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Chesterton: Ein Pfeil vom Himmel

Gilbert Keith Chesterton

 

Ein Pfeil vom Himmel

 

Kriminalerzählungen

 

 

 

verlag.bucher@gmail.com

Das Hundeorakel

»Ja,« sagte Pater Brown, »ich habe Hunde sehr gern – aber nur außerhalb des Gotteshauses.« Gewandte Sprecher sind nicht immer gewandte Zuhörer. Gerade die geistreichen Leute erweisen sich bisweilen als begriffsstutzig. Pater Browns Freund und Besucher war ein junger Mann namens Fiennes, ein Enthusiast mit temperamentvollen blauen Augen; sein blondes Haar machte den Eindruck, als sei es nicht mit der Haarbürste, sondern vom Gegenwind des Lebens, das er durchraste, zurückgestrichen. Er unterbrach seinen Redestrom von Ideen und Geschichten und schwieg einen Augenblick verdutzt, bis er die sehr einfachen Worte des Priesters verstand.

»Sie meinen, solange man sie nicht anbetet?« sagte er. »Ja, aber ich weiß nicht – es sind doch wunderbare Geschöpfe. Manchmal habe ich die Empfindung, daß sie bedeutend mehr wissen als unsereiner.«

Pater Brown erwiderte nichts. Er streichelte weiter halb unbewußt dem großen Schäferhund den Kopf, was dem Tier offenbar wohltat.

»Zufällig«, setzte Fiennes mit steigender Wärme seinen Monolog fort, »spielt auch in der Sache, in der ich mir heute bei Ihnen Rat holen möchte, ein Hund eine gewisse Rolle. Ich meine den Fall des »Unsichtbaren Mörders«, wie man ihn nennt. Die Geschichte ist gewiß sonderbar, am allersonderbarsten aber kommt mir der Hund vor. Natürlich bleibt auch das Verbrechen an sich höchst merkwürdig; wie konnte der alte Druce von einem andern Menschen ermordet werden, während er doch ganz allein in der Laube saß?«

Die Hand, die den Hund streichelte, unterbrach auf einen Augenblick die rhythmische Bewegung, und Pater Brown fragte ruhig: »Ach, es war also eine Laube?«

»Haben Sie denn den Fall nicht in den Zeitungen verfolgt?« erwiderte Fiennes. »Warten Sie mal – ich glaube, ich habe da einen Ausschnitt bei mir, aus dem Sie alle Einzelheiten ersehen können.« Er zog ein Stückchen Zeitung aus der Tasche und gab es dem Priester, der es dicht an die blinzelnden Augen hielt und anfing zu lesen; mit der anderen Hand liebkoste er mechanisch den Hund weiter – das verkörperte Gleichnis vom Manne, dessen rechte Hand nicht weiß, was die linke tut.

»Viele Detektivgeschichten von Menschen, die hinter verschlossenen Türen und Fenstern ermordet wurden und deren Mörder entkamen, ohne eine Tür zu benutzen, sind im Laufe der außergewöhnlichen Vorfälle in Cranston an der Küste von Yorkshire zur Wirklichkeit geworden. Dort wurde Oberst Druce erstochen aufgefunden; er war von rückwärts mit einem Dolche durchbohrt worden. Das Mordwerkzeug ist vom Tatort, ja überhaupt aus der nächsten Umgebung verschwunden. Die Laube, in der der Ermordete starb, war allerdings von einer Seite aus zugänglich – nämlich durch die gewöhnliche Tür, die zum Mittelweg des Gartens und zum Hause offen stand. Durch eine merkwürdige Verkettung von Zufällen standen jedoch sowohl Weg als Eingang während der kritischen Zeit unter genauer Beobachtung, und es ist eine Reihe von Zeugen da, deren Aussagen sich gegenseitig stützen. Die Laube steht am äußersten Ende des Gartens, der an dieser Stelle keinerlei Ein- oder Ausgang besitzt. Der Mittelweg des Gartens läuft zwischen zwei Reihen hohem Rittersporn, der so eng gepflanzt ist, daß jeder Schritt vom Wege ab eine Spur hinterlassen müßte. Weg und Blumen führen bis dicht an die Laube; es würde auffallen, wenn jemand vom geraden Pfad abweichen wollte. Ein anderer Zugang ist aber nicht vorhanden. Patrick Floyd, der Sekretär des Ermordeten, bezeugt, daß er sich in einer Lage befand, von der aus er den ganzen Garten übersehen konnte, und zwar von dem Augenblick an, wo der Oberst zuletzt lebend in der Türe stand, bis zu der Zeit, wo er tot aufgefunden wurde; Floyd war nämlich oben auf einer Leiter und stutzte die Gartenhecke. Diese Aussage wird von Janet Druce, der Tochter des Verstorbenen, bestätigt. Sie saß während der ganzen Zeit auf der Terrasse vor dem Hause und sah Floyd arbeiten. Auch dies wird, wenigstens für einen Teil der Zeit, von Donald Druce, dem Bruder der jungen Dame, beglaubigt, der vom Fenster seines Schlafzimmers aus, wo er im Schlafrock stand – denn er war erst sehr spät aufgewacht – den Garten übersehen konnte. Endlich passen die Angaben zu der Aussage eines Nachbars, des Dr. Valentine, der zu Besuch kam und sich einige Zeit mit Fräulein Druce auf der Terrasse unterhielt, und zu der des Familienanwalts Aubrey Traill, der vermutlich als letzter den Ermordeten am Leben gesehen hat – offenbar mit Ausnahme des Mörders. Alle stimmen darin überein, daß die Vorgänge sich folgendermaßen abspielten: um halb vier Uhr nachmittags ging Fräulein Druce den Gartenweg hinunter und fragte ihren Vater, für wieviel Uhr sie den Tee bestellen sollte. Er lehnte jedoch ab; er wollte auf seinen Rechtsanwalt Traill warten, den man ihm in die Laube schicken sollte, sobald er käme. Die junge Dame ging zur Terrasse zurück und traf unterwegs Traill, den sie in die Laube wies, wo er auch hinging. Nach einer halben Stunde kam er wieder heraus, der Oberst begleitete ihn bis zur Tür der Laube und war augenscheinlich in bester Verfassung und sogar glänzender Laune. Etwas früher hatte er sich über die Nachtschwärmereien seines Sohnes geärgert, aber seine gute Laune jedenfalls in ganz normaler Weise wiedergefunden; denn er hatte mehrere andere Besucher auffallend herzlich empfangen, darunter seine beiden Neffen, die auf einen Tag herausgekommen waren. Da die beiden Letztgenannten jedoch während der ganzen Zeit der Missetat auf einem Spaziergang abwesend waren, konnten sie nicht aussagen. Wie man sagt, stand zwar der Oberst nicht zum besten mit Dr. Valentine, aber der Arzt hatte nur eine kurze Unterredung mit der Tochter des Hauses, auf die er, wie man annimmt, ernste Absichten hat. Der Rechtsanwalt, Traill, sagt aus, daß der Oberst allein in der Laube zurückblieb, und dies wird durch Floyd bestätigt, der den Garten aus der Vogelschau überblickte, da er niemand durch den einzigen Eingang eintreten sah. Zehn Minuten später ging Fräulein Druce wieder durch den Garten; bevor sie am Ende des Weges angekommen war, sah sie ihren Vater auf der Erde liegen; er fiel ihr durch seinen weißen Hausrock schon von weitem auf. Sie stieß einen Schrei aus, der die andern herbeilockte; als man die Laube betrat, fand man den Obersten tot neben seinem Korbsessel liegen, der ebenfalls umgefallen war. Wie Dr. Valentine, der sich noch in der Nähe befand, feststellte, rührte die Wunde von einer Art Stilett her, das unterhalb des Schulterblattes eingedrungen war und das Herz durchbohrt hatte. Die Polizei hat den Tatort und die Umgebung nach einer solchen Waffe durchsucht, ohne eine Spur davon zu finden.«

»Also einen weißen Rock hatte der Oberst an, wie?« sagte Pater Brown und legte die Zeitung hin.

»Das war so seine Gewohnheit von den Tropen her«, antwortete Fiennes erstaunt. »Wie er selbst erzählte, muß er dort die merkwürdigsten Dinge erlebt haben, und wahrscheinlich war ihm Dr. Valentine so unsympathisch, weil er auch von den Tropen her kam. Aber die ganze Sache ist ein verdammtes Rätsel. Was da in der Zeitung steht, stimmt ziemlich genau – erlebt habe ich die Tragödie nicht, denn ich war nicht dabei, wie sie ihn fanden, weil ich gerade mit den beiden jungen Neffen und dem Hund spazieren war – eben dem Hund, von dem ich erzählen wollte. Aber ich habe den Schauplatz der Tat gesehen, wie er hier beschrieben steht – den geraden Pfad zwischen den blauen Blumen bis hinauf zu dem dunklen Eingang, den Rechtsanwalt mit seinem schwarzen Anzug und Zylinder, wie er ihn entlang ging, und den roten Kopf des Sekretärs gerade über der grünen Hecke, an der er mit seiner Gartenschere herumarbeitete. Dieser rote Kopf war auf keine Entfernung hin zu verkennen; und wenn die Zeugen sagen, daß sie ihn die ganze Zeit über gesehen haben, stimmt das sicher. Der rothaarige Sekretär Floyd ist überhaupt ein Original – ein unruhiger Geist, der immer anderen Leuten die Arbeit abnimmt, wie damals dem Gärtner. Ich glaube, er ist Amerikaner – jedenfalls hat er den amerikanischen Gesichtspunkt, wie sie drüben sagen.«

»Und der Rechtsanwalt?« fragte Pater Brown.

Nach kurzem Schweigen sagte Fiennes ungewöhnlich langsam: »Von Traill hatte ich einen merkwürdigen Eindruck. In seinem vornehmen schwarzen Anzug sah er fast wie ein Stutzer aus, aber doch nicht modisch oder elegant. Denn er trug einen langen, vollen schwarzen Backenbart, wie man ihn seit dreißig Jahren kaum mehr zu sehen bekommt. Er hatte ein vornehmes, ernstes Gesicht und ein vornehmes, ernstes Wesen, aber manchmal schien ihm einzufallen, daß er lächeln müßte – und wenn er dann seine weißen Zähne zeigte, schien er etwas an Würde einzubüßen, ja er bekam sogar etwas Kriecherisches. Vielleicht war es auch nur Verlegenheit, denn er spielte auch gern mit seinem Schlips und seiner Krawattennadel, die ebenso schön und ungewöhnlich waren wie er selbst. Wenn es irgend jemand gewesen sein könnte – aber was soll das alles – es ist doch ausgeschlossen. Kein Mensch weiß, wer es getan hat – niemand weiß, wie es überhaupt geschehen konnte. Das heißt, mit einer Ausnahme, die ich denn doch machen möchte – und deshalb erzähle ich es gerade. Der Hund weiß es.«

*

Pater Brown seufzte und sagte zerstreut: »Sie waren zum jungen Donald zu Besuch gekommen, nicht wahr? Er hat Sie doch auf dem Spaziergang nicht begleitet?« »Nein«, lächelte Fiennes. »Der Schlingel war am Morgen zu Bett gegangen und am Nachmittag aufgestanden. Ich habe seine Vettern begleitet, zwei junge Offiziere aus Indien, und wir haben uns über höchst alltägliche Dinge unterhalten. Der Ältere, der, wenn ich nicht irre, Herbert Druce heißt, gilt für einen hervorragenden Pferdezüchter, er redete in einem fort von einer Stute, die er gekauft hatte, und dem Lumpen von einem Verkäufer; sein Bruder Harry war schlechter Laune, weil er in Monte Carlo viel Geld verspielt hatte. Ich erwähne das nur wegen der Dinge, die sich auf unserm Spaziergang ereigneten, um Ihnen zu beweisen, daß uns Telepathie ganz fernlag – von uns vieren war der Hund der einzige Hellseher.«

»Was für Rasse?« fragte der Priester.

»So einer wie der da«, erwiderte Fiennes. »Dadurch bin ich auf die Geschichte gekommen – weil Sie, wie Sie sagen, nicht glauben, daß man an einen Hund glauben soll. Der Hund war ein großer deutscher Schäferhund und hörte auf den Namen ›Nox‹ – ein sehr passender Name übrigens, denn mir scheint das, was er anstellte, viel dunkler und geheimnisvoller als der Mord. [Fußnote] Sie müssen wissen, daß das Haus und der Garten des Obersten am Meer liegen; wir gingen etwa anderthalb Kilometer weit fort und längs des Strandes zurück. Wir kamen an einem merkwürdigen Felsen vorüber, dem »Schicksalsfelsen«; er ist in der Gegend sehr berühmt, weil, wie das manchmal so vorkommt, zwei Steine so aufeinander ausbalanciert sind, daß ein Stoß genügen würde, um den oberen herunterzuwerfen. Wirklich hoch ist er nicht, aber durch seine sonderbare Form wirkt er ziemlich wild und schaurig; mir wenigstens kam er so vor, denn die beiden jungen Kerle zeigten wenig Sinn für das Romantische. Vielleicht hatte ich auch schon Ahnungen – eben wurde die Frage aufgeworfen, ob es Zeit sei, zur Vesper zurückzugehen, und ich hatte so ein Gefühl, als ob es sehr auf die Zeit ankäme. Herbert und ich hatten beide keine Uhr mit. Wir riefen also seinen Bruder an, der ein wenig zurückgeblieben war, um sich an einer windgeschützten Stelle bei der Hecke seine Pfeife anzuzünden. Daher kam es, daß er die Zeit – nämlich zwanzig nach vier – mit seiner dröhnenden Stimme laut durch die Dämmerung gröhlte – es klang so laut, daß es wie die Verkündigung einer ungeheuer wichtigen Epoche wirkte. Besonders, weil er so ahnungslos war. Mit Vorzeichen ist das immer so – und gewisse Augenblicke waren ja an dem Nachmittag bedeutungsvoll. Nach Dr. Valentines Aussage starb der arme Druce wirklich kurz vor halb fünf Uhr.

Na, die Jungens sagten, wir hätten noch zehn Minuten Zeit. Wir gingen also am Strand weiter, ohne was Besonderes zu tun – wir warfen Steine für den Hund und schleuderten Stöcke ins Meer, die er apportieren sollte. Mir schien aber die Dämmerung immer drückender zu werden; selbst der Schatten des Schicksalsfelsens lag wie eine Last auf mir. Und da geschah das Merkwürdige. Nox hatte gerade Herberts Spazierstock aus dem Wasser apportiert, und sein Bruder warf nun auch seinen hinein. Der Hund schwamm ins Meer hinaus – aber auf einmal – es muß genau um Schlag halb vier Uhr gewesen sein – hörte er auf zu schwimmen. Er kehrte an den Strand zurück und blieb vor uns stehen. Dann warf er plötzlich den Kopf zurück und stieß ein Geheul aus – ein klagendes Wehgeheul, wie ich es nur je im Leben gehört habe.

›Was zum Teufel hat der Hund?‹ fragte Herbert; aber keiner von uns wußte eine Antwort. Das Heulen und Winseln der Bestie erstarb auf dem verlassenen Ufer der See; dann herrschte ein langes Schweigen, das plötzlich unterbrochen wurde. Unterbrochen, so wahr ich lebe, durch den schwachen Schrei einer Frau, der von weither, aus dem Innern jenseits der Hecke, zu kommen schien. Damals wußten wir noch nicht, was es zu bedeuten hatte; aber später erfuhren wir es. Es war der Schrei, den das Mädchen ausstieß, als sie den Leichnam ihres Vaters fand.«

»Nun kehrten Sie wohl um, nicht wahr?« fragte Pater Brown geduldig. »Und was geschah weiter?«

»Ich will Ihnen sagen, was weiter geschah«, sagte Fiennes mit finsterem Nachdruck. »Als wir in den Garten kamen, war das erste, was wir erblickten, der Rechtsanwalt Traill – ich sehe ihn noch jetzt vor mir mit seinem schwarzen Hut und schwarzem Backenbart, die sich gegen den Hintergrund von blauen Blumen, die Laube, den Sonnenuntergang und den Schicksalsfelsen in der Ferne abhoben. Sein Gesicht und seine Gestalt waren im Schatten; aber ich könnte einen Eid leisten, daß man seine Zähne sah, und daß er lächelte.

Kaum hatte Nox den Menschen erblickt, so raste er nach vorn, blieb mitten auf dem Wege stehen und bellte ihn wie besessen an. Er heulte mörderisch; aus seiner Hundekehle brachen Flüche, die mit ihrem deutlichen Ausdruck von Haß fast menschlich wirkten. Der Mann kroch in sich zusammen und flüchtete zwischen den Blumen den Weg hinauf.«

Pater Brown sprang mit erstaunlicher Ungeduld von seinem Sitz auf.

»Der Hund hat ihn also angeklagt, nicht wahr?« rief er aus. »Das Hundeorakel hat ihn verurteilt. Haben Sie sich auch um den Vogelflug gekümmert, und ob die Vögel rechts oder links vorbeizogen? Haben Sie die Auguren um die Opfer befragt? Hoffentlich haben Sie nicht unterlassen den Hund aufzuschneiden, und die Eingeweide zu beschauen. Auf diese Art von wissenschaftlicher Probe scheint ihr aufgeklärten Heiden euch zu verlassen, wenn es sich darum handelt, einem Manne Leben und Ehre abzuschneiden.«

Fiennes saß einen Augenblick mit offenem Munde da, bevor er die Worte herausbrachte: »Ja, was haben Sie denn? Was hab' ich denn getan?«

In die Augen des Priesters stahl sich ein Ausdruck von Besorgnis – die Besorgnis des Mannes, der im Dunkel an einen Pfosten angerannt ist und sich einen Augenblick lang fragt, ob er kein Unheil angerichtet hat.

»Ich bedaure unendlich«, sagte er voll aufrichtiger Betrübnis. »Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Unhöflichkeit – verzeihen Sie.«

Fiennes sah ihn neugierig an. »Manchmal kommen Sie mir geheimnisvoller vor als alle Geheimnisse«, sagte er. »Aber – wenn Sie an das Geheimnis vom Hund nicht glauben wollen, über das Geheimnis vom Menschen kommen Sie nicht hinweg. Sie können doch nicht leugnen, daß im gleichen Augenblick, wo das Tier aus dem Wasser kam und brüllte, die Seele seines Herrn aus ihrem Leib getrieben wurde durch den Stoß einer unsichtbaren Kraft, die kein Sterblicher auffinden oder sich auch nur vorstellen kann. Und was den Rechtsanwalt betrifft; ich halte mich nicht nur an den Hund: da gibt es noch andere sonderbare Einzelheiten. Mir machte er den Eindruck eines glatten, lächelnden, doppelzüngigen Menschen, und eine seiner Angewohnheiten kam mir förmlich wie ein Anhaltspunkt vor. Wie Sie wissen, waren Arzt und Polizei sehr bald zur Stelle – Valentine wurde eingeholt, als er von Hause wegging, und er telephonierte sofort. Dieser Umstand, und dazu die Abgeschlossenheit des Hauses, die kleine Anzahl von Personen und der begrenzte Raum haben es sozusagen möglich gemacht, jeden genau zu durchsuchen, der in der Nähe war – und es wurde auch jeder durchsucht – nach einer Waffe. Das ganze Haus, der Garten und der Strand wurden aufs Genaueste nach einer Waffe abgesucht. Daß der Dolch so einfach verschwinden konnte, ist fast ebenso widersinnig, wie daß der Mörder verschwand.«

»Daß der Dolch verschwand –« Pater Brown nickte. Er schien plötzlich aufmerksam zu werden.

»Nun passen Sie auf,« fuhr Fiennes fort, »ich habe Ihnen schon gesagt, daß dieser Traill die Gewohnheit hatte, fortwährend an seinem Schlips und an der Krawattennadel herumzubasteln – besonders an der Nadel. Seine Nadel war gleichzeitig auffallend prächtig und altmodisch – genau wie er selbst. Sie bestand aus einem Stein mit konzentrischen farbigen Kreisen, die wie ein Auge aussahen – und je mehr er sich damit befaßte, desto mehr fiel sie mir auf die Nerven, gerade als wäre er ein Zyklop mit einem einzigen Auge mitten im Körper. Aber die Nadel war nicht nur groß, sondern auch lang und mir fiel ein, daß er sich vielleicht so große Mühe gab, sie richtig zu stecken, weil sie noch länger war als sie aussah – so lang wie ein Stilett, mit einem Wort.«

Pater Brown nickte nachdenklich. »Wurde noch von einer anderen Waffe gesprochen?« fragte er.

»Ja,« erwiderte Fiennes, »einer der beiden jungen Druces – ich meine die Vettern – hatte noch eine Idee. Weder Herbert noch Harry machten zuerst den Eindruck, als ob sie für Detektivarbeit in Frage kämen – aber während Herbert genau dem althergebrachten Typus des schweren Dragoners entspricht und in der Garde eine gute Figur macht, gehörte sein jüngerer Bruder seinerzeit der indischen Polizei an und wußte in diesen Dingen Bescheid. Auf seine Art war er sogar nicht einmal dumm – mir kommt es fast vor, daß er zu gescheit war und abgesägt wurde, weil er sich nicht um den Amtsschimmel kümmerte und auf seine eigene Verantwortung handelte. Jedenfalls war er sozusagen ein Detektiv ohne Stellung und warf sich mit mehr als Dilettanteneifer auf den Fall. Mit ihm hatte ich auch die Debatte über die Waffe – und die Debatte brachte uns auf eine neue Idee. Es fing damit an, daß er meine Beschreibung von der Art und Weise, wie der Hund auf Traill losgegangen war, in Abrede stellte – er sagte, daß ein Hund, wenn er ganz gefährlich sei, nie belle, sondern knurre.«

»Damit hatte er völlig recht«, bemerkte der Priester.

»Ferner sagte er, wenn es darauf ankäme, hätte er Nox schon andere Leute anknurren gehört – zum Beispiel den Sekretär Floyd. Ich gab zur Antwort, daß sein Einwurf sich selbst erledige – zwei oder drei Leute konnten das Verbrechen nicht begangen haben, am wenigsten Floyd, der so unschuldig war wie ein wilder Schuljunge und allen sichtbar über der Hecke saß und mit seinem roten Schopf so auffallend aussah, wie ein scharlachroter Kakadu. ›Ja, leicht ist die Sache nicht,‹ gab mein Kollege mir zur Antwort, ›aber kommen Sie doch bitte mal mit mir in den Garten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, was wohl noch keiner gesehen hat.‹ Das war am Tage, an dem der Mord entdeckt wurde, und im Garten lag noch alles unverändert da: die Leiter stand bei der Hecke; und unter die Hecke bückte sich mein Begleiter und zog aus dem tiefen Gras etwas heraus. Es war die Schere, mit der die Hecke gestutzt worden war; an einer Spitze klebte Blut.«

Nach einem kurzen Schweigen fragte Pater Brown plötzlich: »Was machte der Rechtsanwalt dort?«

»Er sagte uns, daß ihn der Oberst bestellt hatte, weil er sein Testament ändern wollte«, erwiderte Fiennes. »Der Oberst war sehr reich, und sein Testament war wichtig. Damals wollte Traill uns noch nichts Genaueres über die Änderung sagen, aber ich habe seither erfahren – erst heute früh nämlich – daß der Hauptteil des Vermögens dem Sohne entzogen und der Tochter vermacht wurde. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Druce auf seinen Sohn wütend war, weil er ein so flottes Leben führte.«

»Die Frage nach dem Warum ist bis jetzt durch die Frage nach dem Wie in den Hintergrund gedrängt worden«, bemerkte Pater Brown nachdenklich. »In diesem Augenblick hat Fräulein Druce, wie es scheint, durch den Tod unmittelbar gewonnen.«

»Um Himmelswillen! Sind Sie aber ein Gemütsmensch«, rief Fiennes aus und starrte ihn an. »Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß sie –«

»Wird sie den Doktor Valentine heiraten?« fragte der andere. »Was ist das für ein Mensch?«

»Valentine? Er trägt einen Bart – sehr blaß, sehr schön – sieht wie ein Ausländer aus. Auch der Name klingt nicht gerade englisch. Aber im Ort hat man ihn gern und hält viel von ihm; er ist ein geschickter und gewissenhafter Chirurg.«

»Ein so gewissenhafter Chirurg,« sagte Pater Brown, »daß er sein Besteck mit hatte, als er die junge Dame zur Vesperzeit besuchte. Er muß doch eine Lanzette oder etwas Ähnliches benutzt haben – und er war in der Zwischenzeit nicht zu Hause.«

Fiennes sprang auf und sah ihn hitzig vor Neugierde an. »Meinen Sie, daß er dieselbe Lanzette benutzt hat –«

Pater Brown schüttelte den Kopf. Alle diese Einfälle sind vorläufig noch ganz phantastisch«, sagte er. »Die Frage lautet nicht, wer es getan hat und womit, sondern wie es getan wurde. Wir könnten viele Männer finden und viele Werkzeuge – Nadeln und Scheren und Lanzetten. Aber wie konnte ein Mensch in das Zimmer gelangen – oder auch nur eine Nadel?«

Während er sprach, blickte er nachdenklich auf die Decke – aber bei den letzten Worten wurde sein Auge plötzlich munter, als hätte er da oben eine merkwürdige Fliege erblickt. »Nun, wie würden Sie jetzt vorgehen?« fragte der Jüngere. »Sie haben so viel Erfahrung – wozu würden Sie mir raten?«

»Ich fürchte, daß ich nicht viel tun kann«, sagte der Priester mit einem Seufzer. »Ich kann wenig sagen, da ich den Ort und die Leute sogar nicht kenne. Für den Augenblick können Sie nur die lokalen Nachforschungen fortsetzen. Ich habe Sie doch richtig verstanden, daß Ihr Freund, der indische Polizeibeamte, mehr oder weniger die Untersuchung leitet. Ich würde an Ihrer Stelle hinfahren und sehen, was er macht, was bei seiner dilettantischen Detektivarbeit herausgekommen ist. Vielleicht gibt es schon etwas Neues.«

Während seine Gäste – der Zweifüßler und der Vierfüßler – sich entfernten, griff Pater Brown zur Feder und widmete sich wieder seiner unterbrochenen Arbeit; er war dabei, eine Vortragsreihe über die Enzyklika Rerum Novarum zu entwerfen. Das Thema war umfassend, daher war er nach zwei Tagen ähnlich beschäftigt, als der große schwarze Hund wieder ins Zimmer gesprungen kam und sich voll Begeisterung und Aufregung über ihn warf. Der Herr, der nach dem Hund eintrat, teilte die Aufregung, wenn auch nicht die Begeisterung. Er war in weniger angenehmer Weise aufgeregt worden – die blauen Augen traten aus den Höhlen, und das ausdrucksvolle Gesicht war ein wenig bleich.

»Sie haben mir gesagt,« fing er unvermittelt und ohne Einleitung an, »ich sollte nachsehen, was Harry Druce macht. Wissen Sie, was er gemacht hat?«

Der Priester antwortete nicht, und der junge Mann stieß heraus:

»Ich will's Ihnen sagen. Er hat sich umgebracht.«

Die Lippen des Paters bewegten sich ganz leise; was er sagte, hat mit dieser Geschichte – und dieser Welt nichts zu schaffen.

»Manchmal graut mir vor Ihnen«, sagte Fiennes. »Haben Sie – haben Sie das erwartet?«

»Ich hielt es für möglich,« sagte Pater Brown, »deshalb riet ich Ihnen, hinzufahren und sich nach ihm umzusehen. Ich hoffte, es würde nicht zu spät sein.«

»Ich war derjenige, der ihn fand«, sagte Fiennes mit belegter Stimme. »Es ist die häßlichste und unheimlichste Erfahrung meines Lebens. Ich ging wieder durch den alten Garten und merkte, daß etwas außer dem Mord darin neu und ungewöhnlich war. Die Blumen drängten sich noch immer in blauer Fülle um den dunklen Eingang in die alte graue Laube – aber sie sahen aus wie blaue Dämonen, die in der Unterwelt vor einer dunklen Höhle tanzen. Ich blickte mich um – alles schien an seinem gewohnten Ort. Aber mir drängte sich das sonderbare Gefühl auf, daß selbst der Himmel nicht so aussah wie sonst.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2013
ISBN: 978-3-7309-4747-0

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