerte nicht mehr eine einzige Flamme das sechzehnjährige Herz, sondern es war ein ganzer Waldbrand.
Von Zeit zu Zeit sah er auf seine Stiefel herab, die nichts weniger als Ballschuhe waren. Aber wie hätte er mit den breiten Absätzen den Takt stampfen und sich auf den dicken Sohlen im Kreise drehen können! In seinem Innern war etwas, was an ihm riß und zerrte, ihn wie einen geschlagnen Ball in den Tanzsaal schleudern wollte. Er widerstand noch ein Weilchen, obgleich die Bewegung in ihm immer stärker wurde, je weiter die Nacht fortschritt. Er wurde ganz schwindlig und lebenswarm. Heißa, er war nicht mehr der arme Peter Nord! Er war der junge Wirbelwind, der das Meer aufpeitscht und den Wald umreißt.
Ganz plötzlich wurde eine Hambopolka gespielt. Da geriet der Bauernjunge ganz außer sich. Er fand, daß diese wie seine eigne Wermländer Polka klang.
In einem Nu stand Peter Nord mitten im Saale. Alle feinen Herrenmanieren waren von ihm abgeglitten. Er war nicht mehr auf dem Rathausballe, sondern daheim in der Scheune, beim Mittsommernachtstanz. Er ging mit krummen Knien und zog den Kopf zwischen die Schultern. Ohne aufzufordern, schlang er einer Dame den Arm um den Leib und riß sie mit sich. Und dann begann er Polka zu tanzen. Das Mädchen folgte ihm halb widerwillig, beinahe geschleift. Sie war nicht im Takt, sie wußte gar nicht, was dies für ein Tanz war. Aber plötzlich ging alles wie von selbst. Das Geheimnis des Tanzes offenbarte sich ihr. Die Polka trug sie, hob sie empor, sie hatte Flügel an den Füßen, sie wurde so leicht wie Luft. Es war ihr, als flöge sie dahin. Denn die Wermlandpolka ist der wunderbarste Tanz. Sie verwandelt die schwerfüßigen Söhne der Erde. Lautlos schweben sie auf zolldicken Sohlen über ungehobelte Scheunendielen. Sie wirbeln umher, so leicht wie das Laub im Herbststurm. Diese Polka ist weich, hurtig, still, gleitend. Ihre edlen, maßvollen Bewegungen befreien die Körper, so daß sie sich leicht, elastisch schwebend fühlen.
Während Peter Nord seinen heimatlichen Tanz tanzte, wurde es still im Ballsaal. Anfangs lachte man, aber allmählich dämmerte es allen auf, daß dies Tanz war, dieses Dahinschweben in gleichmäßigen raschen Wirbeln, ja wahrlich, wenn irgendetwas Tanz war, so war es dies.
Plötzlich bemerkte Peter Nord mitten in seinem Taumel, daß rings um ihn eine wunderliche Stille herrschte. Er blieb plötzlich stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Keine schwarze Scheunendiele, keine laubgeschmückten Wände, keine hellblaue Sommernacht, keine muntre Bauerndirne war in der Wirklichkeit zu erblicken, in die er jetzt schaute. Er schämte sich und wollte sich fortschleichen.
Aber schon war er umringt und bestürmt. Die jungen Damen drängten sich um den Ladenjungen und riefen: „Ach tanzen Sie mit uns, tanzen Sie mit uns!“
Sie wollten diese Polka lernen. Alle wollten sie sie lernen. Der Ball kam ganz aus dem Geleise und war jetzt wie eine Tanzschule. Alle versicherten, daß sie bisher gar nicht gewußt hätten, was tanzen heiße. Und Peter Nord ward ein großer Mann an diesem Abend.
Er mußte mit allen den feinen Damen tanzen, und sie waren über die Maßen freundlich gegen ihn. Er war ja nur ein Junge und übrigens solch ein fröhlicher Tollkopf. Man konnte nicht anders als ihn verziehen.
Da fühlte Peter Nord, daß dies das Glück war. Der Günstling der Damen zu sein, es wagen, mit ihnen zu sprechen, sich mitten in dem strahlenden Lichte zu bewegen, gefeiert und verhätschelt zu werden, ja gewiß, das war das Glück.
Und als der Ball zu Ende war, war er zu glücklich, um selbst darüber betrübt zu sein. Er hatte das Bedürfnis, heimzukommen, um in Ruhe alles das zu überdenken, was ihm an diesem Abend widerfahren war.
Halfvorson war unverheiratet, aber er hatte eine Nichte im Hause, die im Kontor arbeitete. Sie war arm und von Halfvorson abhängig, aber sie benahm sich recht hochmütig gegen ihn und gegen Peter Nord. Sie hatte viele Freunde unter den angeseheneren Leuten der Stadt und wurde in Familien eingeladen, in die Halfvorson nie kommen konnte. Sie und Peter Nord gingen zusammen von dem Balle nach Hause.
„Wissen Sie, Nord,“ fragte Edith Halfvorson, „daß Halfvorson wegen verbotnen Branntweinhandels angeklagt werden wird? Sie könnten mir wirklich sagen, Nord, wie es sich mit dieser Sache verhält.“
„Ach, das ist gar nicht der Mühe wert, solch ein Aufhebens davon zu machen,“ sagte Peter Nord.
Edith seufzte. „Natürlich wird etwas daran sein. Und dann gibt es Prozeß und Geldstrafen und Schande ohne Ende. Ich möchte so gerne wissen, wie die Sache steht.“
„Es ist wohl am besten, nichts zu wissen,“ sagte Peter Nord.
„Sehen Sie, Nord, ich will in die Höhe kommen,“ fuhr Edith fort, „und Halfvorson mit hinaufziehen, aber er plumpst mir immer wieder hinunter. Ganz unversehens tut er etwas, was auch mich unmöglich macht. Ich sehe ihm jetzt an, daß er etwas im Schilde führt. Wissen Sie nicht, Peter, was es ist? Es wäre gut, es zu wissen.“
„Nein,“ sagte Peter Nord, nicht ein Wort mehr konnte er sagen. War es menschlich, mit ihm, der von seinem ersten Balle kam, von derlei zu sprechen?
Hinter dem Laden befand sich ein kleiner Verschlag für den Ladenjungen. Da saß Peter Nord von heute und ging mit Peter Nord von gestern ins Gericht. Wie blaß und feige der Kerl aussah. Jetzt sollte er hören, was er war. Ein Dieb und ein Geizhals. Kannte er das siebente Gebot? Von Rechts wegen sollte er eine Tracht Prügel haben. Ja, das sollte er.
Gott sei gedankt und gelobt, daß er ihn auf den Ball geführt und seinen Sinn geändert hatte. Pfui, wie häßlich es in ihm ausgesehen hatte, aber jetzt war alles anders. Als ob der Reichtum es wert wäre, daß man ihm Gewissen und Seelenruhe opferte?! Als ob er soviel wert wäre wie eine weiße Maus, wenn man dabei nicht vergnügt sein durfte! Er klaschte in die Hände und rief jubelnd: „Frei, frei, frei!“ Nicht die leiseste Sehnsucht, den Fünfzigkronenschein zu besitzen, war mehr in seiner Seele. Wie gut war es doch, glücklich zu sein.
Als er sich niedergelegt hatte, nahm er sich vor, Halfvorson zeitig am nächsten Morgen die fünfzig Kronen zu zeigen. Dann aber bekam er Angst, daß der Krämer am nächsten Tag vor ihm in den Laden kommen, den Schein suchen und ihn finden könnte. Dann würde er wohl glauben, daß Peter Nord ihn versteckt hatte, um ihn zu behalten. Dieser Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Er versuchte sich ihn aus dem Sinne zu schlagen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht einschlafen. Da stand er auf, schlich sich leise in den Laden und tastete nach dem Fünfzigkronenschein. Dann schlummerte er süß ein mit der Banknote unter dem Kopfkissen.
Eine Stunde später wurde er geweckt. Ein greller Lichtschein fiel ihm blendend in die Augen, eine Hand griff suchend unter sein Kopfkissen und eine grollende Stimme zankte und fluchte.
Ehe noch der Knabe recht wach war, hatte Halfvorson schon die Banknote in der Hand und zeigte sie zwei Frauen, die in der Tür zum Verschlage standen. „Seht ihr, daß ich recht hatte,“ sagte Halfvorson, „seht ihr, daß es der Mühe wert war, euch zu wecken und als Zeuginnen mitzunehmen. Seht ihr, daß er ein Dieb ist!“
„Nein, nein, nein,“ schrie der arme Peter Nord. „Ich wollte nicht fehlen. Ich habe den Schein ja nur aufgehoben.“
Halfvorson hörte ja nichts. Die beiden Frauen standen mit dem Rücken zum Verschlage, wie fest entschlossen, weder zu hören noch zu sehen.
Peter Nord hatte sich im Bette aufgesetzt. Er sah mit einem Male jämmerlich schwach und klein aus. Seine Tränen strömten. Er jammerte laut.
„Onkel,“ sagte Edith, „er heult.“
„Laß ihn heulen!“ sagte Halfvorson, „laß ihn nur heulen!“ Und er trat näher und sah den Knaben an. „Kann mir schon denken, daß du heulst, mein Lieber,“ sagte er. „Aber das verfängt bei mir nicht.“
„Oh, oh!“ rief Peter Nord, „ich bin kein Dieb. Ich habe den Schein nur zum Spaß versteckt – um Sie zu ärgern. Ich wollte Sie wegen der Mäuse strafen. Ich bin kein Dieb. Kann niemand mich hören? Ich bin kein Dieb.“
„Onkel,“ sagte Edith, „hast du ihn jetzt genug gequält, können wir vielleicht gehen und uns niederlegen?“
„Ich kann mir schon denken, daß sich das greulich anhört,“ sagte Halfvorson, „aber da läßt sich nichts machen.“ Er war ganz munter, förmlich ausgelassen. „Ich habe lange ein Auge auf dich gehabt, mein Lieber,“ sagte er zu dem Knaben. „Immer hattest du irgend etwas wegzustecken, wenn ich in den Laden kam. Aber jetzt bist du ertappt. Jetzt habe ich Zeugen gegen dich, und jetzt hole ich die Polizei.“
Der Junge stieß einen gellenden Schrei aus. „Kann mir denn niemand helfen, kann mir denn niemand helfen?“ rief er. Aber nun war Halfvorson schon verschwunden, und die Frau, die dem Haushalt vorstand, kam auf ihn zu.
„Geschwind, aufgestanden und in die Kleider, Peter Nord! Halfvorson holt die Polizei und indessen kannst du dich davonmachen. Das Fräulein geht wohl in die Küche und packt dir ein bißchen Proviant ein. Ich will unterdessen deine Sachen zusammensuchen.“
Das furchtbare Weinen hörte sogleich auf. Nach einem kleinen Weilchen war der Junge fertig. Er küßte den beiden Frauen die Hand, demütig wie ein geschlagner Hund. Und dann eilte er fort.
Sie blieben in der Tür stehen und sahen ihm nach. Als er verschwunden war, seufzten sie erleichtert auf.
„Was wird Halfvorson jetzt sagen?“ sagte Edith.
„Er wird ganz froh sein,“ antwortete die Haushälterin. „Er hat das Geld dem Knaben absichtlich hingelegt, glaube ich. Er wollte ihn nur los sein.“
„Warum denn? Der Junge war doch der beste, den wir seit Jahr und Tag im Laden gehabt haben.“
„Er wollte ihn wohl bei der Branntweingeschichte nicht zum Zeugen haben.“
Edith stand stumm da und atmete heftig. „Wie gemein, wie gemein,“ murmelte sie. Sie ballte die Fäuste gegen das Kontor und gegen das kleine Guckloch in der Tür, durch das Halfvorson in den Laden sehen konnte. Sie hatte selber nicht übel Lust, von all dieser Niedrigkeit fort in die Welt zu fliehen.
Ganz rückwärts im Laden hörte sie ein Geräusch. Sie lauschte, trat näher, ging dem Tone nach und fand endlich hinter einer Heringstonne den Käfig mit Peter Nords weißen Mäusen.
Sie hob ihn auf, stellte ihn auf den Ladentisch und öffnete das Türchen. Maus um Maus eilte heraus und verschwand hinter Kisten und Tonnen.
„Möget ihr gedeihen und euch vermehren,“ sagte Edith, „laßt mich sehen, daß ihr Schaden anrichtet und euern Herrn rächt.“
II
Freundlich und zufrieden lag das kleine Städtchen unter seinem roten Berg da. Es war so in Grün eingebettet, daß der Kirchturm noch gerade daraus hervorragte. Garten an Garten kletterte auf schmalen Terrassen die Anhöhen hinan, und wenn sie nach dieser Richtung nicht weiter konnten, stürzten sie sich mit Sträuchern und Bäumen quer über die Straße und breiteten sich zwischen den zerstreuten Häusern und dem schmalen Erdstreif darunter aus, bis der breite Fluß ihnen Halt gebot.
In der Stadt war es ganz still und stumm. Kein Mensch war zu sehen, nur Bäume und Sträucher und hie und da ein Haus. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das Rollen der Kugel über die Kegelbahn, und das klang wie ferner Donner an einem Sommertag. Es gehörte mit zu der Stille.
Doch jetzt knirschte das holprige Steinpflaster des Marktes unter genagelten Absätzen. Der Laut grober Stimmen schlug an die Wand des Rathauses und der Kirche, hallte vom Berg wider und eilte unbehindert die lange Straße hinab. Vier Wanderer störten die Vormittagsruhe.
Ach, die süße Stille, der jahrelange Feierfriede! Wie erschraken sie! Man konnte förmlich sehen, wie sie die Bergpfade hinaufflüchteten.
Einer der Lärmenden, die in das Städtchen einbrachen, war Peter Nord, der Junge aus Wermland, der vor sechs Jahren des Diebstahls bezichtigt aus der Stadt geflohen war. Die mit ihm gingen, waren drei Tagediebe aus der großen Handelsstadt, die nur ein paar Meilen entfernt lag.
Wie war es dem kleinen Peter Nord ergangen? Gut war es ihm ergangen. Er hatte den allervernünftigsten Freund und Begleiter gefunden.
Als er an jenem dunklen, regenschweren Februarmorgen aus dem Städtchen fortlief, da sangen und klangen die Polkamelodien ihm im Ohre. Und eine von ihnen war hartnäckiger als alle andern.
Es war die, die sie alle beim großen Rundtanz gesungen hatten:
Nun ist es wieder Weihnachtsfest,Ja, ja, Weihnachtsfest.Und dann ist Ostern nicht mehr weit,Doch leider, leider ists nicht so,Nein, nein, ists nicht so,Nach Weihnacht kommt die Fastenzeit.
Das hörte der kleine Flüchtling so deutlich, so deutlich. Und damit drang die Weisheit, die in dem alten Reigen verborgen liegt, in den kleinen genußsüchtigen Wermländerjungen ein, drang in jede Fiber, vermischte sich mit jedem Blutstropfen, nistete sich in Hirn und Mark ein. So ist es, so ist es gemeint … Zwischen Weihnachten und Ostern, zwischen den Festen der Geburt und des Todes kommt die Fastenzeit des Lebens. Vom Leben soll man nichts verlangen. Es ist eine arme kalte Fastenzeit. Man darf ihm nie glauben, wie es sich auch verstellen mag. Im nächsten Augenblick ist es wieder grau und häßlich. Kann nichts dafür, das arme Ding, versteht es nicht besser!
Und Peter Nord war beinahe stolz, daß er dem Leben sein tiefstes Geheimnis abgelauscht hatte.
Und er glaubte, die gelbe, bleiche Frau Fastenzeit in Bettlergestalt, die Aschenrute in der Hand, über die Erde schleichen zu sehen. Und er hörte, wie sie ihn anknurrte: „Du wolltest das Fest der Freude und der fröhlichen Laune mitten in jener Fastenzeit feiern, die man Leben nennt. Darum soll Schimpf und Schande dein Los sein, bis du dich besserst.“
Aber er hatte sich gebessert, und Frau Fastenzeit hatte ihn beschützt. Er hatte nicht weiter als bis in die große Handelsstadt fliehen müssen, denn er wurde gar nicht verfolgt. Und dort im Arbeiterviertel hatte Frau Fastenzeit ihre sichre Wohnstatt. Peter Nord wurde Arbeiter in einer Fabrik. Er wurde stark und energisch. Er wurde ernst und sparsam. Er hatte schmucke Sonntagskleider, er erwarb sich einige Kenntnisse, er lieh sich Bücher aus und ging zu Vorträgen. Eigentlich war von dem kleinen Peter Nord nichts mehr übrig als das flachsblonde Haar und die braunen Augen.
Diese Nacht hatte etwas in ihm geknickt, und die schwere Arbeit in der Fabrik machte den Riß immer größer, so daß der närrische Wermländer dadurch ganz herausschlüpfen konnte. Er schwätzte kein dummes Zeug mehr, denn in der Fabrik war das Sprechen verboten, und dadurch gewöhnte er sich das Schweigen an. Er machte keine Erfindungen mehr, denn seit er im Ernst Federn und Räder zu bedienen hatte, machten sie ihm keinen Spaß mehr. Er verliebte sich nicht, denn die Frauen des Arbeiterviertels konnten ihn nicht mehr fesseln, seit er die Schönheiten des Städtchens kennen gelernt hatte. Er hatte keine Mäuse, keine Eichhörnchen mehr und nichts, womit er spielen konnte. Er hatte keine Zeit, er sah ein, daß derlei nur unnütz war, und er dachte mit Entsetzen an die Zeit, wo er sich noch mit Gassenjungen gebalgt hatte.
Peter Nord glaubte nicht, daß das Leben anders sein könnte als grau, grau, grau. Peter Nord langweilte sich immer, aber er war selbst so sehr daran gewöhnt, daß er es gar nicht merkte. Peter Nord war stolz auf sich selbst, weil er so tugendhaft geworden war. Er datierte seine Einkehr von der Nacht, da der Frohsinn ihn verließ und Frau Fastenzeit seine Begleiterin und Freundin ward.
Doch wie konnte der tugendhafte Peter Nord mitten an einem Arbeitstag in das Städtchen kommen, begleitet von drei Strolchen, die schmutzig und versoffen aussahen?
Er war doch immer ein guter Junge gewesen, der arme Peter Nord. Und diesen drei Strolchen hatte er immer zu helfen versucht, so gut er es konnte, obwohl er sie verachtete. Er hatte ihnen Holz in ihre elende Baracke gebracht, wenn der Winter sehr hart war, und er hatte ihre Kleider gestopft und geflickt. Diese Kerle hieltenwie Brüder zusammen, hauptsächlich weil sie alle drei Peter hießen. Dieser Name vereinte sie fester, als wenn sie wirklich Geschwister gewesen wären. Und nun litten sie es um dieses Namens willen, daß der Knabe ihnen Freundschaftsdienste erwies, und wenn sie am Abend ihren Grog in Ordnung hatten und bequeme Stellungen auf den Holzstühlen einnahmen, warteten sie ihm, der dasaß und die grinsenden Löcher ihrer Strümpfe stopfte, mit Galgenhumor und abenteuerlichen Lügen auf. Das schien Peter Nord Vergnügen zu machen, obgleich er es nicht zugestehen wollte. Diese Kerle waren jetzt für ihn beinahe dasselbe, was einstmals in der Welt die Mäuse gewesen waren.
Nun geschah es, daß diesen Strolchen allerlei Klatsch aus der kleinen Stadt zu Ohren kam. Und nun nach sechs Jahren brachten sie Peter Nord die Nachricht, daß Halfvorson ihm die fünfzig Kronen absichtlich hingelegt hatte, um ihn als Zeugen unmöglich zu machen. Und ihre Meinung war, daß Peter in das Städtchen ziehen und Halfvorson eine Tracht Prügel geben sollte.
Aber Peter Nord war klug und besonnen und mit der Weisheit dieser Welt ausgerüstet. Er wollte sich durchaus nicht auf so etwas einlassen.
Die drei Peter verbreiteten die Geschichte im ganzen Arbeiterviertel. Alle Leute sagten zu Peter Nord: „Geh hin und prügle Halfvorson durch, dann wirst du ins Loch gesteckt, und es gibt einen Prozeß und die Sache kommt in die Zeitungen, und der Kerl ist vor dem ganzen Lande blamiert.“
Aber Peter Nord wollte nicht. Es konnte ja recht vergnüglich sein, aber Rache ist ein teurer Spaß, und Peter Nord wußte, wie arm das Leben ist. Das Leben gestattet solche Belustigungen nicht.
Da waren die drei Strolche eines Morgens in aller Frühe zu ihm gekommen und hatten gesagt, jetzt wollten sie an seiner Statt gehen und Halfvorson durchbläuen, denn „Recht müsse Recht bleiben“, sagten sie.
Und Peter Nord hatte versprochen, sie alle drei totzuschlagen, wenn sie auch nur einen Schritt nach dem Städtchen gingen.
Da hielt der eine von ihnen, der klein und untersetzt war und der lange Peter hieß, Peter Nord eine Rede.
„Diese Erde,“ sagte er, „ist ein Apfel, der an einem Faden über einem Feuer hängt, um gebraten zu werden. Mit dem Feuer meine ich die Hölle, Peter Nord. Und der Apfel muß nahe am Feuer hängen, um süß und weich zu werden, aber wenn der Faden reißt und der Apfel in das Feuer fällt, so ist er verdorben. Darum ist der Faden eine sehr wichtige Sache, Peter Nord. Weißt du, was mit dem Faden gemeint ist?“
„Ich denke, es muß ein Drahtseil sein,“ sagte Peter Nord.
„Mit dem Faden meine ich die Gerechtigkeit,“ sagte der lange Peter mit düsterm Ernst. „Wenn auf der Erde nicht Gerechtigkeit geschieht, so purzelt alles in das Feuer. Darum darf sich der Rächer der Pflicht zu strafen nicht entziehen, oder, wenn er nicht will, müssen andre gehen.“
„Es ist das letzte Mal, daß ich euch einen Grog spendiert habe,“ sagte Peter Nord, gänzlich unberührt von der Rede.
„Ja, da hilft nichts,“ sagte der lange Peter, „Gerechtigkeit muß sein.“
„Wir tun es nicht, um Dank von dir zu ernten, sondern damit der ehrliche Name Peter nicht in Verruf kommt,“ sagte der eine, der Rollpeter hieß und lang und mürrisch war.
„So, so, ist der Name so hochgeachtet?“ sagte Peter Nord wegwerfend.
„Ja, und es ist eine kitzlige Sache, daß sie nun überall in den Gasthäusern sagen, du hättest die fünfzig Kronen doch wohl stehlen wollen, da du nun nicht haben willst, daß der Kaufmann bestraft wird.“
Dieses Wort traf tief. Peter Nord sprang auf und sagte, nun wolle er gehen und den Kaufmann durchpeitschen.
„Ja, und wir kommen mit und helfen dir,“ sagten die Strolche.
Und so zogen sie vier Mann hoch in das Städtchen. Anfangs war Peter Nord mürrisch und grämlich und zorniger über seine Freunde, als über seinen Feind. Doch als er zu der Flußbrücke kam und die Stadt sah, war er ganz verwandelt. Es war, als wäre er dort einem kleinen weinenden Flüchtling begegnet und in diesen hineingeschlüpft. Und je heimischer er in dem alten Peter Nord wurde, desto mehr ward es ihm bewußt, welches blutige Unrecht der Kaufmann ihm angetan hatte. Nicht genug damit, daß er ihn hatte verlocken und ins Unglück stürzen wollen, nein, noch schlimmer, er hatte ihn aus dieser Stadt vertrieben, wo Peter Nord all sein Lebtag hätte Peter Nord bleiben können. Ach, wie fröhlich hatte er es doch damals gehabt. Wie lustig und vergnügt war er gewesen, wie hatte doch sein Herz offengestanden und wie schön war die Welt gewesen! Herrgott, wenn er doch nur hier hätte weiterleben können! Und er dachte an sich selbst, so wie er jetzt war – schweigsam und langweilig, ernst und arbeitsam –, ganz wie an einen verlornen Menschen.
Nun packte ihn ein wahnsinniger Groll gegen Halfvorson, und statt wie früher hinter den Kameraden einherzugehen, schoß er an ihnen vorbei.
Aber die Strolche, die nicht nur gekommen waren, um Halfvorson zu strafen, sondern um überhaupt ihrer Wut Luft zu machen, wußten kaum, was sie beginnen sollten. Hier war für einen gereizten Mann nichts zu tun. Es gab keinen Hund, den man hetzen, keinen Straßenkehrer, mit dem man Krakeel anfangen, keinen feinen Herrn, dem man ein Schimpfwort nachschleudern konnte.
Das Jahr war noch nicht weit vorgeschritten, gerade so weit, daß der Frühling eben in den Sommer überging. Es war die weiße Zeit der Kirschblüten, wo Fliedertrauben hohe, rundbeschnittene Büsche schmücken und die Apfelblüten duften. Diese Männer, die unmittelbar von der Straße und vom Hafen in das Reich der Blumen gekommen waren, fühlten sich wunderlich davon berührt. Drei Paar Fäuste, die bisher entschlossen geballt waren, lösten sich, und drei Paar Absätze donnerten weniger hart gegen das Pflaster.
Vom Markte aus sahen sie einen Fußpfad, der sich die Hügel hinanschlängelte. Ihm entlang wuchsen junge Kirschbäume, die mit ihren weißen Kronen Bogen und Wölbungen bildeten. Die Wölbungen waren schwebend leicht, und die Zweige unsagbar schwach, alles zart, fein und kindlich.
Dieser Kirschenweg zog die Blicke der Männer auf sich. Was war dies doch für ein unpraktisches Nest, wo man Kirschbäume dahin pflanzte, wo jedweder die Kirschen nehmen konnte. Die drei Peter hatten die Stadt bisher als einen Herd der Ungerechtigkeit betrachtet, voll Grausamkeit und Tyrannei. Jetzt begannen sie sie auszulachen und ein wenig zu verachten.
Aber der vierte im Bunde lachte nicht. Seine Rachsucht loderte immer wilder auf, denn er fühlte es, dies war die Stadt, wo er hätte wohnen und wirken sollen. Dies war sein verlornes Paradies. Und ohne nach den andern zu fragen, ging er rasch die Straße hinauf.
Sie folgten nach, und als sie merkten, daß es hier nur eine Straße gab, und als sie dieser entlang nur Blumen und wieder Blumen sahen, steigerte sich ihre Verachtung und ihre Heiterkeit. Es geschah vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie Blumen Aufmerksamkeit schenkten, aber hier konnten sie nicht anders, denn die Fliedertrauben fegten ihnen die Mützen vom Kopf, und die Blätter der Kirschblüten regneten auf sie herab.
„Was glaubt ihr, was mögen wohl in dieser Stadt für Leute wohnen?“ fragte der lange Peter nachdenklich.
„Bienen,“ antwortete sogleich der Holzschuhpeter, der seinen Namen daher hatte, daß er einmal mit einem Holzschuhmacher in demselben Hause gewohnt hatte.
Natürlich bekamen sie allmählich einige Menschen zu Gesicht. An den Fenstern, hinter blanken Scheiben und weißen Gardinen, zeigten sich ein paar schöne junge Gesichter, und sie sahen Kinder auf den Terrassen spielen. Aber kein Lärm störte die Stille. Es kam ihnen vor, als könnte selbst die Posaune des Jüngsten Gerichts diese Stadt nicht wecken. Was sollten sie hier anfangen!
Sie gingen in einen Laden und kauften Bier. Da stellten sie mit rauher Stimme mehrere Fragen an den Kaufmann. Sie fragten, ob die Feuerwehr ihre Spritze in Ordnung habe und wie es wohl mit dem Schwengel der Kirchenglocke stände für den Fall, daß es zum Sturmläuten kommen sollte.
Dann tranken sie das Bier auf der Straße aus und warfen die Flaschen fort. Eins, zwei, drei, alle Flaschen an denselben Eckstein, ein Krachen und Klirren, und alle Scherben flogen ihnen um die Ohren. Es tat ihnen förmlich wohl, wieder ein bißchen Lärm zu machen.
Da hörten sie hinter sich Schritte, wirkliche Schritte, Stimmen, harte, deutliche Stimmen, Lachen, lautes Lachen und dazu ein Klirren wie von Metall. Sie stutzten und zogen sich in einen Torweg zurück. Das klang wie eine ganze Kompanie.
Das war es auch. Aber eine Kompanie von jungen Mädchen. Die Dienstmägde der Stadt zogen in gesammeltem Trupp auf die Stadtweiden, um die Kühe zu melken.
Das machte auf diese Großstädter, diese Weltbürger, den stärksten Eindruck. Dienstmädchen mit Milcheimern. Das war beinahe rührend!
Urplötzlich traten sie aus dem Tor hervor und riefen: „Buh!“
Die ganze Mädchenschar zerstob augenblicklich. Die Mägde kreischten und liefen davon. Die Röcke flatterten, die Kopftücher lösten sich, die Milchkübel rasselten auf die Straße.
Und zugleich vernahm man die ganze Straße entlang dumpfe Laute von Toren und Türen, die zugeworfen wurden, von Klinken und Riegeln und Schlössern.
Ein Stück weiter unten auf der Straße stand eine große Linde. Und darunter saß eine alte Frau an einem Tisch mit Karamels und Backwerk. Sie rührte sich nicht, sie sah sich nicht um, sie saß ganz mäuschenstill. Schlafen tat sie auch nicht.
„Die ist aus Holz,“ sagte der Holzschuhpeter.
„Nein, aus Ton,“ meinte der Rollpeter.
Sie gingen alle drei in einer Reihe. Gerade vor der Alten kamen sie ins Schwanken. Sie gingen gegen sie los. Der Tisch bekam einen Puff. Und die Alte fing zu zanken an.
„Weder Holz noch Ton,“ sagten sie, „lauter Gift und Galle.“
Die ganze Zeit hatte Peter Nord sich gar nicht um sie gekümmert, aber jetzt waren sie endlich bei Halfvorsons Haus angelangt und da erwartete er sie.
„Es läßt sich wohl nicht in Abrede stellen, daß das meine Angelegenheit ist,“ sagte er stolz, und wies auf den Laden. „Ich will allein hineingehen und die Sache abmachen. Bringe ich es nicht zuwege, so könnt ihr euer Glück versuchen.“
Sie nickten. „Geh du nur, Peter Nord! Wir warten hier draußen.“
Peter Nord trat in den Laden, fand dort einen jungen Mann allein und fragte nach Halfvorson. Er bekam sogleich den Bescheid, daß dieser verreist war. Da fing er ein Gespräch mit dem Ladendiener an und erfuhr so mancherlei über seinen Herrn.
Halfvorson war wegen des Branntweinhandels gar nicht angeklagt worden. Wie er sich gegen Peter Nord benommen hatte, das wußte die ganze Stadt. Aber niemand sprach jetzt mehr von der Geschichte. Halfvorson hatte es weit gebracht, und jetzt war er nicht mehr so bösartig. Er war nicht mehr unbarmherzig gegen seine Schuldner und hatte aufgehört, dem Ladenjungen aufzulauern. In den allerletzten Jahren hatte er sich auf die Gärtnerei geworfen. Er hatte rings um das Haus in der Stadt einen Blumengarten angelegt und einen Küchengarten draußen vor dem Stadttor. Jetzt arbeitete er so eifrig in seinen Gärten, daß er kaum mehr daran dachte, Geld zu sammeln.
Peter Nord gab es einen Stich ins Herz. Natürlich war der Mann gut. Er hatte im Paradies bleiben dürfen. Natürlich wurde man gut, wenn man hier wohnte.
Edith Halfvorson lebte noch beim Onkel, aber sie war jetzt krank. Seit sie im Winter die Lungenentzündung gehabt hatte, war ihre Brust schwach.
Während Peter Nord sich dies und noch mehr erzählen ließ, standen die drei Männer draußen und warteten.
In Halfvorsons schattenlosem Garten hatte man eine Birkenlaube errichtet, damit Edith sich dort an den schönen, warmen Frühlingstagen aufhalten konnte. Sie kam nur langsam wieder zu Kräften, aber für ihr Leben bestand keine Gefahr mehr.
Bei einigen ist es so, daß man glauben muß, sie wollen nicht leben. Bei der ersten Krankheit, die sie befällt, legen sie sich hin, um zu sterben. Halfvorsons Nichte war schon längst aller Dinge müde, des Kontors, des kleinen trüben Ladens, des Gelderwerbes. Als sie siebzehn Jahre alt war, reizte es sie, sich einen vornehmenVerkehr und einen guten Freundeskreis zu erkämpfen. Dann setzte sie sich das Ziel, Halfvorson auf den Weg der Tugend zu bringen, aber jetzt war alles erreicht. Sie sah keine Möglichkeit, aus dem Einerlei des Kleinstadtlebens herauszukommen. Sie wollte gerne sterben.
Sie war eine der elastischen, eine der Stahlfedernaturen. Nichts als Nerven und Lebendigkeit, wenn etwas sie drückte und quälte. Wie hatte sie sich doch mit List und Verstellung, mit weiblicher Güte und weiblichem Trotz gemüht, bis sie ihren Oheim dahin gebracht hatte, einzusehen, daß weitre Peter Nord-Geschichten nicht mehr vorkommen dürften! Aber jetzt war er zahm und gebändigt, und sie hatte nichts mehr, was sie fesselte. Ja, und nun sollte sie doch nicht sterben! Sie lag da und dachte nach, was sie anfangen sollte, wenn sie gesund wurde.
Plötzlich fuhr sie zusammen. Jemand hatte sehr laut gesagt, er wolle allein zu Halfvorson gehen und seine Angelegenheit mit ihm abmachen. Und dann antwortete ein andrer: „Geh du nur, Peter Nord!“
Aber Peter Nord war ja der furchtbarste, der unglückseligste Name auf der Welt. Er bedeutete ja ein Wiedererwachen aller der alten Abscheulichkeiten. Edith richtete sich bebend auf, und gerade da kamen drei unheimliche Gestalten um die Ecke und stellten sich vor sie hin und starrten sie an. Nur ein niedriges Staket und eine dünne Hecke lag zwischen ihr und der Straße.
Edith war allein. Die Mägde waren zum Melken gegangen, und Halfvorson arbeitete in seinem Garten vor der Stadt, obgleich er dem Ladenjungen aufgetragen hatte, zu sagen, daß er verreist sei, denn er schämte sich seiner Gärtnermarotte. Edith fürchtete sich schrecklich vor den drei Männern sowie vor dem, der in den Laden gegangen war. Sie war überzeugt, daß sie ihr etwas zuleide tun wollten, und darum begann sie über die schlüpfrigen, steilen Pfade und die kleinen, morschen Holzstufen, die von Terrasse zu Terrasse führten, den Berg hinaufzulaufen.
Den fremden Männern war es ein Hauptspaß, daß sie vor ihnen davonlief. Sie konnten es sich nicht versagen, sich so zu stellen, als wenn sie sie einholen wollten. Einer von ihnen kletterte auf das Staket, und alle drei brüllten mit furchtbarer Stimme.
Edith lief, so wie man im Traume läuft, keuchend, strauchelnd, in Todesangst, mit der entsetzlichen Empfindung, nicht von der Stelle zu kommen. Alle erdenklichen Gefühle stürmten auf sie ein und erschütterten sie so sehr, daß sie glaubte sterben zu müssen. Ja, wenn einer dieser Kerle sie nur mit der Hand berührte, wußte sie, daß sie sterben mußte. Als sie die oberste Terrasse erreicht hatte und es wagte, sich umzusehen, merkte sie, daß die Männer unten auf der Straße standen und gar nicht mehr nach ihr hinsahen. Da ließ sie sich ganz ohnmächtig zu Boden sinken. Aber die Anstrengung war zu groß gewesen, sie hatte sie nicht ertragen können. Sie fühlte, wie etwas in ihr riß. Gleich darauf strömte Blut über ihre Lippen.
Die Mägde fanden sie, als sie vom Melken heimkamen. Für diesmal wurde sie ins Leben zurückgerufen. Aber dennoch wagte niemand zu hoffen, daß sie lange am Leben bleiben würde.
Sie konnte an diesem Tage nicht soviel sprechen, um zu erzählen, in welcher Weise sie erschreckt worden war. Hätte sie es getan, wer weiß, ob die fremden Männer lebendig aus der Stadt gekommen wären. Es erging ihnen ohnehin schlimm genug. Denn nachdem Peter Nord wieder zu ihnen herausgekommen war und erzählt hatte, daß Halfvorson nicht daheim sei, gingen sie alle vier im besten Einvernehmen durch das Stadttor und suchten sich einen sonnigen Abhang, wo sie die Zeit, bis der Kaufmann zurückkehrte, verschlafen konnten.
Aber als am Nachmittag alle Männer der Stadt, die draußen auf dem Felde gearbeitet hatten, wieder heimkamen, erzählten ihnen die Frauen von dem Besuch der Landstreicher, von ihren drohenden Fragen im Laden, wo sie Bier gekauft hatten, und ihrem ganzen herausfordernden Auftreten. Die Frauen vergrößerten und übertrieben die Sache, denn sie hatten den ganzen Nachmittag daheim gesessen und sich gegenseitig Angst gemacht. Die Männer glaubten Haus und Heim bedroht. Sie beschlossen, die Friedensstörer zu greifen, wählten einen beherzten Mann zum Anführer, nahmen tüchtige Knüttel mit und zogen von dannen.
Nun kam Leben in die Stadt. Die Frauen traten vor die Haustüren und machten einander bange. Die Stimmung war zugleich unheimlich und erwartungsvoll.
Es dauerte nicht lange, so kamen die Jäger mit ihrer Beute zurück. Sie hatten alle vier. Sie hatten sie im Schlafe umzingelt und sie gefangen. Das Kunststück hatte gerade keinen besondern Heldenmut erfordert.
Jetzt kehrten sie mit ihnen in die Stadt zurück, indem sie sie wie Vieh vor sich hertrieben. Der Taumel des Rachedurstes hatte sich der Sieger bemächtigt. Sie schlugen, um zu schlagen. Wenn einer von den Gefangenen die Faust gegen sie ballte, bekam er einen Schlag auf den Kopf, der ihn umwarf, und dann hagelten die Schläge auf ihn nieder, bis er sich erhob und weiterging. Die vier Männer waren dem Tode nahe.
Es ist so schön in den alten Liedern. Da muß zuweilen der gefangne Held in Fesseln im Triumphzug des siegreichen Feindes schreiten. Aber er ist auch im Unglück noch stolz und schön, und die Blicke suchen ihn ebenso wie den Glücklichen, der ihn besiegt hat. Die Kränze und die Tränen der Schönheit gehören dem noch im Unglück Beneidenswerten.
Aber wer wollte wohl für den armen Peter Nord schwärmen? Sein Rock war zerrissen und sein flachsblondes Haar klebrig von Blut. Er bekam die meistenSchläge, denn er leistete am meisten Widerstand. Ganz schrecklich sah er aus, wie er da einherging. Er brüllte, ohne es zu wissen. Jungens hängten sich an ihn fest, und er schleppte sie lange Strecken weit mit. Einmal blieb er stehen und schleuderte all das Kleinzeug auf die Straße. Gerade als er im Begriff war zu entfliehen, bekam er mit einem Knüttel einen Schlag auf den Kopf und fiel zu Boden. Er fuhr wieder in die Höhe, halb betäubt, und schwankte weiter, während Peitschenhiebe auf ihn herabhagelten und die Jungen sich ihm wie Blutegel an Arme und Beine hängten.
So begegneten sie dem alten Ratsherrn, der von seiner Whistpartie im Wirtshausgarten kam. „So, so,“ sagte er zum Vortrab, „ihr wollt die in den Kotter bringen?“
Und er stellte sich an die Spitze des Zugs und ordnete ihn. Augenblicklich sah alles anständig aus. Gefangne und Gefangnenwächter marschierten in Frieden und Ordnung weiter. Doch die Wangen der Städter glühten, einige stießen mit den Knütteln auf das Pflaster, andre schulterten sie wie Gewehre. Und dann wurden die Gefangnen der Stadt der Polizei in Gewahrsam gegeben und in das Arrestlokal auf dem Marktplatz geführt.
Die Retter der Stadt blieben noch lange auf dem Markte stehen und sprachen von ihrem Mute und von der großen Heldentat. Und in der kleinen Gaststube, wo der Rauch so dicht wie eine Wolke steht und gewichtige Männer ihren Mitternachtstoddy brauen, da taucht die Heldentat vergrößert wieder auf. Da wachsen die in den Schaukelstühlen, da blähen sich die in den Sofaecken, da sind sie alle Helden. Welche Tatkraft schlummert doch in der kleinen Stadt der großen Erinnerungen! Du furchtbares Erbteil, du altes Wikingerblut!
Doch dem alten Ratsherrn wollte die Sache nicht recht gefallen. Er konnte sich nicht recht damit befreunden, daß das Wikingerblut wieder in Wallung geraten war. Und dieser Gedanke ließ ihn nicht schlafen, er ging wieder auf die Straße und schlenderte gemächlich dem Marktplatze zu.
Das kleine Städtchen lag in dem sanften Licht der Frühlingsnacht da. Der einzige Zeiger der Turmuhr wies auf elf. Über die Kegelbahn rollten keine Kugeln mehr. Die Rollgardinen waren herabgelassen. Es war, als wenn die Häuser mit gesenkten Lidern schliefen. Die lotrecht aufsteigenden Berge standen schwarz, wie in tiefer Trauer da. Aber mitten in all dem Schlummer wachte jemand – der Blumenduft schlief nicht! Der schlich sich über die Lindenhecken, stürmte aus den Gärten, jagte die Straße hinauf und hinab, kletterte zu jedem Fenster empor, das angelehnt stand, zu jeder Dachluke, die frische Luft einließ.
Jeder, zu dem der Blumenduft drang, sah alsogleich seine ganze kleine Stadt vor sich, obgleich die Dunkelheit sich leise auf sie herabgesenkt hatte. Er sah sie als die Stadt der Blumen, wo nicht Haus an Haus lag, sondern Garten an Garten. Er sah die Kirschbäume, die weiße Bogen über den steilen Waldweg spannten, die Fliederbüsche, die Knospen, die zu prächtigen Rosen schwollen, die stolzen Päonien, und die Haufen von Blütenblättern auf dem Boden unter den Faulbäumen.
Der alte Ratsherr ging in tiefe Gedanken versunken. Er war so weise und so alt. Das siebzigste Jahr hatte er erreicht, und fünfzig Jahre hatte er die Geschicke der Stadt gelenkt. Aber in dieser Nacht fragte er sich, ob er recht getan habe, wenn er immer gedämpft und beschwichtigt hatte. „Ich hatte die Stadt in meiner Hand,“ dachte er, „aber ich habe sie nicht zu etwas Großem gemacht.“ Und er gedachte ihrer großen Vergangenheit und zweifelte immer mehr, ob er auch recht getan habe.
Er stand unten auf dem Markt, da, wo die Aussicht sich über den Fluß eröffnet. Ein Boot kam herangerudert. Ein paar Städter kehrten von einer Ausfahrt zurück. Lichtgekleidete Mädchen führten die Ruder. Sie steuerten unter die Brückenwölbung, aber da war die Strömung so stark, daß sie sie zurücktrieb. Es gab einen heftigen Kampf. Ihre schlanken Körper bogen sich nach rückwärts, bis sie in einer Linie mit dem Bootrande lagen. Weiche Armmuskeln spannten sich. Die Ruder krümmten sich wie Bogen. Lachen und Rufe erfüllten die Luft. Einmal ums andre siegte die Strömung. Schmählich wurde das Boot zurückgetrieben. Und als die Mädchen schließlich am Marktkai landen und es den Männern überlassen mußten, das Boot heimzubringen, wie waren sie rot und ärgerlich und wie lachten sie! Und wie klang ihr Lachen die Straße hinab! Wie belebten ihre breitrandigen, lichten Hüte, ihre leichten, flatternden Sommerkleider die stille Nacht.
Da tauchten vor den Gedanken des alten Ratsherrn, denn im Dunkel konnte er sie nicht klar sehen, ihre lieblichen, jungen Gesichtchen, ihre schönen, klaren Augen und ihre roten Lippen auf. Da richtete er sich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Carl Olof Larsson (1853 - 1919)
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7557-2
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