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Eugen Sue: Die Geheimnisse von Paris

 

Eugen Sue

 

Die Geheimnisse von Paris

Sitten-Roman

 

 

 

verlag.bucher@gmail.com

Erster Teil - Erstes Kapitel: Die Kaschemme

Was ist Kaschemme? In der Gauner- und Mördersprache ein Gasthaus. Natürlich eines der niedrigsten Gattung. Sein Wirt ist gemeinhin ein Sträfling, der seine Jahre »abgemacht« hat. Zuweilen steht es auch unter dem Zepter einer ehemaligen Zuchthäuslerin. Was in einer solchen Kaschemme verkehrt, ist immer nur der Auswurf der Gesellschaft: Galeerensträflinge, Verbrecher aller möglichen Art.

In der Kaschemme sucht die Polizei, sobald ein Verbrechen verübt worden ist, den Schuldigen und findet ihn auch in der Regel zwischen hier verkehrenden Gästen.

Es war im letzten Monat des Jahres 1838, am 13. Dezember. Ein kalter, regnerischer Abend. In einer dürftigen Bluse passiert ein Hüne von Mann den Pont-au-Change, zur innern Stadt hinein, um sich in dem schauerlichen Gewirr von finsteren, engen Gäßchen zwischen dem Justizpalast und der Notre-Dame-Kirche zu verlieren.

Es stürmte heftig. In dem schwärzlichen Wasser, das in der Gassenmitte entlangfloß, spiegelte sich das bleiche Licht der vom Winde geschaukelten Laternen. Der Mann hatte die Rue des Poix erreicht, die mitten im alten Paris liegt, und ging, seitdem er spürte, daß er vertrauten Grund und Boden unter den Füßen hatte, in langsamerem Tempo. Vom Justizpalaste schlug es zehn. Unter den niedrigen, gewölbten Türen, die zu Höhlen zu führen schienen, hockten Weiber, mit halblauter Stimme Stücke aus Volksliedern vor sich hin trällernd. Eins von den Weibern mußte dem Hünen von Mann bekannt sein, denn er blieb vor ihm stehen und faßte es am Arme.

»'n Abend, Schuri!« sagte das Weib ängstlich und versuchend, ein paar Schritte zurückzuweichen. – Der Blusenmann erwiderte: »Hab mich also nicht geirrt? Bist doch die Schalldirn? Nun, laß Schnabus kommen, wenn du nicht Appetit hast auf blaue Flecke und lahme Knochen.« – »Ich hab doch kein Geld,« versetzte, am ganzen Leibe zitternd, das Mädchen, das wie jedermann schreckliche Furcht vor Schuri, dem Blusenmanne, hatte. – »Ei, ei! Wie du lügen kannst!« rief der Blusenmann und versetzte dem unglücklichen Mädchen einen Fausthieb in den Unterleib, daß sie vor Schmerz laut aufschrie.

Doch gleich darauf rief er: »Warte, Kanaille! Du hast mich mit der Schere gestochen. Das will ich dir heimzahlen!« – Und wie von der Tarantel gestochen, raste er hinter ihr her in dem dunklen Flure.

»Bleib mir vom Leibe, Schuri!« rief das Mädchen resolut, »oder ich stech dir die Okulori aus. Hättest du mich nicht geschlagen, hätt ich dir nichts getan!« – »Warte, Luder! Jetzt hab ich dich ... Nun sollst du mit mir tanzen!« Und dabei packte er mit seiner großen, derben Faust ihre kleine zarte Hand.

»Die Reihe zum Tanz wird an dich kommen,« sagte da eine Mannesstimme. – »Oho! Bist du es, Rotarm? Gib Antwort, aber greif nicht so derb zu!« – »Ich bin der Rotarm nicht,« sagte die Stimme wieder. – »Mir schnuppe, wer du bist,« rief der Schuri; »aber wem gehört denn die kleine Pfote in meiner Tatze?« – »Mir nicht, aber dem andern da!« sagte die Stimme.

Die Pfote, mit einer Haut so weich und zart wie Seide, unter der sich aber Sehnen und Muskeln wie von Stahl spannten, packte den Schuri an der Gurgel. Mittlerweile war die Schalldirne an das andere Ende des Hauseingangs geflohen und rannte nun mehrere Stufen einer steilen Treppe hinauf. Dann blieb sie stehen und sagte zu ihrem unbekannten Beschützer: »Dank schön dafür, daß Ihr mit mir gehalten! Jetzt bin ich aus dem Schlamassel. Nun laß ihn los und sieh dich vor! Hasts zu tun mit dem Schuri!« – »Und ich bin Sündenkitscher, der nicht tampert,« erwiderte, ihrer Worte nicht achtend, der Unbekannte.

Dann war alles still, dann hörte man ein paar Minuten lang Ringen ... Dann rief eine rauhe Stimme – die des Banditen, der sich mit aller Gewalt von seinem Widersacher loszumachen suchte, was ihm aber nicht gelingen wollte, da dieser über eine außergewöhnliche Kraft gebot.– »Soll ich dich kapores machen?« rief der Bandit, »berappen sollst du mir für die Schalldirne und für deinen eigenen Part!« Dabei knirschte er mit den Zähnen, als wenn sie ihm brechen sollten.

»Kapores machen? Ich berappen? Ich dich?« versetzte der Unbekannte, »ja doch, mit Knochenmehl und Faustschmalz!« – »Läßt du meine Krawatte nicht los,« ächzte der Bandit, »beiß ich dir deinen Zinken ab, Hund verfluchter!« – Aber die letzten Worte klangen nur noch dumpf, denn der Kerl war schon dem Ersticken nahe. – »Na, da schaff dir nur erst längere Zähne an,« hohnneckte der andere, »denn mein Zinken ist kurz, und mit deinen Okulori wirds auch bald hapern, zumal es recht finster hier ist.« – »Dann tritt mit unter die Laterne!« – »Meinetwegen,« erwiderte der Unbekannte, »dort können wir einander begaffen.« – Mit diesen Worten zerrte er den Banditen an dem Halstuche bis zur Tür und von da bis auf die Straße hinaus, die aber auch nur matt von der Laterne erhellt wurde. Der Bandit wankte, aber bald glückte es ihm, Halt auf den Beinen zu gewinnen. Nun packte er den Unbekannten mit neuem Ungestüm, dessen schlanker Körper die unglaubliche Kraft nicht ahnen ließ, die ihm innewohnte. Wenngleich der Bandit ein wahrer Riese war, dem es an Gewandtheit im Faustkampfe nicht fehlte, so fand er hier doch seinen Meister, denn der Unbekannte bearbeitete den Kopf seines Feindes mit einem Hagel von Faustschlägen, die aber ganz abwichen von dem gewöhnlichen Komment unterm Volke, sich vielmehr des berühmten Londoner Boxers Jack Turner würdig erwiesen und den Schuri auf zweifache Weise betäubten, daß er zuletzt wie ein vom Metzger getroffener Stier auf die Erde schlug und zwischen den Zähnen murmelte: »Ich bin kaput! Hast mich richtig kaput gemacht, wie ichs mit dir wollte!«

»Läßt er ab, dann laßt auch Ihr ihm Ruh!« rief das Mädchen von der Schwelle her, auf die sie sich während des Ringkampfes der beiden Männer gewagt hatte; dann sagte sie mit maßlosem Staunen: »Aber wer seid Ihr denn? Außer dem »Meister Bakel« kann den Schuri doch keiner meistern. Aber Ihr sollt bedankt sein, Herr, denn wenn Ihr mir nicht beigesprungen wäret, hätt er mich kalt gemacht, der Rasende!«

Statt dem Mädchen Antwort zu geben, hörte der Unbekannte aufmerksam auf ihre Stimme. Einen so lieblichen, frischen Klang hatte er noch nie vernommen. Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, aber dazu war es zu finster und der Laternenschein zu matt. Ein Paar Minuten lag der Bandit da, ohne ein Glied zu rühren; dann bewegte er erst die Beine, dann die Hände; endlich gelang es ihm, sich in die Höhe zu richten ... Die Schalldirne flüchtete wieder nach dem Hausflur und zog ihren Beschützer am Arme hinter sich her ... »Vorgesehen!« flüsterte sie; »er könnte den Stiel leicht umdrehen.« – »Keine Bange, Kindchen, keine Bange!« erwiderte der Unbekannte; »falls er mit der ersten Tracht nicht genug hätte, steht ihm gern eine derbere zur Verfügung.«

Der Bandit hörte die Worte ... »Hast recht,« sagte er, »für heute Hab ich satt; aber verreden mag ichs nicht, daß wir noch einmal aneinander geraten.« – »He? Verlangts dich wirklich nach frischen Sengen?« rief der Unbekannte in drohendem Tone, »ich sollte meinen, daß ich ehrlich genug an die Arbeit gegangen wäre?« – »Na, das muß dir der Neid lassen, Kamerad,« sagte der Bandit, aber in mürrischem Tone, »hast deine Sache gut gemacht und durchaus ehrlich angefangen, aber...« – »Aber... was?« versetzte der Unbekannte, einen Schritt näher auf den Banditen zutretend. – »Aber,« sagte dieser, ich hab meinen Meister gefunden, und – ob früher oder später – du findest den deinigen auch einmal, wenn es dir auch fürs erste, seit du den Schuri untergekriegt, in unserm Alt-Paris nicht fehlen kann. Alle Dirnen werden dir zu Füßen liegen, und kein Kaschemmenvater wird riskieren, dir einen Pump zu weigern. Aber wer bist du? Du sprichst jenisch, als wärst du unter Jenischleuten aufgewachsen?« – »Na komm, trinken wir ein paar Stampferle mitsammen,« sagte der Unbekannte, »bekannt werden wir bald miteinander sein.« – »So laß ichs mir gefallen«, erwiderte der andere, »mit den Fäusten verstehst du ja zu arbeiten. Schockschwerenot, hast du mir den Schädel traktiert! Das ging wie bei, Hammer und Ambos. Ein ganz neues Manöver! Darin mußt du mir Stunde geben.« – »Ei! im Moment, sofern es dir recht ist.« – »Aber bloß nicht wieder auf meinem Schädel als Amboß. Mir funkelts ja noch jetzt vor den Augen. Sag mal, kennst du den Rotarm, aus dessen Hause du tratest?« – »Rotarm?« wiederholte der Unbekannte, durch die Frage verblüfft, »was willst du mit Rotarm? Verstehe dich nicht. Wohnt Rotarm hier?« – »Ja, solo. Hat seine Gründe dazu, von Nachbarn und guten Freunden Abstand zu nehmen,« erwiderte der Bandit mit seltsamem Lächeln. – »Um so besser für ihn,« sagte der Unbekannte, der keine Lust zur Weiterführung der Unterhaltung zu haben schien, »kenne weder einen Rot- noch einen Schwarzarm. Bin, weils regnete, bloß auf einen Moment hier unters Dach getreten. Du wolltest dem Mädel an den Kragen, und dafür habe ich dich verhauen, das ist die ganze Geschichte.« »Na, was du nicht sagen willst, laß sein. Ich schere mich nicht um deine Geheimnisse. Wer mit Rotarm zu tun haben will, stellt sich nicht auf den Markt und posaunts aus. Also reden wir nicht weiter davon!« – Darauf wandte er sich zu dem Mädchen. »Na, du bist ja ein ganz gutes Mädel, Schalldirne, ein Wort, ein Mann! War, wenn du mich auch mit der Schere stachst, doch nett von dir, den Kerl da nicht schärfer über mich zu hetzen. Komm, trink mit uns, der Hitzkopf berappt.«

Die drei Leutchen waren nun ein Herz und eine Seele und traten in die Kaschemme. Ein Kohlenträger, auch ein Hüne von Gestalt, hatte sich, während die beiden Männer zusammen gekämpft hatten, behutsam in einen andern Hausflur begeben und abgewartet, wie die Rauferei ausgehen werde. Jetzt folgte er den drei Leutchen in die Kaschemme. Vor der Tür suchte er dem Unbekannten an die Seite zu gelangen und flüsterte ihm auf englisch und in behutsam warnendem Tone zu: »Sehen Sie sich vor, gnädiger Herr, sehen Sie sich vor!«

Mit den Achseln zuckend, trat der Unbekannte durch die Tür und verschwand hinter dem Banditen und dem Mädchen in der Gaststube.

Zweites Kapitel: Wirtin und Gäste

Die Kaschemme führte das Schild »Zum weißen Kaninchen« und stand mitten in der Rue des Poix. Sie nahm das Erdgeschoß eines hohen Hauses ein, dessen Fassade aus zwei sogenannten Fallbeilfenstern bestand. Ueber der Tür einer dunklen gewölbten Flur stand: »Hier ist Nachtquartier zu haben.« – Die Gaststube ist ein großer, niedriger Saal mit verräucherter Decke und von Qualm und Rauch geschwärzten Balken, der durch das rötliche Licht eines Ueberrestes von Wandleuchter erhellt wird. An jeder Seite der großen Stube steht ein halbes Dutzend Tische, die wie die dazu gehörigen Bänke an der Wand festgemacht sind. Im Hintergrunde führt eine Tür nach der Küche; eine andere kleinere Tür führt rechts vom Schenktische auf den Flur hinaus, über den man gehen muß, um zu den Löchern zu gelangen, in denen es für 3 Sous eine Schütte Stroh statt eines Bettes gibt.

»Mutter Ponisse« heißt die Wirtin dieser Kaschemme. Ihre Geschäfte sind dreifacher Art: sie beherbergt Leute zur Nacht, unterhält einen Ausschank verbunden mit Kneipe und verleiht schmutzige Garderobe an die noch schmutzigeren Geschöpfe, die sich in diesen schmutzigen Gassen wie Schmeißfliegen umhertreiben. Sie zählt 40 Jahre, ist alt, groß, korpulent und hat einen Anflug von Bart. Ihre Stimme hat einen fast männlichen Klang, ist rauh und heiser. Ihre starken Arme und großen Hände weisen auf große Körperstärke. Von reichlichem Schnapsgenuß hat ihr Gesicht eine Kupferfarbe bekommen.

Auf dem Schenktische stehen allerhand Zinnmaße und Krüge, um die eiserne Reifen gelegt sind. Auf einem Wandbrette stehen allerhand Gläser, die allerhand Liköre enthalten: solche von grünlicher und solche von rötlicher, auch ein paar von goldgelber Farbe.

Neben der Wirtin hockt eine große, schwarze Katze mit gelben Augen, die der Hausteufel der Kaschemme zu sein scheint. Hinter dem Gehäuse einer altertümlichen Wanduhr hängt ein Zweiglein geweihten Osterbuchsbaums, dessen Anwesenheit sich nur erklären läßt, wenn man den Satz gelten läßt, daß das menschliche Gemüt ein unergründlicher Abgrund von Widersprüchen ist.

Zwei Kerle von polizeiwidrigem Aussehen, mit struppigem Barte, kaum mit Lumpen bedeckt, sitzen an einem Tische bei einem Weinkruge, trinken aber kaum einmal, sondern sind in reger, wenn auch leiser Unterhaltung begriffen. Der eine hat eine bleiche, fast bleifarbene Haut. Das Gesicht wird von einer schäbigen griechischen Mütze fast bis zu den Brauen bedeckt. Sein linke Hand hält er fast immer unter dem Tische und läßt, wenn er sich ihrer einmal bedienen muß, so wenig wie möglich davon sehen.

Ein Stück weiter vom Tische entfernt sitzt ein junger Mensch von knapp 16 Jahren mit bartlosem, ebenfalls bleichem Gesicht und mattem Blicke. Um den Hals herum hängt ihm langes, schwarzes Haar. Dieses Musterexemplar frühzeitigen Lasters raucht aus einer kurzen Tonpfeife und trinkt aus einem kleinen Kruge elenden Fusel.

Von den übrigen Gästen läßt sich weiter nichts Besonderes sagen; es sind Männer und Weiber, aber die ersten sind in der Ueberzahl. Sie sehen alle roh und tierisch aus, lärmen und schreien, reißen Zoten und sitzen, wenn sie sich ausgetobt haben, in dumpfem Schweigen beisammen.

Zu diesen Gästen gesellten sich unser Unbekannter, der Bandit und die Dirne. Jetzt können wir uns den Schuri genau ansehen: er ist, wie gesagt, ein Hüne von kolossalen Körperverhältnissen, mit aschblondem, fast weißlichem Haar, dichtverwachsenen Brauen und feuerrotem Backenbart von erstaunlicher Länge. Sonnenbrand, Elend und harte Arbeit im Bagno haben ihm die fast allen Galeerensträflingen eigentümliche Bronzefarbe gegeben. Sein Gesichtsausdruck verrät mehr brutale Verwegenheit als wilde Notzeit; wer aber seinen Hinterschädel aufmerksam betrachtet, findet dort die Kennzeichen für Mordsucht stark ausgeprägt.

In seltsamer Anomalie zeigen die Gesichtszüge der Schalldirne einen madonnenhaften Ausdruck, wie er zuweilen auch bei tiefster Verworfenheit erhalten bleibt. Die Dirne steht im 17. Jahre. Ihr Gesicht ist oval geschnitten, die großen blauen Augen werden von langen Wimpern beschattet; auf den runden roten Wangen liegt noch der erste Jugendglanz; ihr kleiner purpurroter Mund und herrliches Blondhaar, ihre feine gerade Nase und ein allerliebstes Grübchenkinn machen es erklärlich, daß die Dirne fast alle Männer dieser verbrecherischen Welt bezaubert, hat doch schon ihre Stimme allein durch ihren reinen harmonischen Klang den unbekannten Mann in Fesseln geschlagen. Sie sang vortrefflich, und dieses Talent hatte ihr in der Kaschemme den Rufnamen der Schalldirne eingetragen, der im Rotwelsch soviel wie Primadonna bedeutet. Neben ihm führte sie auch noch den Namen »Marienblümchen«, der im Rotwelsch beliebten Umschreibung für Jungfrau.

Ihr Beschützer, ein Mann von höchstens 30 Jahren, den wir mit dem Namen Rudolf benennen wollen, war von Mittelgröße. Sein schlanker, wohlproportionierter Körper verriet nicht im geringsten jene erstaunliche Kraft, die er im Kampf mit dem Banditen an den Tag gelegt hatte. Sein Gesicht war regelmäßig und schön, für einen Mann vielleicht zu schön. Sein Teint von zartem Weiß, seine halbgeschlossenen Augen, seine ungezwungene Haltung, sein sarkastisches Lächeln ließ einen blasierten Menschen vermuten, dessen Konstitution durch übermäßigen Lebensgenuß wenn auch nicht zerrüttet, so doch geschwächt ist. Und doch hatte Rudolf mit seiner schmächtigen, zierlichen Hand einen der verwegensten und stärksten Banditen von Paris bezwungen. Sein Blick verriet hin und wieder einen Hang zur Melancholie, und sein Gesicht rührendes Mitleid. Wenn aber sein Blick, was fast häufiger der Fall war, einen harten, boshaften Ausdruck annahm, dann machte auch der mitleidige Zug einem grausamen Platz, der jede gefühlvolle Regung auszuschalten schien.

In dem Kampfe mit dem Banditen hatte Rudolf keine Spur von, Zorn oder Haß gegen den ihm nicht gewachsenen Gegner gezeigt, sondern war ihm im Vertrauen auf seine Kraft, Gewandtheit und Gelenkigkeit nur mit Verachtung entgegengetreten. Im übrigen bekam Rudolf durch sein Benehmen und seine Gewandtheit, mit der er die Gaunersprache redete, eine vollständige Aehnlichkeit mit den Gästen der Wirtin. Um den schlanken Hals hatte er ein schwarzes Tuch geschlungen, dessen Enden auf den Kragen seiner verblichenen Bluse fielen. Die plumpen Schuhe, in denen seine Füße steckten, waren mit einer doppelten Reihe von Nägeln beschlagen, und außer seinen schönen Händen unterschied ihn kaum ein einziger Zug von den in der Kaschemme sitzenden Gästen.

Beim Eintritt legte der Bandit Rudolf eine seiner großen Hände auf die Achsel und sagte: »Es lebe der Mann, der den Schuri bezwungen! Jawohl, Kameraden, bezwungen! Und selbst Meister Bakel wird seinen Meister in ihm finden. Dafür stehe ich ein.«

Bei diesen Worten richteten sich aller Blicke, von der Wirtin bis zu dem geringsten Gaste hinunter, auf Rudolf, und zwar mit einem deutlich sichtbaren Zeichen von Angst und Sorge. Ein paar zogen Gläser und Krüge an den Tischrand zurück, um Rudolf Platz zu machen; andere traten zu dem Banditen, um sich mit leiser Stimme über den Unbekannten zu unterrichten, der sich auf so gloriose Weise in ihren Kreisen eingeführt hatte. Die Wirtin hatte den neuen Gast inzwischen mit ihrem holdseligsten Lächeln bewillkommt. Was noch nie im »Weißen Kaninchen« passiert war, sie war aufgestanden und hatte sich bei Rudolf erkundigt, womit sie ihm dienen könne. Einer der beiden Männer polizeiwidrigen Aussehens, von dem wir bereits sagten, daß er die linke Hand versteckt hielt, fragte die Wirtin, die für Rudolf den Tisch abwischte: »Ist Bakel noch nicht dagewesen?« – »Nein,« versetzte die Wirtin, »aber gestern ist er mit seiner neuen Gesponsin dagewesen.« – »Wer ist das?« – »Hältst du mich etwa für einen Spitzel? Soll ich gar meine Kunden verpetzen?« erwiderte die Wirtin rauh und ablehnend. – »Ich werde heute abend,« sagte der Räuber, »mit ihm zusammenkommen. Wir haben Geschäfte miteinander.« – – »Wird was Schönes sein, du Sündensohn!« – »Oho! Wovon lebt Ihr denn als von uns Sündensöhnen?«

Marienblümchen hatte dem jungen Menschen mit dem bleichen Gesicht, als sie in die Kaschemme trat, mit freundlichem Lachen zugenickt. Schuri sagte zu ihm.: »He, Barbillon, noch immer Schnaps?« – »Lieber hungern, als keinen Schnabus, und lieber in Holzschuhen laufen als ohne Tabak in der Pfeife,« versetzte der andere mit hohler Stimme, ohne sich vom Platze zu rühren, und gewaltige Rauchwolken von sich blasend.

»Guten Abend, Mutter Ponisse,« sagte die Schalldirne. – »Guten Abend, mein Blümchen,« erwiderte die Wirtin, die Kleidungsstücke musternd, die das Mädchen von ihr geliehen hatte. – »Dir was auf den Leib zu ziehen,« sagte sie, »macht einem Freude, bist du doch reinlich und sauber wie ein Kätzchen. Hab dich ja auch erst zur Dirne aufgezogen, seit du aus dem Kasten kamst. Aber man muß es dir lassen, ein besseres Mädel als dich gibts in unserm ganzen Paris nicht.«

– Das Mädchen schien auf diese Worte der alten Zuchthäuslerin nicht sonderlich stolz zu sein, denn sie ließ den Kopf tief auf die Brust sinken.

Während nun die drei bei ihrer Mahlzeit saßen, trat eine neue Person herein: ein Mann von mittlerem Alter, gewandt und kräftig, in Jacke und Mütze, der an das Leben in Kaschemmen gewöhnt zu sein schien, verlangte er doch in der Gaunersprache, die hier nur üblich war, sein Abendessen. Obgleich er kein Stammgast war, fand er bald keine Obacht mehr, denn Banditen erkennen ihresgleichen ebenso scharf wie ehrliche Leute und wissen vielleicht genauer noch als diese, was sie von jedem einzelnen der ihrigen zu halten haben. Er hatte sich so gesetzt, daß er die beiden Männer von polizeiwidrigem Aussehen, von denen der eine nach Bakel gefragt hatte, scharf ins Auge fassen konnte, ohne daß einer von ihnen es gewahr werden konnte. Bald war die auf einen Moment unterbrochene Unterhaltung wieder im Gange. Schuri zeigte trotz seiner Verwegenheit eine gewisse Unterwürfigkeit gegen Rudolf und getraute sich nicht mehr, ihn zu duzen. So wenig Respekt er vor Recht und Gesetz hatte, so viel Respekt hatte er vor Leibeskraft.

»Ein Wort, ein Mann,« sagte er zu Rudolf, »erzählen wir uns, wer wir sind, damit wir bekannt zusammen werden.« – »Mach du den Anfang,« versetzte Rudolf. – »Albino von Farbe, entlassener Bagnosträfling, Holzflösser am Kai, im Winter vor Kälte halbtot, im Sommer vor Hitze gedörrt, so ist mein Charakter,« sagte der Bandit; »wer aber sind Sie? Ich sehe Sie zum ersten Male in unserem Alt-Paris.« – »Ich bin Fächermaler und heiße Rudolf.« – »So? Fächermaler? Nun, deshalb haben Sie so weiße Hände! Scheint auch zu dem Geschäft ein gutes Teil von Leibeskraft zu gehören, vorausgesetzt daß Ihre Kameraden ebenso sind wie Sie! Warum kommen Sie aber in eine Kaschemme, wenn Sie Arbeiter sind, und zweifelsohne ehrlicher Arbeiter? Hier gibt es doch bloß Kerle aus dem Bagno, die sich anderwärts im Lande nicht sehen lassen dürfen.« – Ich komme her, weil mir an guter Gesellschaft gelegen ist.« – »Hm,« sagte der Bandit, zweifelsvoll den Kopf schüttelnd, »Sie scheinen mir nicht zu trauen und haben wohl auch nicht so unrecht. Indessen erzähle ich gern, wenns Ihnen recht ist, meine ganze Geschichte. Aber eine Bedingung stelle ich dabei: daß Sie mich über die Stöße unterrichten, mit denen Sie mich traktiert haben.« – »Warum nicht? Wenn Ihr weiter nichts wollt? Erzählt also, und dann mag mir das Mädchen sagen, wie es mit ihr steht.« – »Hab nichts dawider,« versetzte das Mädchen. – »Aber Sie bleiben uns dann Ihre Geschichte nicht schuldig?« fragte der Bandit. –»Nein. Kann ja gleich den Anfang machen,« sagte Rudolf. –

»Fächermaler,« sagte das Mädchen, »ein hübsches Geschäft!« – »Wieviel bringts denn ein für den Tag?« fragte Schüri. – Hier bis fünf Franks, doch nur im Sommer, weil da die Tage lang sind. Es gibt nämlich bloß Stücklohn.« – »Sie machen Wohl oft blauen Montag?« – »Ja, so lange mein Geld reicht. Sechs Sous brauche ich für Nachtquartier, vier für Tabak: macht zehn Sous; dann vier Sous für Frühstück und fünfzehn für Mittagbrot, ein paar noch für Schnaps, macht also auf den Tag etwa dreißig Sous. Wer braucht da die ganze Woche zu arbeiten? Da ists doch gescheiter, man läßt sichs die übrige Zeit Wohl sein!« – »Und Ihre Angehörigen?« fragte das Mädchen. – »Die hat die Cholera morbus weggerafft,« versetzte Rudolf. – »Was waren denn Ihre Eltern?« fragte sie weiter. – »Lumpensammler, hatten unter der Halle ihren Stand. Der Vormund verkaufte alles, was da war, und gab mir dreißig Francs als Erlös.« – »Und wer ist Ihr Brotherr?« – »Borel in der Rue des Bourdonnais. Ein Protz und ein Filz, der jeden Arbeiter bis aufs Blut quetscht. Seit meinem fünfzehnten Jahre bin ich bei ihm in der Lehre gewesen. Wohne jetzt in der Rue de la Juiverie, im vierten Stock und heiße Rudolf Durand. Da habt Ihr meine Geschichte,« – »Nun mag die Schalldirne erzählen,« sagte Schuri; »ich warte mit meinem Histörchen bis zuletzt.«

Drittes Kapitel: Was die Sängerin zu erzählen hatte

»Wir fangen von vorne an,« sagte der Schuri: »wer sind deine Eltern?« – »Die hab ich nicht gekannt,« sagte das Mädchen. – »Schnurrig, Mädel. Da sind wir von gleicher Familie!« – »Du bist auch Waise, Schuri?« – »Jawohl, von der Straße, wie du, mein Kind.« – »Und wer hat dich erzogen?« fragte Rudolf. – »Weiß ich nicht. Kann nicht weiter zurückdenken, als bis zu meinem siebenten oder achten Jahre. Da bin ich bei einem alten Weibe gewesen, das die Eule genannt wurde.« – »Oho!« rief der Bandit. – »Ja, für sie mußte ich auf dem Pont-Neuf Gerstenzucker feil halten. Brachte ich weniger als zehn Sous mit heim, bekam ich Prügel und nichts zu essen.« – »Die Frau war nicht deine Mutter? Das weißt du bestimmt?« fragte Rudolf. – »Ganz bestimmt! Hat mir das Weib doch oft genug vorgeworfen, ich hätte weder Vater noch Mutter, sondern sie hätte mich auf der Straße aufgelesen. Frühmorgens mußte ich nach Montfaucon hinaus, Regenwürmer zum Angeln zu suchen, denn tagsüber trieb das Weib unter der Notre-Dame-Brücke einen Handel mit Angelruten.« – »Na, bis Montfaucon ists ein derber Weg, der dir aber recht gut bekommen zu sein scheint. Bist ja gerade gewachsen wie eine Tanne,« sagte der Bandit; »und die schmale Kost scheint dir auch ganz gut bekommen zu sein, denn sie hat dir eine Wespentaille geschaffen. Hast also keine Ursache Zu klagen!« – »Aber es hat Prügel genug gesetzt, und wenn mich das Weib schlug, bin ich immer beim ersten Schlag umgefallen. Dann hat sie mich mit Füßen getreten und geschrien, ich hätte gar keine Bouillon in den Knochen, so rund und fett wie ich sei. Anders als Balg hat sie mich gar nicht gerufen, das war mein Taufname.«

»Na, mir ists ebenso gegangen. Mich hat man nie anders als Hund gerufen! Komisch, Mädel, wie ähnlich die Dinge doch zwischen uns liegen!« – Das Mädchen, das sich vor Rudolf zu schämen schien, rückte näher zu dem Banditen heran, der sie nun fragte, was sie weiter am Tage getrieben, nachdem sie von Montfaucon zurückgekehrt sei. – »Bis gegen Abend mußte ich betteln,« sagte das Mädchen, »und sobald es mir einfiel, etwas Essen zu fordern, bekam ich allemal Prügel, und wenn mich hungerte, schickte sie mich mit einem kleinen Mäßchen voll Gerstenzucker auf den Pont-Neuf. Ob ich dort vor Kälte zitterte wie Espenlaub, das hat sie nie gekümmert.« – »Schon wieder ganz, wie es mir gegangen ist,« sagte der Schuri, »mir ists ebenso gegangen.« – »Dort mußte ich stehen bis gegen elf. Die Passanten haben mir manchmal ein paar Sous in die Hand gedrückt, weil meine Tränen sie rührten. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Prügel. »Wenn ich nicht weinte, war die Alte immer außer sich, und um sie recht zu ärgern, lachte ich dann immer aus vollem Herzen, sobald sie zum Schlage ausholte. Abends habe ich, statt Gerstenzucker zu verkaufen, immer gesungen wie eine Lerche, wenngleich es mir wahrlich nicht nach Singen zumute war.« – »Glaubs dir,« sagte Rudolf. – »Einmal fielen, als ich mit Regenwürmern von Montfaucon heimging, Gassenjungen über mich her und raubten mir mein Körbchen. Was meiner wartete, wußte ich: Prügel, aber nichts zu essen! Da hat mich die Alte nicht geschlagen, sondern mich anders gemißhandelt, mir an den Schläfen die Haare ausgerissen, wo es bekanntlich am meisten schmerzt.« – »Sackerment! Das geht ins Aschgraue!« rief der Bandit, mit der Faust auf den Tisch schlagend und die Brauen finster zusammenziehend. »Ein Kind prügeln, geht schließlich noch an; aber Kinder mißhandeln, das ist wider alle Moral!«

Rudolf hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört. Die Teilnahme, die der Bandit für das Mädchen fühlte, setzte ihn in Verwunderung.

»So gings noch ein paar Tage. Da kam ich wieder einmal heim mit nur drei Sous Einnahme. Da schrie die Alte: ich fräße alle Tage für sechs Sous, und es fiele ihr nicht ein, mich umsonst noch länger zu füttern. Es war im Winter, und ich hatte bloß eine dünne Leinwandfahne auf dem Leibe, weder Strümpfe noch ein Hemd, bloß Holzschuhe. Die Alte packte mich bei der Hand. Am meisten erschreckte es mich, daß sie nicht fluchte, sondern auf dem ganzen Wege hin bloß zwischen den Zähnen murmelte. In die Rue Mortellerie ging unser Weg nach einem alten, schmutzigen Hause, das eine Schenke hatte. Die Alte ging zu dem Wirte und trank einen halben Liter Schnaps. Das war ihr reguläres Maß. Sie legte sich deshalb auch immer betrunken zu Bette. Ich fiel vor ihr auf die Knie und bat sie flehentlich, mich nicht in schlimmeres Unglück zu bringen. Sie sah mich böse an mit ihrem einen Auge – denn sie war einäugig – und zischte mir giftig zu, sie wollte mir schon zeigen, was man mit solch fauler Kreatur machen müsse, um ihr Lust zur Arbeit zu machen. Sie zerrte mich hinter sich her und eine schmale Stiege hinauf in eine elende Bodenkammer. Dort trat sie zu einem Regale und nahm eine Zange aus einem Fache, womit sie mir – einen Zahn ausreißen wollte, um mich zu quälen und mich häßlich zu machen.« –

Die beiden Männer schrieen so ergrimmt auf, daß die anderen Gäste sich verwundert nach ihnen umdrehten... »Und hat sie dir den Zahn wirklich ausgerissen?« fragte Rudolf. – »Freilich,« sagte das Mädchen, »und hat dabei meinen Kopf zwischen ihre Knie genommen und mich festgehalten wie in einem Schraubstocke. Halb mit der Zunge, halb mit ihren Krallen von Fingern hat sie ihn ausgerissen und mir dann, um mich recht zu erschrecken, zugeschrieen, sie wolle mir nun, wenn ich weiterhin so faul bliebe, täglich einen weiteren Zahn ausreißen, und wenn ich keinen mehr im Munde hätte, mich in die Seine schmeißen, wo sich die Fische an mir laben sollten.«

Was Rudolf sympathisch berührte, war, daß aus dem Munde des Mädchens kein einziges Wort des Hasses gegen das alte Weib fiel, so Schweres sie auch von ihrer Grausamkeit erduldet hatte.

»Am andern Tage,« erzählte das Mädchen weiter, »ging ich nicht auf die Würmersuche nach Montfaucon, sondern flüchtete nach dem Pantheon, und bin den ganzen Tag gelaufen, bloß um recht weit weg von der bösen Frau zu kommen. Ich fürchtete mich zu sehr vor ihr. Die Nacht habe ich unter einem Holzhaufen auf einem Stätteplatze kampiert. Gehungert hats mich schrecklich, ich habe Holzrinde dagegen gekaut, und bin endlich darüber eingeschlafen. Als es Tag wurde und Leute kamen, bin ich tiefer hinein in den Holzstoß gekrochen, wo es ganz hübsch warm war, fast wie in einem Keller. Am andern Tage – ich wagte mich nicht hervor – habe ich wieder Birkenrinde gekaut und wollte wieder einschlafen, als ich Hundegebell vernahm. Ich wurde munter und lauschte. Das Gebell kam immer näher. Dann hörte ich eine Männerstimme. »Es muß doch jemand sich auf dem Hofe versteckt haben. Sonst würde doch mein Hund nicht bellen.« – »Sicher doch Diebe! Wer sonst?« sagte eine andere Stimme. Dann riefen beide Stimmen: »Such, such!« und da ich fürchtete, von dem Hunde gebissen zu werden, fing ich laut zu schreien an. »Höre doch,« sagte die eine Stimme wieder, »das klingt doch ganz, als wenn ein Kind schriee!«

Und nun hörte ich, wie der Hund zurückgerufen wurde. Dann sah ich Laternenschein. Ich kroch aus dem Holzstoße heraus. Ein dicker Mann mit einem Jungen stand vor mir. »Was willst du auf meinem Hofe, Spitzbübin?« fragte er mich. – Ich erzählte ihm, wie schlecht es mir gegangen; er aber rief: »Papperlapap! Ich lasse mir nichts weismachen. Du willst mich bemausen!« Dann befahl er dem Jungen, auf die Polizei zu gehen, besann sich aber und sagte, er wolle mich gleich lieber selbst hinschaffen. Dort sagte ich, daß ich weder Heimat noch Eltern hätte. Ich wurde in ein Besserungshaus gebracht, wegen Vagabondierens, und war den Richtern aus tiefstem Herzen dafür dankbar, denn im Gefängnisse bekam ich zu essen und keine Prügel, lernte auch nähen, war aber faul und sang lieber, statt zu arbeiten.«

»Weil du eben eine geborene Nachtigall bist,« erwiderte Rudolf lächelnd. – »O, Sie sind recht artig gegen mich, Herr Rudolf,« sagte das Mädchen, »und seitdem heiße ich nun die Schalldirne, statt Balg, wie mich die alte Hexe immer nannte. Mit meinem sechzehnten Jahre wurde ich aus der Besserungsanstalt entlassen. An der Tür traf ich die Wirtin mit ein paar andern alten Frauen, die früher schon in der Besserungsanstalt gewesen waren und mit den Mädchen, die mit mir dort waren, auf recht gutem Fuße standen. Sie sagte mir, sie hätte gute Arbeit für mich, wenn ich zu ihr ziehen wollte. Ich dachte aber, du kannst ja nähen, bist jung und willst auch das Leben ein bißchen genießen. In der Besserungsanstalt hatte ich doch soviel gearbeitet, daß ich beim Austritt bare 300 Francs ausgezahlt bekam, und das kam mir vor wie ein Vermögen. Aber das Geld war bald zu Ende. Ich hatte mir ein Stübchen gemietet. Ich bin eine große Blumenfreundin und hatte mir mehrere Stöckchen gekauft, brauchte auch ein besseres Kleid und einen Schal und bin ein paarmal ins Boulogner Wäldchen hinaus auf einem Esel geritten. Als ich noch etwa fünfzig Francs übrig hatte, versuchte ich es mit Näharbeit; aber überall wies man mir die Tür. Drei Tage darauf begegnete ich zufällig wieder der Wirtin und einer alten Frau. Sie hatten mich wohl, seit ich aus der Besserungsanstalt gegangen war, nicht aus den Augen gelassen, ich hatte es wahrscheinlich nur nicht bemerkt. Jetzt wußte ich nicht, wovon ich mein Leben fristen sollte, und so ging ich mit den Weibern mit. Ich bekam nun Schnaps von ihnen zu trinken, und bin so geworden, was ich jetzt bin.«

»Ich verstehe,« sagte der Bandit, »und kenne dich nun.« – »Dir scheint es gar nicht recht zu sein, daß du uns deinen Lebenslauf erzählt hast?« fragte Rudolf. – »Ich habs zum ersten Male in meinem Leben getan,« sagte die Sängerin, »und ein Rückblick in meine Vergangenheit muß mich ja trüb stimmen. Ach, wie schön mag es sein, als ehrlicher Mensch dazustehen.« – »Ehrlich? ehrlich?« rief Schuri, »dann spiele die Posse, versuchs, und du wirst sehen, wie weit du damit kommst.« – »Ehrlich?« sagte das Mädchen, »aber wie soll ich es sein können? Was ich auf dem Leibe trage, gehört meiner Wirtin. Wohnung und Essen bin ich ihr schuldig. Weg von hier kann ich nicht, sie ließe mich auf der Stelle als Diebin festnehmen. So lange ich mich nicht auslösen kann, gehöre ich ihr mit Leib und Seele.« – Ein Schauder überrieselte sie, als sie diese Worte sprach. Dann wandte sie sich zum Schuri und bat um einen Schluck zu trinken ... »Nein, keinen Wein,« sagte sie, als er ihr das Glas hinhielt, »Schnaps, Schnaps, den kann ich besser vertragen, wenigstens betäubt er schnell.«

Viertes Kapitel: Schuris Geschichte

Der vor kurzem eingetretene Gast hielt noch immer die beiden Männer mit dem polizeiwidrigen Aussehen im Auge, besonders den, der immer die linke Hand zu verstecken suchte. Beide hatten während der Erzählung der Sängerin mehrmals leise miteinander gesprochen und ängstlich nach der Tür geguckt. Der mit der griechischen Mütze sagte zu seinem Kameraden: »Bakel kommt nicht. Wenn ihn der Kamerad bloß nicht erschlagen hat!« – »Du meinst, um sich seinen Anteil mit anzueignen? Das wäre nun freilich sehr dumm für uns, denn wir hätten die Gelegenheit dann umsonst ausbaldowert.«

Der Neueingetretene saß zu weit von ihnen, um die Worte verstanden zu haben; er hatte aber wiederholt in ein Papier geguckt, das er aus seiner Mütze langte, aber gleich wieder darin versteckte. Dann stand er vom Tische auf und verschwand, ohne daß es jemand aufzufallen schien. Gerade als er hinausging, war Rudolfs Blick nach der Tür hin geglitten. Auf der Straße sah er den Kohlenträger mit seinem rußgeschwärzten Gesicht stehen und hatte Zeit genug, ihm durch eine ungeduldige Gebärde zu verstehen zu geben, daß ihm diese Aufsicht im höchsten Grade zuwider sei. Der Kohlenträger ließ sich aber hierdurch nicht beirren, sondern verhielt sich nach wie vor in der Schenke. Die Sängerin fand in dem Glase Schnaps, das sie getrunken, ihre Munterkeit nicht wieder, schien vielmehr in die finstersten Gedanken Zu versinken. Ein paarmal hatte sie, als sie Rudolfs festem Blicke begegnete, die Augen niedergeschlagen, ohne sich von dem Eindruck, den der Unbekannte auf sie machte, Rechenschaft geben zu können. Seine Gegenwart bedrückte sie sehr. Sie warf sich vor, dem Manne, der sie aus der Gewalt des Banditen befreit hatte, geringe Dankbarkeit entgegenzubringen. Es tat ihr fast leid, vor ihm die Beichte ihres Lebens abgelegt zu haben. Schuri dagegen war in der besten Laune, höchst mitteilsam und gesprächig. Vor Rudolfs manierlichem Benehmen war sein Groll, in ihm den Meister gefunden zu haben, schnell gewichen. Sein Glas austrinkend, hub er an:

»Sängerin, du hast wenigstens noch die alte Eule gehabt, wenn sie auch wert ist, daß der Teufel sie bei lebendigem Leibe holte. Bis zu der Zeit, da du als Landstreicherin eingesperrt wurdest, hast du wenigstens ein Dach überm Haupt gehabt; ich aber kann mich nicht besinnen, bis zu meinem neunzehnten Jahre, in welchem ich Soldat wurde, in einem Bette geschlafen zu haben.« – »So? Du hast gedient. Schuri?« fragte Rudolf. – »Drei Jahre,« versetzte Schuri, »davon aber später! Die Steine am Louvre, die Gipsöfen in Clichy und die Steinbrüche in Montrouge waren die Gasthäuser meiner Jugend. Mir schwebt düster vor, als hätte ich in meiner Kindheit mit einem alten Lumpensammler das Land durchpilgert und hätte mit dessen Kratzeisen manchen Hieb über den Buckel bekommen. Dann bin ich in Montfaucon bei Abdeckern gewesen und habe die Pferde mit abgestochen. Da mag ich wohl zehn bis zwölf Jahre alt gewesen sein. Es hat mir manchmal das Herz zerschnitten, wenn ich wieder so ein armes Tier in den letzten Zuckungen liegen gesehen habe. Nach vier Wochen hatte ich mich aber daran gewöhnt, und auf der Abdeckerei hatte keiner so scharfe Messer wie ich. Aber was bekam ich für meine Mühe? Von einem an irgend einer Krankheit krepierten Tier einen Fetzen Fleisch, denn die abgestochenen wurden an die Garköche in der Gegend verkauft, die es ihren Gästen bald als Hirsch, bald als Rindfleisch vorsetzten, je nachdem. Aber ich war trotzdem der glücklichste Mensch, wenn ich mein Stück Pferdefleisch in Händen hielt, und flink wie ein Fuchs war ich damit bei einem Gipsofen, um es mir mit Erlaubnis der Brenner auf den Kohlen zu braten.«

»Aber wie heißt du? Welchen Namen führtest du damals?« fragte Rudolf. – »Ich war damals fast weißer als jetzt, und die Augen waren mir mit Blut unterlaufen. Darum wurde ich immer nur Albino genannt.« – »Aber deine Eltern?« – »Die haben ebenda gewohnt, wo die Eltern unserer Sängerin. Und wo ich geboren bin? An der erstbesten Straßenecke, rechts ober links.« – »Und wie lange warst du in der Abdeckerei?« fragte Rudolf. – »Kanns nicht einmal sagen! Ich hatte mich zuletzt so in die Wut hineingearbeitet, daß ich, wenn ich einmal beim Abstechen war, wie toll drauflos stach und alle Häute verdarb. Das bekam der Meister satt und jagte mich schließlich weg. Nun suchte ich mir Arbeit bei Metzgern, denn für dies Gewerbe hatte ich immer eine gewisse Vorliebe. Aber da kam ich schön an! Diese hochnäsige Sippe verachtete mich ganz ebenso, wie ein Schuhmacher einen Flickschuster. Da habe ich Arbeit in den Montrouger Steinbrüchen gesucht, aber ich habe es bloß zwei Jahre ausgehalten. Dann bin ich zum Militär gegangen und habe einen prächtigen Grenadier abgegeben. Leider gab es damals keinen Krieg, sonst wäre ich vielleicht was Besseres geworden. In die vermaledeite Friedensdisziplin habe ich mich aber nicht finden können, und als mich eines Tages der Sergeant derb herannahm, kam es zwischen uns zur Rauferei, und da packte mich die alte Lust am Messerstechen, die mir noch von der Abdeckerei in den Gliedern steckte, ich stach den Sergeanten nieder und verwundete zwei Soldaten auf den Tod.«

Der Mörder ließ den Kopf sinken und verhielt sich eine Weile schweigend.

»Ich wurde überwältigt, eingesteckt und sollte füsiliert werden, wurde aber zu Zuchthaus begnadigt, weil ich einmal zwei Kameraden aus der Marne gefischt hatte, wo sie ohne mich elendiglich ertrunken wären. Als ich von der Begnadigung hörte, war ich so fuchswild, daß ich meinen Verteidiger fast an der Kehle gepackt hätte. Im Zuchthause zu vegetieren, war mir schrecklicher als ein schneller Tod. Drum habe ich es auch zweimal probiert, selbst Hand an mich zu legen, einmal durch Grünspan, das andere Mal wollte ich mich mit meiner Kette erdrosseln, aber ich bin nun einmal stark wie ein Ochse und zäh wie Sohlenleder. Vom Grünspan bekam ich einen Heidendurst und von der Kette bloß ein blaues Naturhalsband. Dann schwand der Selbstmordrappel; die Lust am Leben erwachte wieder, und ich fügte mich ins Bagnoleben wie andere auch. Dort hab ich unsern Meister Bakel kennen gelernt, der mich einmal ebenso verprügelt hat, wie Sie vorhin.«

»So? Er ist also auch Galeerenkandidat?« fragte Rudolf. – »Ja, war auf Lebenszeit verurteilt, ist aber geflohen.« – »Und nicht verraten worden?« – »Ich werde mich doch hüten, ihn anzuzeigen, habe ich doch schon einmal, wie gesagt, seine Fäuste gekostet!« – »Und auch die Polizei ist seiner nicht habhaft geworden? Besitzt sie denn sein Signalement nicht?« – »Bakel würde selbst der Teufel nicht mehr erkennen, wenn er ihm aus der Hölle entwischt wäre! Was an ihm kenntlich, hat er schon längst von seinem Leibe ausgemerzt.« – »Was Ihr sagt!« – »Ja, zuerst hat er sich die Nase abgesäbelt, die fast eine halbe Elle lang war; dann hat er sich das Gesicht mit Vitriol verbrannt.«

»Also sich ganz unkenntlich gemacht?« – »Er ist ein halbes Jahr aus Rochefort weg, und seitdem sind ihm wohl an hundert Gendarmen und Polizisten in den Weg gelaufen, ohne daß ihn einer wiedererkannt hätte.« – »Weshalb ist er ins Bagno gesteckt worden?« – »Weil er gefälscht, gestohlen, gemordet hat. Bakel heißt er deshalb, weil er wie gestochen schreibt und ein grundgescheiter Mensch ist.«

»Ueber kurz oder lang spinnen sie ihn doch wieder ein,« meinte Rudolf. – »Ihrer zwei gehören aber wenigstens dazu, ihn dingfest zu machen, denn er trägt unter seiner Bluse immer ein paar scharfgeladene Pistolen und einen Dolch.« – »Was hast du denn getrieben, seit du wieder in Freiheit bist?« – »Ich verdiene mir auf dem Holzhofe am Sankt-Pauls-Kai, was ich zum Lebensunterhalt brauche.« –

»Warum bist du aber hier im alten Viertel? Ein Dieb bist du doch im Grunde genommen nicht.« –

»Und wo sollte ich mich sonst aufhalten? Ich bin hier unter meinesgleichen und liebe nun mal Gesellschaft. Dabei bin ich gefürchtet wie das Feuer, und die Polizei kann mir nicht an den Kragen als höchstens mal wegen einer Rauferei, und darauf steht keine höhere Strafe als 24 Stunden Arrest.« – »Und bei alledem fühlst du dich doch nicht glücklich?« – »Nun, manchem gehts freilich noch schlechter als mir. Mich plagt bloß immer der Teufel, wenn meine schlimmen Träume von dem Sergeanten und den Soldaten kommen, die ich habe ins Gras beißen lassen. Wäre das nicht, könnte ich ruhig sterben wie jeder andere fromme Mensch, sei es im Krankenhause, sei es an irgend einer Straßenecke. Gern denke ich freilich nicht an den Tod,« und bei diesen Worten klopfte er an einer Ecke des Tisches seinen Pfeifenkopf aus.

Fünftes Kapitel: Eine Verhaftung

Der Mann, der einen Augenblick hinausgegangen war, kam jetzt mit einem andern breitschultrigen Manne wieder, aus dessen Gesicht Mut und Entschlossenheit leuchteten ... »Na, Borel,« sagte er zu ihm, »das nenne ich ein feines Zusammentreffen! Nur immer herein! Trink ein Glas Wein mit!« – Schuri rückte Rudolf näher, auch die Schalldirne, dann flüsterte er, auf die beiden Eingetretenen weisend: »Vorsichtig! Es gibt was ... es ist ein Spitzel ... Augen und Ohren offen gehalten!«

Die beiden Banditen – der mit der griechischen Mütze, der schon einige Male nach Bakel gefragt hatte, und sein Kumpan – standen zusammen auf und machten ein paar Schritte zur Tür hin. Aber die beiden Polizisten stießen einen seltsamen Ruf aus und packten sie. Nun begann ein wildes Ringen. Im andern Augenblick drangen andere Polizisten in die Kaschemme, und vor der Tür blitzten Flintenläufe.

Der Kohlenträger benützte den Tumult, um auf die Schwelle zu treten und Rudolf einen Wink zu geben, indem er den rechten Zeigefinger an die Lippen führte. Rudolf winkte ihm aber ebenso schnell wie gebieterisch, sich zu entfernen, und verfolgte die weiteren Vorgänge mit aufmerksamen Blicken.

Der Mann mit der griechischen Mütze schrie und heulte vor Wut. Halb auf dem Tische liegend, schlug er so wild um sich, daß ihn drei Polizisten kaum halten konnten. Sein Genosse war wie zu Boden geschmettert. Er sah leichenblaß aus, und seine Kinnlade zitterte krampfhaft, aber er widersetzte sich nicht, sondern hielt ruhig die Hände hin, um sich die Handschellen anlegen zu lassen. Die Wirtin war an dergleichen Auftritte gewöhnt und verhielt sich ruhig hinter dem Schenktische.

»Was haben die beiden Menschen verbrochen?« fragte sie einen der Polizisten, mit dem sie bekannt war, und der als Borel angesprochen worden war. – »Gestern in der Sankt-Christoph-Straße eine alte Dame ermordet, um sie zu berauben. Die Arme hat kurz vorm Verscheiden noch ausgesagt, sie habe einen der beiden Räuber in die Hand gebissen. Wir hatten gleich Witterung, und mein Kamerad war vorhin ein paar Augenblicke allein hier, sich zu vergewissern, daß wir auf der rechten Fährte seien. Jetzt haben wir die beiden Mordgesellen.«

Den mit der griechischen Mütze mußten die Gendarmen mit Gewalt in den grünen Polizeiwagen heben, der andere, der wie Espenlaub zitterte, konnte sich auf den Füßen nicht halten. Auch er wurde von Polizisten in den Wagen geschoben.

»Mutter Ponisse,« sagte Polizist Borel, »lassen Sie sich vorm Rotarm warnen. Es ist ein boshafter Wicht, der Sie leicht bloßstellen könnte. Vor allem nehmen Sie weder ein Paket noch sonst etwas von ihm in Verwahrsam. Sie machten sich sonst der Hehlerei schuldig.« – »Keine Sorge, Herr Borel! Vorm Rotarm fürchte ich mich wie vorm Teufel. Weiß man doch nie, wohin er will und woher er kommt ... Letztmals hieß es, er käme aus Deutschland herüber.«

Der Polizist faßte, bevor er die Kaschemme verließ, die anderen Gäste ins Auge. Als er Schuri sah, redete er ihn in fast liebevollem Tone an: »Na, auch hier, Tunichgut? Lange nichts von dir gehört! Wirst wohl, scheints, ein ganz artiges Büble?« – »Sintemalen der Schuri seinen Meister gefunden hat, lieber Herr Borel«, versetzte Schuri, Rudolf die Hand auf die Achsel legend. – »Oho, welch neues Gesicht?« rief der Polizist, »hab ich ja noch nie gesehen!« Und nun faßte er Rudolf scharf ins Auge, der aber leichthin erwiderte: »Werden auch wohl kaum Bekanntschaft miteinander machen, mein Lieber.« – »Nun, das wünsche ich in Ihrem eigensten Interesse«, versetzte der Polizist und sagte der Wirtin gute Nacht, worauf er noch scherzend sagte: »Ei, Mutter Ponisse, Ihre Kaschemme ist doch die richtige Mausefalle. Drei Mörder habe ich nun schon darin abgefaßt.« – »Hoffentlich sinds nicht die letzten«, erwiderte die Wirtin schmunzelnd, »jedenfalls bin ich durchaus zu Ihrem Befehl, Herr Borel!« Als der Polizist verschwunden war, setzte sie hinzu: »Na, Bakel kann sich gratulieren, daß er nicht da war. Der mit der griechischen Mütze hat ein paar mal nach ihm gefragt, es scheint also, daß sie Geschäfte mitsammen haben. Aber eine Frau wie ich verrät doch ihre Klienten nicht! Nanu! Wenn man den Wolf nennt, kommt er auch gerennt! Ein altes Sprichwort ... Da ist ja der Bakel mit seiner Gesponsin!« und sie wies auf ein Paar, das eben über die Schwelle trat.

Keiner von den Anwesenden konnte sich eines Schauders erwehren; selbst Rudolf konnte sich bei all seiner Unerschrockenheit eines heimlichen Bangens nicht erwehren, als er das gräßliche Gesicht dieses Hünen von Räuber erblickte. Es war von bläulichen Narben der Kreuz und Quere zersetzt; durch das Vitriol waren die Lippen dick aufgetrieben, die Nase war quer durchschnitten so daß an ihrer Stelle bloß zwei häßliche Löcher sichtbar waren. Ueber ihnen funkelten zwei hellgraue, kleine, runde Augen wie ein Paar Luchsaugen. Eine flache, tigerartige Stirn war über die Hälfte verdeckt von einer fuchsroten, langhaarigen Pelzmütze.

Bakel war nur weniges über fünf Fuß hoch. Sein übermäßig dicker Kopf steckte zwischen breiten, mächtigen Schultern. Lange, muskulöse Arme, kurze, bis an die Fingerspitzen behaarte Hände und auswärts gebogene Beine vollendeten die Häßlichkeit dieses Menschen. – Das Weib, das an seiner Seite die Kaschemme betrat, war schon alt, ziemlich reinlich gekleidet, hatte ein grünes, rundes Auge, eine Hakennase, schmale Lippen, vorspringendes Kinn und ein Gesicht von maßloser Bosheit und Pfiffigkeit. Es weckte unwillkürlich die Erinnerung an das einer Eule. Rudolf sah sie scharf von der Seite an. Mit stummem Entsetzen hatte die Schalldirne dies Weib gesehen. Zitternd vor Angst rückte sie zu Rudolf und flüsterte: »Die Eule! – Mein Jesus! die Eule! Die Einäugige!«

Bakel trat an den Tisch, an dem Rudolf mit der Schalldirne und Schüri im Gespräch saßen, und mit rauher, hohler Stimme, die wie ein Tigergeheul sich anhörte, sagte er zu dem Mädchen: »Heda, Blondchen, laß die beiden allein mit sich fertig werden und rück zu mir heran!« –

Das Mädchen gab keine Antwort, sondern rückte noch näher an Rudolf heran. Die Zähne schlugen ihr vor Angst aufeinander ... »Ich – ich werde nicht eifersüchtig werden«, sagte die Eule, indem sie das Gesicht zu einer schrecklichen Fratze verzog. Noch hatte sie ihr einstiges Opfer, »den Balg«, nicht wiedererkannt. – »Na, Dirndl«, rief der schreckliche Mensch, »hast keine Ohren? He?« Und er trat ihr um einen Schritt näher ... »Kommst Du nicht gutwillig, so schlag ich dir ein Auge aus dem Kopfe, daß du aussehen sollst wie meine Eule hier. Und du, Schlankerl mit dem schneidigen Schnauzer, langst du mir die Dirne nicht auf der Stelle über den Tisch herüber, so kriegst du es mit mir zu tun!« Die Hände vor das Gesicht schlagend, rief das Mädchen: »Ach Gott, Herr Rudolf, schützen Sie mich! Schützen Sie mich!« – »Nur ruhig, Kind, nur ruhig!« versetzte Rudolf, dem häßlichen Kerl unerschrocken in die Augen starrend; »wenn dir der Mensch da so zuwider ist, werde ich ihn zum Tempel hinausschmeißen.«

Bakel maß Rudolf mit einem Blicke maßloser Verachtung ... »Du?« fragte er, den Ton langziehend. – »Ja, ich«, versetzte Rudolf und stand, der Bemühungen des Mädchens, ihn zurückzuhalten, nicht achtend, vom Tische auf.

Bei dem schrecklichen Ausdruck, den Rudolfs Gesicht annahm, wich Bakel unwillkürlich einen Schritt zurück; auch dem Mädchen und dem Schuri fiel der maßlose Ausdruck von Wut und Bosheit auf der Stelle auf, der die edeln Züge ihres jungen Gefährten plötzlich entstellte, und ihn ganz unkenntlich machte. Beim Kampfe mit Schuri hatte er nur Spott und Hohn gezeigt; Bakel gegenüber schien ihn jedoch ein so wilder Haß zu packen, daß ihm die Pupillen schier aus den Höhlen traten. Rudolf besaß jenen magnetischen, durchdringenden Blick, der Entsetzen erregt und jeden, auf den er sich richtet, fasziniert, so daß er den Blick nicht abwenden kann. Bakel zitterte, wich einen weiteren Schritt zurück und fuhr mit der Hand unter die Bluse. Er hatte das Vertrauen zu seiner Stärke verloren und suchte Hilfe bei seinem Dolche ... Wahrscheinlich hätte ein Mord die Kaschemme mit Blut getränkt, wäre die Eule nicht Bakel in den Arm gefallen ...

»Eine Sekunde, Mörderchen! Eine Sekunde! Die bei ihm sitzt, ist, weiß der Teufel! mein Balg, meine Jöhre, die mir Gerstenzucker mauste, statt ihn zu verkaufen! ... Luderchen! Wo hast du denn gesteckt die lange Zeit über? Na, siehst, du kommst mir doch immer unter die Finger, Kröte! Aber ängstige dich weiter nicht. Einen Zahn werde ich dir ja nicht wieder ausreißen, aber Tränen will ich dir aus deinen schönen Augen locken, daß sie grün und blau werden sollen. Und schwarz ärgern sollst du dich über mich! Denk dir, Jöhre, jetzt weiß ich, wer dich in die Welt gesetzt hat. Im Bagno hat Bakel den Kerl getroffen, der dich zu mir brachte, als du noch ein ganz klein Püppchen warst. Denk dir nur, Jöhre, Vater und Mutter von Dir sind reiche Leute.« – »Was? Ihr kennt meine Eltern?« rief das Mädchen. – »Ja, mein Mann weiß, wer deine Mutter ist. Aber ehe ich leide, daß ers dir sagt, reiß ich ihm die Zunge aus. Er ist erst gestern noch mit dem zusammen gewesen, der dich zu mir brachte. Erst warst du bei seiner Frau, aber sie bekam kein Geld mehr für dich. Deine Mama hat sich nämlich nicht viel aus dir gemacht. Die hätts am liebsten gesehen, du wärest schnell gestorben. Aber der Mann, der dich zu mir gebracht hat, hat alle Ausweise über dich, sogar Briefe von deiner Mutter, und wenn er davon keinen Gebrauch macht, na, so hat er seine guten Gründe dazu. Aber flenne, soviel du willst, wer deine Mutter ist, erfährst du ganz sicher nicht.«

»Besser auch«, sagte das Mädchen, eine Träne aus den Augen wischend, »meine Mutter hält mich für tot.«

Rudolf hatte Bakel ganz vergessen über den Reden der Frau, und Bakel, als er sich nicht mehr unter der faszinierenden Gewalt von Rudolfs Blicken befand, war der Schwäche, die ihn befallen hatte, wieder Herr geworden. Daß der schmächtige Mensch daran denken könnte, sich mit ihm im Kampfe zu messen, wollte ihm nicht in den Sinn kommen, und im Vertrauen auf seine Riesenkraft trat er wieder zu dem Mädchen und rief der Eule grob zu: »Genug nun mit den Reden! Wenn du nicht herkommst, Mädel, dann zerfetze ich deinem jungen Laffen seine Fratze, damit ich dir noch schöner vorkomme, als er.«

Mit einem einzigen Satze war Rudolf über den Tisch hinüber. Bakel stellte sich in Fechtpositur, den Oberkörper zurückgeneigt und die beiden Arme vor sich hinstreckend, während er sich auf das eine seiner wuchtigen Beine wie auf einen Pfeiler stützte. Eben als Rudolf sich über ihn herstürzen wollte, ging die Tür der Kaschemme auf, und der Kohlenträger, ein Mann von fast sechs Fuß Höhe, trat rasch herein, schob den Meister Bakel beiseite, trat zu Rudolf heran und sagte diesem auf englisch ins Ohr: »Gnädiger Herr! Tom und Sarah warten am Ende der Straße.« – Rudolf machte, als er die Worte hörte, eine zornige Bewegung und warf einen Louisdor auf den Tisch. Dann rannte er zur Tür hin. Bakel wollte sich Rudolf in den Weg stellen. Rudolf aber versetzte ihm ein paar Faustschläge ins Gesicht, daß ihm Hören und Sehen verging. Wie betäubt wankte er zurück und stürzte mit halbem Leibe über den Tisch hin. Minuten vergingen, bis er sich wieder fassen konnte. Als er aber Rudolf hinter her rannte, war derselbe mit dem Kohlenträger schon im Straßengewirr verschwunden. Von der anderen Straßenseite her traten zwei Männer in die Kaschemme, fast außer Atem, wie von langem und schnellem Laufe. Als Bakel zurückkehrte, sah er noch, wie sich die beiden Männer in der Kaschemme verblüfft umsahen. Dann sagte der eine: »Gräßlich! Gräßlich! Abermals ist er uns entgangen« – »Geduld, Geduld!« sagte der andere, »jeder Tag ist vierundzwanzig Stunden lang, und ein Menschenleben währet, wenn auch nicht ewiglich, doch lange genug, um eine gestellte Aufgabe zu erfüllen.« Die beiden Männer redeten in englischer Zunge.

Sechstes Kapitel: Tom und Sarah

Der eine der beiden Männer, die einer weit höheren Klasse angehörten, als die in der Kaschemme verkehrten, war groß und lang, hatte fast weißes Haar, aber schwarze Brauen und schwarzen Backenbart, dazu ein knochiges Gesicht und ein strenges, hartes Aussehen. An dem runden Hute, den er in der Hand hielt, war ein schwarzer Flor befestigt. Sein langer, schwarzer Rock war bis unter das Kinn zugeknöpft. Ueber engen braunen Tuchhosen trug er lange Stiefel. An Haltung, Wuchs und zartem Körperbau erkannte man leicht eine Dame in Männertracht.

»Tom,« sagte Sarah auf englisch, »fordern Sie etwas zu trinken und erkundigen Sie sich bei den Leuten nach ihm!« – »Jawohl, Sarah«, versetzte der Mann mit dem weißen Haar und den schwarzen Brauen. In fast reinem Französisch ersuchte er sodann die Wirtin um einen guten Trunk.

Der Eintritt der beiden Personen hatte in der Gaststube großes Aufsehen erregt, ließen doch ihre Kleidung und ihr Auftreten sofort erkennen, daß sie gemeinhin nicht an solchen Orten verkehrten, während anderseits ihre unruhigen, besorgten Mienen mutmaßen liehen, daß sie durch wichtige Gründe hierher geführt worden waren. Schürt, Bakel und Eule ließen keinen Blick von ihnen. Das unter dem Namen Schalldirne dem Leser bekannte Mädchen, erschreckt durch die Begegnung mit der Eule, wie durch die Drohungen Bakels, sie mit sich zu nehmen, hatte die Zeit wahrgenommen, um unbemerkt durch die halboffene Tür zu verschwinden. – Die Wirtin stellte eine Flasche auf den Tisch. Tom warf ein Hundertsousstück auf den Tisch, weigerte sich, das Geld zu nehmen, das ihm die Wirtin darauf herausgeben wollte und forderte statt dessen Mutter Ponisse auf, sich zu ihnen zu setzen. – »Sehr freundlich, mein Herr, sehr freundlich«, antwortete die Wirtin, einen verwunderten Blick auf Tom heftend. – »Geben Sie mir, bitte, Bescheid, liebe Frau«, erwiderte Tom, »auf eine Frage: wir wollten hier einen Bekannten treffen, einen großen, schmächtigen Herrn, der einen Schnurrbart trägt wie ich.« – »Ach, das ist doch der Herr, der eben noch hier gesessen hat«, sagte die Wirtin; »ein Kohlenträger rief ihn eben heraus, und mit ihm ist er fortgegangen.« – »Gewiß, die beiden sind es«, sagte Tom. – »Waren sie allein hier?« fragte Sarah. – »Der Kohlenträger war nicht mit in der Stube. Der Mann, den Sie mir beschrieben haben, saß hier mit einem Mann und einem Mädel, die bei uns die Namen Schalldirne und Schürmann führen.« Dabei zeigte die Wirtin auf den letzteren, während sie sich nach dem Mädchen vergeblich umsah. Tom und Sarah sahen sich nach Schuri um.

»Kennen Sie den Mann?« fragte Sarah ihren Begleiter, als sie ihn ein paar Minuten lang aufmerksam gemustert hatten. – »Nein. Karl hatte Rudolfs Spur am Eingange zu diesem Gassenlabyrinth verloren; als er aber Murph um diese Spelunke in seiner Kohlenträger-Maske schleichen und in einemfort durch die Fenster lugen sah, merkte er, daß wir wieder die Fährte gefunden hätten, und stattete sofort Bericht ab.«

Während zwischen diesen beiden Personen in dieser Weise leise gesprochen wurde, gab es zwischen Bakel und der Eule eine andere Zwiesprach. »Der große, magere Musje hat der Wirtin hundert Sous hingeworfen. Es ist bald Mitternacht. Draußen regnets und stürmts. Wenn sie Weggehen, schleichen wir ihnen nach. Ich packe den Wicht von hinten und nehm ihm sein Geld ab. Er hat ein Weibsbild bei sich. Da wird er keinen Lärm schlagen.« – »Und sollte sie welchen schlagen wollen«, fügte die Einäugige bei, »dann zieh ich mein Vitriolfläschchen aus der Tasche und zerschlag ihr auf ihrer Fratze.« Dann verzog sie ihr Gesicht in schreckliche Falten. »Du, Mörderchen«, fuhr sie fort, »das aber versprichst du mir, hörst du? Wenn uns der Balg noch einmal vor die Augen kommt, dann packen wir sie und schleifen sie mit.« Auch ihre Fratze will ich ölen, damit sie sich nichts mehr drauf einbilden kann.« – »Du, Eule«, erwiderte Bakel, »soviel sage ich dir, du wirst noch meine Kalle vor Gott und dem Pfaffen, denn deine Ideen und deine Courage suchen ihresgleichen. Du arbeitest geschickter als alle Männer, die ich kenne.«

Da wandte Tom sich an Schuri. »Sagt mal, Freund, wir wollten uns hier mit einem guten Bekannten treffen. Mit Euch hat er hier zu Nacht gegessen. Ihr müßt ihn doch also kennen. Sagt uns doch, wohin er sich von hier begeben hat.« – »Ich kenne den, nach dem Ihr fragt, bloß von den Prügeln her, die er mir vor etwa zwei Stunden verabfolgt hat, als ich einem Mädel ein paar verabfolgen wollte.« – »Und vorher hattet Ihr ihn nicht gesehen?« – »Mit keinem Blicke. Wir trafen uns in dem Hausflur von Rotarms Bude.« – »Frau Wirtin«, rief Tom, »noch eine Flasche von Ihrem Besten!« Dann stand er auf und setzte sich mit Sarah neben Schuri, dem solche Aufmerksamkeit ebenso sehr schmeichelte wie verwunderte. »Ihr habt den Mann, sagt Ihr, vor Rotarms Hause getroffen?« fragte Tom den Schurimann weiter. – »Ja, doch«, versetzte dieser, sein Glas austrinkend. – »Rotarm? Rotarm?« sagte Tom, »ein wunderlicher Name!« – »Auch ein sonderbarer Kerl in unserer Gesellschaft. Einer, der Meiches bekaspert.« – »Das verstehe ich nicht«, sagte Tom ärgerlich; »was meint Ihr mit dem Kauderwelsch?« – »Wie es scheint, sind Sie des Jenischen nicht mächtig?« erwiderte Schuri, »er schmuggelt, heißts, hintergeht Zoll und Steuer. Aber Ihr Freund versteht Jenisch wie ein Alter, trotzdem er sagt, daß er Fächermaler sei, also ein anständiges Gewerbe treibt. Der Notarm, wie gesagt, ist ein Schmuggler. Ich verrate ihn nicht, man brauchts auch nicht, macht er doch selbst gar kein Hehl daraus. Und kriegen kann ihn doch kein Polizist und Gendarm.« – »Was mag Rudolf bei solchem Menschen zu suchen haben?« fragte Sarah. – »Ja, danach Hab ich das Mädel fragen wollen,« erwiderte Schuri, »das bei uns die Schalldirne heißt, weil sie sehr gut singt. Sie hatte sich in Rotarms Bude geflüchtet, und ich hatte sie verfolgt. Statt nun sie zu fassen, bin ich an den Herrn Rudolf geraten, der mir sakrisch mitspielte. Mohrenelement! Kann der Kerl zuhauen! Er hat mir übrigens versprochen, mich in dieser Fertigkeit zu unterrichten.« – »Aber Rotarm«, fragte Tom wieder, »was ist das für ein Mensch?« – »Rotarm? Hm, einer, der alles verkauft, was nicht verkauft werden soll, und alles macht, was nicht gemacht werden soll. Ich meine, was die Polizei zu verkaufen und zu machen verbietet. Es ist halt sein Geschäft – nicht wahr, Frau Ponisse? Wohl an zwei Dutzend Mal hat man bei ihm schon das ganze Haus durchsucht, aber gefunden noch keine Stecknadel!« – »Ja, der Rotarm ist ein gar gewiegter Wicht«, meinte die Wirtin; »wie es heißt, soll unter seinem Hause ein Gang bis zu den Katakomben hinausführen.« – »Welche Nummer hat Rotarms Haus?« – »Es liegt in der Rue des Poix und hat die Nummer 13. Bekannt ists doch in der ganzen Pariser Altstadt.« – »Danke schön! Werde mir die Adresse aufschreiben. Finden wir Herrn Rudolf nicht, dann will ich mich bei Rotarm nach ihm erkundigen,« erwiderte Tom; und während er das sagte, schlug es drüben auf dem Rathause zwölf.

Bakel und Eule verließen die Kaschemme.

Siebentes Kapitel: Das Geld oder das Leben!

Kaum waren Bakel und Eule in einem Hauseingange neben der Kaschemme verschwunden, als der Schurimann sich nach der Straßenseite hin begab, wo ein Haus im Abbruch war. Bald verlor sich der Schall seiner infolge des vielen Schnaps- und Weingenusses recht schweren Tritte im Geheul des Sturmes und in dem klatschenden Regen. Tom und Sarah kehrten sich nicht an das grause Unwetter, sondern verließen die Kaschemme, um in einer dem Wege, den Schuri eingeschlagen, entgegengesetzten Richtung sich zu entfernen ...

»Die beiden sind verloren«, flüsterte Bakel seiner Gefährtin zu, »halte dein Vitriol bereit. Achtung!« – »Laß uns die Schuhe von den Füßen ziehen!« riet die Eule. – »Hast recht, Weib, wie immer. Da hören sie uns erst im letzten Moment oder überhaupt nicht.« –

Zufolge dieser List wurde das Geräusch ihrer Schritte so matt, daß sie dicht hinter Tom und Sarah einhergehen konnten, ohne gehört zu werden.

Mit einem Male blieb Tom stehen.. »Ich habe mich in der Straße geirrt«, sagte er, »wir hätten links vom Gasthause gehen müssen, an einem im Abbruch befindlichen Hause vorbei. Dort hält unsere Droschke. Jetzt bleibt uns weiter nichts übrig, als umzukehren.« Bakel und Eule schlüpften, um nicht gesehen zu werden, hinter eine Hausecke.

Tom und Sarah gingen bis zur Kaschemme zurück und auf der entgegengesetzten Seite weiter, bis sie vor das im Abbruch befindliche Haus gelangten, dessen Keller eine Art Abgrund bildeten, an welchem sich der Weg entlangzog.

Mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Tigers sprang nun Bakel auf Tom zu, packte ihn an der Gurgel und rief ihm zu: »Dein Geld her, oder ich schmeiße dich ins Kellerloch hinunter!« Ehe Tom eine Hand rühren konnte, plünderte die Eule mit der größten Fingerfertigkeit Sarahs Taschen aus. Sarah schrie nicht, wehrte sich nicht, sondern sagte mit aller Ruhe: »Geben Sie ihm die Börse, Tom!« Und zu dem Räuber gewandt, sagte sie: »Wir machen keinen Lärm. Tut uns also nichts zu leide!« Toms Kaltblütigkeit verleugnete sich keinen Augenblick während dieses unvermuteten Ereignisses ... »Ich will einen Handel mit Euch schließen,« sagte er zu Bakel, »die Papiere in meinem Taschenbuche können Euch nichts nützen; bringt sie mir morgen wieder, und Ihr sollt 25 Louisdor bar bekommen.« »Nicht wahr? So dumm! Damit du uns den Spitzeln überantwortest!« Da mischte sich die Eule ein ... »Halt, einen Augenblick. Wir können dem Manne die Tasche vielleicht zurückgeben ... Wißt Ihr,« wendete sie sich an Tom, »wo Saint-Denis liegt?« »Ja.« »Nun, gegenüber von Saint-Ouen, da wo der chemin de la révolte aufhört, wird die Ebene ganz flach, daß man weithin über die Felder sehen kann. Kommen Sie morgen früh allein dort hin mit dem Gelde. Ich werde mit der Brieftasche da sein. Wir tauschen beides gegeneinander aus.«

»Nichts da, Eule. Der Mann läßt dich abfassen.« »Aber sei doch nicht dumm, Bakel; man kann dort doch weithin über alle Felder sehen. Wenn ich auch bloß ein Auge noch habe, so macht das nichts... Ich sehe noch immer für zwei. Kommt der Mann nicht allein, dann kriegt er mich eben nicht zu sehen.« Sarah schien auf einen Gedanken Zu kommen. »Habt Ihr«, wandte sie sich an Bakel, »den Mann in dem Gasthause gesehen, der vom Kohlenträger herausgerufen wurde?« »Ein schlanker Mensch mit Schnurrbart? O ja, wollt' ihn doch gerade bläuen, bekam aber von ihm ein paar Fausthiebe, daß ich hintenüber kippte. So etwas ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert! Aber heimzahlen werd ichs ihm. Wer mir tausend Franks gibt, dem versprech ich, ihn um die Ecke zu bringen.«

»Sarah!« rief Tom, außer sich vor Entsetzen. »Mensch,« sagte Sarah Zu Bakel, »davon ist ja gar keine Rede.« »Und wovon denn?« fragte Bakel. »Sei morgen auf der Ebene von Saint-Denis, dort, wo deine Gefährtin sein will. Dort wirst du meinen Begleiter treffen. Er wird allein dasein und wird dir sagen, was du tun sollst, um tausend Franks zu verdienen. Nein,« setzte sie hinzu, »nicht tausend, sondern zweitausend, sobald es dir gelingt, die Aufgabe, die mein Begleiter dir stellen wird, zur Zufriedenheit zu lösen.«

»Mörderchen«, sagte die Eule leise zu Bakel, »hier ist Geld zu verdienen. Es sind Leute, die Moos haben, aber gegen einen Feind einen Streich ausüben wollen. Der junge Fant ist ihr Feind, und gegen den sollst du was unternehmen. Zweitausend Franks, Bakel, das lohnt doch einiger Mühe.« »Meine Frau wird kommen«, sagte Bakel, »ihr können Sie sagen, was gemacht werden soll. Ich wills mir überlegen.« »Einverstanden. Also morgen früh Punkt sechs.« »Sie sollen das Geld für die Brieftasche haben, und eine Anzahlung auf das, was wir weiter von Euch wollen.« »Gut! Nun aber gehen Sie rechts, wir gehen links, und – lassen Sie uns ungeschoren, verstanden? Sonst ...«

Bakel und Eule entfernten sich geschwind. Aber ungesehen von irgend einem der an diesem Auftritt beteiligten Personen war ein Mann Zeuge desselben gewesen, und zwar kein anderer als der Schuri, der hinter einem Schutthaufen Schutz vor dem prasselnden Regen gesucht hatte. Was Sarah Bakeln über Rudolf gesagt hatte, fesselte seine Aufmerksamkeit im höchsten Maße, denn die Gefahren, die jetzt seinem neuen Freunde drohten, beängstigten ihn, und er beklagte lebhaft, nichts zu seinem Schutze tun zu können, denn wie und wo sollte er Rudolf finden? Die Wohnung, die ihm der Fächermaler genannt, hatte er ja im Weinrausche schon längst vergessen. Nun, es blieb ihm weiter nichts übrig, als abzuwarten, ob Rudolf den Weg zur Kaschemme wiederfinden werde.

Unwillkürlich war er, von seinen Gedanken beherrscht, hinter Tom und Sarah hergegangen und sah sie jetzt in einen Fiaker steigen. Flugs sprang er hintenauf. Bis um ein Uhr dauerte die Fahrt, dann hielt der Fiaker auf dem Boulevard de l'Observatoire. Dort stiegen Tom und Sarah aus, um in einem der Gäßchen zu verschwinden, die auf diese breite Straße ausmünden. Es war eine rabenfinstere Nacht. Es war dem Schurimann nicht möglich, sich irgend ein Zeichen zu suchen, an welchem sich die Stelle hätte wiedererkennen lassen, wo das Paar verschwunden war. Mit dem Scharfsinn eines Indianers zog er sein Messer aus der Tasche und schnitt in einen der Bäume, neben denen der Fiaker gehalten, eine tiefe Kerbe. Dann machte er kehrt und suchte seine urwüchsige Schlafstelle auf, von der er sich eine gar tüchtige Strecke entfernt hatte.

Achtes Kapitel: Eine Spazierfahrt

Am andern Tage strahlte die hellste Herbstsonne an dem reinen blauen Himmel. Der Sturm hatte sich gelegt. Gegen elf Uhr vormittags trat Rudolf, der entweder ein neues Zusammentreffen mit dem Paare, das ihn gesucht hatte, nicht mehr scheute oder gar nicht mehr erwartete, an die Rue des Poix und schritt auf die Kaschemme zu. Er war noch immer in seiner Arbeitertracht, aber eine gewisse Eleganz in seinem Wesen, wie allem was er auf dem Leibe trug, ließ sich nicht verkennen. Unter einer neuen, vorn offnen Bluse trug er ein rotes Wollhemd mit blanken Knöpfen. Ueber dem schwarzseidnen Tuche, das er um den Hals geschlungen hatte, guckte ein weißer Hemdkragen freundlich hervor.

Auf der Schwelle saß die Wirtin. Im Nu war sie auf den Beinen ... »Ah, junger Herr, gehorsamste Dienerin! Sie wollen doch gewiß das Geld haben, was Ihnen von den zwanzig Franks gehört, die Sie gestern mir auf den Tisch warfen? Es sind 17 Livres 10 Sous, die Sie herausbekommen. Aber ich kann vom Preise nichts herunterlassen, denn Sie haben ja vom Besten verlangt, und ich habe wirklich nichts Besseres in meinem Keller, als was ich Ihnen aufgetischt. Und nun noch eins! Es ist gestern stark nach Ihnen gefragt worden, gerade als Sie weg waren, von einem langen Herrn in sehr vornehmer Tracht und einer kleinen Dame, die aber in Männertracht ging.« »So? Die beiden Leutchen haben sich Wohl zum Schuri gesetzt und sich mit ihm unterhalten?« »Jawohl, über dies und das mögen sie gesprochen haben, ich hörte den Rotarm nennen.« »Einerlei. Deswegen komme ich nicht wieder.« »Sondern wegen Ihres Geldes – nicht wahr?« »Ja, und mit dem Mädel, das hier die Schalldirne heißt, möchte ich einen Gang in die Umgegend machen.« »Das kann nicht sein, Herr, denn sie möchte vielleicht der Weg nicht wieder zu mir herführen.« »Und warum nicht?« »Nun, was sie auf dem Leibe trägt, gehört mir, und für Essen, Trinken und Wohnen ist sie mir außerdem 220 Franks schuldig.«

Rudolf zählte 11 Louisdor auf den Schenktisch ... »Da haben Sie, was Ihnen das Mädel schuldet ... Und was bekommen Sie für die Kleider, die Ihnen gehören?« Die alte Zuchthäuslerin war so verblüfft, daß sie sich im ersten Augenblick nicht rühren konnte. »Denkst doch nicht etwa«, sagte Rudolf, als sie endlich ein Goldstück nach dem andern vom Tische aufnahm und scharf musterte, »daß ich dir falsches Geld aufhängen will? Sprich, was bekommst du für die Lumpen, die das Mädel auf dem Leibe trägt?« – Noch immer außer stande, sich zu fassen angesichts einer solchen Summe Geldes, die von einem simplen Arbeiter ihr auf den Tisch geworfen wurde, und zwischen der Bange, übervorteilt zu werden, wie der Sucht, recht viel Vorteil noch aus der günstigen Gelegenheit für sich herauszuschlagen, hin- und herschwankend, überlegte sie einen Augenblick. Dann endlich fand sie Worte und sagte: »Nun, unter hundert Franks kann ich ihr die Kleider, die sie trägt, nicht lassen.« – »Frech, Weib, frech«, rief Rudolf, »für solchen Plunder solche Summe zu begehren! Doch da hast du das Geld. Aber schnell. Schaff die Dirne zur Stelle!«

In der Meinung, der Arbeiter müsse eine Erbschaft gemacht oder einen feinen Fang getan haben, knickste sie höflich und sagte, während sich ein gemeines Lächeln über ihr Gesicht stahl: »Und warum will der schöne Herr nicht selbst zum Dirndl gehen? Wird die eine Freude haben! Hab ich doch gestern gleich gesehen, daß sie sich einen Narren an ihm gefressen hat!« – »Ich sage Euch, geht und holt sie!« rief Rudolf barsch; »sagt ihr, ich wolle mit ihr einen Ausflug aufs Land machen. Kein Wort mehr! Vor allem nichts davon, daß ich bei Euch ihre Schulden bezahlt habe.« – »Jesus! Schneiden Sie bloß nicht solches Gesicht!« rief die Frau; »der Gottseibeiuns sei denen gnädig, die mit Euch anbinden! ... Jesus! Ich gehe ja schon! Ich gehe ja schon!«

Nach Verlauf weniger Minuten kehrte sie mit dem Mädchen zurück, das tief errötete, als sie Rudolfs ansichtig wurde, und verlegen die Augen niederschlug. – »Wollen Sie einen Tag mit mir aufs Land hinausfahren?« fragte Rudolf. – »Gern, Herr«, antwortete das Mädchen, »sofern es meine Herrin erlaubt.« – »Hab nichts dawider«, erwiderte diese, worauf Rudolf, ohne weitere Worte zu machen, des Mädchens Arm nahm und mit ihm über die Schwelle schritt. Am Blumenkai wartete ein Fiaker. Rudolf forderte das Mädchen auf, einzusteigen, und rief dem Kutscher zu: »Nach Saint-Denis. Wohin du dort fahren sollst, werde ich dir später sagen.«

Der Wagen fuhr weg. An dem wolkenlosen Himmel stand die helle Herbstsonne. Durch die Wagenfenster strich die frische Luft ... Da erst sah die Sängerin, daß sie auf einem Kleidungsstücke saß ... »Was? Ein Mantelett?« rief sie. »Ja, für Sie!« erwiderte Rudolf, »damit Sie nicht frieren. Nehmen Sie es um!«

Marienblume, an derartige Zuvorkommenheit nicht gewöhnt, sah Rudolf mit Verwunderung an. Es war ihr eigentümlich zumute. Rudolf flößte ihr einerseits Furcht ein, anderseits fühlte sie sich von gewisser Traurigkeit beschlichen, ohne daß sie imstande war, sich über beide Empfindungen Rechenschaft zu geben ... »Aber, Herr Rudolf,« sagte sie, »Sie sind so lieb und nett gegen mich. Ich muß mich ja schämen.« »Schämen? Weil ich manierlich gegen Sie bin?« »O, mir kommt es so vor, als wenn Ihre Art, mit mir zu sprechen, heut eine ganz andere wäre als gestern?« »Na, welcher Rudolf hat Ihnen denn besser gefallen, der von heute oder der von gestern?« »So sehe ich Sie schon lieber, wie Sie heute sind«, sagte das Mädchen, und doch war es mir gestern, als ständen wir einander näher«; aber von Bange erfüllt, daß sie Rudolf durch diese Worte gekränkt haben könne, lenkte sie gleich wieder ein und sagte: »Wenn ich sage, Herr Rudolf, es sei mir gewesen, als hätten wir einander näher gestanden, so weiß ich doch recht gut, daß so etwas nicht sein kann ...« »Aber, Mädchen, Sie scheinen völlig zu vergessen, was Ihnen die alte Hexe gestern sagte, die Sie Eule nannten!« »Daß Sie meine Mutter kennen? O nein, das vergesse ich nicht, lieber Herr Rudolf, nein, nein! Habe ich doch die ganze Nacht darüber geweint und sinniert, aber ich glaube bestimmt, daß an der ganzen Sache kein wahres Wort ist, und daß die Eule das alles bloß ausgedacht hat, mich recht zu quälen.« »Es kann aber auch sein, daß die Eule mehr weiß, als Sie denken, Kind! wäre es Ihnen nicht recht, wenn sich Ihre Mutter wiederfände?« »Ach, Herr Rudolf, was könnte es nützen, daß ich meine Mutter fände, wenn sie doch nichts von mir hat wissen mögen? Und wenn sie mich lieb haben sollte, möchte sie sich wohl um der Schande willen, in der sie mich findet, zu Tode grämen!« – »Hat Ihre Mutter Sie geliebt, so wird sie Ihnen auch verzeihen und wird Sie auch lieben. Und wenn sie sieht, in welches Elend ihre Lieblosigkeit Sie gebracht hat, wird sie sich selbst schämen müssen, und das wird Rache genug für Sie sein.«

In diesem Augenblicke fuhr der Wagen an der Stelle vor, wo sich die Straße von Saint-Denis mit chemin de la révolte schneidet. Trotzdem die Gegend an landschaftlicher Schönheit kaum etwas aufzuweisen hatte, war Marienblümchen so außer sich vor Freude, daß sich ihr allerliebstes Gesicht schier verklärte. In die Hände klatschend, beugte sie sich zum Wagenschlage hinaus und sagte: »Herr Rudolf, ach! wie glücklich ich mich fühle! Gras und Felder! Ach, wenn ich aussteigen dürfte? Wie gern ich auf den Wiesen herumlaufen möchte!« – »Dann gut, mein Kind! Wir wollen ein bißchen draußen auf und ab gehen. Kutscher, halten Sie doch!«

Die Freude des Mädchens und die Weise, wie sie sich zum Ausdrucke brachte, zu schildern, will ich nicht versuchen. Der Leser und die Leserin möge sich vorstellen, mit welcher Lust ein Vögelchen die freie Luft begrüßt, das lange in einem engen Käfige geschmachtet hat. Bald lief sie, bald sprang sie, bald bückte sie sich, um einige Blümchen am Wegrande zu pflücken, bald blieb sie ermattet stehen, um Atem zu schöpfen, oder setzte sich auf einen Stamm neben einem tiefen Bache, seinem leisen Gemurmel lauschend. Der durchscheinende weiße Teint bekam eine frischere Farbe. Ihre großen blauen Augen leuchteten in mildem Glanz; ihr rosiger Mund zeigte zwei Reihen glitzernder Perlen, ihr Busen wogte unter dem alten Schaltuche, das sie um hatte, und während sie die eine Hand aufs Herz legte, es zu beruhigen, reichte sie mit der andern Rudolf den Feld- und Waldblumenstrauß, den sie gepflückt hatte.

Ein seltsames Ereignis sollte die Freude des Mädchens jäh vernichten.

Neuntes Kapitel: Aus Leid in Freud!

Marienblümchen saß noch auf dem Baumstamm am Bachrande. Mit einem Male tauchte hinter einem Weidenstrauche eine Mannesgestalt auf, und ein wildes Lachen erklang. Das Mädchen drehte sich erschrocken um. Der Schurimann war es, der gelacht hatte. Das Mädchen flüchtete sich wie ein scheues Reh zu ihrem Beschützer. – »Aengstige dich nicht, mein Töchterchen«, rief er ihr nach, »es trifft sich ja schnurrig, daß wir einander auch hier treffen! Aber, Herr Rudolf – man mag sagen, was man will, über uns liegt doch etwas, da oben in dem blauen Dunste über uns, was uns lenkt und leitet – mögen es die Menschen Gott nennen oder Schicksal, einerlei! Es ist, wie wenn es dem Menschen sagen möchte: Geh, wie ich dich führe! Und hierher hat es Sie getrieben, als es mich hertrieb ... Wunderbar, wunderbar, was man nicht alles erlebt!«

»Und was treibst du hier?« fragte Rudolf, aufs höchste verwundert. »Das sollen Sie gleich erfahren! Aber sagen Sie mir zuerst, wie spät ists jetzt?« – »Halb eins«, sagte Rudolf, nach einem Blick auf seine Uhr. »Schön! Dann haben wir noch Zeit. Die Eule wird in einer halben Stunde da sein.« »Die Eule!« riefen Rudolf und Marienblümchen wie aus einem Munde. »Jawohl, die Eule!« sagte Schuri, »und was passiert ist, läßt sich mit zwei Worten sagen: Gestern, als Sie das Wirtshaus verlassen hatten, kamen ...«

»Ein großer Mann und eine Dame in Männerkleidern?« fiel Rudolf ihm ins Wort, »nicht wahr? Die haben nach mir gefragt. Ich weiß es schon. Dann?« »Dann haben sie mich mit Wein traktiert und mich über Sie ausfragen wollen. Aber wenn ich auch was von Ihnen gewußt hätte – was ja doch nicht der Fall ist – so hätte ich doch nichts über Sie gesagt. Meister Rudolf, nachdem Sie mich bezwungen, halten wir zusammen auf Leben und Tod. Wenn ich weiß, warum ich gegen Sie anhänglich bin, soll mich der Teufel holen. Aber es ist schnuppe. Ich kann nicht anders. Ich frage nicht mehr, wie es zugeht. Es ist nun mal so, und damit basta!«

»Mir solls recht sein. Aber fahre nun fort!«

»Der Lange und die Kleine in Männertracht gingen weg, als sie sahen, daß aus mir nichts herauszuholen sei. Ich ging auch weg, die beiden in der Richtung nach dem Justizpalaste, ich in der Richtung nach der Notre-Dame-Kirche. Am Ende der Straße angelangt, kam mir der Regen zu derb über den Hals, so daß ich es vorzog, in ein im Abbruch befindliches Haus einzutreten. Dort kletterte ich in eine Art Keller hinunter, wo ich im Trocknen stand, legte mich platt auf die Erde und wollte eben einschlafen. Da weckte mich Lärm. Ich hörte die Stimme vom Schulmeister, der ganz kordial sich mit einem andern Manne unterhielt. Mohrenelement! denke ich. Was hat der vor? Und im andern Augenblick erkannte ich die Stimme des langen Kerls und der kleinen Mamsell. Die drei besprachen sich, am Tage drauf sich hier zu treffen.« »Das wäre also heute?« fiel ihm Rudolf ins Wort. »Ja, heut um eins.« »Also jetzt?« »Ja.« »Und wo?« »Dort, wo der Weg von Saint-Denis sich mit dem chemin de la révolte schneidet.« »Also hier?«

»Jesus!« rief das Mädchen, »Bakel will herkommen? Ach, Herr Rudolf, vor ihm nehmen Sie sich in acht!« »Sei ruhig, mein Kind, sei ruhig!« sagte Rudolf, sie tröstend; »er soll ja nicht kommen, sondern bloß die Eule! Aber – wie ist der Mann zu den beiden Elenden gekommen?« fragte Rudolf. »Ja, das kann ich nicht sagen Meister. Ich bin vielleicht erst munter geworden, als die Verabredung schon getroffen war, denn der Lange redete von einem Taschenbuche, das er wiederhaben wolle, und das die Eule gegen eine Zahlung von 500 Franks ihm übergeben solle. Ich vermute, Bakel hatte den Langen zuerst bemaust, und dann haben sie ihn – » »Herr Rudolf, es schreckt mich um ihretwillen«, sagte das Mädchen. »Aber, Mädel«, sagte Schuri, »der Herr Rudolf ist doch kein Kind! Freilich, wie du sagst, im Werke kann ja was gegen ihn sein, und aus dem Grunde bin ich hier.« »Erzähl weiter!« sagte Rudolf. »Der Lange und die Kleine haben dem Schulmeister 2000 Franks versprochen, wenn er was vollbringt. Was es aber ist, das er vollbringen soll, weiß ich nicht. Nur soviel habe ich gehört, daß die Eule die Brieftasche herbringen soll, und daß ihr hier gesagt werden soll, um was es sich handelt. Bakel soll dann alles Weitere verrichten.« »Zweitausend Franks um Ihretwillen, Herr Rudolf? Für mich gäbe doch kein Mensch hundert Sous ... Aber, Herr Rudolf! Was müssen Sie für ein Herr sein!« »Nun, Kind! Das wirst du bald erfahren«, antwortete Rudolf. »Abgemacht, Herr Rudolf! Als die beiden Personen sich entfernt hatten, kletterte ich aus meinem Kellerloch und schlich ihnen nach. An der Notre-Dame stiegen sie in einen Fiaker, ich sprang hintenauf, und so kamen wir auf den Boulevard de l'Observatoire. Dort wars finster wie in einem Backofen. Nicht Handbreit zu sehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als in einen Baum eine Kerbe zu schneiden, damit ich mich am anderen Tage wieder herfinden könne. Heut morgen bin ich wieder hingegangen, und habe zehn Schritte von dem Baume ein Gäßchen gesehen, durch ein Gitter abgesperrt, und da in dem Erdreiche noch große und kleine Tapsen zu sehen waren, habe ich angenommen, daß die beiden Personen in dem Hause wohnen.«

»Vielen Dank, Kamerad«, sagte Rudolf, »du hast mir da einen recht großen Dienst erwiesen ...« »Bitte, bitte, Herr Rudolf, hat gar nichts zu sagen, wenn ichs mir auch gedacht habe, daß es der Fall sein werde, und wenn ich es auch aus keinem andern als diesem Grunde getan habe.« »Ich weiß es, mein Lieber, kann dir aber nicht anders als durch Worte danken. Bin eben auch bloß ein armer Schlucker von Arbeiter, und wenn nun, wie du sagst, um meinetwillen 2000 Franks geopfert werden, so weiß ich nicht, was ich davon halten soll, es müßte sich gerade um eine Erfindung von mir handeln, das Elfenbein, das wir zu den Fächerstäbchen brauchen, mit Maschine zu schneiden. Aber die Erfindung ist nicht mein alleiniges Eigentum. Um das Verfahren im großen auszuüben, bin ich auf einen Freund angewiesen. Wahrscheinlich will man sich des Modells von der Maschine zu bemächtigen suchen, das bei mir liegt. Durch meine Erfindung ist freilich eine Stange Gold zu verdienen.«

»Der Lange und der Kleine sind also ..« – »Fabrikanten jedenfalls, bei denen ich in Arbeit stehe«, erwiderte Rudolf, »und die ich über meine Erfindung nicht habe unterrichten wollen.« – Da dem andern, mit dessen Verstand es nicht weit her war, wenn es sich um Entwirrung von Komplikationen handelte, diese Erklärung genügte, fragte ihn Rudolf, was er nun hier vorhabe?

»Auf die Eule habe ich gewartet, die doch sicher zuerst an Ort und Stelle ist, und in der Absicht, zu erlauschen, was sie zu dem Langen sagen wird, weil ich mir nämlich gedacht habe, daß Ihnen das würde nützen können. Für die Zusammenkunft ist eine Stelle bestimmt worden, bloß, ein paar Schritte von hier entfernt, dort, wo sich die beiden Wege kreuzen. Von hier aus kann man ja die Ebene weithin übersehen, so daß es einem nicht entgehen kann, wer alles herkommt. Falls ich von der Unterredung nichts hören sollte, falle ich über die Eule her, zahle ihr die Gebühren aus, die ihr das Mädel noch für den ausgerissenen Zahn schuldig ist, und würge sie so lange, bis sie mir den Namen der Eltern des armen Kindes nennt ... Was meinen Sie zu diesem Plane, Herr Rudolf?« – »O, er will mir schon gefallen, aber das Mädchen an der alten Hexe zu rächen, gäbs noch ein besseres Mittel, das ich dir später sagen will. Vorderhand möchte ich wissen, ob du mir einen wirklichen Dienst erzeigen willst?« –

»Nun, heraus mit der Sprache, Herr Rudolf!« – »Kennt dich die Eule?« – »Nein. Ich Hab sie zum ersten Male gestern in der Kaschemme gesehen.« – »Nun, so meine ich: du versteckst dich, kommst aber, wenn sie ganz nahe ist, aus deinem Loche heraus und siehst zu, daß du sie daran verhindern kannst, mit dem Langen zu reden. Wenn er sieht, daß sie nicht allein ist, wird er sich nicht herangetrauen, und sollte er dennoch kommen, so weichst du nicht von ihrer Seite. Auf diese Weise wird er ihr nicht mitteilen können, was er von ihr will.«

»Wenn der Mann Späne macht, nun, dann weiß ich, wie ich mich zu verhalten habe, denn er ist weder ein Bakel, noch ein Herr Rudolf ...« »Nun, ich kenne den Mann, mein Lieber, und kann dir versichern, daß er sich nicht an dir reiben wird.« »Sollten sie ein anderes Stelldichein verabreden, so wirst du es doch erfahren, weil du nicht von ihrer Seite weichen sollst. Im übrigen vermute ich, daß deine Anwesenheit hinreichen wird, ihn in gemessener Entfernung zu halten. Und wenn der Mann nicht da ist, dann suchst du die Eule kirre zu machen.« »Ich diese alte Hexe? Lieber prügle ich mich mit Bakel!« »Still! Die Eule wird natürlich fuchswild sein, daß ihr ein so fetter Bissen entgeht. Du versicherst ihr dafür, daß dir ein noch besseres Geschäft für sie bekannt wäre, bei dem gar viel zu verdienen wäre, wenn Bakel mit von der Partie sein wollte. Du wartest, sagst du, bloß noch auf einen guten Freund, mit dem du dich auch hier hättest treffen wollen. Eine Stunde lang laß sie warten. Dann sagst du ihr, dem Freund müsse doch wohl etwas dazwischen gekommen sein, und so leid es dir tue, müßtest du sie bitten, morgen in aller Frühe zusammen mit Bakel wiederzukommen. Verstehst du?« »Gewiß, Herr Rudolf.« »Um zehn Uhr abends komm sodann an die Ecke, wo sich die Elysäischen Felder mit der Allee des Veuves schneiden.«

»Sollts eine Falle sein, Herr Rudolf, dann nehmen Sie sich ja in acht. Bakel ist ein hämischer Teufel. Sie haben ihm ein paar böse Püffe versetzt. Beim geringsten Verdacht können Sie sein Messer zwischen den Rippen fühlen. Doch jetzt kein Wort weiter! Ich sehe dort unten einen weißen Punkt aufschimmern. Ich vermute, es ist die Haube des Satans. Gehen Sie! Gehen Sie! Ich krieche wieder in mein Kellerloch.« »Und heut abend in der zehnten Stunde ...« »An der Stelle, wo sich die Allee des Veuves mit den Elysäischen Feldern schneidet ... Ganz recht!«

Den letzten Teil der von den beiden Männern geführten Unterhaltung hatte Marienblümchen nicht mehr gehört, sie saß schon wieder, ihres ihr nachfolgenden Begleiters harrend, in dem Fiaker.

Zehntes Kapitel: Die Meierei

Rudolf verharrte nach dieser Unterhaltung eine Weile im ernsten Nachdenken. Das Mädchen getraute sich nicht, ihn zu stören, sondern blickte tieftraurig vor sich hin. Endlich blickte Rudolf auf und sagte, freundlich lächelnd: »Wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Es ist Ihnen gewiß nicht recht gewesen, daß Sie den Schuri hier trafen? Nicht wahr? Wir waren doch so lustig!« – »Im Gegenteil, Herr Rudolf, es ist mir recht lieb, daß wir ihn getroffen haben, kann er Ihnen doch von Nutzen sein!« – »Nun, befassen wir uns nicht weiter mit der Sache, meine Liebe! Mir sollte es schmerzlich sein, wenn ich Sie betrübt hätte, bin ich doch nur in der Absicht hierher gefahren, um Ihnen einmal einen fröhlichen Tag zu bereiten.«

Je länger das harmlose Mädchen den Blick auf das stille, lachende Landschaftsbild gerichtet hielt, das sich vor ihren Augen ausbreitete, desto heller klärte sich ihr Gesicht wieder auf ... »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »sehen Sie doch das kleine Feuer dort unten auf dem Felde. Gewiß haben dort Leute Kartoffelkräutich in Brand gesteckt. Wie der weiße Qualm aufsteigt! Und dann dort den Pflug mit den beiden Schimmeln davor! O, wenn ich ein Mann wäre, dann möchte ich nichts anderes sein als Landwirt. Es muß herrlich sein, mitten auf stillem Felde hinter dem Pfluge herzugehen, fern draußen den großen Wald zu sehen ... bei einem Wetter wie beispielsweise heute ..« »Nun, Kind, da du so artig bist«, sagte Rudolf scherzend, »wollen wir bis in die Meierei hinausfahren. Zu der Frau, die mich als Kind aufgezogen hat.« »O, wird das schön werden, Herr Rudolf! Da bekommen wir doch auch Milch?« »Natürlich, auch herrlichen Rahm, wenn Sie wollen, Butter von der besten Sorte und frische Tageseier.«

»O, will ich da vergnügt sein, Herr Rudolf!«

Aber da fiel ihr ein, daß der Tag zu Ende gehen und daß sie, wenn der Abend käme, wieder zurück in die Kaschemme werde wandern müssen, und daß ihr das schreckliche Leben nach dieser Abwechslung bloß noch schrecklicher vorkommen werde. Tief aufschluchzend bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

»Was ist Ihnen denn, Marienblume?« fragte Rudolf verwundert, »was macht Ihnen denn so tiefen Kummer?«

»Ach nichts, Herr Rudolf, nichts!« sagte sie, sich eine Träne aus den Augen wischend und ein mattes Lächeln versuchend, »seien Sie mir bloß nicht böse, daß ich betrübt bin! Es ist wirklich nichts, gar nichts ... es war bloß ein Einfall... Ich werde gleich wieder lustig sein.«

Die Wolke leichten Trübsinns, die auf der Stirn des Mädchens stand, hatte sich schnell wieder verzogen. Marienblümchen wollte die Gegenwart genießen und sich mit der Zukunft nicht befassen.

Bald sah man nun die Kirchturmspitze von Saint-Denis. Eine Weile hatten sie still nebeneinander gesessen, Dann fragte Rudolf plötzlich das Mädchen: »Marienblume! Haben Sie schon einmal einen Mann lieb gehabt?« »Noch nie in meinem Leben, Herr Rudolf!« erwiderte das Mädchen, zur Beteuerung die Hand aufs Herz legend. »Und warum noch nie?« »Sie haben doch die Menschen gesehen, die das Haus meiner Dienstherrin besuchen? Und um jemand sein Herz zu schenken, darf noch kein Makel auf einem haften.« »Und haftet denn auf dir ein Makel?«

»Ich kenne doch meine Eltern nicht einmal, Herr Rudolf«, erwiderte sie schluchzend; »ach, Herr Rudolf, wenn ich Sie bitten darf, so sprechen Sie nicht weiter hiervon!« »Es sei, mein Kind! Laß uns von anderen Dingen sprechen ... Aber weshalb schauen Sie mich so ernst an? Ihre hübschen Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Habe ich Ihnen etwa weh getan?« »Nicht doch! Nicht doch!« sagte sie, »aber Sie sind so lieb und gut zu mir, daß ich weinen muß, auch wenn ich es nicht wollte! Und dann sagen Sie auch nicht Du zu mir, wie im Wirtshause all die Menschen, die dort aus- und eingehen. Sie haben mich ja auch bloß hierher gebracht, um mir eine Freude zu machen, und wenn ich froh und lustig bin, dann zeigt auch Ihr sonst so ernstes Gesicht einen freudigen Ausdruck. Und dann haben Sie gestern für mich beinahe Ihr Leben gewagt!«

»Sie fühlen sich also heute wirklich glücklich?« fragte Rudolf. »Ich werde dies viele, viele Glück mein Leben lang nicht vergessen, Herr Rudolf! Habe ich doch nur wenig Freude gehabt auf Erden, so bescheiden ich in meinen Wünschen auch bin. Wenn ich bloß meiner Wirtin die Schuld abtragen könnte, in der ich ohne mein Verschulden bei ihr stehe, und dann soviel Geld hätte, daß ich ohne Sorgen leben könnte, bis ich Arbeit fände.«

Rudolf blickte ernst vor sich hin. Er gedachte des grausamen Schicksals, das auf dem armen Mädchen gelastet hatte; er gedachte ihrer Mutter, die vielleicht in Reichtum und Luxus lebte, vielleicht eine glänzende Rolle in der Welt spielte und geehrt, umschwärmt war ... während ihr armes Kind, ein unglückliches Mädchen, der Schande überliefert werden sollte, die Dachkammer der Eule mit der Zelle einer Besserungsanstalt, diese wieder mit der Kaschemme einer herzlosen Zuchthäuslerin hatte vertauschen müssen! Das betrübte Mädchen sah ihrem Begleiter in das ernste Gesicht und sagte traurig zu ihm: »Seien Sie mir nicht böse, Herr Rudolf! Solche Gedanken sollte ich eigentlich gar nicht haben! Sie nehmen mich mit aufs Land hinaus, um mir ein paar heitere Stunden zu bereiten, und ich klage Ihnen die Ohren voll. Du mein Gott! Ich weiß nicht, wie es zugeht; es kommt mir ganz von selbst in den Sinn. Glücklicher als jetzt habe ich mich ja nie im Leben gefühlt. Wo kommen bloß die Tränen her, die mir die Augen füllen? Nicht wahr, Herr Rudolf, Sie sind mir nicht böse? Sehen Sie, die Traurigkeit vergeht ja wieder, so schnell wie sie gekommen ist ..« Noch einmal blinzelte sie kräftig, um die Tränen aus den Augen zu entfernen, die sich immer wieder darin festsetzen wollten. Rudolf blickte sie mit innigem Mitleid an.

Der Fiaker hatte eben das Dorf Sarcelles passiert. Rudolf rief dem Kutscher zu, rechts abzubiegen, durch Villiers-le-Bel zu fahren und dann links immer gradeaus zu fahren ... »Nun können wir wieder Luftschlösser bauen, Marienblümchen,« sagte er, »zumal es ja keinen von uns Geld kostet.« – »Nun, da wollen wir doch einmal sehen, ob ich raten würde, was für Luftschlösser Sie sich aussuchen möchten.« – »Nun, angenommen, dieser Pfad hier führte nach einem niedlichen, seitab von der großen Heerstraße gelegenen Dörfchen ... das so recht hübsch hinter Bäumen versteckt und am Ufer eines Büchleins läge, neben einer Meierei, auf der einen Seite läge ein Obst-, auf der andern ein Gemüsegarten ..«

»Aber, Herr Rudolf, dieses kleine Dörfchen liegt ja doch vor mir, dort drüben! Sehen Sie es denn nicht?« – »Und in dem Dörfchen steht ein schmuckes Landhäuschen, unten mit einer großen Küche für die Leute, oben mit einem saubern, nett eingerichteten Eßstübchen für die Pächterin, mit grünen Jalousien vor den Fenstern, und hübschem Mobiliar ... Und die Pächterin, Kind, wäre Ihre Tante?«

»Ach, und die hätte mich lieb, so recht von Herzen lieb, Herr Rudolf«, rief das Mädchen in schwärmerischem Entzücken; »ach! wie schön muß es doch sein, von solcher Frau aufrichtig geliebt zu werden!« Sie faltete die Hände und wandte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck inniger Freude die Augen zum Himmel empor ..

»Und oben im ersten Stock«, fuhr Rudolf fort, »läge Ihr eignes Stübchen, Marienblümchen, mit zwei Fenstern, die auf Blumengarten und Wiese hinausgingen, und von wo aus Sie das kleine, muntere Bächlein sehen könnten. Und hübsch tapeziert müßte es sein und schöne Gardinen haben, ein großer Rosenstock und ein Jelängerjelieber sollten drin stehen, so daß Sie bloß die Hand auszustrecken brauchten, wenn Sie einen Blumenstrauß flechten wollten..«

»Ach, Herr Rudolf, wie schön Sie das alles auszumalen wissen! Da möchte man gern hundert Jahre alt werden, damit die Freude nie ein Ende hätte!«

Rudolfs Worte hatten sie der Wirklichkeit entrückt, aber nur auf Augenblicke, denn bald trat ihr die rauhe Wirklichkeit wieder vor die Seele... »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie haben mir doch eben recht weh getan. Einen Augenblick habe ich gemeint, im Paradiese zu sein, und nun ...« – »O, das Paradies ist kein Traum, armes Kind, sondern eitel Wirklichkeit! Da, sehen Sie!« und er zeigte auf ein schmuckes, kleines Landhäuschen... »Kutscher, halt!«

Der Fiaker hielt. Marienblümchen blickte unwillkürlich auf. Wie staunte sie! Eine Weile lang kam ihr alles wie Zauberei vor ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »wie soll ich mir das alles deuten? Es ist doch nur ein Traum? Gott! Wie mich das alles unruhig und ängstlich macht!«

»Aber, Kind, du brauchst gar keine Angst zu haben, die Pächtersfrau ist meine Amme, und in dem Häuschen bin ich auferzogen worden. Heute morgen in aller Frühe habe ich an sie geschrieben, daß ich ihr einen hübschen Besuch bringen werde, und nun bist du da, und meine gute Amme wird mir recht geben, daß ich ihr so geschrieben habe.«

Der kleine Pachthof, wohin Rudolf das Mädchen brachte, lag dicht vor dem zwei Stunden von Ecouen entfernten, unbekannten, versteckt in einem Wäldchen liegenden Dorfe Bouqueval. Kaum hielt der Wagen, als eine Frau von etwa fünfzig Jahren, in der gewöhnlichen Tracht der reichen Pächterinnen in der Pariser Umgegend, mit ernstem, fast kummervollem Gesicht auf die Schwelle trat und Rudolf mit ehrerbietiger Eilfertigkeit entgegentrat. Marienblümchen errötete tief und stieg zaudernd aus ...

»Grüß Gott, meine liebe Frau Georges«, sagte Rudolf zu der Frau, »wie Sie sehen, halte ich pünktlich Wort.« – Zu dem Kutscher sich wendend, sagte er: »Du kannst nun nach Paris zurückfahren. Da hast du dein Geld für die Fahrt!« – Der Kutscher, ein kleiner, untersetzter Mensch, der den Hut tief in die Augen hineingedrückt hatte, während der hohe Pelzkragen seines Mantels fast sein ganzes Gesicht verhüllte, steckte das Geld in die Tasche, ohne mit einem Worte zu antworten, setzte sich wieder auf den Bock, gab seinem Pferde die Peitsche und war mit Pferd und Wagen bald in der Allee verschwunden. Rudolf dachte: »Der Mann hats ja recht eilig, nach einer so langen Fahrt gleich wieder heimzukommen, kaum Zeit, sich umzusehen, und gesprochen hat er überhaupt nichts? Na, es geht ihm gewiß darum, den andern Tagesteil noch recht auszunützen.«

Da trat das Mädchen ängstlich auf ihn zu ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie schicken ja den Wagen fort? Ich muß doch heute abend wieder bei meiner Dienstherrin sein! Sie müßte mich ja sonst für eine gemeine Diebin halten! Was ich auf dem Leibe trage, gehört doch ihr, und Geld für Wohnung und Kost bin ich ihr außerdem schuldig.« »Seien Sie ganz ohne Sorge, Kind«, erwiderte Rudolf, »und lassen Sie sich sagen, daß Sie der garstigen Frau in dem Wirtshause keinen Sou mehr schuldig sind, denn ich habe – seien Sie mir aber deshalb ja nicht etwa böse – alles für Sie bezahlt, was die Frau als Ihre Schuld von mir gefordert hat. Meine liebe Frau Georges wird Ihnen andere Kleider geben, solche, wie sie sich für Sie schicken, und die Ihnen auch passen werden ... Sie sehen, als Tante entpuppt sie sich ja schon!«

Noch immer war es dem Mädchen, als ob sie träumte. Bald sah sie die Pächterin, bald Rudolf an und konnte gar nicht glauben, was sie hörte ... »Herr Rudolf,« bat sie, »seien Sie nicht unbarmherzig! Sie täuschen mich doch nicht?« »Aber, Kind«, versetzte Rudolf mit einer Stimme noch immer liebevoll, aber doch auch wieder so ernst und würdevoll, wie sie ihn noch nie gehört hatte ... »wenn es nach Ihrem Herzen ist, so können Sie hinfort hier bei Frau Georges das ruhige Stillleben führen, dessen Schilde rung Sie noch eben in so hohem Maße entzückte. Wenn die gute Frau Georges auch nicht wirklich Ihre Tante ist, so wird sie doch, wenn sie mit Ihnen bekannter ist, innigem Anteil an Ihrem Schicksal nehmen, und in den Augen der Leute hier sollen Sie nicht anders angesehen werden als die Nichte der Frau. Wenn es auch eine kleine Unwahrheit ist, die wir da begehen, so wird sie doch beitragen, Ihnen Ihre Stellung hier nicht eben unangenehmer zu machen.«

Marienblume preßte die Hände über die Brust. Dankbarkeit, Freude, Staunen, Hochachtung kamen auf ihrem schönen Antlitz zum Ausdruck, wieder traten ihr Tränen in die Augen, und voll innigen Gefühls sagte sie: »Herr Rudolf, Sie müssen vom Himmel gesandt sein, einem armen, unglücklichen Wesen, das Sie gar nicht kennen, das Sie aus Not und Schande befreien, des Guten soviel zu erweisen.« – Rudolf erwiderte mit tief melancholischem Lächeln und einem Ausdruck unsäglicher Güte auf dem Gesicht: »Du armes Kind! Auch ich habe, trotzdem ich noch jung bin, des Unglücks viel erlitten. Das mag Ihnen mein Mitgefühl mit Unglücklichen erklären. Marienblümchen, oder wie ich Sie hinfort genannt wissen möchte, Marie, gehen Sie nun mit Frau Georges ins Haus hinein! Ehe ich zurück nach Paris reise, werde ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Ich werde mein schönstes Glück mit mir nehmen, wenn ich höre, daß Sie sich hier wohl und glücklich fühlen.«

Marie gab keine Antwort, aber sie neigte das Haupt zu ihm herab, preßte einen dankbaren Kuß auf seine Hände und ging mit Frau Georges ins Haus hinein. Frau Georges betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme.

Elftes Kapitel: Murph und Rudolf

Im Hofe, wohin sich Rudolf nun begab, traf er den Hünen, der ihn tags vorher in der Verkleidung eines Kohlenträgers bis zur Kaschemme begleitet und dort von Toms und Sarahs Ankunft unterrichtet hatte. Der Mann hieß Murph und mochte in seinem fünfzigsten Lebensjahre stehen. Er hatte eine Glatze, nur an den beiden Schläfen zeigten sich noch ein paar blonde Haarbüschel, mit silbergrauen Härchen vermischt. Sein breites, ziemlich rotes Gesicht war bis auf den kurzen Backenbart von fast rötlicher Farbe glatt rasiert. Er war ziemlich beleibt, aber trotz Alter und Korpulenz noch recht rüstig und gewandt. Aus dem etwas phlegmatischen Gesicht ließ sich Wohlwollen und Entschlossenheit lesen. Murph war Engländer, als solcher aber ein echter Gentleman.

Als Rudolf in den Hof trat, schob Murph eben in die Tasche eines kleinen Reisewagens ein paar blank geputzte Pistolen. – »Wem willst du denn mit den Dingern zu Leibe?« fragte Rudolf. – »Ueberlassen Sie das mir, gnädiger Herr«, versetzte Murph grillig, vom Kutschtritt steigend; »setzen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung; ich tue es mit den meinigen.« – »Zu wann hast du die Pferde bestellt?« – »Für den Abend, wie Sie befahlen.« – »Heut morgen bist du angekommen?« – »Um acht Uhr. Frau Georges hatte genügend Zeit zu den nötigen Vorbereitungen.« – »Du bist schlechter Laune? Hast du Ursuche, dich über mich zu beklagen?« – »Ich dächte, übergenug Ursache, gnädiger Herr. Es war bis jetzt kein Kinderspiel, und der Tag wird nicht ausbleiben, an welchem Ihnen ernste Gefahr droht, an welchem Ihr Leben bedroht wird ... Müssen Sie es denn durchaus aufs Spiel setzen? Gestern abend erst wieder, um diesen Rotarm auszukundschaften, – dem ich den Teufel auf den Hals wünsche – in dieser abscheulichen Gasse von Alt-Paris, hätte wenig gefehlt, so ...« –

»Oho! Du zweifelst doch nicht etwa an meinem Mute und an meiner Leibeskraft?« – »An keinem von beiden, haben Sie doch wenigstens an hundertmal bewiesen, daß davon keine Rede sein kann! Crabb in Ramsgate hat Ihnen ja das Boxen aus dem FF beigebracht, Lacour in Paris das Stock-, und Bertrand, der berühmteste Fechtlehrer, das Hiebfechten, Lacour der Kuriosität halber auch noch das Rotwelsch oder die Gaunersprache. Sie waren ja in allem bald so weit, daß Sie Ihre Lehrmeister aus dem Felde schlugen. Sie haben Muskeln von Stahl, treffen die Schwalbe im Fluge ... das ist alles richtig ...«

Rudolf hatte mit Behagen zugehört, wie Murph sich über ihn und seine Eigenschaften ausließ, und fragte jetzt mit Lächeln: »Na, also! Weshalb bangt es dir um mich?«

»Ich wittere einen törichten Streich von Ihnen, Herr.«

»Ei, was du sagst! Na, heraus mit der Sprache, und nicht geniert!« – »Gnädiger Herr, Ihr neuer Schützling..«

»Was hast du wider ihn? Kannst du mir das bißchen Freude nicht gönnen, ein unglückliches Wesen an diesen ruhigen Ort hier zu bringen, wo sie unter Obhut der wackern Frau Georges von allem Herzeleid genesen wird?«

»Nun, was soll ich reden? Sie tun doch, was Ihnen beliebt!« – Ich tue, was mir recht dünkt,« versetzte Rudolf mit deutlichen Unzeichen von Ungeduld; »und möchte mir ausbitten, hierüber kein Wort weiter zu verlieren!« – »Ich wüßte nicht, daß Sie jemals nötig gehabt hätten, mir den Mund zu verbieten, gnädiger Herr«, versetzte Murph mit Selbstbewußtsein, »aber hoffentlich wirds auch nie notwendig werden, daß Sie mir befehlen müssen, den Mund aufzutun.« – »Murph!« rief Rudolf mit steigendem Unwillen. – »Mein gnädiger Herr!« – »Ich vertrage, wie du weißt, keinen Widerspruch, Murph!« – »Und doch kommt es mir zu, gnädiger Herr, Widerspruch zu erheben!«

»Wenn ich dich meines Vertrauens würdigte, Murph«, erwiderte Rudolf mit einem Stolz im Gesicht, der sich unmöglich in Worte kleiden läßt, »so geschah es nur unter der Bedingung, daß du niemals vergäßest, in welcher Stellung du dich bei mir befindest!«

»Ich gehe in mein fünfzigstes Jahr, Herr«, versetzte Murph, »und bin immer Gentleman gewesen. So dürfen Sie denn doch nicht mit mir sprechen!« – »Still!« – »Gnädiger Herr! Einen braven Menschen zwingen, an Dienste zu erinnern, die er geleistet hat, verträgt sich nicht mit Würde.« – »Dienste? Dienste, die du mir geleistet? Bezahle ich dich nicht höchst anständig? Habe ich jemals etwas umsonst verlangt?« Rudolf hatte mit seinen harten Worten nicht die Demütigung verbinden wollen, die Murph zum Lohndiener herabwürdigte; leider faßte aber dieser die Worte nicht anders auf. Er wurde rot vor Zorn, preßte mit schmerzlichem Unwillen beide Fäuste gegen die Stirn, heftete die Augen auf Rudolf, dessen edles Antlitz von Hochmut verunstaltet wurde, unterdrückte mit aller Gewalt einen tiefen Seufzer und blickte Rudolf mit einem Ausdruck von innigem Mitleid an ... »Gnädiger Herr«, sagte er mit bewegter Stimme, »kommen Sie wieder zu sich! Um solche Worte gegen mich zu äußern, müssen Sie entweder schrecklich aufgeregt oder Ihres vollen Verstandes nicht mächtig gewesen sein.«

Rudolfs Jähzorn stieg auf den höchsten Grad. Seine Augen flammten, aus seinen Lippen wich alle Farbe; die Faust zum Schlage erhebend, trat er auf Murph zu, der um einen Schritt zurückwich und erregt, fast wider seinen Willen, rief: »Gnädigster Herr! Bleiben Sie eingedenk des 13. Januars!« – Es war ein faszinierender Eindruck, den diese Worte auf Rudolf machten. Die Muskeln seines Gesichts spannten sich ab; unverwandt starrte er Murph an; dann ließ er das Haupt sinken und sagte leise, aber tief ergriffen: »Herr, Herr! Sie sind – grausam – und ich – ich habe geglaubt – und Sie – Sie auch!« Es war ihm nicht möglich, weiter zu sprechen, die Stimme versagte ihm. Auf eine Steinbank sinkend, schlug er beide, Hände vor das Gesicht...

»O, mein guter, guter Herr!« sprach Murph trostlos, »verzeihen Sie Ihrem alten, getreuen Murph! Ich habe die Worte ja bloß gesprochen, um Sie vor einer Handlung des Jähzorns zu bewahren. Es hat mich weder Zorn dazu gebracht, noch habe ich einen Vorwurf damit erheben wollen. Es ist geschehen wider meinen Willen, aus reinem Mitleid! Aber es war unrecht von mir, mich so weit reizen zu lassen. Darum bitte ich Sie um Verzeihung. Aber wer sollte Ihren Charakter kennen, wenn nicht ich? Habe ich doch keinen Schritt von Ihrer Seite getan seit Ihrer Kindheit! Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, daß ich an grausigen Tag erinnerte ... O, welche Buße haben Sie sich dafür selbst auferlegt!«

Rudolf richtete das Haupt wieder in die Höhe. Leichenblaß, sagte er mit milder, tiefbetrübter Stimme: »Genug, alter Freund, genug! Laß mich dir danken dafür, daß du meinen Jähzorn mit diesem einzigen Worte abkühltest! Erspare es mir, mich wegen meiner häßlichen Reden zu entschuldigen! Du weißt, der Weg vom Herzen bis zu den Lippen ist weit. Ich war ein Narr. Reden wir nicht weiter über den Fall!« – Nach einer Pause setzte er hinzu: »Murph, wie mir scheint, ist dir nicht recht, was ich für das arme Mädchen getan habe?« – »Gnädiger Herr, ich war im Unrecht.« – »Nein, ich sehe ein, der Schein war wider mich. Aber da mein ganzes Leben offen vor dir liegt wie ein Buch, und da du mir bei der Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, treu und mutig zur Seite stehst, so ist es von mir Pflicht oder, wenn du das lieber hörst, Gebot der Dankbarkeit, dich zu überzeugen, daß mich nicht Leichtsinn bestimmt, dem armen Kinde zu helfen.«

»Daß Sie Ihre Güte an Unwürdige verschwenden, gnädiger Herr, habe ich nicht gemeint ...« – »Laß dir sagen, alter Freund! Frau Georges und das arme Mädchen, das ich ihr heute zugeführt habe, sind von zwei verschiedenen Punkten ausgegangen, um in den gleichen Abgrund des Unglücks zu stürzen. Die eine war reich, glücklich, geehrt, geliebt, geschmückt mit allen Tugenden und Vorzügen des Weibes und mußte ihr Leben gebrandmarkt, vernichtet sehen durch den heuchlerischen Bösewicht, an den verblendete Eltern sie ketteten. Mit Freuden sage ich es, daß ohne mein Dazwischentreten diese ärmste aller Frauen in Not und Elend umgekommen wäre, weil sie sich schämte, jemandes Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und wer sie unterstützte, der ehrte Gott! ... Und entdeckte ich nicht auch vor einer Stunde in dem Gemüte dieses braven Mädchens Schätze von Anmut, Herzensgute und Züchtigkeit? Ja, mein alter, braver Murph! Bis zu Tränen gerührt war ich, als ich das Herz des lieben Kindes so hell und rein vor mir sah! Und dabei zeiht man mich der Blasiertheit, der Härte, der Unbeugsamkeit? Nein, nein! Dank sei dem lieben Gott, daß mir noch immer ein Herz im Busen schlägt! Weißt du auch, daß dies arme Wesen von einer Mutter geboren wurde, die zu den reichsten Familien des Landes gehört, und daß diese Mutter es verleugnet, es von sich gestoßen, dem Elend, der Schande überliefert hat, um ihren Fehltritt zu verdecken? um diese Frucht ihrer verbotenen Liebe aus der Welt zu tilgen, ohne einen Mord an dem Kinde zu begehen, dem sie das Leben gegeben? ... O, wenn es mir gelingt, diese Frau zu finden! Sie soll es schrecklich büßen, was sie an dem armen Wesen gesündigt hat! Nie habe ich solchen schrecklichen Haß im Herzen gefühlt, wie gegen sie, Murph! Und doch kenne ich sie nicht! habe sie nie mit einem Blicke gesehen. Aber du weißt, Murph, wie süß manche Rache für mich ist! welche Wonne mir Schmerzen zuweilen bereiten, wie ich dürste nach gewissen Tränen!« Murph, im tiefsten Herzen betrübt über den grimmigen, fast teuflischen Ausdruck, der sich auf Rudolfs Gesicht malte, als er diese Worte sprach, erwiderte: »O, gnädiger Herr, ich weiß es, daß wer Ihr Mitleid, Ihre Teilnahme verdiente, von Ihnen oft gesagt hat: »Er ist ein Engel!« während all die anderen, die Ihre Verachtung, Ihren Zorn, Ihren Haß auf sich luden, verzweifelt ausriefen: Er ist der lebendige Teufel!« und Ihnen geflucht: haben in Ewigkeit!«

Zweiter Teil - Erstes Kapitel: Der Abschied

Marie war, als Rudolf die Meierei verließ, kaum wiederzuerkennen in ihrem schneeweißen Musselinkleide, mit dem züchtigen Busentuch und dem schmucken Häubchen, unter dem die beiden dicken blonden Zöpfe hervorquollen, das jungfräuliche Gesicht zierlich umrahmend. Bevor er den Fuß über die Schwelle setzte, nahm er Madame Georges beiseite ... »Nun, meine liebe Frau Georges, was halten Sie von Fräulein Marie?« – »Ich sagte Ihnen schon, lieber Herr Rudolf, daß sie in meiner Stube auf die Kniee niedersank, als sie das Kruzifix erblickte, und welch tiefes religiöses Gefühl sie dabei offenbarte, das kann ich Ihnen gar nicht schildern. Ich bin aber der festen Ueberzeugung, daß ihr Gemüt noch völlig unverdorben ist. Die Art, wie sie ihre Dankbarkeit gegen Sie zum Ausdruck bringt, ist auch so natürlich, so aufrichtig, so frei von aller Ziererei, daß sich an ihrer Aufrichtigkeit durchaus nicht zweifeln läßt. Ganz verzückt wurde sie, als ich ihr sagte, daß sie hier bleiben solle, daß sie nicht wieder in das garstige Wirtshaus zurückzugehen brauche. Sie umschlang meine Kniee und bat mich, ihr eine gute Freundin, eine liebe Mutter zu sein. Das tut niemand, Herr Rudolf, dem es nicht ernst darum zu tun ist, sich jemals Liebe zu sichern. Ich habe ihr auch gesagt, daß sie immer mein Kind hinfort bleiben werde, denn ich wüßte, wie schwer sie in ihrem bisherigen Leben gelitten habe.«

»Nun, so hätte ich ja wieder einmal Gelegenheit gefunden, meine liebe Frau Georges, mich als guter Mensch zu zeigen. Ich bin ebenso überzeugt wie Sie, daß das arme Ding Ihre Teilnahme verdient, und daß Sie hier, um zu ernten, nur zu säen brauchen. Mariens Gegenwart wird Ihnen in mancher Hinsicht eine Wohltat sein, liebe Frau Georges. In gewissem Grade wird Sie die Leere in Ihrem Herzen auszufüllen vermögen.« – »Nun, ich will mich mit ihr zu befassen suchen, wie ich mit ihm mich befaßt hätte«, erwiderte die Frau mit Tränen in den Augen.

Rudolf nahm ihre Hand ... »Geben Sie noch immer nicht alle Hoffnung auf, gute Frau Georges«, sagte er, »wenn auch unsere Nachforschungen bislang ergebnislos verlaufen sind, so ändert sich hierin doch vielleicht bald einiges. Gestern habe ich einen gewissen Rotarm zu sprechen gesucht, konnte ihn aber leider noch nicht treffen. Ich vermute, daß er imstande ist, Auskunft über Ihren Sohn zu geben. Als ich den Fuß aus seinem Hause setzte, geriet ich mit einem andern Menschen in Streit, weil er dieses arme Mädchen mit Schlägen bedrohte, und so hat es sich gefügt, daß ich Ihnen Marien zuführen konnte. Vorgenommen habe ich mir ja schon lange, Einblick in die Lebensweise dieser Gattung Menschen zu gewinnen, denn ich meine bestimmt, auch dem alten Satan dort noch ein paar andere Seelen zu entreißen. Haben Sie Nachricht von Rochefort?« setzte er mit ernster Miene hinzu. – »Nein«, antwortete Frau Georges, am ganzen Leibe zitternd. – »Nun, um so besser. Der Unmensch wird den Tod in dem Schlamme gefunden haben, dem er zu entrinnen suchte. Sein Signalement ist ja in aller Leute Händen, und wenn es sich um einen solchen Bösewicht handelt, werden doch von der Polizei alle Register gezogen. Acht Wochen ist er nun freilich schon aus dem Bagno heraus ...«

Rudolf stockte unwillkürlich ... Die Frau fiel ihm ins Wort ... »O, sagen Sie es nur! Ja, vor acht Wochen ist er ausgebrochen, meines Sohnes Vater!« – Wieder erbebte die Frau am ganzen Leibe. – »O, wenn das unglückliche Kind noch lebt, wenn es seinen Namen nicht geändert haben sollte, wie ich ... o, dann welche Schmach! Welche Schmach! O, und wer weiß, vielleicht hat sein Vater gar die schlimme Drohung, die er gegen mich ausstieß, wahr gemacht?« – Sie hielt eine Weile inne, das Gesicht mit den Händen bedeckend... . »Herr Rudolf, zuweilen befällt mich eine schreckliche Angst, denn mir ist immer zu mute, als ob mein Mann gesund aus Rochefort entkommen sei und mit der Absicht sich trüge, mir nach dem Leben zu fahnden, wie er wohl auch meinen Sohn schon ermordet haben mag, denn was sollte er sonst mit ihm angefangen haben?«

»Sie sagten mir«, erwiderte Rudolf, »er habe vor fünfzehn Jahren ins Ausland fliehen wollen? Da mußte ihm freilich ein Kind in solchem Alter beschwerlich sein.« – »O, lieber Herr Rudolf, als mein Mann« – die unglückliche Frau erbebte wieder, als sie dieses Wort über die Lippen brachte – »an der Grenze verhaftet und ins Gefängnis überführt wurde, wo ich ihn sehen durfte, da rief er mir die schrecklichen Worte zu: »Dein Kind habe ich an mich genommen, weil du an ihm mit deinem Herzen hängst, und weil es mich in die Lage setzt, Geld von dir herauszupressen Dich gehts nichts an, ob es am Leben bleibt oder stirbt. Lebts, so wird es sich in den besten Händen befinden: darauf verlaß dich; stirbts, soll seine Schande über dich kommen, wie du schon seines Vaters Schande zu schleppen hast.« Vier Wochen später war mein Mann zu lebenslänglichem Bagno verurteilt. Seitdem hat all mein Schreiben, all mein Bitten nichts gefruchtet; kein Wort habe ich vernommen von dem Schicksale meines Kindes, das damals fünf Jahre alt war, und jetzt, wenn es noch lebt, in sein zwanzigstes Jahr tritt... Ach, Herr Rudolf, wo mag mein Sohn sein? was mag aus ihm geworden sein?«

»Hatte Ihr Sohn denn gar kein Zeichen an sich, woran er sich erkennen ließe?« fragte Rudolf. – »Nein, Herr Rudolf«, sagte Frau Georges, »nur den kleinen heiligen Geist, in Lapis Lazuli geschnitten, den er an einem silbernen Kettchen am Halse trug. Von meiner Mutter ererbte ich dieses vom Heiligen Vater geweihte Kleinod. Sie trug es schon als Kind und hielt es in hohen Ehren. Auch ich habe es getragen, bis ich es meinem Sohne umhängte. Und gerade dieser Talisman sollte ihm zum Verderben werden. Ach, der arme Knabe! der arme Knabe!«

»Wie kann man das sagen, liebe Frau Georges? Wie kann man zweifeln an Gottes Allmacht?« – »Ich zweifle gewiß nicht, Herr Rudolf, an Gottes Macht und Gottes Güte. Hat mich nicht seine Güte schon mit Ihnen bekannt gemacht, Herr Rudolf?« – .Wohl, wohl, meine liebe Frau Georges! Aber es hätte nur schon früher geschehen sollen! Da wäre Ihnen doch manches Jahr des Kummers erspart worden!« – »Es ist mir ja der schwerste Kummer durch Sie genommen worden, Herr Rudolf! Sie haben dies Gut für mich gekauft...« – »Und zufolge Ihrer trefflichen Verwaltung, liebe Frau Georges, bringt mir dies Gut ...« – »Aber,, Herr Rudolf,« unterbrach ihn Frau Georges, »zahle ich nicht den Pachtschilling an unsern braven Abbé Laporte? Und wird er nicht auf Ihren Wunsch an die Armen verteilt?« –

»Sie haben den lieben Mann doch von meiner Ankunft unterrichtet? Ich möchte ihm gern meinen kleinen Schützling ans Herz legen. Meinen Brief hat er doch bekommen?« – »Gleich am Morgen seines Eintreffens hat ihn Herr Murph dort abgegeben.« – ,Ich habe dem Abbé darin erzählt, wie es sich mit dem armen Mädchen verhält, weil ich noch nicht genau wußte, wie es sich mit meiner Herkunft machen würde. Hätte ich nicht kommen können, so hätte Murph das Mädchen hergebracht.« –

Ein Bauer trat in den Garten, wo sich Rudolf mit Frau Georges unterhielt, und sagte zu Frau Georges, daß der Herr Pfarrer auf sie warte. – »Sind die Postpferde zur Stelle?« fragte Rudolf. – »Eben werden sie eingespannt, Herr Rudolf«, erwiderte der Mann. – Frau Georges, der Pfarrer, sowie alle auf dem Pachthofe beschäftigten Leute kannten Mariens Beschützer unter keinem andern Namen als dem eines Herrn Rudolf. – »Was ich Ihnen noch sagen möchte, liebe Frau Georges«, nahm Rudolf wieder das Wort, als er mit der wackern Frau zum Wohnhaus zurückging, »Marie hat meines Wissens eine recht schwache Brust; es wird gut sein, einen tüchtigen Arzt zu Rate zu ziehen; Sie lassen mir doch recht oft Nachricht zukommen, wie es ihr geht? Wenn sie sich erholt hat, wollen wir uns mit ihrer Zukunft befassen. Ich meine, es wäre wohl das beste, wenn sie immer bei Ihnen bleiben könnte. Darüber läßt sich aber erst sprechen, wenn Sie sagen können, daß Sie in allen Hinsichten zufrieden mit ihr sind.«

»Das ist mein heißer Wunsch, Herr Rudolf! Ich möchte, das Mädchen könnte mir mein Kind ersetzen, das den Gegenstand meiner steten Sehnsucht bildet.« – »Hoffen wir das Beste für Sie und für Marien!«

Gerade als Rudolf mit Frau Georges sich dem Wohnhause näherte, betraten es auch Murph und Marie. Murph ging jedoch, sobald er Marien der Frau Georges übergeben, wieder aus dem Zimmer, um die Zurüstungen zur Abreise zu treffen. Am Kamine saß der weit über achtzig Jahre alte Abbé Laporte, der an dem Kirchlein schon seit der Revolution angestellt war. Sein hageres Gesicht war von weißem Haare eingerahmt, das tief auf den Kragen und auf die Soutane niederfiel. Die Hände zitterten ihm, als er sie aufhob, die Eintretenden zu segnen ... »Herr Abbé«, sagte Rudolf, indem er sich tief vor dem Greise verneigte, »Frau Georges will so gut sein, sich des armen Mädchens anzunehmen, und auch Sie, Herr Abbé, möchte ich recht bitten, ihr mit Liebe entgegenzukommen.« – »Auf unsre Liebe hat sie ein Recht wie alle, die sich uns mit Liebe nahen. »Gottes Güte ist unerschöpflich, mein liebes Mädchen, und er hat es Ihnen bewiesen dadurch, daß er Sie in den schmerzlichen Prüfungen, die er über Sie verhängte, nicht verließ, sondern schützend die Hände über Sie hielt. Der edle Mann, der Sie aus Not und Drangsal rettete, hat das Wort der Schrift erfüllt, das da heißt: Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die erhören, die ihn fürchten; er wird ihre Stimme erhören und sie erretten. – Auch an Frau Georges werden Sie ein Beispiel Seiner Güte vor Augen haben, und in mir jederzeit einen willigen Ratgeber. So wird der Herr in Seiner Güte sein Werk vollenden.«

»Und ich werde«, sagte Marie, »zu Ihm beten für die, welche Mitleid mit mir gehabt und mich wieder zu Ihm geführt haben, mein Vater«, sagte Marie, mit einer fast unwillkürlichen Bewegung vor dem Geistlichen auf die Kniee sinkend. – »Und nun leben Sie Wohl, Marie«, sagte Rudolf, ihr ein goldenes Kreuz an schwarzem Samtbande gebend; dann setzte er hinzu: »Nehmen Sie das kleine Kreuz zum Andenken an mich! Ich habe heut morgen den Tag Ihrer Befreiung und Erlösung eingravieren lassen – es wird ja nicht lange dauern, bis ich wieder herkomme ...« Murph öffnete, während Marie das Kreuz inbrünstig an die Lippen drückte, die Tür und meldete, daß die Pferde angespannt seien ... »Leben Sie Wohl, mein Vater«, sagte Rudolf zu dem Abbé, »leben Sie Wohl, meine gute Frau Georges! Ich lege Ihnen Marien ans Herz ... Und Sie, Marie! Noch einmal lebewohl!«

Zweites Kapitel: Die Zusammenkunft

Tags darauf befand sich Rudolf, noch immer in Handwerkertracht, Punkt 12 Uhr vor der Tür des Wirtshauses »Zum Bienenkörbe«, unweit vom Tore von Bercy. Abends vorher hatte Schuri sich an dem ihm von Rudolf bezeichneten Orte eingefunden. Um Mittag herum goß es in Strömen. Rudolf sah von Zeit zu Zeit ungeduldig nach dem Tore hin. Endlich sah er in der Ferne einen Mann mit einem Weibe kommen, in denen er, trotzdem sie durch einen Schirm beschattet wurden, Bakel und die Eule erkannte. Als sie näher kamen, erkannte er weiter, daß mit beiden Personen eine völlige Umwandlung vorgegangen war: der Räuber trug jetzt nicht mehr seine ärmliche Kleidung, sondern ging in langem, grünem Rock, mit blendend weißem Halstuch über einem saubern Hemd, und hatte einen braunen runden Hut auf dem Kopfe. Das Weib hatte einen großen Schal um und eine weiße Haube auf. In der Hand hielt sie einen Strickbeutel. Wären nicht beide so schrecklich anzusehen gewesen, der Mann mit dem von Vitriol verbrannten Gesicht und das Weib mit ihrem einen Auge, so hätte man sie recht gut für ehrsame Bürgersleute halten können.

Der Regen hatte momentan ausgesetzt. Rudolf ging, seinen Abscheu überwindend, dem häßlichen Paare ein paar Schritte entgegen. Bakel sprach jetzt nicht mehr Rotwelsch, sondern ein elegantes Französisch, das sich um so befremdlicher anhörte, als es einen Mann von guter Bildung verriet und von dem Wesen eines Verbrechers, als den Rudolf den Mann gestern gesehen, grell abstach. Rudolf wurde, als er Bakel gegenübertrat, mit einem tiefen Bückling von ihm begrüßt, während das Weib heuchlerisch knickste.

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Bakel, »oder vielmehr aufzufrischen«, setzte er hinzu; »aber wichtige Dinge sinds, die uns jetzt zusammenführen. Gestern abend gegen elf Uhr habe ich den Schuri in der Kaschemme gesehen und herbestellt, falls er Lust haben sollte, es mit uns zu halten; es scheint ihm aber nicht sonderlich viel daran zu liegen.« – »Sie wollen die Sache also in die Hand nehmen?« – »Jawohl, falls Sie... aber wie heißen Sie eigentlich, Herr ...« – »Rudolf ist mein Name.« – »Also, Herr Rudolf«, sagte Bakel, »wir wollen uns in die Kneipe setzen, denn ich habe noch nichts zum Frühstück gegessen und meine Frau ebensowenig. Während wir essen, läßt sich ja von den Geschäften reden.« – »Meinetwegen.« – »Nun, Entschädigung müßten Sie uns eigentlich geben«, begann der Mann, »denn Sie sind doch schuld, daß wir Zweitausend Franks eingebüßt haben. Meine Frau hatte mit dem Langen, der zuletzt in der Kaschemme nach Ihnen fragte, eine Zusammenkunft in Saint-Quen verabredet. Er wollte uns, wenn wir Arbeit für ihn verrichten wollten, zweitausend Franks auszahlen. Schuri hat mir einigermaßen erklärt, wie sich die Sache verhält; aber, Finette«, sagte der Räuber zu dem Weibe, »geh doch immer voraus und bestelle uns einen Imbiß. Wir kommen gleich nach.« Zu Rudolf gewandt, fuhr er fort: »Außerdem sollten uns 500 Franks für eine Brieftasche verabfolgt werden, wenn wir sie wieder aushändigen wollten. Aber das haben wir uns anders überlegt, nachdem wir gesehen haben, daß die Papiere mehr wert zu sein scheinen, und werden die Brieftasche nicht wieder herausrücken.« – Bei diesen Worten klopfte er auf die Brusttasche seines Rockes.

Rudolf war sehr froh, daß der Mann die Papiere noch bei sich hatte, die ihm erst zwei Tage vorher von Tom geraubt worden waren und die für ihn von sehr hohem Werte waren. Der Auftrag, den er Schuri gegeben, hatte keinen andern Zweck gehabt, als ihn dem Weibe fern zu halten. Auf diese Weise hatte er darauf gerechnet, die Brieftasche sich wieder anzueignen. – »Wir können zusammen ein Geschäft machen,« sagte er, »wenn es Ihnen recht ist. Ich kaufe Ihnen, wenn uns der Anschlag glückt, die Brieftasche ab. Die Papiere, die darin liegen, werden mir, da ich dem Eigentümer nicht fremd bin, mehr nützen als Ihnen. Ich hatte Schuri eine ganz nette Sache vorgeschlagen. Zuerst schien es ihm nicht recht zu sein. Nachher hat er sich aber anders besonnen, indem er mir riet, mich an Sie zu wenden.« – »Ich möchte nicht neugierig erscheinen, anderseits doch aber gern wissen, warum Sie gestern früh mit Schuri eine Begegnung hatten, und was ihn veranlaßt hat, mit der Eule zu reden. Er war verlegen und nicht im stande, mir eine klare, bestimmte Auskunft zu geben.«

Rudolf fand nach einigem Besinnen zum Glück eine halbwegs wahrscheinliche Mär, die Schuris Ungeschick erklären konnte ... »Die Sache verhält sich so«, sagte er; »mir gefiel die Sache, die ich im Sinne hatte, deshalb, weil sich der fragliche Hausherr zurzeit in Paris befindet, und vorderhand nicht zu befürchten stand, daß er aufs Land zurückkehren werde. Es wäre draußen in Pierrefitte. Meine Cousine dient bei dem Herrn; sie sagte mir, es lägen etwa 60 000 Franks in Gold draußen in Pierrefitte.« – »Und Sie wissen dort Bescheid?« – »Wie bei mir selber. Der Portier ist wohl ein kräftiger Mann. Ich redete mit Schuri, wie gesagt; zuerst war er ganz dabei, dann wollte er nicht mehr; aber einer von denen, die ihre Kameraden verraten, ist er keinesfalls.« – »Nein. Schuri ist ein ehrlicher Kerl. Er hält unbedingt seinen Mund. Aber – da sind wir an Ort und Stelle.«

Rudolf wollte den Räuber vorausgehen lassen, hatte wohl auch gute Gründe dazu. Bakel wehrte sich aber so sehr dagegen, daß Rudolf schließlich in die Schenke vorausgehen mußte. Bakel klopfte, ehe er sich setzte, die Wände ab, um sich von ihrer Dicke zu überzeugen ... »Es wird notwendig sein, leise miteinander zu sprechen,« sagte er, »es ist keine dicke Wand vorhanden.«

Eine Aufwärterin brachte das bestellte Frühstück. Der Räuber setzte sich, als sie gegangen war, so neben Rudolf, daß es ihm nicht möglich war, anders als an dem Räuber vorbei die Tür zu gewinnen... »Ich merke, Sie wollen mich am Hinausgehen verhindern?« sagte Rudolf kaltblütig. – Bakel nickte. Dann zog er aus der Rocktasche einen langen Dolch, der in einen Holzgriff gefaßt war ... »Bloß vorsichtshalber,« sagte er, die Brauen zusammenkneifend. – Rudolf seinerseits griff kaltblütig unter seine Bluse und zog einen Revolver hervor, den er Bakel unter die Augen hielt und dann wieder unter der Bluse verschwinden ließ. – »Ich sehe«, sagte der Räuber, »wir passen zueinander, aber so recht verstehen Sie mich noch immer nicht. Sollte mir die Polizei an den Kragen kommen wollen, so würde ich, ob ich Ihnen den Besuch zu verdanken hätte oder nicht, Ihnen ohne Besinnen dies Eisen zwischen die Rippen jagen.« – »Und ich würde dir gewiß nicht bloß zusehen«, sagte die Eule. – Rudolf zuckte die Achseln, goß sich ein Glas voll Wein und trank es auf einen Schluck aus ... »Stecken Sie nur Ihr Käsemesser wieder zu sich«, sagte er lachend, »hier gibts kein Huhn zu spicken, auch keinen Hasen. Sie finden an mir schon Ihren Mann. Darüber ohne Sorge! Apropos«, wandte er sich an die Eule, »kennen Sie wirklich die Eltern des Mädchens, das unter dem Namen Schalldirne hier bekannt ist?« – »Mein Mann hat in die Brieftasche des Langen zwei Schriftstücke gesteckt, die darüber Aufklärung geben. Aber die Dirne soll nichts davon erfahren. Kommt sie mir wieder zwischen die Finger, solls ihr schlecht bekommen!«

Bei diesen Worten legte sie ihr Umschlagetuch ab. Trotzdem er sich sehr in der Gewalt hatte, konnte Rudolf nicht hindern, daß er zusammenfuhr, als er an einer dicken, vergoldeten Halskette, die das Weib trug, einen kleinen heiligen Geist aus Lapis Lazuli an silbernem Ringe hängen sah, der ganz dem von Frau Georges geschilderten glich. – Da schoß Rudolf ein Gedanke durch den Sinn. Von Schuri hatte er gehört, daß der vor einem halben Jahre aus dem Bagno entwichene Verbrecher sich vor der Polizei durch Verunstaltung seines Gesichts gesichert habe, und von Frau Georges hatte er gehört, daß ihr Mann vor einem halben Jahre aus dem Bagno entwichen sei, ohne daß irgend jemand wußte, wohin er sich geflüchtet habe, oder was aus ihm geworden sei. Sollte dieser Bakel der Mann seiner armen Frau Georges sein? Daß dieser Verbrecher zur wohlhabenden Gesellschaftsklasse gehört hatte, stand nach der gewählten Ausdrucksweise, deren er fähig war, nicht wohl zu bezweifeln. Ein Gedanke schloß sich nun an den andern. Rudolf besann sich, daß ihm Frau Georges von dem verzweifelten Widerstande erzählt hatte, den dieser rasende Verbrecher den Polizisten entgegensetzte, als er abgeführt werden sollte, und daß er, dank seiner ungeheuren Körperkraft, fast noch entkommen wäre. Wenn nun Bakel – wie er jetzt unter seinesgleichen genannt wurde – wirklich der Mann von Frau Georges war, dann mußte er doch wissen, was aus seinem und ihrem Kinde geworden! Glücklicherweise fiel es dem Räuber nicht auf, daß Rudolf in sich gekehrt eine lange Weile sitzen blieb, seine Aufmerksamkeit wurde durch das Essen in Anspruch genommen, von dem er die besten Bissen seiner Kameradin auf den Teller legte.

Nach einer Weile sagte Rudolf zu dieser: »Sie haben da eine wirklich sehr schöne Kette ..« – »Ja, aber unecht, ich behelfe mich mit ihr nur so lange, bis mir mein Mann mal eine echte kaufen kann.« – »Und was ist das für ein kleines blaues Ding dran?« fragte Rudolf weiter. – »Auch, ein Präsent von meinem Manne ..« Rudolf war nun überzeugt, daß er sich auf der rechten Fährte befand, und wartete ängstlich gespannt auf die Antwort des Verbrechers. Der saß aber und ließ sich das Essen schmecken. Erst nach einer Weile sagte er zur Eule: »Das Ding darfst du

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: rue des merdes, ca. 1850
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2013
ISBN: 978-3-7309-7164-2

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