Jeremias Gotthelf
(Albert Bitzius)
Geld und Geist
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Das wahre Glück des Menschen ist eine zarte Blume, tausenderlei Ungeziefer umschwirret sie, ein unreiner Hauch tötet sie. Zum Gärtner ist ihr der Mensch gesetzt, sein Lohn ist Seligkeit, aber wie Wenige verstehen ihre Kunst, wie Viele setzen mit eigener Hand in der Blume innersten Kranz der Blume giftigsten Feind; wie Viele sehen sorglos zu, wie das Ungeziefer sich ansetzt, haben ihre Lust daran, wie dasselbe nagt und frißt, die Blume erblaßt! Wohl dem, welchem zu rechter Zeit das Auge aufgeht, welcher mit rascher Hand die Blume wahret, den Feind tötet; er wahret seines Herzens Frieden, er gewinnt seiner Seele Heil, und beide hängen zusammen wie Leib und Seele, wie Diesseits und Jenseits.
Im Bernbiet liegt mancher schöne Hof, mancher reiche Bauernort, und auf den Höfen wohnt manch würdiges Ehepaar, in ächter Gottesfurcht und tüchtiger Kinderzucht weithin berühmt, und ein Reichtum liegt da aufgespeichert in Spycher und Kammer, in Kasten und in Kisten, von welchem die luftige neumodische Welt, welche alles zu Geld macht, weil sie viel Geld braucht, keinen Begriff hat. Bei allem diesem Vorrat liegt eine Summe Geld im Hause für eigene und fremde Notfälle, die in manchem Herrenhause jahraus, jahrein nicht zu finden wäre. Diese Summe hat sehr oft keine bleibende Stätte. Wie eine Art von Hausgeist, aber keine böse, wandert es im Hause herum, ist bald hier, bald dort, bald allenthalben: bald im Keller, bald im Spycher, bald im Stübchen, bald im Schnitztrog und manchmal an allen vier Orten zu gleicher Zeit und noch an ein halb Dutzend andern. Wenn ein Stück Land feil wird, das zum Hofe sich schickt, so wird es gekauft und bar bezahlt. Vater und Großvater sind auch nie einem Menschen etwas schuldig geblieben, und was sie kauften, zahlten sie bar und zwar mit eigenem Gelde. Und wenn Verwandschaft oder in der Freundschaft und in der Gemeinde ein braver Mann in Geldverlegenheit war oder einen Schick zu machen wußte, so wanderte dieses Geld hierhin und dorthin, und zwar nicht als eine Anwendung, sondern als augenblickliche Aushülfe, auf unbestimmte Zeit, und zwar ohne Schrift und Zins, auf Treu und Glauben hin und auf die himmlische Rechnung, und zwar eben deswegen so, weil sie noch an ein jenseits glaubten, wie recht ist.
In die Kirche und auf den Markt geht in ehrbarem Halblein der Mann, und die Erste des Morgens und die Letzte des Abends schaltet die Frau im Hause, und keine Speise kömmt auf den Tisch, welche sie nicht selbst gekocht, und keine Melchter in den Schweinstrog, in die sie nicht mit blankem Arme gefahren wäre bis auf den Grund.
Wer solche adeliche Ehrbarkeit sehen möchte, der gehe nach Liebiwyl (wir meinen nicht das in der Gemeinde Köniz, wissen auch nicht, ob sie dort gefunden würde). Dort steht ein schöner Bauerhof hell an der Sonne, weithin glitzern die Fenster, und alle Jahre wird mit der Feuerspritze das Haus gewaschen. Wie neu sieht es daher aus und ist doch schon vierzig Jahre alt, und wie gut das Waschen selbst den Häusern tut, davon ist es ein täglich Exempel.
Eine bequeme Laube, schön ausgeschnitzt, sieht unterm Dach hervor; rings ums Haus läuft eine Terasse, ums Stallwerk aus kleinen, eng gefügten Steinen, ums Stubenwerk aus mächtig großen Platten. Schöne Birn- und andere Bäume stehen ums Haus, üppig grünt es ringsum; ein Hügel schirmt gegen den Bysluft, aber aus den Fenstern sieht man die Berge, die so kühn und ehrenfest Trotz bieten dem Wandel der Zeiten, dem Wandel der Menschen.
Wenn Abend ist, so sieht der Besucher neben der Türe auf einer Bank einen Mann sitzen, der ein Pfeifchen raucht und dem man es ansieht, daß er tief in den sechziger Jahren steht. Unter der Türe sieht er zuweilen eine lange Gestalt mit freundlichem Gesichte und reinlichem Wesen, welche dem Mann etwas zu sagen oder etwas zu fragen hat, das ist des Mannes Frau. Hinten im Schopf tränkt ein hübscher Junge, schlank und keck, die schönen Braunen, während ein älterer Bruder Stroh in den Stall trägt, und aus dem Garten hebt sich aus Kraut und Blumen herauf zuweilen ein lustiges Meitschigsicht und frägt die Mutter, ob es etwa kommen solle und helfen, oder schimpft über Wären im Kabis, über Katzen im Salat, über Mehltau an den Rosen und frägt den Vater, was gut sei dagegen. Diensten und Tauner kommen allgemach vom Feld heim, ein Huhn nach dem andern geht zSädel, während der Tauber seinem Täubchen noch gar emsig den Hof macht.
Ein solches Bild hätte man fast alle Abende vor Augen gehabt, wenn einer vor fünf oder sechs Jahren vor jenem Hause zu Liebiwyl stillegestanden wäre, und wenn er dann die Nachbaren oder eine alte Frau, welche etwas unterm Fürtuch gehabt, gefragt hätte, was das für Leute wären, so hätte er in Kürze ungefähr Folgendes vernommen.
Das seien bsunderbar gute und grausam reiche Leute. Als sie vor ungefähr dreißig Jahren Hochzeit gehabt hätten, da seien sie das schönste Paar gewesen, welches seit langem in einer Kirche gestanden. Mehr als hundert Wägelein hätten sie zum Hochzeit begleitet, und noch Viele seien auf den Rossen gekommen, was dazumal viel mehr der Brauch gewesen als jetzt, ja sogar das Weibervolk hätte man zuweilen auf Rossen gesehen und bsonderbar an Hochzeiten. Das Hochzeit habe drei Tage gedauert, und an Essen und Trinken sei nichts gespart worden, man hätte landauf, landab davon geredet. Aber dann hätte es auch Hochzeitgeschenke gegeben, daß es ihnen selbst darob übel gegruset hätte. Zwei Tage lang hätten sie mit Abnehmen nicht fertig werden können und noch Leute zur Hülfe anstellen müssen; aber ein berühmterer Bauernort sei auch noch nie gewesen das Land auf, das Land ab.
Einen solchen Hof, von den schönsten einen und ganz bezahlt und manchtausend Pfund Gülten dazu, das finde man nicht allenthalben. Sie hätten es aber nicht für sich alleine, die wüßten noch, daß die Reichen Verwalter Gottes seien und von dem erhaltenen Pfund Rechnung stellen mußten. Wenn jemand sie zu Gevatter bitte, so sei es nie Nein, und die meinten nicht, seit das Holz so teuer sei, hätten arme Leute keines mehr nötig. Die Diensten hätten ihre Sache wie nicht bald an einem andern Ort; da meinte man noch nicht, es müsse alles an einem Tage gearbeitet sein und dazu sei es schade um ein jegliches Tröpflein gute Milch, welches ihnen vor die Augen komme.
Kurzum das seien rechte Leute, und einen Frieden hätten sie unter sich, wie man sonst selten antreffe; da sei das Jahr aus, das Jahr ein lauter Liebe und Güte, es hätte noch niemand gehört, daß eins dem Andern ein böses Wort gegeben. Wenn es unter der Sonne Leute gebe, welche es hätten, wie sie wollten, und nichts zu wünschen, so seien es die; öppe glücklichere Leute werde man nicht antreffen.
So urteilten die Leute und hatten dem Anschein nach vollkommen recht, und doch war auch hier wahr, daß jedermann seine Bürde schwer finde und daß den meisten Lebensbürden die Eigenschaft anwohne, daß sie immer schwerer werden, je länger man als Bürde und ununterbrochen sie trage, daß ihre Last zu einer Unerträglichkeit sich zu steigern vermöge, in welcher jedes andere Gefühl, jedes Glück und jede Freude untergeht. Allerdings hatten sie sehr lange, was man so sagt, recht glücklich mit einander gelebt; doch war es auch wahr geblieben, daß an allen Orten etwas sei, aber dieses Etwas blieb nur vorübergehend, ward nicht zur andauernden Empfindung und kam nie vor die Leute.
Es ist kurios, wie das, was die Menschen im Allgemeinen so oft gegen einander aufregt, so gerne trennend ebenfalls zwischen Eheleute kömmt; ich meine das zeitliche Gut. Nur wo ein Instrument rein gestimmt ist, klingt es bei kundiger Berührung rein wider, wo aber das Instrument unrein geworden, antwortet es mißtönend auch der kundigsten Hand, auch bei der leisesten Berührung. Es scheint, das Verhältnis zweier Eheleute, wo Beide ein Interesse haben, Beiden das Gut gemeinsam gehört, Beide jeglichen Schaden gemeinsam fühlen, sollte dem Zwiespalt vorbeugen, aber eben das ist, was ich meine: Friede und Zwiespalt liegen nicht in den Verhältnissen, sondern in den Herzen. Man wird mir etwas zugeben, man wird sagen: ja, wo alles Vermögen vom Manne kommt, wo er alleine alles verdient und das Weib nichts mitgebracht hat, da geschieht so etwas gerne, oder wo vom Weib alles kömmt und von dessen Sache der Mann lebt, ebenfalls; da wird das rechte Maß selten gefunden, und das Eine meint, es möge alles erleiden, und das Andere, man sollte es bei jedem Kreuzer zeigen, wem es gehöre und wem man es verdanke. Oder, wird man sagen, wo ein Mann haushälterisch ist und das Weib vertunlich, wo der Mann alles zu Ehren ziehen möchte und das Weib von nichts den Wert kennt und alles an die Kleider hängen möchte, oder wo der Mann gutmeinend ist, das Weib aber den Geizteufel im Leibe hat, wo der Mann will, was Recht und Brauch ist, das Weib aber Kaffeebohnen zählt und niemand was gönnt, da muß es Streit geben, da kann es nicht anders sein.
Allerdings, so ists. Aber es gibt nicht bloß Streit, sondern noch Schlimmeres als Streit, andauernden Zwiespalt, und zwar nicht bloß wegen Lastern, sondern noch weit mehr wegen Eigentümlichkeiten, und zwar auch da, wo man in der Hauptsache durchaus einig ist.
Unsere Eheleute waren Beide von Haus aus reich, Keines hatte dem Andern etwas vorzuhalten. Er hatte den Hof geerbt mit wenig Schulden, sie ungefähr vierzig, oder fünfzigtausend Pfund eingebracht. Beide waren haushälterisch, gaben wenig Geld für Unnützes aus, zogen alles bestmöglichst zu Ehren, gingen wenig von Haus, waren dabei guten Herzens, dienstbar, hülfreich und wohltätig. Nach altländlicher Sitte hatten sie auch das Geld gemein, die Frau ging über das Schublädli so gut wie der Mann, und vom Auf, schreiben der täglichen Ausgaben und Einnahmen war keine Rede. Zu diesem Schublädli hatten sie nur einen Schlüssel, und wenn eins denselben von dem Andern forderte, so fragte nie eins das Andere, für was es Geld nehmen wolle.
Christen, der Mann, hatte eine behagliche Natur; wenn er an der Arbeit war, so tat es ihm selten einer zuvor an Fleiß und Geschick, aber Mühe kostete es ihn, an die Arbeit zu gehen.
Er schob nicht ungern von einem Tag zum andern auf, und was sich ihm heute nicht schicken wollte, schickte sich ihm selten schon morgen. Es mochte Wetter sein, wie es wollte, so fing er nie eine der großen Sommerarbeiten im Lauf einer Woche an. Wenn alles um ihn her zappelte, so sagte er ganz kaltblütig, wenn das Wetter gut bleibe, so wolle er am nächsten Montag auch anfangen, aber so in der Mitte der Woche möge er nicht; der Vater hätte es auch nie getan, und das sei ein Mann gewesen, es wäre gut, es würde noch viele solche geben. Wenn es aber am nächsten Montag nicht schön Wetter war, so wartete er ruhig noch eine Woche ab. Er hätte noch nie gesehen, daß man im schlechten Wetter gutes Heu mache, und wenn es genug geregnet hätte, so werde es auch wieder gut Wetter werden. So kam es dann allerdings, daß er gewöhnlich zuletzt fertig ward mit einer Arbeit und zu vielem keine Zeit fand. Er meinte aber, wenn man schon seine Leute nicht eis Tags töte, so zürnten sie einem deswegen nicht, und wenn das Vieh auch nicht sei was Menschen, so solle man doch auch Verstand gegen dasselbe haben, wofür hätte man ihn sonst. Es sei Mancher, er gönne keine Ruhe weder Menschen noch Vieh, aber er sehe nicht, daß die gar weit kämen; was sie erzappelten, könnten sie dem Doktor geben oder dem Schinder. Die Tiere, welche er hatte, waren ihm alle lieb, und wenn er eins fortgeben sollte, so wars, als wollte man einen Plätz von seinem Herzen damit. Er löste daher aus seinem Stall nicht viel, und mit den höchsten Preisen machte man ihm nichts feil, wenn es ihm eben ins Herz gewachsen war.
Daneben, wenn er jemand etwas fahren, mit einem Pferd einen Dienst leisten sollte, so sagte er niemand ab, war dienstfertig in alle Wege, nur Geld schenkte er nicht gerne. Es hielt ihn überhaupt hart, es auszugeben. Man wüßte nicht, wie hart es ginge, bis man es hätte, sagte er, und wenn man es einmal fort hätte, so hätte es eine Nase, bis man wieder dazu käme.
Anders war darin Änneli, seine Frau. Die war ein rasches Mädchen gewesen und hatte sich dreimal umgedreht, während eine Andere einmal. Kuraschiert ging sie an alles hin, und an den Fingern blieb ihr nichts kleben. Sie war in ihrer Jugend viel gerühmt worden von wegen ihrer Gleitigkeit; so ging es ihr bis ins Alter nach, daß sie gerne voran war in allem. Es gehe in einem zu, sagte sie, und wie viel Zeit man gewinne das Jahr hindurch, wenn man alles rasch angriffe, wüßte man nicht, man könnte es mit fast ds Halb weniger Leuten machen. Z'gyzen begehre sie nicht, Gott solle sie davor behüten; aber wenn man Kinder hätte, so müsse man immer daran denken, daß sich einst das Gut verteile, und wenn man es mit dem ganzen Gut bösdings machen könnte, wie sollten es dann die Kinder machen mit dem halben oder einem Viertel? Dann kämen ihr auch immer die vielen armen Leute in den Sinn, denen man helfen sollte, für die hatte man nie zu viel. Und allerdings war Änneli bsunderbar gut und konnte niemandem etwas absagen; die Kleider gab sie fast vom Leibe, äsiges Zeug, was man wollte, ja selbst Geld schlüpfte ihr durch die Finger, wenn sie gerade im Sack hatte. Zu allen Tageszeiten sah man arme Leute, besonders Weiber mit Säcklein, kommen und gehen. Böse Leute redeten ihr nach, einesteils sei sie gerne eine berühmte Frau und besser als andere Weiber, andernteils höre sie gerne, was in andern Häusern sich zutrage, und das arme Weib kriege am meisten, welches am meisten Böses von den Nachbarsweibern zu berichten wüßte. So redeten die andern Weiber. Es war aber vielleicht nur Neid, weil sie nicht so gerne und aus gutem Herzen gaben wie Änneli, daß sie ihr so etwas andichteten.
So waren also Christen und Änneli in der Hauptsache einig und gleich gesinnt. Beide wollten ihr Gut verwalten, daß sie es einst vor Gott verantworten könnten, wollten gut sein und doch an die Kinder denken, aber jedes hatte dabei seine eigentümliche Weise; Christen wollte zusammenhalten, was er einmal hatte, Änneli wollte sich um so rascher rühren und aus allem den rechten Nutzen ziehen, damit sie dem Dürftigen um so treuer helfen könnte in seiner Not.
So war die Art eines jeden, aber das Eine störte das Andere in seiner Art viel weniger, als man hätte glauben sollen. Es schien allerdings manchmal dem Christen, als ob seine Frau zu gut wäre und jedem Klapperweib Glauben gebe, und als würde das, was sie auf diese Weise unnütz ausgebe, ein artig Sümmchen ausmachen. Allein da er nicht meinte, er müsse alles gleich sagen, was ihm in Sinn kam, so hatte er Zeit zu vergleichenden Betrachtungen. So dachte er, ein jeder Mensch hätte etwas an sich, und er wolle doch lieber, Seine sei zu gut als zu bös, und daneben sei sie doch sparsam, für die Hoffart brauche sie nichts; mit dem Haushalten möge sie nicht bald eine, und wenn es Ernst gelte, schaffe sie für Zwei und brauche nicht eine Jungfrau hinten und vornen. So möge es schon etwas erleiden, und er könnte leicht eine haben, welche viel mehr brauchte und dazu nicht verrichtete, was sein Änneli.
Änneli kam es allerdings manchmal bis in die Fingerspitzen, wenn ein Metzger für eine Kuh bot, daß es ihr schien, sie dürfte das Geld kaum nehmen, und die Kuh gab wenig Milch, nicht einmal gute und nur kurze Zeit. Die Kuh war nichts als schön, und Christen konnte doch nicht von ihr lassen, nahm das Geld nicht, behielt sie im Stalle, wo sie nichts nutzte, als einer bessern den Platz zu verschlagen und daß hie und da jemand sagte: Das sei die schönste Kuh in manchem Dorfe weit herum, man könne weit laufen, ehe man eine solche antreffe. Und manchmal kam es ihr vor, als sollte sie aus der Haut fahren, wenn die Sonne so warm am Himmel stand, das Korn so reif auf dem Felde, der Montag war aber noch nicht da, und Christen saß behaglich ums Haus herum oder ging erst ans Bändermachen, welche in andern Häusern längst fertig waren. Und wenn dann endlich der Montag kam und mit ihm alle die vielen Leute, welche Christen nötig glaubte, für welche alle Änneli kochen mußte, und eine Wolke stand in einer Ecke am Himmel, und von wegen der Wolke stand Christen mit allen seinen Leuten vom Morgenessen bis zum Mittagessen ums Haus herum, werweisend, ob sie einhauen wollten oder nicht, und sie kamen am Mittag alle wieder zum Essen, und kein Halm war noch abgehauen, so wollte es Änneli fast über den Magen kommen, und es legte sich wie ein Stein über ihr Herz.
Und dann dachte sie, es müsse jeder Mensch seine Fehler haben und jeder seine Bürde, und wenn Christen nicht so wäre, so hätte sie auch gar nichts und müßte fürchten, daß etwas viel Ärgeres käme. Darum wollte sie sich auch nicht beklagen; andere Weiber hätten es ja viel schlimmer, und während der Mann alles vertäte, sollten sie nichts brauchen. Und was hätte sie davon, wenn ihr Christen in alle Spitzen gestochen wäre und in allem der Erste, und er wäre dann wüst gegen sie und gegen Andere, gönnte niemand etwas und dächte nur ans Raxen und hätte kein Herz als nur fürs Geld und das Fürschlagen? Sie wollte doch mit hundert Andern nicht tauschen, und wenn Christen auch nicht der Erste hinterm Korn sei, so sei er auch nicht der Erste hinterm Wirtshaustische, und wenn er auch oft der Letzte im Heuet sei, so sei er doch nie der Letzte, der von einem Markt heimkomme oder sonst von einer Lustbarkeit, und wenn man so eins ins Andere rechne, so wüßte sie nur zu rühmen, und Sünde wäre es, zu klagen, und Keinen wüßte sie, an welchen sie ihren Christen tauschen möchte.
Wo das Gemüt der Menschen noch auf diese Weise rechnet, da weist es sich nicht nur zurecht, sondern es ist auf dem Wege zur Zufriedenheit mit seinem Schicksale, ist rechter Dankbarkeit gegen Gott fähig, nimmt dem Mißgeschick seinen Stachel, den Fehlern der Mitmenschen ihre Säure. Nur da, wo der Gesichtskreis sich verengert, so daß man das Gute nicht mehr sieht, sondern nur das Böse, wo das Gefühl sich schärft für das Unbeliebige und in gleichem Maße der Sinn abnimmt für das Dankenswerte, nur da ist das Unglück fertig und der Abgrund öffnet sich, aus welchem als grauenvolles Gespenst die Zwietracht steigt. Wie der östreichische Soldat auf die Haselbank, ist der arme Mensch mit seinen eigenen Gedanken fast wie mit seinen Haaren gefesselt an das, was ihn drückt, beschwert, kann nicht mehr loskommen, stöhnt, klöhnt, zappelt, zanket, webert, wimmert, aber alles umsonst, er ist angeschmiedet mit Fesseln, gegen welche keine Feile hilft. Menschen können ihm nicht helfen, und Gott will es nicht, denn wer sich hinstreckt auf diese Bank, der hat auch von Gott gelassen.
Christen und Änneli waren also allerdings glücklich und auf dem Wege zu noch größerem Glück, weil sie sich und ihr Geschick wogen mit der Wage der Dankbarkeit, welche der Mensch Gott schuldig ist.
Nun geschah es freilich auch, daß dem Einen oder dem Andern ein empfindlich Wort entfuhr, aber so verblümt, daß es unter vielredenden Stadtleuten nicht einmal beachtet worden wäre. Daß Christen zum Beispiel sagte, wenn Änneli es anbot, ein Schnäfeli Fleisch ihm ins Hinterstübli zu stellen: »He, es ist mer gleich, wenn du noch hast.« Das fühlte Änneli schon als Trumpf, weil sie das Bewußtsein hatte, daß sie allerdings aus Erbarmen manches weggegeben, was Christen auch genommen und vielleicht vermißt hatte. Wenn aber Christen so drehte und an nichts hin wollte und seine vielen Leute im Taglohn, aber nicht an der Arbeit hatte, so gramselte es Änneli wohl in den Gliedern und es entfuhr ihm die Frage: Wenn sie nichts zu tun wüßten, so wollte es sie an den Kabis z'bschütten reisen. Christen empfand das übel, weil er wohl wußte, daß sie viel genug zu tun hätten, wenn er nur daran hin könnte, und daß seiner Frau so viele Leute, welche nichts täten und doch Lohn und Essen wollten, katzenangst machen müßten.
Solche Worte kamen freilich selten, aber hier und da entrannen sie doch. Es wurde darüber nicht geeifert und gezankt, wie es zuweilen unter hochgebildeten Leuten der Fall ist, daß vor aller Welt um einen halben Birnenstiel Mann und Frau sich zanken, bis die Frau in Krämpfe fällt oder gar in Ohnmacht. Das, welches den Trumpf erhalten, schwieg, wenn es ihn schon tief fühlte und er ihm weh tat. Doch wie tief er auch ging, lang haftete er nicht, er eiterte nicht. Hauptsächlich waren es zwei Gründe, welche es verhüteten, daß solche eingegangene Trümpfe nicht böses Blut machten.
Ännelis Mutter wohnte bei ihnen. Das war eine gar verständige Frau und hatte den Tochtermann sehr lieb. Sie war früher bei einem andern Tochtermann gewesen, welcher sie roh und wüst behandelt hatte. Sie hätte alles dargeben sollen und nichts brauchen, alles annehmen und zu nichts was sagen. Hier hatte sie es, wie sie es wollte. Christen zog sie zu Rat, als wenn sie seine eigene Mutter wäre, hielt sie um ein Geringes, und wenn im Haus etwas Gutes zu essen oder zu trinken war, so ruhte er nicht, bis die Mutter auch davon hatte, wenn sie es auch nicht begehrte. Und wenn es ihr irgendwo fehlte, so ging er ihr selbst zum Doktor und hielt diesem an, er solle recht anwenden, es möge kosten was es wolle; wenn ihm das Mutterli abgehen sollte, er wüßte nicht, wie es ferner machen. So sah die Mutter deutlich, sie sei ihm nicht im Weg und er möge ihr Leben und alles Gute so lange gönnen als Gott, und das ist wahrhaftig nicht an allen Orten der Fall. Wenn nun das Mutterli sah, daß ein Wort eingeschlagen hatte, Änneli bös war, vielleicht gar weinte und ihr klagte, so was hätte sie nicht verdient und sie halte es nicht mehr aus und sie wolle lieber sterben als länger so dabei sein, so goß Mutterli nicht Öl ins Feuer, sondern sagte: »Du gutes Kind, du weißt gar nicht, was Leiden ist, und weil du großes Leiden nicht kennst, darum nimmst du ein klein Wörtchen so schwer auf. Aber Änneli, Änneli, versündige dich nicht; es macht mir immer Angst, wenn ich junge Weiber wegen so kleinen Dingen so nötlich tun sehe, der liebe Gott suche sie mit schwerem Unglück heim, damit man es erfahre, warum er einem das Weinen gegeben und wann er das Klagen erlaubt. Wenn du gehabt hattest was ich, dann würdest du für solche Kleinigkeit Gott danken und darin ein Zeichen sehen, daß er dich recht lieb hat. Denk doch, wie ich es gehabt habe!« Und sie erzählte Änneli eine Geschichte aus ihrem Leben, von ihrem Manne oder ihrem Tochtermanne und wie sie sich da habe fassen müssen, wenn Unglück und Elend nicht noch größer hätten werden sollen. Freilich tönte das anfangs manchmal nicht gut bei Änneli, und sie sagte: »Ich bin darum nicht Euch, und was habe ich davon, wenn Ihr noch böser gehabt habt als ich, darum habe ich noch lange nicht gut.« So sprach Änneli wohl, aber der Mutter Rede wirkte doch, es setzte sich ihr Zorn, und ihre Liebe richtete sich wieder auf. Wenn sie dann ganz wieder zufrieden war, so warf sie ihrer Mutter scherzweise wohl vor, man sollte eigentlich meinen, Christen wäre ihr Kind, denn sie hätte diesen lieber als sie, und er möge machen und sagen, was er wolle, so sei alles recht. Sie glaube einmal, wenn Christen ihr die Nase abbeißen wollte, sie zündete ihm dazu.
Aber die Mutter redete auch Änneli z'best. Wenn sie dem Christen einmal ein Wort ins Herz gejagt hatte und die Mutter sah, daß es drin saß wie ein Splitter im Fleische, trappete sie Christen nach, bis sie ihn in einer heimlichen Ecke hatte, und bat ihn, er solle es nicht übel nehmen; er wisse wohl, Änneli sei ängstlicher Natur, und sie hätte ihr das nie abgewöhnen können, gäb was sie probiert hätte. Aber es bös meinen, das tue sie nie, und wenn er nur zufrieden wäre, sie wisse, sie wäre es sicher auch gerne. Christen war nicht so, daß wenn jemand sich unterzog, er dann um so wüster tat, er wurde auch nicht um so aufbegehrischer, je demütiger einer sich darstellte; die Art hatte er nicht, zu einem Ratsherrn hätte er nicht getaugt. Er sei nicht böse, sagte er dann der Schwiegermutter, aber es daure ihn, daß Änneli meine, sie müsse für ihn sinnen. Alles auf einmal machen könne man nicht, und so unbesinnt dreinfahren wie ein Muni in einen Krieshaufen, das möge er nicht. Er hätte nie gesehen, daß viel dabei herauskomme. Aber er wisse wohl, ein jeder hätte seine Art und daß Änneli es gut meine. Darum wenn ihm schon zuweilen etwas eingehe, so trage er es ihr nicht nach, man müsse mit einander Geduld haben, es hätte ein jeder seine Fehler, und wofür sei man sonst in der Welt?
So mittelte, als guter Hausgeist, die Schwiegermutter die meisten Streitigkeiten, oder, um es besser zu sagen, ebnete die kleinen Spalten, welche sie zwischen den Herzen sah. Hier und da war wohl eine Spalte, welche sie nicht sah oder welche sie nicht ebnen konnte, ehe die Sonne unterging; die ebnete und schloß dann ein anderer Geist.
Es war eine alte schöne Haussitte, welche durch Jahrhunderte eine unendliche Kraft übte und alles, was Streitbares in den Herzen sich ansetzte, alsobald zerstörte und tilgte, welche wie ein guter Geist den Frieden erhielt, bei welchem Gottes Segen ist und welcher den Kindern Häuser baut: wer zuletzt zu Bette kam, Mann oder Weib, betete dem Andern hörbar das Vaterunser, und schwer mußte der Schlaf sein, wenn das Erste nicht erwachte und nachbetete mit Andacht und aus Herzensgrund. Wenn dann die Bitte kam: »Vergib mir meine Schulden, wie ich vergebe meinen Schuldnern«, und es war Streit oder vielmehr Spaltung zwischen Mann und Weib, so klang sie wie eine Stimme Gottes in den Herzen, und die Worte zitterten im Munde. Und wenn dann die andere noch kam: »Und führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von allem Bösen«, so versenkte und tilgte schamrot vor Gott Jegliches, was es dem Andern nachgetragen, und es schlossen sich die Herzen auf, und jedes nahm seine Schuld auf sich, und jedes bat dem Andern ab, und jedes bekannte sein Glück und seine Liebe und wie nur im Frieden ihm wohl sei, aber wie der böse Geist an ihns komme, er wisse nicht wie, ihm schwarz mache vor den Augen des Geistes und ihns treibe in die Trübnis des Zornes und der Unzufriedenheit. Wie dann, wenn das Gebet komme, es ihm wäre, als komme eine höhere Macht hinter den bösen Geist im Herzen, setze mit scharfer Geißel ihm zu, daß er, wie er sich auch winde, dahinfahren müsse, und dann sei ihm, als erwache es aus einer Betäubung, als gehe eine Tür ihm auf, als sehe es aus wilder Nacht in einen schönen sonnigen Garten, so daß ihm sei, als müßte es den ersten Eltern so gewesen sein, als sie aus der Wildnis noch den letzten Blick ins verlassene Paradies getan. Dann treibe es ihns mit aller Gewalt diesem Garten zu, in aller Angst, es möchte ihm gehen wie den ersten Eltern, die immer weiter davon wegkamen, und Ruhe habe es nicht, bis es wieder drinnen sei, und dieser sonnige Garten sei der Friede und das trauliche Verhältnis, und wenn es die ganze Welt gewinnen könnte, an diesen Garten des Friedens tauschte es sie nicht. So blühte ihnen neu ihr Glück wieder auf, und in freudiger Demut bekannte jedes seine Fehler, bat ab seine Schuld, versprach, recht rittermäßig zu kriegen gegen diesen bösen Feind, der unabtreiblich immer wieder komme. In süßem Frieden schliefen sie ein, und wenn dann ein junger Tag auf blühte am Himmel, so erwachten sie mit neugestärkten Herzen Es war ihnen, als hätten sie sich neu gefunden wie in den ersten Tagen ihrer Ehe; sie sehnten sich nach einander, in geheimem Verständnis suchten sich ihre Augen, und Christen trappete unvermerkt dem Änneli nach und Änneli trat alle Augenblicke unter die Türe, zu sehen, wo doch Christen sei.
So verstrichen Jahre, und die gute Mutter starb. Es war ein harter Schlag für die Leute im Hause, ein guter Geist schied mit ihr, sie mißten sie alle und lang. Christen sagte oft, eine solche Schwiegermutter gebe es nicht mehr auf der Welt, er glaube es nicht, und kein Tag verging, daß er nicht sagte: »D'Muetter het allbets gseit – -«
Der andere gute Hausgeist aber, der starb nicht, sondern blieb bei ihnen und einigte ihre Herzen immerfort und half ihnen auch tragen, was das Leben sonst noch Schweres ihnen brachte. Denn es gibt in jeglichem Leben harte Schläge, wie es in jeglichem Sommer Gewitter gibt, und je schöner der Sommer ist, um so mächtiger donnern die einzelnen Gewitter über die Erde.
Gott hatte sie mit Kindern gesegnet, ihre innigste Freude hatten sie an ihren. Da kam die Hand des Herrn über sie, und hinter einander nahm er ihnen die schönsten und liebsten, und es war ihnen, als sollte keines mehr übrig bleiben, als sollten sie alleine bleiben in der Welt. Es kam ihnen schwer an, sich zu fassen, und lange, lange ging es, bis sie recht aufrichtig sagen konnten: »Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt!« Sie versuchten es oft, aber sie schämten sich und schwiegen, denn sie fühlten, daß das Herz ganz anders redete, und sie wußten wohl, was Gott von solcher Zwietracht zwischen Mund und Herzen halte. Aber sie trugen mit einander, und wenn sie des Abends mit einander beteten und eins fing an: »Unser Vater«, so stockte wohl die Stimme, und das Weinen kam, und das Andere weinte mit, und lange konnte Keines wieder beten. Und doch ließen sie nicht nach, bis es eins vermochte, und wenn auch jede Bitte neues Weinen brachte und hinter jeglicher die verlornen Kinder standen und das Reich und der Wille und das Brot, kurz alles, alles an sie mahnte und bei den Schulden die Angst kam, ob sie nicht etwas an ihnen versäumt, an ihnen sich versündigt hätten. Konnten sie aber alles begwältigen, konnten sie sich durchringen, wie Wanderer durch Klippen und Schlünde, bis zu dem Ende, konnten sie mit einander beten: »Denn dein ist das Reich, dein die Kraft, dein die Herrlichkeit« – dann kam Ruhe über sie, die Wellen der Schmerzen sänftigten sich. Sie konnten sich denken die Kinder in der Herrlichkeit des Vaters, bei der Großmutter, konnten sich denken die Zeit, wo auch sie durch die Kraft des Vaters auferweckt bei ihnen sein würden in des Vaters Reich in alle Ewigkeit. Dann konnten sie mit einander reden von den gestorbenen Kindern und wie sie so gut und lieb gewesen und was sie alles gesagt und wie es gewesen wäre, als hätten sie ihren Tod geahnt. Von den toten kamen sie auf die lebendigen, redeten von ihren Freuden und Hoffnungen und wie sie den gestorbenen glichen und jeden Tag ihnen ähnlicher würden und wie es ihnen wäre, als hätten die Kinder sie viel lieber und mühten sich nach Kräften, die Lücke auszufüllen. Allmählig wuchsen die lebendigen an die Stelle der toten, wurden gleichsam die Blumen, welche der Toten Gräber deckten, den Augen der Eltern verbargen.
Drei Kinder, wie gesagt, waren ihnen übrig geblieben, zwei Buben und ein Mädchen. Der Jüngste war der Mutter Liebling, das Mädchen des Vaters Herzkäfer, der Älteste allen lieb. Die Kinder hatten überhaupt der Eltern Art und wuchsen in der Sitte des Hauses auf in adelicher Ehrbarkeit. Mit gar vielem Lernen brauchten sie den Kopf sich nicht zu zerbrechen, aber fest in der Bibel wurden sie; das sei die Hauptsache, meinen Vater und Mutter, die hätte sie ohne große Künste im Rechnen und Schreiben hieher gebracht.
Allerdings waren auch Beide in beiden Dingen keine Hexenmeister, und wenn Christen seinen Namen schreiben sollte, so nahm er einen Anlauf, als wenn er über einen zwölf Schuh breiten Graben springen sollte, und wenn Änneli mit dem Ankenträger uneins war in ihren Rechnungen, so wurde sie plötzlich einig mit ihm, sobald er die Kreide nahm, und was er aufmachte, war ihr recht, sie wußte wohl warum.
Etwas anders war es mit dem Arbeiten. Änneli musterte sie dazu und meinte, sie lernten es nie zu früh und etwas Nützliches machen sei besser als etwas Ungattliches, und etwas müsse gehen bei Kindern. Christen aber meinte, so früh trage Arbeiten nichts ab, es erleide nur den Kindern, und wenn sie später sollten, so möchten sie nicht; wenn ihnen einmal der Verstand komme, so griffen sie von selbst an. Einmal er habe es so gehabt, und es werde niemand sagen, daß er nicht arbeiten könne und möge. Diese Verschiedenheit gab auch hie und da einen Anlaß, daß sie einander vergeben und vergessen konnten. Denn wenn Änneli musterte, so entrann Christen wohl zuweilen ein: »He, ich wollte sie nicht zwängen; wenn sie möchten, sie täten es schon.« Und wenn Christen mit Wohlgefallen dem Nichtstun der Kinder zusah, so sagte wohl zuweilen Änneli: Es dünke ihr, es sollte doch dem Einen oder dem Andern in Sinn kommen, etwas Wichtigeres zu machen. Aber alles dieses tilgte der gute Hausgeist wieder aus, tilgte alle Abende die Säure, die sich zuweilen in den alternden Herzen ansetzen mochte.
Etwas ging auf die Kinder über, denn Kinder sind eine weiße Wand; so weiß die Hände sind, welche über sie fahren, zuletzt werden doch die Spuren derselben sichtbar. Christen, der Älteste, der sich niemand besonders anschloß, war ein stilles Gemüt, ihn ließ man am meisten gewähren; er sagte wenig, aber empfand viel, lebte mehr in einem innern Leben als im äußern und schien daher untätig und gleichgültig. Annelise war ein liebliches Mädchen, aber es konnte tagelang von einer Arbeit sprechen, ehe es daran ging; war es einmal daran, dann konnte es die beste Jungfrau beschämen, es geschah aber selten. Die armen Leute hatten es nicht gerne, sie hielten es für hochmütig und wüst, wenn es aber darum zu tun war, einer armen Frau etwas zu bringen oder ihr zu wachen, so war Annelise immer parat; auch die jungen Bursche hielten es für hochmütig, weil es nicht anlässig war wie Andere, hielten es für hoffärtig, weil ihm alles wohl stand und es immer zweg war, als käme es aus einem Druckli. Resli, der Jüngste, war ein schöner Bursche, rasch, tätig, gwirbig wie die Mutter; wie sie, wurde auch er etwas ängstlich in der Arbeit, und während sein Vater einmal handelte in seinem Stall, hatte er mit Täubchen, Kaninchen, Schafen siebenmal schon gewechselt. In allen war etwas Schweigsames, Keines redete viel, aber wenn sie redeten, so wollten sie in jedes Wort viel legen. Und allerdings war jedes Wort, das eins zum Andern fallen ließ, gerade wie ein Lichtstrahl, der hundertfältig splittern kann. Nur der Älteste konnte viel reden, wenn irgend ein Schlüssel, zum Beispiel ein gutes Glas Wein, ihm den Mund auftat; dann zeigte er, daß vieles in ihm war, an das man nicht dachte.
Je mehr Eigentümlichkeiten in einen Haushalt treten, desto bewegter wird das Leben, wenn auch nicht von außen sichtbar, so doch im Innern fühlbar. Wie lieb man einander auch hat, etwas stößt doch auseinander, etwas hat jedes an sich, das am Andern mehr oder weniger empfindlich sich reibt. Ein jedes hat sein eigentümliches Gebiet, welches es wahren zu müssen glaubt vor jeglichem Eingriff, ein jedes macht seine bestimmten Ansprüche, welche sich scheinbar zufällig und bewußtlos ausbilden und deren Nichtbeachtung, auch wenn es mit keinem Wort, keinem Blick verraten wird, tief kränkt. Bei solchen Ansprüchen, je bewußt, loser sie entstanden sind, um so mehr meint man, ihre Gewährung verstehe sich von selbst.
So hatte jedes dieser Kinder wie sein eigentümliches Wesen, so auch seine eigenen Ansprüche, sowohl an die Eltern als an die Geschwister, und ihre Nichtbeachtung trieb einen Splitter in sein Herz, und je schweigsamer man nach der Haussitte über solche Dinge war, um so leichter hatten solche Splitter geeitert.
So zum Beispiel war Christen kränklicher Art, zu entzündlichen Krankheiten geneigt, die zuweilen Folgen hinterließen, welche einer Auszehrung glichen. Christen forderte nun Rücksichten für diese Schwäche, in der Arbeit, in der Speise, in der Pflege, in der Benutzung des Arztes usw. Man tat alles Mögliche, aber da sein Aussehen die Krankheiten nicht immer verriet, da er meinte, was er innerlich empfand, sollte man ihm auch äußerlich ansehen, so konnte es nicht fehlen, daß er sich zuweilen vernachlässigt glaubte, meinte, man achte sich seiner nicht und wäre froh, wenn er weg wäre.
Annelisi machte Ansprüche an die Welt, war ein lustig Ding, und wer weiß, ob nicht im Hintergrund ihrer Seele der Wunsch schlummerte, nicht schön Annelisi zu bleiben, sondern auch eine Bäuerin, wie die Mutter eine war, zu werden. Sie war daher gerne in aller Ehrbarkeit bei dieser, bei jener Lustbarkeit, und natürlich nicht gerne wie ein Aschenbrödel, sondern so aufgestrübelt und aufgedonnert wie jede Andere. Nun aber waren die Brüder nicht immer bereit zu ihrem Begleit, und alleine mochte sie nicht gehen, und der Vater wollte nicht immer Geld zu allem geben, was Annelisi nötig glaubte, und die Mutter war gewöhnlich auf des Vaters Seite und sagte, sie sei auch nicht Hudilump gewesen und hätte nirgends hintenab nehmen müssen, aber solches hätte sie nie gehabt, ja nicht einmal davon gehört. Sie hätte ihrer Mutter mit so was kommen sollen, jawolle! So was tat dann Annelisi weh, und sie meinte manchmal, sie sollte nur der Brüder wegen da sein und an ihr sei niemand etwas gelegen. Nur z'arbeiten sei sie gut genug, wenn sie aber auch etwas wolle, da sei niemand daheim.
Resli, der natürlich wohl wußte, daß er einmal den Hof erben werde, der hätte gerne mehr gehandelt mit der Arbeit, mehr gehandelt, mehr benutzt, und es schien ihm oft, als wenn niemand an ihn dächte, ja als ob alle so viel brauchten und so wenig täten als möglich, nur damit ihm nichts überbleibe. Er war gar nicht geizig, aber er war ängstlich, und in dieser stillen Ängstlichkeit, welche er nicht einmal zeigen durfte, kam er Vielen hochmütig vor, und Andere hielten ihn für geizig, weil er sehr oft zu Hause war, um zu der Sache zu sehen, während Andere herumhürscheten unnützerweise und Geld brauchten.
Weder Vater noch Mutter kannten dieses innere Wesen; man lauscht es sich selten ab, darum denkt man auch nicht daran, daß es in Andern sei; aber die Mutter hatte von früher Jugend an die Kinder mit ihrem versöhnenden Hausgeist bekannt gemacht, hatte sie das Unser Vater so recht gelehrt, daß sie es nicht gedankenlos beteten, daß es ihnen auch war erst wie ein tiefer See, in den sie allen Groll versenkten, und dann wie eine hohe Leiter, auf welcher sie ins Land des Friedens, in den Himmel stiegen. Besonders bei den Brüdern, welche bei einander schliefen und meist zusammen beteten, hatte dieses die Frucht, daß sehr selten die Sonne des Morgens den Schatten noch sah, der bei ihrem Untergang das Herz des Einen oder des Andern verdunkelt hatte. Bei Annelisi hielt es etwas härter, weil keine bestimmte Gelegenheit ihr gegeben war, ihr Herz des Grolles zu entleeren; wenn das Gebet sie allerdings versöhnlich gestimmt hatte, so konnte sie ihre Gesinnung nicht ausdrücken, nicht Frieden schließen, nicht durch ein Bekenntnis sich entlasten. Gewöhnlich kam dann die Gutmütigkeit der Brüder zu Hülfe, die, wenn sie einmal etwas abgeschlagen hatten, hintendrein reuig wurden und eine Zeitlang um so gefälliger waren, oder die Schwäche des Vaters, der gar gerne seinem lieben Meitschi hintendrein etwas kramete, welches noch mehr kostete, als was Annelisi gern gehabt, aber nicht bekommen hatte.
So lebte die Familie berühmt und im Wohlsein, bis ein Schlag, äußerlich nicht von großer Bedeutung, ihr ganzes Glück zu zertrümmern drohte.
Christen mußte nicht nur sächlich die Gemeindelasten tragen helfen, sondern auch persönlich, das heißt er mußte Vogt werden, öffentliche Verwaltungen übernehmen, sich auch in Behörden wählen lassen. Dieses ist an sich selbst eine Last, es ist aber auch bedeutende persönliche Verantwortlichkeit dabei, und seltsamerweise ist an manchem Orte diese persönliche Verantwortlichkeit unbezahlter Gemeindsbeamteten sehr groß, während den wohlbezahlten Regierungsbeamteten gar keine auferlegt ist. Wo das System herrscht, jeder Korporation dem Individuum gegenüber unrecht zu geben, aus dem übel verstandenen Grundsatz persönlicher Freiheit, und jeden Halunken zu begünstigen gegenüber dem rechtlichen Manne, aus übel verstandener Humanität, da wird diese Verantwortlichkeit zu einer förmlichen Gefahr zu einem Schwerte, das an einem Pferdehaar über des Gemeindebeamteten Haupte hängt.
Christen, bei seiner Unkenntnis aller Gesetze, bei seiner Unfähigkeit, selbst zu schreiben, wurde dies sehr beschwerlich und kostbar. Aus eigenem Sacke mußte er nicht nur fremde Hülfe bezahlen, sondern hing auch ganz von fremdem Rate ab und mußte diesem folgen, wie ein Blinder dem Hündchen, welches ihn leitet. Die eigentliche Gefahr jedoch fühlte er weniger als Änneli, wie dann Weiber immer mehr Ängstlichkeit besitzen vor dem Kommenden aus der dunkeln Zukunft als Männer. Alle diese Geschäfte, welche Christen von seinem Geschäfte und von seiner Arbeit weg, zogen, waren Änneli überhaupt zuwider, jedoch ließ sie dieses den Mann nicht entgelten, wie Weiber oft tun, die dem Manne noch mehr verbittern, wessen er sich nur gezwungen unterziehen muß. Insbesondere aber war ihr der verdächtig, welcher dem Mann am meisten mit seinem Rat beistand, sie warnte ihn oft vor demselbigen. Es komme ihr immer vor, sagte sie, als sei er falsch an ihnen; er sei viel zu schmeichlerisch und rühmerisch und dazu immer nötig; so einer mache oft für zehn Batzen, was ein Anderer nicht für tausend Pfund. Aber Christen konnte ihn nicht entbehren, guter Rat ist immer teuer und in mancher Gemeinde auch um Geld fast nicht zu haben; Änneli wußte selbst niemand, der bessern geben konnte, und damit er nicht etwa aus Not sie verrate, spendierte sie demselben, so viel sie konnte, und wenn er kam, so mußte er allemal im Hinterstübli, wo ihm etwas zwegstand, welches er daheim nicht hatte. Es gibt aber Leute, welche, je mehr man ihnen gibt, nicht nur um so ungenügsamer werden, sondern auch in den Wahn geraten, als sei man völlig in ihrer Gewalt und als könnten sie einen ungemerkt und ungestraft mißbrauchen, wie sie nur wollten. Sind sie einmal auf diesen Punkt geraten, so treiben sie gerne ein doppelt Spiel, lassen sich von uns bezahlen und von Andern bestechen, um uns zu foppen und zu betrugen. Sie rechnen, wenn man aus zwei Händen zu nehmen wisse, so gebe es akkurat doppelt so viel als nur aus einer. Es gibt mehr Leute, welche von solchem Schmaus leben, als man glaubt.
Christen war Vormund, hatte fremdes Vermögen hinter sich, ob Geld oder Schriften, weiß ich nicht, kann beides gewesen sein, denn daß die Titel immer da seien, wo sie dem Gesetz nach liegen sollten, ist nicht gesagt; wo ein Regierungsbeamteter und ein Gemeindsbeamteter, ein Gemeindschreiber zum Beispiel, unter einer Decke liegen und unter einem Hütlein spielen, da können noch heutzutage ganze Vermögen verschwinden, und wo ist das Verantwortlichkeitsgesetz gegen den Regierungsbeamteten? Über die unschuldigen Gemeindräte oder die noch unschuldigern Gemeinden geht es aus. Später muß es die Gemeinde ersetzen; kleine Diebe hängt man vielleicht, große aber läßt man laufen.
Christen dachte nun von ferne nicht ans Betrugen, aber er sollte beschummelt werden.
Es waren Leute, welche Geld nötig hatten. Christens Ratgeber wurde ins Interesse gezogen, und dieser bewog den guten Mann, das Geld aus den Händen zu geben oder anzuwenden, die Titel zu versilbern oder abzutreten. Er sagte Christen, der Gemeinde sei es ganz recht, er habe mit ihr geredet, und sie habe ihn autorisiert, er solle es also nur unbesorgt machen, ihm könne es auf keinen Fall etwas tun. Wenn ihm die Sache einmal aus den Händen sei, so sei er aus aller Verantwortlichkeit, brauche sie nicht zu hüten, und er wolle alles schon so schreiben, daß er zu allen Zeiten, es möge gehen, was da wolle, drus und dänne sei. Dem Christen leuchtete das ein, und er hatte durchaus kein Arg. Änneli aber traute nicht und sagte: Sie könne nicht helfen, aber sie traue der Sache nur halb, es treffe fünftausend Pfund an, und mit dem sei nicht zu spaßen; sie hülfe noch zu einem rechten Mann zu Rat zu gehen, man sei nie z'vorsichtig.
Aber Christen redete ohnehin nicht mehr, als er mußte, und von Geschäften so ungern als möglich, weil er nicht gerne verriet, daß er gar nichts kannte, denn er schämte sich seiner Unwissenheit doch, wenn er schon seine Kinder nicht begehrte geschickter zu machen. Zudem wußte er nicht, wem er trauen sollte, wenn er sich auf seinen Ratgeber nicht verlassen konnte. Wenn der ein Schelm an ihm sei, so glaube er denn gewiß, es sei kein braver Mensch mehr in der Welt, und was es ihm dann nütze, Mühe zu haben und herumzulaufen, wo man ohnehin alle Hände voll zu tun hatte; so redete er. Christen war allerdings auch mißtrauisch, aber eben deswegen suchte er nicht neue Vertraute, sondern hielt am Glauben fest, wenn der alte Ratgeber treulos sei, so sei keine Treue mehr auf Erden; den habe er doch probiert auf alle Wege, es dünke ihn, er sollte es mögen halten. Da Änneli das Wüstest alles nicht machen wollte, so ging richtig die Sache vor sich, und alles schien gut, denn lange Zeit sagte kein Mensch, daß es nicht gut sei.
Nach mehreren Jahren erst fing die Sache an sich zu rühren; allerlei unter der Hand wurde geredet, und aus der Gemeindratstube heraus schlich, man wußte nicht wie, das Gerücht, Christen hätte sich gröblich verfehlt mit Vogtsgeld, es werde ihm an die Beine gehen um viel tausend Pfund. Änneli, die zwar selten von Haus kam, aber doch alles vernahm, nicht nur was ging, nicht nur was geredet wurde, sondern noch ds Halbe mehr, vernahm also bald: Es heiße, es ginge Christen grusam an die Beine, und wenn er nicht so reich wäre, so möchte es ihn lüpfen. Änneli erschrak gewaltig, obgleich sie wußte, daß es so übel nicht gehen konnte, und Christen mußte auf der Stelle zu seinem Faktotum und ernstlich fragen, was an der Sache und ob da etwas zu fürchten sei, von wegen, er möchte lieber zu der Sache tun, ehe es zu spät sei. Der nun lachte ihn aus, daß er doch auf solches Weiberdamp hören möge, es wäre gut, wenn alles so sicher wäre wie das. Da sei er ihm gut dafür, daß es ihm keinen Liar kosten werde, und wenn noch jemand etwas sage, so solle er sie zu ihm schicken, er wolle sie dann brichten. Nein, da möchte er doch dann nicht so jemand hineinsprengen, dafür sei er noch lange zu gut. Er hätte schon manchmal können, wann er gewollt, aber o Jere, wenn er schon ein arm Mannli sei, so hätte er doch noch ein Gewissen und wohl noch ein besseres als mancher Reiche. Da solle er nur nicht mehr Kummer haben und ruhig schlafen; was er gemacht habe, sei gut gemacht, und wie gesagt, er wolle ihm gut sein für jeglichen Kreuzer, den er deretwegen sollte zu Schaden kommen.
Christen ging getröstet heim, tröstete sein Änneli, und einige Zeit lang blieb alles wieder still. Aber die Sache tauchte wieder auf und zwar ernster als früher, und neue Angst kam über die Eheleute. Nun ruhte Änneli nicht, bis Christen zu einem rechten Manne ging. Der wollte lange mit der Sprache nicht heraus, sagte, er verstehe sich nicht darauf, hätte Die Schriften nicht gesehen, und fragte endlich Christen, er werde eine schriftliche Bevollmächtigung von der Gemeinde erhalten haben zu seinem Verfahren? »He nein«, sagte Christen, »man hat mir gesagt, das sei nicht nötig, es werde alles eingeschrieben in den Gemeindbüchern, da könne man alles finden, und die Sache doppelt zu machen, trage nichts ab.« »He nun« sagte der Mann, »wenn die Sache im Gemeindsbuch eingeschrieben ist, so kann es dir allweg nichts tun.« Nun war Christen wieder getröstet, denn daß es eingeschrieben sei, zweifelte er gar nicht. Aber Änneli traute nicht so recht; er solle doch gehen und nachsehen, ob es denn wirklich drin sei, sagte sie. Brummend ging Christen und brachte Die Antwort heim, der Gemeindschreiber hätte gesagt, er hätte jetzt nicht Zeit nachzuschlagen, das gebe mehr zu tun, als so eine Frau glaube; aber er könne darauf zählen, daß alles, was erkannt worden sei, darin geschrieben stehe, er wisse wohl, was er schreiben solle oder nicht. Nun schien Die Sache wieder abgetan, und Christen sagte: Die Leute könnten seinethalben stürmen, was sie wollten, wenn einer das Gemeindebuch im Rücken habe, so könne einem niemand etwas tun, und sollte es der Teufel selber sein.
Da schlich sich einer, welcher gerne insgeheim den Leuten die Haare zusammenband, aber dabei nie genannt sein wollte, an Änneli und vertraute ihm: Das sei gewiß nicht im Gemeindbuch, und es sei eine abgekartete Sache gewesen, Christen hineinzusprengen, und der Gemeindschreiber suche die Sache geheim zu halten und zu verdrehen so lange als möglich. Aber einmal müsse Christen doch zahlen, das sei fertig. Und es wäre besser, er wüßte das so bald als möglich, vielleicht daß er noch etwas aus dem Feuer ziehen könnte, wenn er zu rechter Zeit daran hingehe. Das waren alles lauter Donnerschläge für das arme Änneli, und um so härter trafen sie, weil sie nicht begriff, wie man da helfen könnte, als daß Christen vor den Gemeindrat gehe und ihm alle Schand sage und vor allem aus dem Gemeindschreiber, daß er ein Schelm sei und ein verlogener Kerli, und daß er von allem nichts wolle; sie könnten seinethalben sehen, was sie machen. Das würde wenig helfen, sagte da neue Ratgeber, aber Christen solle einen Auszug aus dem Gemeindbuch fordern, und wenn man ihn nicht freiwillig geben wolle, so solle er ihn richterlich fordern lassen, da werde sichs schon finden, was im Gemeindbuch stehe und nicht stehe.
So ging es auch, und nach vielen Umtrieben kam endlich Christen zu da Erklärung, daß vom ganzen Handel im Gemeindbuch kein einzig Wort stehe; von der Sache sei wohl geredet worden, aber Erkanntnis sei keine gegangen, man werde gedacht haben, es sei am besten, wenn man das dem Vogt überlasse, was er mache, sei ihnen recht. Somit war es entschieden, daß Christen fünftausend Pfund zahlen mußte; erholen konnte er sich nirgends, und der, welcher ihn hineingesprengt, hatte die schönsten Ausreden und schob die Schuld auf Andere.
Ich weiß nicht, soll ich sagen: dieser Verlust traf die Familie wie ein Donnerschlag, der ihr Glück zerschmetterte, oder: dieser Verlust ward zum giftigen Wurme, der ihren Frieden nach und nach zerstörte. Es wäre nicht das Eine, nicht das Andere ganz richtig, denn es traf sie wohl der Schlag heftig, gewaltig, aber nach dem Schlage war der Wurm da und lebte giftig fort.
Fünftausend Pfund sind nichts für einen Kaufmann, er sieht derhalben nicht nebeume, wie der Bernerbauer sagt. Fünftausend Pfund ließen sich bei ihrem Vermögen leicht verschmerzen, setzten sie nicht einmal in augenblickliche Verlegenheit, wenn sie einige Zinsschriften wagten; ja wenn sie nur das vorrätige Geld zusammenmachten, den Spycher zur Hälfte leerten, so war alles abgemacht. Aber beim Landmann geht es nicht zu wie beim Kaufmann. Bei dem Letztern ist lauter Spiel: heute wird er getrümpft, morgen trümpft er wieder; eines Tages kann er Zehntausend verlieren, morgen Zwanzigtausend gewinnen, und bei jedem Verlust ist eben dieser Wechsel der Trost. Ganz anders ist es bei dem Landmann; da geht die Sache langsam aber stetig, kleine Verluste gleichen sich durch kleine Gewinnste aus, Fehljahre durch gute Jahre, und bei Fleiß und Sorgsamkeit und ohne großes Unglück geht es langsam vorwärts. Und kommen große Unglücksfälle, geht ihm all sein Vieh in Boden, brennt sein Haus ab mit all seinen Vorräten, schlägt es ihn auf Jahre zurück: er schickt sich darein mit bewunderungswürdiger Ergebung; was sollte er dagegen machen, das kam aus des Herrn Hand, über diese Verluste spotten die Menschen nicht, und Kinder und Kindeskinder tragen sie ihm nicht nach.
Verliert er aber Summen auf außerordentlichem Wege, durch Ungeschick oder der Menschen Bosheit, dann weicht der Friede so gerne von ihm und es kömmt, was man hierzulande Hintersinnen nennt. Der kommende Tag ersetzt sie nicht, vielleicht ersetzt er sie in seinem ganzen Leben nicht, und was werden Kinder und Kindeskinder von ihm sagen!
Christen und Änneli hatten wohl etwas vorgespart, allein es ging genug zu, es harzete. Er wußte seine Sachen nicht recht geltend zu machen und brauchte zu allem viel Zeit und viele Leute, und Änneli war eine gute Frau, und gar vieles schwand ihr unter den Händen fort, sie wußte nicht wie. Fünftausend Pfund mußten ihnen, wenn es auf das Ersetzen ankam, eine unermeßliche Summe scheinen, Die Frucht ihrer ganzen Lebenszeit.
Zu diesem kam noch ein Anderes: die Kinder waren erwachsen, vor ihnen ließ der Verlust sich nicht verheimlichen; was sagten die dazu, wie mußten die ihn aufnehmen? Kinder auf dem Lande teilen die Arbeit der Eltern, sehen die Früchte davon, kennen die Schulden und Gülten, sind weit enger ins Verständnis gezogen, geben daher um so eher ihre Willensmeinung. Alle waren heiratsfähig. Schadet ihnen dieser Verlust nicht am Heiraten, der Lärm davon noch mehr als die Sache selbst? Denn alles wird vergrößert, auch entsteht gar gern der Glaube, wo solche Verluste hervorbrechen, da seien noch viele zu gewärtigen; eine Sache, namentlich ein Unglück, kommt nie alleine. Und wenn sie wirklich heiraten wollten, woher die Ehesteuer nehmen? Wenn man jetzt noch Ehesteuren geben sollte, so mußte man sich ganz entblößen, mußte vielleicht gar Geld leihen, weil man nicht alles abkünden konnte, oder mußte alle Titel versilbern, mußte in seinen alten Tagen schmalbarten oder die Jungen mit leeren Händen gehen heißen. Arme Tage schwebten Tag und Nacht vor Ännelis Augen.
Das mußte große Bitterkeit ansetzen in des Ehepaars Gemütern, denn mit dem Gelde war ihnen ja auch ein großer Teil ihres Lebens verloren. Wir fühlen alle, das Leben ist eine große Gabe, und mit dieser Gabe sollen wir vieles, vieles gewinnen, mit dieser zeitlichen Gabe sollen wir das ewige Leben erwerben. Aber nun meinen gar Viele, mit dieser zeitlichen Gabe hatten sie nur zeitliches Geld zu gewinnen, ja gar Viele, die vom ewigen Leben als dem höchsten Ziele sprechen, scheinen darunter doch nur zeitliches Gut zu verstehen oder höchstens eine zeitliche Frau mit zeitlichem Gute. Und nach dem zusammengeraxeten Gute schätzen sie ihres Lebens Wert, wie der Maulwurf nach der Höhe des aufgeworfenen Hügels seine Kraft. Wenn aber aller Gewinn verloren geht, dann hintersinnet man sich, das heißt, man kann nichts mehr anders denken, als wie es gegangen ist und nicht hätte gehen sollen; denn man hat ja eigentlich alles verloren, nicht bloß das Geld, das verloren geht, sondern das Leben, welches man an das Geld gesetzt.
Christen und Änneli waren kreuzbrave Leute, von den brävsten, die man sehen will zu Stadt und Land, aber den Wert des Menschen schätzten sie doch nach seinem Besitztum und den Wert eines Lebens nach dem gemachten Fürschlag; so und so viel hat er geerbt, dann und dann hat er zu husen angefangen, und jetzt, denket doch, hinterläßt er
Sie wußten es halt nicht besser, waren, wenn sie auch in der Schule nicht viel rechnen gelernt, doch in dieser Rechnungsweise von Jugend auf geübt, und wenn Christen es auch nie sagte, so dachte er es doch vielleicht manchmal, wenn er im Wirtshaus auf einem Stuhl absaß: »Hier setzen sich hunderttausend Bernpfund nieder.« Nehmt ihm das nicht übel, denn noch ganz andere Leute wissen nicht, daß wenn man auch die ganze Welt gewönne und litte Schaden an seiner Seele, man das Leben nicht nur verloren, sondern einen großen Schaden davongetragen.
Sie gingen herum manchen Tag, als ob sie vor den Kopf geschlagen wären, und konnten nichts anderes denken als: Fünftausend Pfund, fünftausend Pfund! Weniger als Die Eltern waren die Kinder angegriffen, sie hatten ein langes Leben vor sich, welches ihnen reiche Hoffnung bot zum Ersatze des Verlustes. Am meisten schien es Annelisi zu fühlen, als ob sie glaubte, zunächst müßte sie den Verlust entgelten an ihrer Aussteuer oder derselbe möchte vielleicht diesen oder jenen, den sie im Auge hatte, abschrecken. Jedoch geschah nicht, was an so manchem Orte begegnet wäre, die Kinder machten den Eltern keine Vorwürfe, ja gebrauchten manches aufmunternde Wort. Aber wo die Eltern die Gemüter der Kinder ausschließlich aufs Geld richten und alle andern Rücksichten den Augen der Kinder fernehalten, da müssen sie es erfahren, wie das Schwert sich gegen seinen eigenen Herrn kehrt; wenn sie etwas Ungeschicktes machen, haben sie zu tragen den Zorn und die Vorwürfe der Kinder, und wenn sie alt werden, derselben Unverstand und Ungeduld, die alle Tage mit Gott hadert über der Eltern langes Leben. Hier herrschte noch Liebe und herrschte die alte Sitte, daß die Kinder die Eltern ehrten, auf daß sie lange leben möchten in dem Lande, welches ihnen Gott gegeben.
Wie es dem ergeht, dessen Haus verbrannt ist mit an dem, was es barg, so ging es auch Christen und Änneli. Zuerst füllt der Verlust die Seele, eine Art Betäubung herrscht, dann dämmern Gedanken durch die Betäubung, wie Lichtstrahlen durch den Nebel, es leuchtet die Notwendigkeit ein, etwas vorzukehren, den Schaden zu ersetzen, es flackert das Sinnen auf, wer den Verlust verschuldet.
Christen hatte kein Haus aufzubauen, aber er begann nachzudenken, wie die fünftausend Pfund zu ersetzen wären. Und allemal, wenn eine Frau zum Hause schlich, loderte ihm der Gedanke auf: Die trägt wieder etwas fort, welches Geld gelten würde, und was will ich hausen und sparen, während auf der andern Seite fortgegeben wird alles, was nicht angenagelt ist? Der gute Christen hatte es auch wie viele andere Leute; was er nötig glaubte, das wollte er bei Andern anfangen, und hätte doch wissen sollen, daß wenn der Bauer mir seinen Leuten mähen will er vorausmäht und nicht hintendrein.
Änneli kam es wieder in den Sinn, daß sie gewarnet habe, das Geld herauszugeben, daß sie Christen angeraten, noch jemand anderes zu Rate zu ziehen, daß sie den trügerischen Freund nie hätte leiden mögen, sondern vielfach ihren Verdacht geäußert. Sie begann daran zu sinnen, ob wohl die Zeit gekommen wäre, daß mit wenigern Leuten mehr gearbeitet würde. Und wenn sie durch den Stall ging und zwei oder drei Kühe sah wie Flühe, aber fast ohne Milch, so konnte sie sich nicht enthalten, zu rechnen, wie manche Dublone da zu machen wäre, wenn man sich zu rangieren wüßte. Das alles ging im Inwendigen vor, fast wie des Blitzes Schein fuhr es vorüber; böse Worte gab man sich nicht, treulich beteten sie mit einander, und friedlich, wenn auch oft mit schweren Seufzern, schliefen sie ein.
Aber ein alt Sprüchwort sagt: Der Teufel ist ein Schelm, und wenn er auch umhergeht wie ein brüllender Löwe, so schleicht er noch viel mehr herum in Gestalt von flüchtigen Gedanken, luftigen Nebeln gleich, und diese Gedanken streifen zuerst nur über eine Seele, dann schlagen sie sich allmählig nieder darin, haften, setzen sich fest. Dann steigen sie herauf in unsere Blicke, in unsere Gebärden, brechen endlich als Worte zum Munde heraus, und während wir glauben, wir reden aus dem göttlichsten Recht, ists der Teufel, der grimmig und lustig uns zum Munde aus flattert und dem Nächsten mit Klauen und Hörnern zu Leibe geht, bis auch aus dessen Munde ein Teufel fährt und eine Schlacht zwischen Beiden sich erhebt auf Kosten der Armen, in deren Seelen der Teufel sich hinabgelassen und aus deren Mund er wieder herausgefahren ist.
Eines Tages wars, als ob einer wäre, der ersinnete, was sie böse machen könnte, und alles dieses herbeiführte und ihnen antäte. Es gibt solche Tage, wo eins hinter dem Andern kömmt wie eine Schneegans hinter der andern, wo das Ärgerliche nicht aufhören kann, bis die Galle überläuft und es Wetter gibt zwischen den Menschen.
Als man in den Stall kam, war ein Pferd über die Halfter getreten und hatte sich übel verletzt, so daß man dasselbe des Morgens nicht brauchen konnte; im Kuhstall fehlte auch etwas, und als man Flachssamen brauchen wollte, hatte die Mutter den letzten einer armen Frau gegeben, welcher Umschläge verordnet waren. In den Ställen vertrappeten die Leute ihre Zeit, so daß auf dem Felde nichts geschah, und während Andere schönes Emd einmachten, blieb das Ihre schön dem Regen zweg. Abends kam ein Berner Metzger, der Kühe suchte und von ihrem Stalle gar nicht fort wollte. Er meinte, es müßte erzwungen sein, zwei oder wenigstens eine feil zu machen, und bot Geld, daß man es fast nicht hätte nehmen dürfen. Es war eine Zeit, wo fette Kühe fast nicht zu erhalten waren, und die Metzger die größte Not hatten, denn obs Kühe gebe oder keine, darnach fragen die Stadtleute gar nicht, aber Fleisch wollen sie haben, und zwar je besser, desto lieber, ihretwegen kanns der Metzger von Zaunstecken schneiden oder aus Kabisstorzen.
Aber Christen tubakete ganz gelassen an seiner Pfeife und sagte dem Metzger: »Du hasts schon manchmal gehört, ich gebe sie nicht. Um was so ein Berner Metzgerli sie vermag zu kaufen, um das vermag ich sie auch zu behalten.« Alle Einreden des Metzgers, daß andere Kühe für ihn weit nützlicher wären, daß er an drei Kühen wenigstens sechzig Kronen zwischenaus machen würde, gingen in den Wind. Änneli hörte dem Märten mit ungeduldigem Herzen zu, ging oft aus und ein und konnte sich nicht enthalten, zu dem Metzger zu sagen: Es dünke sie, er wäre nicht der Uwatligist, und wenn sie mit einem handeln wollte, so wäre er nicht der Letzte.
Das war ein Stich, der bei Christen Fleisch faßte, aber er sagte nichts darauf, sondern nur zum Metzger: »Du hast gehört, was ich will, und jetzt wollte ich mich nicht länger säumen, wenn ich dich wäre. Wenn du heute noch etwas anderes finden willst, so hast du deine Zeit zu brauchen.«
Bald darauf kam eine arme alte Frau, welche einen kranken Sohn hatte; derselbe erhielt sie sonst, jetzt war die Not groß. Derselbe fing an sich zu erholen, und der Doktor hatte Wein verordnet. Aber wo nehmen und nicht stehlen? In solchen Fällen war Änneli die Zuflucht, und umsonst nahm man sie selten zu ihr. Als die arme Mutter kam und mit dem Fürtuch die Augen wischte, noch ehe sie anfing, und dann vieles vom Sohn erzählte, wie er so gut gegen sie sei und wie er krank geworden und wie sie in der Not seien und sie wäger heute noch nichts Warmes gegessen, und jetzt sollte sie Wein kaufen und hätte keinen Kreuzer im Hause und wüßte keinen aufzubringen. Wenn doch Änneli ihr dr tusig Gottswille nur einige Batzen leihen wollte oder, wenn es möglich wäre, nur eine halbe Krone, so wäre ihr geholfen, und sie wollte dafür spinnen, bis sie selber sagen müßte, es sei genug. Aber wenn ihr der Sohn sterben sollte, sie wüßte nicht, was sie anfinge, unter Tausenden gebe es keinen Solchen.
Änneli war in großer Verlegenheit. Wein hatten sie diesen Augenblick keinen Tropfen im Hause, wie sonst manchmal der Fall war, und Geld hatte sie auch nicht mehr im Sack als sechs Kreuzer. Sie ließ sich sonst nie so auskommen, daß sie nicht einige Batzen oder Franken in irgend einem Sacke hatte. Aber sie hatte letzthin zu Gevatter stehen müssen, hatte seit der Sichelten, wo es den Ankenhäfen übel ergangen war, keinen Anken mehr verkauft, sparte ebenfalls Augsteneier auf, hatte kein Geld gemacht, und das Schlüsseli hatte eben Christen im Sack. So konnte sie die Frau doch nicht gehen lassen; wenn der Sohn sterben sollte, so hätte sie ja keine ruhige Stunde mehr im Leben und das letzte Stündlein wäre ihr auch nicht ruhig, und doch war es ihr grausam zuwider, dem Christen das Schlüsseli zu fordern. Sie stellte der Frau vorläufig etwas Warmes zweg und suchte dann den Resli, sie wußte, daß der Geld genug hatte, allein der war zum Viehdoktor gegangen und hatte den Schlüssel zum Schaft im Sack; der andere Sohn war im Stall, hatte aber kein Geld im Sack, sondern alles in Reslis Schaft. Annelise aber hatte den Schlüssel verloren zu seinem Gassettli, worin es sein Geld hatte; es war, wie wenn alles verhexet wäre. Da nahm endlich Änneli das Herz in beide Hände, ging hinaus und sagte: »Gib mir doch geschwind das Schlüsseli!« Christen ward ganz rot im Gesicht, suchte es langsam, gab es endlich mit den Worten: »He, ich wollte doch machen, daß morgen auch noch wäre.«
So etwas hatte Änneli noch nicht gehört, es stellte ihr das Blut, einen Blick tat sie auf Christen, den der auch noch nie gesehen, aber sagen konnte sie kein Wort, sie ging mit ihrem Schlüsseli wie stumm ins Haus, und als sie der alten Frau die halbe Krone herzählte, zitterten ihr die Hände so, daß die in den höchsten Ausdrücken dankende Frau plötzlich fragte: »Aber mein Gott, was fehlt dir, wird es dir gschmuecht?« »O nein«, sagte Änneli, »es ist nichts anders, das gibt es mir, wenn ich lange kein Blut ausgelassen. Es ist allbets bald vorbei.« Und Änneli faßte sich zusammen, denn kein fremdes Ohr hatte je eine Klage gehört und kein Auge Tränen gesehen in ihrem Auge, außer bei natürlichen Anlässen; was unter ihnen vorging, sollte keine Posaune auf den Straßen verkünden. Aber es kostete dieses Zusammenfassen schwere Mühe, und kürzer als sonst fertigte sie die Frau ab; sie konnte es fast nicht aushaken, bis sie ihr den Rücken sah. Die gute Frau konnte fast nicht aufhören zu danken, aber nicht nur aus Dankbarkeit, sondern es stach sie auch der Gwunder, was Änneli wohl in diese Bewegung versetzt hatte, und solange sie im Hause war, hatte sie Hoffnung, es zu erfahren. Als sie es endlich verlassen mußte, stellte sie sich draußen bei Christen und hätte noch gerne ein neues Gespräch angefangen, aber der gab ihr keine Antwort. Gewiß haben die mit einander etwas gehabt, dachte sie, und ob dem Sinnen, was es gewesen sein möchte, vergaß sie fast die halbe Krone, mit welcher sie nun ihren Sohn laben konnte.
Wie die Frau zur vordern Türe aus ging, schoß Änneli zur hintern hinaus, machte sich etwas bei den Schweinställen zu schaffen, und da sie dort noch nicht ruhig war vor Knechten und Mägden, so schlich sie nach dem Bohnenplätz, der schon gar manchmal als schöner grüner Umhang gedient hat für Dinge, die nicht für jedermanns Augen sind.
Dort ließ sie endlich ihren Tränen freien Lauf, und es dünkte sie, wenn nur das Herz auch gleich käme den Tränen nach, so wäre doch dann ihr Leid zu End. Sie konnte nicht mehr stehen, sie mußte niedersitzen in den Bohnen, der Boden wankte unter ihr, schwarz ward es um Augen und Seele, als ob man ein großes Leichentuch um beide geschlagen hätte.
Also so ging es ihr jetzt, jetzt sollte sie das Unglück alleine entgelten, sollte den armen Leuten abbrechen, sollte es sie entgelten lassen, wessen sie sich doch so gar nichts vermochten! Das dünkte sie eine große Sünde, daß man ob der Armut wieder ersparen wolle, was menschliche Bosheit und eigene Schwachheit gefehlt; hatten sie doch selbst oft darüber sich aufgehalten, daß es zunächst immer die Armen entgelten müssen, wenn ein Reicher einen Verlust erleidet, indem man zuerst immer den Armen abschränzt, ehe man sich selbst etwas Entbehrliches abbricht, und jetzt sollte es bei ihnen auch gerade so zugehen? Und was trug das ab?
Eine Kleinigkeit, während man da, wo man das Zehnfache erübrigen konnte, alles im gleichen Trappe gehen ließ und sich keinen Zollbreit ändern konnte. Dublonen ließ man fahren, und wegen einer halben Krone mußte sie Worte hören, daß sie meinte, man haue ihr Leib und Seele abeinander. Sie sehe jetzt, daß keine Liebe zu ihr mehr da sei, daß sie der Sündenbock sei, der alles ausessen sollte, was Andere eingebrochet. Hatte sie nicht gewarnt, gemahnt? Aber man achtete sich ihrer nicht, glaubte ihr nichts, und jetzt sollte sie es alleine entgelten. Wenn noch ein Funke von Liebe zu ihr da wäre, so wäre man nicht so gegen sie. Und ging dann etwa die Sache alleine aus Christens Gut, hatte sie nicht auch eingekehrt, daß es wohl ein Almosen ertragen möchte! Ja, wenn sie eine bräuchige Frau wäre oder eine hoffärtige oder eine, die gerne im Sessel säße, so wäre es noch eins, aber ringsum sei Keine, die mehr eingebracht und mehr schaffete, und da möchte sie doch wissen, ob es ihr nicht auch etwas für ihre Freude ziehen möchte, und armen Leuten zu helfen sei einmal ihre Freude, und sie möchte wissen, ob das nicht besser wäre als Hoffart und Märitlaufen; Und je mehr sie weinte, um so völler ward dem armen Änneli das Herz, daß es sie dünkte, es müsse zerspringen und es wolle die Seele oben zum Kopfe hinaus. Schwere, zornige Wolken wälzten sich über ihr Gemüt: Fortlaufen, Scheiden, Klagen, Aufbegehren, Auspacken, Wüsttun, eins nach dem Andern kam, und eins nach dem Andern ging, vor dem Einen schämte sie sich der Leute wegen, das Andere wollte sie nicht um der Kinder willen; aber wie das Feuer das Wasser verzehrt und das Nasse trocknet, so verzehrte der Zorn das Leid und trocknete die Tränen, und als sie merkte, daß man sie suche ums Haus herum, da war es in ihrem Gemüte, wie es oft nach einem Gewitter am Himmel ist; es regnet nicht, es donnert nicht, aber es scheint auch die Sonne nicht, trüb und trotzig sieht es am Himmel aus, und was werden will, weiß kein Mensch. Wie sie merkte, daß die Suchenden sich entfernt und niemand mehr hinter dem Hause sei, verließ sie ihren Kupwinkel und erschien im Hause, wie ein kluges Weib es so wohl versteht, daß es mitten unter den Leuten ist und Keiner sagen kann, wann und woher es gekommen.
Die Kinder fühlten wohl, daß etwas nicht gut sei, aber keines frug nach der Ursache und jedes ging so bald wie möglich der Ruhe zu.
Christen rauchte wie üblich seine Pfeife vor dem Hause, und wo er einmal saß, da stand er nicht gerne auf, und wie gerne er auch im Bette gewesen wäre, so war es ihm doch so zuwider, daran hinzugehen, daß er bis nach Mitternacht sitzen konnte, ehe er zum Entschlusse kam. So saß er auch diesmal lange und alleine draußen, und vielleicht nicht bloß aus Gewohnheit, sondern wahrscheinlich war es ihm auch, wie es jedem Menschen ist, wenn er sich einem Menschen nähern soll, von dem er weiß, daß er beleidigt ist, aber nicht weiß, ist er streitbereit oder friedfertig, während man selbst den Mut noch nicht gefaßt hat, offen und ehrlich den Frieden zu begehren.
Endlich suchte er doch das Beet. Er war der Letzte, er betete sein Unser Vater, aber alleine, Änneli betete nicht mit. Als er fertig war, wartete er eine Weile; Änneli blieb stumm, er wußte nicht, schlief sie oder wachte sie; das erste Wort konnte er nicht reden, die Frage »Schläfst?« harte er zehnmal im Halse, aber dort blieb sie, er legte sich schweigend nieder. Es war das erstemal, daß sie sich nicht gegenseitig bsegneten mit dem frommen Wunsche: »Gute Nacht gebe dir Gott.«
Änneli harte nicht geschlafen, aber auch sie wollte nicht zuerst reden. Christen wars, der gegen sie so gröblich gefehlt, an ihm war das erste Wort, und auf dieses erste Wort wartete sie; aber ob sie mit ihm Friede machen wollte oder nicht, das wußte sie nicht, aber sagen wollte sie ihm, was ihr fast das Herz zerreißen und was sie nicht ertragen konnte, wenn es so gehen sollte.
Als Christen betete: »Vergib mir meine Schulden, wie ich auch vergebe meinen Schuldnern«, da dachte sie, ob er wohl an die Schuld denke, welche er heute gegen sie gemacht. Als er gebetet, erwartete sie seine Rede; als er aber schwieg, als er sich zum Schlafen legte, ohne Wunsch und ohne Segen, da sagte sie zu sich selbst: So, ist das so gemeint; jetzt ists fertig! Kann der seine Sünden nicht mehr bekennen, so bin ich ein armer Tropf; aber so ganz unterntun lasse ich mich nicht. Änneli dachte wunderbarerweise gar nicht daran, daß es heiße von Sünden vergeben, sondern hatte nur Bekennen im Kopf und daß dieses Bekennen Christen zukäme, und weil er es nicht tat, so sah sie darin eine neue Schuld, eine Schuld, die sie gar nicht verzeihen konnte, und als Wunsch und Segen noch ausblieben, da war es ihr, als sei zwischen ihr und Christen ein weiter und tiefer Graben, über den keines Menschen Fuß kommen könne, zu keinen Zeiten mehr. Manchmal war es ihr, als müßte sie reden, als sei alles gefehlt, wenn sie einmal in Groll und Ärgernis niedergegangen und die Sonne darüber aufsteigen ließen; aber solche Regungen wurden immer wieder unterdrückt durch den trotzigen Mut, daß sie einmal zeigen müsse, sie nehme nicht alles an, wolle nicht alles ausbaden, was Andere angerichtet, lasse nicht mit sich umgehen, als ob sie ein Waschlumpen wäre oder als wäre sie mit leeren Händen gekommen.
Selbe Nacht kam kein Schlaf in ihre Augen, aber auch keine Reue in ihr Herz. Als kaum der Morgen graute, stund sie auf, nur um Christen nicht etwa »Guten Tag gebe dir Gott« wünschen oder ihm auf seinen Wunsch danken zu müssen. Und das war wiederum der erste Tag, den sie ohne Wunsch und Segen begannen. Trübselig und wortlos verstrich er, und als der Abend kam, da legte zuerst Christen sich nieder. Ihn verlangte nach der Stimme seiner Frau, die er den ganzen Tag über nicht gehört, und es war ihm unwohl dabei geworden, denn sie war ihm lieb und er hatte die Rechnung gemacht, daß wenn sie schon gegen die Armen viel zu gut sei und mit ihnen viel unnütz verbrauche und das Lumpengesindel ziehe wie Zucker die Fliegen, so sei sie doch sonst sparsam und arbeitsam und er könnte leicht eine haben, mit welcher er viel böser zweg wäre, und es hätte jeder Mensch etwas an sich, das zu scheuen wäre, aber der eine minder, der andere mehr. Er wollte diesmal reden; ds Tublen trage nichts ab, und bald dreißig Jahre seien sie im Frieden bei einander gewesen, für den Rest wollten sie keinen neuen Brauch anfangen. Änneli kam, betete, aber betete leise für sich alleine. Wenn Christen ihr nicht »Gute Nacht« wünschen möchte, so wüßte sie nicht, warum sie für ihn beten solle, so dachte sie. Und Christen wartete sehnlich auf das Beten, wollte nachbeten; als aber kein lautes Wort kam, als Änneli ohne Wunsch sich zum Schlafen legte, da wußte er fast nicht, wie ihm war. Daß er gestern ohne Segen sich gelegt, dachte er nicht, nur an das, was Änneli jetzt tat. So, ist das so gemeint, sagte er zu sich selbst, so kann ich auch anders sein, warte du nur! So von einem Fraueli lasse ich mich noch nicht kujonieren, dafür bin ich nicht auf der Welt, und für was wäre ich der Mann, als für zu sagen, wie es gehen solle, und wenn du tublen willst, so tuble meinethalb so lange du willst, einmal ich frage dich nicht, was du habest.
So stieg das Feuer auch in Christen auf, und wie es bei langsamen Naturen der Fall ist, um lange zu bleiben. Änneli aber hatte erwartet, Christen werde fragen, warum sie nicht bete, dann wolle sie ihm so recht auspacken. Als nun Christen nicht fragte, nichts sagte, da dachte sie bei sich selbst: He nun so dann, wenn du es so haben willst, so habe es, aber daß du so ein Wüster wärest und daß du mich so wenig lieb hättest, das hätte ich nicht geglaubt, und nicht viel fehlte, es wäre ein heftiges Weinen über sie gekommen, so voll ward ihr auf einmal das Herz. Aber Zorn ward Meister und trieb, was im Herzen war, als heiße Dämpfe in den Kopf hinauf.
So begannen Beide erbittert die Nacht, standen am folgenden Morgen wortlos auf, und eine traurige Zeit begann für das Haus.
Sobald ein Groll im Herzen bleibt und sich setzet, wird dieses Herz selbstsüchtig. Sein Gesichts- oder vielmehr Gefühlskreis verengert sich. Wie die Spinne nur die Fliegen zu erfassen vermag, welche in den Bereich ihres Netzes kamen, so vermag der Groll nur die Dinge zu empfinden, welche ihn berühren; alles andere ist für ihn gar nicht in der Welt, er sieht es nicht, er riecht es nicht, und naht es sich fühlbar, so stößt er es zornig zurück. Wo in einem Herzen die Harmonie zerstört wird und ein Gefühl die Oberhand gewinnt, da trittet Beschränktheit ein, und wie Archimedes, in seine Berechnungen vertieft, die Einnahme seiner Vaterstadt nicht gewahrte, so fasset ein so recht innig Grollender es kaum, wenn sein eigen Haus brennt, und ein hart Leidender es kaum, wenn tausend Andere in seiner Nähe wimmern und webern würden.
Redet mit einem Liebenden von Brand und Wassernot, die Tausende unglücklich gemacht, um so mehr freut er sich seines Glückes, wenn euch nämlich hört. Redet einem Mißvergnügten von einer glücklichen Ernte, welche der Not von Tausenden ein Ende gemacht, er verflucht den Segen Gottes, weil er Andere zufrieden gemacht. Redet einem Zornigen von der Sanftmut unseres Herrn, so gibt er euch eine Ohrfeige, wenn er nämlich fasset, was ihr redet. Laßt einen Regenten eitel sein, so benutzt er den Staat ungefähr wie eine Dame ihr Schmuckkästchen; die Folgen sieht er nicht, wie nahe sie auch liegen, und zwischen monarchischen und republikanischen Regenten ist hierin kein anderer Unterschied als zwischen einem Tropf und dem andern Tropf.
Laßt eine Leidenschaft überhaupt im Herzen eines Menschen sich ansetzen, so wird sie euch gleich einem losgebundenen Element, das alles verzehrt, was in sein Bereich kömmt, und erst in sich zusammensinkt, wenn alles verzehrt ist, wenn es keine Nahrung mehr findet. Laßt Eheleute dauernd grollen, so nimmt nicht nur das ganze Haus diese Färbung an, wird unheimlich, sondern alle Interessen gehen in diesem Grolle auf, alle Gefühle verlieren mehr und mehr ihre Kraft, und wie die Gedanken an diesem Grolle unausgesetzt nagen, so verlieren sie ihre Schärfe für alles andere, ja es ist fast, als ob sie auch die Augen schwächte, daß sie das Notwendigste nicht mehr sehen, für das Liebste keinen Sinn mehr haben. Diese Zustande wachsen so allmählich, man weiß nicht wie, denn wie gesagt, der Teufel geht nicht immer umher wie ein brüllender Löwe, sondern sehr oft auch als ein schleichender, und die Hölle hat viel Ähnlichkeit mit einem Ofen, sie wird nicht auf einmal glühend, sondern zuerst nur lieblich warm.
So ging es auch dem armen Ehepaar. Wohlverwahrt trugen sie ihren Groll in ihren Herzen, ließen ihn anfangs nicht unter die Leute, blieben bei ihren angeerbten Sitten, und anständig ging es zu wie vorhin. Aber expreß verkaufte nun Christen seine Kühe nicht, expreß hielt er nicht weniger Leute, förderte die Arbeit nicht rascher, sondern alles eher das Gegenteil, und Änneli, weil sie dieses sah, so ward sie nur um so freigebiger und hieß manche Frau vor Christens Ohren bald wieder kommen. So trotzte eins dem Andern, während Keines die fünftausend Pfund vergaß und jedes meinte, sie sollten wieder erhuset werden; aber jedes meinte, auf anderem Wege, und je weniger das Husen vorwärts wollte auf diese Weise, um so mehr wuchs die innere Mißstimmung.
Diese wurde zuerst fühlbar den Kindern. An allen ihren Angelegenheiten nahmen die Eltern immer weniger teil, achteten sich derselben kaum, die Kinder konnten gehen und kommen, weder Vater noch Mutter fragten: woher, wohin? Schlechten Kindern ist das recht, guten Kindern aber hat es etwas unbeschreiblich Unheimliches.
Wenn Annelisi sonst heimkam von irgend einer Lustbarkeit, so hörte die Mutter gerne erzählen, wie es zugegangen, wer zugegen gewesen, und lockte wohl durch Fragen hervor, was Annelisi gerne sagte. Dann ließ sie Worte fallen über diesen Burschen und jenen Burschen, daß die Tochter wohl merken konnte, wer als Schwiegersohn willkommen wäre und wer nicht. Solche Gespräche waren auch die beste Gelegenheit, über Nebenbuhlerinnen sich zu beschweren und der Mutter zu sagen: »Nein aber, Mutter, einen neuen Kittel muß ich notwendig haben. Es sind Meitschi dagewesen, wo sie daheim mit den Zinsen noch genug zu tun haben, aber einen so schlechten Kittel, wie ich einen habe, hat keins angehabt. Und Göllerketteli habe ich nur die, welche ich erhalten, als mir der Herr erlaubt hat, und die sind so leicht und altmodisch, es trüge leicht eine hoffärtige Magd sie nicht.« In solchem Zusammenhang hatte die Mutter wider neue Anschaffungen am wenigsten, und wenn die Mutter einmal Ja gesagt hatte, so sagte der Vater seinem Annelisi nie Nein. Das ward auf einmal anders.
Es gab allemal saure Augen, wenn es irgendwohin wollte. Kam es heim und wollte mit einem Bericht des Erlebten wieder gut Wetter machen, so schwieg die Mutter oder sagte, sie möge des Gstürms nicht, und ehemals seien die Mädchen daheim geblieben und hätten den Eltern etwas abgenommen, statt in der Welt jeder Lustbarkeit nachzufahren wie die Vögel dem Hirs. Und wenn es etwas vom Anschaffen sagte, eine Kappe gerne gehabt hätte oder ein Gloschli, so seufzte die Mutter und schwieg oder sagte: Wenn es einmal fehle, so komme gerne alles zusammen und helfe einander, um einen zu Boden zu machen, und sie hätte geglaubt, es hätte mehr Verstand als so. Wenn es dann weinte, weil es der Mutter nichts mehr treffen könnte, und der Vater fragte ihns zufällig: »Was plärest aber?« und es antwortete, es mache es niemand mehr recht und Freude sollte es keine mehr haben, es erleide ihm, so dabei zu sein, und zuletzt nehme es den Ersten den Besten, nur um fortzukommen, so antwortete ihm der Vater: »He nun so denn, so nimm, und komme dann, mir brav Ehesteuer zu fordern, es geht in einem zu. Es ist besser, man mache gleich hintereinander fertig, so weiß man doch auch, woran man ist.«
Das tat dann Annelisi grusam weh. Es war ein gutes Kind und liebte seine Eltern, aber daß es das Unglück allein entgelten und nur für andere Menschen auf der Welt sein sollte, das meinte es doch auch nicht. Wie der Bauernsohn gerne ein Bauer wird, warum sollte die Bauerntochter nicht auch gerne eine Bäuerin werden? Es ist nicht nur wegen dem Manne selbst, der doch auch allerdings
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2013
ISBN: 978-3-7309-4788-3
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