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Carl Spitteler: Das Bombardement von Åbo

Carl Spitteler

 

 

Das Bombardement von Åbo

 

Erzählung nach einem historischen Vorgang der Neuzeit

 

 

 

Verlag.bucher@gmail.com

 

Das Bombardement

Daß Ströme weit von ihrer Mündung aufwärts noch gewaltige Meerschiffe tragen können, weiß jedermann. Wer aber solche Ungeheuer in einem kleinen Bach landeinwärts will fahren sehen, der muß sich nach Åbo bemühen. Freilich hat der betreffende Bach einen Namen, das verdient er, und zwar, wenigstens wenn er mit südländischem Akzent gesprochen wird, einen wohlklingenden, nämlich Aura. Die Aura ist nicht so breit wie die Straße eines deutschen Landstädtchens, aber von beneidenswerter Tiefe und überdies in ihrem stillen Wandel durch die alte Hauptstadt Finnlands mit massiven Terrassen von echtem finnischen Marmor geschmückt, auf welchen sich zur Marktstunde die Käufer gruppieren, während die Verkäufer mit ihren Booten das ganze Wasser bedecken. Die Brücke dient als Korso für die Spaziergänger, links und rechts liegen die Holzhäuser, welche trotz ihrer Ärmlichkeit nicht bescheiden dürfen genannt werden, da sie auf den Namen einer Stadt Anspruch erheben. Etwas weiter draußen, aber immer noch im Stadtbach, ankern die großen Stockholmfahrer. Das Meer ist mit Schären wie mit schwimmenden Wäldern viele Stunden hin angefüllt, eine Riesenlagune, die bis zu einem Drittel des Weges nach Stockholm reicht. Auf der entgegengesetzten Seite, landeinwärts, wo die Aura herkommt, erblickt man auf einem niedern Hügel die älteste Kirche Finnlands, welche schon dastand, als Stockholm noch ein kleines Fischerdorf war.

Während des Krimkrieges, als die englischen Kriegsschiffe den Finnischen und den Bottnischen Meerbusen unsicher machten, wurde dem Gouverneur von Åbo, General Baraban Barabanowitsch Stupjenkin, eine russische Besatzung geliehen; zwei Regimenter stark, wie man in Petersburg glaubte, in Wirklichkeit jedoch anderthalb Bataillone, mit einem in Helsingfors abwesendenPalkownik an der Spitze, an dessen Stelle der Major Balvan Balvanowitsch kommandierte, gewaltig im Kartenspiel, daneben, trotz seiner beträchtlichen Faulheit, ein vollendeter Reiter, im übrigen, außer seiner sprichwörtlichen Dummheit, ohne hervorstechende kriegerische Eigenschaften. Der Dienst, nachdem einmal die Küstenwachen eingerichtet waren, ließ vollauf Zeit zu der jedem Russen unentbehrlichen Langeweile, welche bekanntlich vom Schöpfer ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen wurde, damit man sie durch Kartenspiel vertreiben könne. So gestaltete sich das Societätshüß, dieses unvermeidliche Grandhotel aller finnischen Städte, allmählich zum Generalquartier der russischen Besatzung, wo sich außer den Offizieren auch der Gouverneur mit seiner Frau einfand, die schon seit fünf Jahren Tag für Tag das erbärmliche Nest nach allen erdenklichen Gegenden Sibiriens verwünschten, denn in Sibirien ist man wenigstens seiner Whistpartie sicher. Außerdem die wenigen russischen Schreiber und Zivilbeamten, welche sich in dieser Wüstenei auftreiben ließen. Hier wurde dann, «um die goldene Zeit nicht zu verlieren», wie sich der Gouverneur witzig ausdrückte, im Gesellschaftssaal von mittags ein Uhr bis abends spät Karten gespielt, auch nicht übel getrunken, sogar schwedischer Punsch, auf welchen sich die Abneigung der Russen gegen Schweden und Engländer nicht ausdehnte, und während des Kartenmischens politisiert, das heißt auf die Groß- und Kleinmächte Europas weidlich geschimpft und auf die kaiserliche Regierung von Petersburg gestichelt. Die Gouverneurin ließ sich in den Pausen, oder wenn sie wenig Trümpfe in der Hand hatte, von den jüngern Offizieren den Hof machen, und der Gouverneur kümmerte sich darum «wie um das Jahr vierzig».

Die Soldaten trieben sich inzwischen in den Wirtshäusern herum, mit den Finnen Bruderschaft trinkend, oder machten sich auf dem Markte unnütz, wo sie mit den Verkäuferinnen wie mit russischen Bauerndirnen zu schäkern versuchten, aber statt schelmischer Antworten nur ein entrüstetes sittliches Grunzen erhielten.

So standen die Dinge, als eines Morgens, eben als der Markt sich füllte, ein Kosak von der Küstenwache mit vorgebeugtem Oberkörper über das Pflaster sprengte.

«Birigis-jah!» schrie er aus vollem Halse, da die Hufe des kleinen, leichtsinnigen Tierchens nur einen gedämpften Ton erweckten, welcher in dem allgemeinen Geschwätz verhallte.

«Was gibt's?» fragte ihn einige Soldaten.

«Bumbardirovka», lautete die kurze, flüchtige Antwort, darauf war er schon über die Brücke.

Das Wort ging von Munde zu Munde: «Bumbardirovka», und «Bumbardirowanje» riefen die Soldaten einander zu, und die intelligentern unter den Finnen, welche zwar nicht die Endungen, wohl aber das «Bum» begriffen, übersetzten «Pummi» und «Tulipummi».

Im Nu verwandelte sich das friedliche Marktvolk in eine empörte, grunzende, fauchende und grölende Masse, anzusehen wie ein Hornissenschwarm und anzuhören wie ein Rudel Wölfe, die über ein Pferd herfallen. Die Weiber kreischten nicht wie andere Menschenweiber; tiefe, fürchterliche Töne stießen sie heraus, die Männer aber knirschten in einem fort: «Satanaperrkele.»

Jetzt ertönte Trommelwirbel und Horngetute, worauf sich die Soldaten im Laufschritt entfernten.

«Gott ist gnädig», schrien sie im Laufen, «endlich schickt er uns etwas zu arbeiten.»

Auf der Brücke oben erschien zwischen vier berittenen Kosaken der Gouverneur Baraban Barabanowitsch, glänzend ausstaffiert, wie man ihn noch nie gesehen: auf dem Kopfe einen vergoldeten Helm mit rotweißem Federbusch, der grüne Rock mit schweren goldenen Epauletten und einem Magazin funkelneuer Orden geschmückt, darüber ein sechs Zoll breites Rosaband schräg über die Schulter bis zum Degen geschlungen, die Hosen zündrot zum weithin leuchtenden Zeichen des Generalsranges. Aber er war zu Fuß, weil er seinen Rappen dem Major Balvan Balvanowitsch verkauft hatte, was ihm neben der anständigen Kaufsumme noch den Vorteil eintrug, daß er das Geld, welches ihm die Regierung jährlich für zwei Leibpferde nebst Knecht und Hafer zugute schrieb, zu nützlichern Zwecken verwerten konnte. Bei seinem ehrfurchtgebietenden Anblick verstummte das Volk und lauschte mit entblößtem Haupte. Der Gouverneur hielt eine Ansprache. Mit weithin schallender Stimme erinnerte er die Anwesenden an ihre Untertanenpflicht, an ihr Glück und Gedeihen, seit sie von den Schweden befreit worden, an die Vatergüte des milden Kaisers Nikolaj Pawlowitsch, welcher die Finnen ganz besonders in sein Herz geschlossen, also daß er einmal auf der Parade zu Wiborg mit höchsteigenem Munde «Kaksi» gesprochen. Dann ging er zu den Schilderungen des Feindes über, beschrieb das Heidentum und die entsetzlichen Gebräuche der Engländer, wie sie weder Völkerrecht noch Eid und Verträge achteten, und malte ihnen das gräßliche Schicksal ihrer Frauen und Kinder aus, wenn der Feind aus den dunkeln Höhlen der Schiffe an die heilige Küste Finnlands steigen sollte. Schließlich ermahnte er sie zum Widerstand bis aufs Messer, rief die jungen Männer zum freiwilligen Beistand auf und – bei diesen Worten wurde seine Stimme weicher – erklärte sich bereit, freiwillige Spenden auf dem Altar des Vaterlandes, also auf seinem Schreibtisch, entgegenzunehmen.

«Urrah», schrien die Kosaken aus Leibeskräften, als die Rede zu Ende war, und die Menge ließ ein beistimmendes Gemurmel hören. Der Gouverneur verschwand wieder, die Gruppen scharten sich um den Bürgermeister und den Apotheker, und allmählich sammelte sich die junge Mannschaft und zog auf die Höhe über der Stadt, um sich Waffen geben und in den Hantierungen unterrichten zu lassen.

Als der Gouverneur, nach Hause zurückkehrend, die Treppe seines Holzpalastes hinanstieg, fand er die Küchentür offen. Sogleich dämpfte er den Tritt und sah wie zufällig hinein. Agafia, die kleine, zierliche, braune Köchin mit den schönen kleinrussischen Mandelaugen, war um den Herd beschäftigt, in einiger Entfernung von ihr stand ein junger, flachshaariger Finne.

«Was tust du hier? Wie heißest du?» fuhr ihn der General an.

«Tullela», lautete die kurze, doch bescheidene Antwort.

«Faulpelz! Du tätest auch besser, dein Vaterland zu verteidigen, als in der Küche herumzulungern. Fort, zum Teufel! Und Gott mit dir.»

Der Finne wich zögernd vom Platze, verlegen die Mütze in der Hand drehend. Agafia aber brauchte ihre Zunge.

«Erlauben Sie, daß ich Ihnen sage, Exzellenz: Das Vaterland ist etwas Kleines, Exzellenz! Aber der Finne da ist mein Bräutigam.»

«Dumme Gans!» schnarrte der Gouverneur, «bist du verrückt? Einen Finnen heiraten?»

Agafia blickte den Zornigen schelmisch blinzelnd an, dann entgegnete sie munter lachend: «Sie sind neidisch auf ihn, Exzellenz?» Und als der Gouverneur aufbrausen wollte, fügte sie rasch hinzu, die Hände über dem Knie zusammenschlagend: «Wie Sie schön sind heute! Exzellenz! Wie gut Ihnen die große Form steht!» Dann schreckte sie plötzlich zusammen: «Die Herrin kommt!» flüsterte sie hastig, worauf jener sogleich die Küche verließ.

Agafia aber nahm jetzt den Finnen, der noch immer wie der heilige Alexander Newskij in der Isaakskirche unbeweglich dastand, leidenschaftlich um den Hals und versetzte ihm einige herzhafte Küsse, die derselbe nicht zu erwidern wagte.

Die Gouverneurin lag auf dem Sofa und rauchte.

«Hast du die ärgerliche Nachricht schon vernommen?» rief sie ihrem Manne mit ihrer langgezogenen, stets klagend tönenden Stimme entgegen.

«Nun, was ist da dabei? Es bleibt noch immer die Frage, ob die Kugeln der Engländer so weit reichen.»

«Was Engländer! Was kümmern mich die Engländer! Die Engländer, das ist etwas Kleines! Gott mit ihnen! Aber weißt du denn nicht, daß Agafia heiraten will und mir den Dienst gekündet hat?»

«Nicht möglich!»

«Nun, du hast ja doch den langen Bengel von Finnen in der Küche gesehen. Du brauchst dich nicht zu verstellen; ich habe gar wohl gemerkt, daß du Agafia gerne siehst. Das ist auch natürlich; sie ist hübsch, und sie weiß es. Aber das ist jetzt alles Nebensache. Jedenfalls lasse ich Agafia nicht fort. In diesem elenden finnischen Nest ist sie die einzige, die ‹Batwinia› zu kochen versteht. Was nützen mir die schönsten Lachse ohne ‹Batwinia›? Tu mir den einzigen Gefallen und steh nicht so gleichgültig da; es geht dich an.»

«Mein Gott! nichts Leichteres als das: zahl ihr den Lohn nicht aus! Du hast ihn doch hoffentlich zurückbehalten?»

«Keine Gefahr! Du meinst doch nicht, ich werde so dumm gewesen sein, ihr den Lohn auszuzahlen! Sie hat vierzehn Monate bei mir stehen. Allein ihr Liebhaber ist reich, die große neue Ziegelbrennerei oben am Strand hinter der Stadt gehört ihm. Kannst du ihr nicht den Paß verweigern?»

Baraban Barabanowitsch seufzte.

«Wir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4631-2

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