Wenn diese Blätter von fröhlichen Leuten berichten, so braucht es doch nicht gleich zum Anfang lustig herzugehen. Jeder, der die näheren Umstände kennt, wird es begreifen. Man muß nur ein wenig mit dem Leben der Oderschiffer Bescheid wissen, dann ist man darüber im Bilde, daß nicht alle gleich geachtet sind, die dem Kapitän eines Schleppdampfers ihr Geld fürs Anhängen pünktlich zahlen. Wer dem Dampferkapitän und den Kollegen Schiffseignern als Störenfried nicht genehm ist, wird möglichst am Ende angehängt, wo es schwierig ist zu steuern. Denn der letzte Kahn wird in den Windungen des Flusses kräftig herumgeworfen; und außerdem ist er ein wenig einsam. Die anderen Kähne gleiten brüderlich nebeneinander; den Strom hinauf, versteht sich; stromab macht jeder seine Fahrt für sich.
Stromab, das hieß für den Schiffer Butenhof und seine Frau und sein Kind, das man Wilhelmine getauft hatte, Eintracht und Friede. Unter sich sind böse Menschen reizend. Aber sie müssen ganz unter sich sein.
Stromauf, das bedeutete Zank und Grobheit und Reiberei. Beliebt waren die Butenhofs im Schleppzug nicht. Wenn sie droben in Cosel und Breslau und drunten in Fürstenberg und Stettin mit den Kapitänen und Prokuristen von dieser und jener Gesellschaft verhandelten und ihr gutes Geld vorwiesen, zeigte sich keiner beglückt. Der Mann war ein Grobian, die Frau eine Schlampe, und das Kind, das Kind war eine ganze Schlimme. Nein, daß ein so kleines Mädel so schlimm sein konnte. Alle Schiffer wunderten sich.
Daher kam es keinem recht von Herzen, wenn er jetzt der Kleinen sein Beileid sagen sollte, so traurig es auch war, daß ihr gleich nach der Mutter auch der Vater sterben mußte. In Zeuthen hatte der Schleppzug Anker geworfen, denn dort war Butenhof zu Hause, und dort wollte er auch begraben sein. Der Flußschiffer gehört unter seine Heimaterde, so wahr der Seemann auf dem Meeresgrund ruhen muß.
Und nun kamen die Schiffer und ihre Frauen vom Friedhof, über den Markt und die Fischertreppen hinab. Die Glocken läuteten noch, bis sie drunten waren an den wilden Gärten, den vom Baum zu Baum gespannten Netzen und ihren Schiffsstegen. Sie lobten alle den hohen Wasserstand, der es ermöglicht hatte, die Kähne unterhalb der Stadt festzumachen; denn mit den Beikähnen von der Fahrtrinne zum Ufer hinüberzurudern, das wäre im Trauerstaat eine unbequeme Sache gewesen.
Die dichtgedrängten schwarzen Kähne ähnelten selbst einem Trauerzug; das lag so in der ganzen schönen Begräbnisstimmung und hatte wenig mit Butenhofs Tode zu tun. Sein Schiff war wieder ganz am Ende angeschlossen, und vor dem langen, dunklen, rohen Bretterkahn stand Wilhelmine Butenhof am Ufer, was gänzlich unpassend war. Denn sie hätte sich dort nicht schon postieren können, wäre sie nicht in ihrem widerwärtigen Eigensinn von Vaters Grabe davongelaufen, dem Trauergeleit voran. So war das Kind eben; es begriff nicht einmal, daß es zu weinen hatte und sich auf dem Heimweg zum Kahn einigen Schifferfrauen anvertrauen mußte, die trostbereit neben dem Pastor warteten. Auf allen Kähnen fühlten die Frauen sich vor den Kopf gestoßen, weil die Butenhofsche Waise bis zur Landung in Zeuthen mit dem Toten auf ihrem Kahn geblieben war und nicht die Frauen auf den beiden Vorderkähnen gebeten hatte, bei ihnen übernachten zu dürfen. Die Kinder gruselten sich vor Wilhelmine, wie sie da so schwarz ihren Kahn anstarrte.
Das neue schwarze Kleid war etwas zu lang und der Trauerhut zu eng. Deshalb hatte Wilhelmine Butenhof ihn abgenommen und schüttelte ihre silberblonden Locken, als die Herren Schiffseigner und ihre Frauen und der Dampferkapitän selbst ihr kondolierten. Mit ihren braunen Augen blinzelte sie durch die dichten schwarzen Wimpern die Leute verschlagen an. Die Lippen hatte sie nach innen gepreßt, ihre Nasenflügel zitterten. Ihr Blick war kalt, der Mund hart.
»Was wirst du nun wohl machen?« nahmen die Schiffseigner und ihre Frauen und der Dampferkapitän selbst teil.
»Mit euch weiterfahren«, sagte das Kind mit seiner rauhen, häßlichen Stimme und drehte sich nach dem armseligen Kahn um.
Darüber waren sie dann alle sehr empört, als sie in Gruppen von mehreren Familien in den Kajüten um den Kaffeetisch saßen. Schadenfroh war das Mädchen, grob; so eine Antwort zu geben; man mußte ja noch froh sein, daß es an des Vaters Begräbnistag nicht noch unflätig geworden war wie sonst. Nicht einmal die Trauerkaffee-Einladung hatte es angenommen, obwohl es schon schlimm genug war, daß keine Leidtragenden von Butenhofscher Seite da waren, die heut die andern bewirten konnten.
Wilhelmine schlug die Klappe über der Kajütentreppe zu, dachte nicht mehr daran, daß sie eigentlich glühend gern Mittelpunkt eines Begräbniskaffees gewesen wäre, kletterte auf ihres Vaters Bett und schloß den kleinen Wandschrank über dem Kopfende auf. Dann breitete sie die dort hervorgesuchten Frachtverträge und die Quittungen und das Lohnbuch vom Steuermann auf dem Tisch aus, nachdem sie die Wachstuchdecke noch einmal abgewischt hatte. Aber der Steuermann meinte später, das ginge sie alles gar nichts an. Wilhelmine runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen hoch und stieß mit dem Fuß gegen das Tischbein, immerzu.
»Und morgen wirst du abgehängt, hat der Kapitän gesagt«, schimpfte der Mann, »das bissel Ladung übernehmen die anderen Kähne, haben sie ausgemacht, und ich komme auf dem Kochale seinen Kahn«, freute er sich jetzt, und Wilhelmine atmete verächtlich durch die Nase.
Sie bearbeitete das Tischbein nicht weiter, sondern holte ihre tönerne Sparbüchse aus dem Küchenschrank an der Treppe, zerschlug sie und schob das Geld dem Steuermann hin.
»Sieh nach, ob's reicht. Nein«, strich sie das Geld wieder ein, »sieh lieber nach, daß du dir deinen Lohn vom Kapitän geben läßt, vom Rest meines Schleppgeldes. Bis Cosel war alles bezahlt.«
Natürlich hätte es Streit gegeben – denn mit Wilhelmine Butenhof gab es immer Streit –, wenn nicht vom Ufer her der Pastor gerufen hätte, welcher Kahn wohl dem lieben Verstorbenen gehöre. Er wollte das verwaiste Schifferkind besuchen, am Begräbnisnachmittag, der Seelsorge wegen. Da traf es sich ja gut, daß der Steuermann gerade bei dem kleinen Mädchen saß. Sonst hätte der Pastor einen schlechten Eindruck von den Schiffern bekommen und annehmen müssen, sie ließen die Waise allein.
»Dein Vater muß ein guter und frommer Mann gewesen sein«, setzte sich der Geistliche zu Wilhelmine, »in den letzten Krankheitstagen hat er sein Haus bestellt, fürsorglich an den Tod gedacht und deinetwegen an mich geschrieben.«
Wie man ein Haus bestellen sollte, wenn man auf seinem Kahn ans Sterben ging, konnte das Schifferkind nicht begreifen, und auch sonst mußte es sich wundern.
»Da staune ich bloß, daß der Vatel nicht an den Wirt vom ›Grünen Baum‹ geschrieben hat; der war doch sein bester Freund; mit dem hat er doch immer einen gehoben, wenn wir hier im Hafen lagen.«
Aber so sind Schiffer nun einmal. Wenns es ans Sterben geht und sie lassen ein mutterloses Kind zurück, mag die Mutter auch eine anerkannte Schlampe gewesen sein, dann schreiben sie nicht an den Hafengastwirt, sondern an den Pastor ihrer Heimat, auch wenn der neue Pastor noch ganz fremd dort ist. Einen Vormund sollte der Pastor ernennen; aber keinen von den Schiffern aus dem Schleppzug dieser letzten Fahrt.
Jetzt redete der Geistliche mit der Waise über die ernste Angelegenheit und balancierte danach auf dem Dampfersteg zum Kapitän hinüber, was sehr höflich und im Interesse des Kindes fürsorglich war. Morgen sollte sie zu ihm ins Pfarrhaus kommen, rief er Wilhelmine noch zu, die ihn ans Ufer begleitet hatte, damit er nicht länger bei ihr bleiben könne.
Als dieser Morgen da war, luden die Männer vom Schleppzug die Fracht vom Kahn ›Helene‹ – so hieß die verstorbene junge Frau Butenhof samt ihrem alten Kahn –, warfen die Stahltrosse und das Verbindungstau aufs Deck, und der Steuermann stieß das Schiff mit dem großen Ruder, der Potsche, noch näher ans Land. Das Haltetau am Land wurde fester um den Uferpfahl gewickelt. Der Schornstein des Dampfers rauchte, die Schrauben warfen mit den ersten Drehungen hohe Wellen auf, die Schiffer standen jeder an seinem Steuer, die Bootsjungen zogen die Stangen ein, mit denen man in die Fahrtrinne zurückgelenkt hatte, und der Schleppzug glitt stromauf, an der hügeligen Fischerstadt vorbei, durch Wiesen und Pappeln und Weiden hindurch, die Sandbuhnen entlang. Der Kahn ›Helene‹ und Wilhelmine Butenhof blieben zurück, um einen Vormund zu erhalten.
Es wurde schon gesagt, daß der Pastor, der Wilhelmine den Vormund zu geben hatte, noch ein wenig fremd im Ort war und seine Gemeindeglieder noch nicht so recht kannte. Da war das mit der Vormundswahl natürlich schwierig. Aber wenn der Pastor Herrn Müßiggang darum bat, das verantwortungsvolle Amt zu übernehmen, tat er wohl weder einen Fehlgriff noch eine Fehlbitte. Denn, um es rundheraus mitzuteilen, August Müßiggang hatte sich in der kurzen Zeit der Pfarramtsführung durch den neuen Geistlichen als der frömmste Mann der ganzen Gemeinde präsentiert. Er fehlte in keinem sonntäglichen Hauptgottesdienst und in keiner Bibelstunde Mittwoch abends; er war in den Beratungen der Gemeindevertretung von vornherein immer auf Seiten des Pastors, und niemand in der zweitausend Seelen starken Gemeinde konnte ihm auch nur das geringste nachsagen.
Das lag aber nur einfach daran, daß die ältesten Leute so allmählich weggestorben waren. Ihnen hätte es vielleicht einfallen können, Herrn Müßiggang so recht als Vorbild eines bekehrten, alten, argen Sünders hinzustellen. Aber nun waren einmal die ältesten Zeuthener nicht mehr da, und für die anderen mußte August Müßiggang als der frömmste Mann längs und oberhalb des Hafens dastehen. Er verfügte über eine kleine Rente und eine große Anspruchslosigkeit und harrte eines kirchlichen Ehrenamtes; denn in der Gemeindevertretung gab es schließlich noch sechsunddreißig andere Glieder neben ihm.
Die Übertragung der Wilhelmine Butenhofschen Vormundschaft direkt durch den neuen Pastor war natürlich eine Art kirchlichen Ehrenamtes. Er trat es an, und der neue Pastor hatte nichts mehr zu tun als Wilhelmine dem Pflegevater zuzuführen. Die Angelegenheit wurde Gott befohlen, und Wilhelmine Butenhof nahm darauf alles in eigene Hand.
Wer Vormund ist und sich Pflegevater nennen darf, hat vor dem Gesetz eine schöne Anzahl wichtiger Rechte. Aber, nicht wahr, wer das Geld hat, dem gehört natürlich die größere Macht. Und das war nun gar keine Frage: Herrn Müßiggangs Rentenerträge konnten sich nicht messen mit der seinem Mündel väterlicherseits hinterlassenen Brieftasche, den beiden Portemonnaies, dem Sparbuch von der Zeuthener Stadtsparkasse und der Schlesischen Schifferbank. Das erklärte sich daraus, daß Herr Butenhof auf einen neuen Kahn gespart hatte und vielleicht auch auf eine neue Frau; aber das war schließlich nicht so wesentlich.
Um von vornherein für klare Verhältnisse zu sorgen, packte Wilhelmine die beiden Sparkassenbücher und die beiden Portemonnaies, die Brieftasche und die mit Geld vermengten Scherben ihrer tönernen Sparkasse in eine Einkaufstasche aus schwarzem Leder, hängte sie an ihren Arm und stellte sich mit ihrer gesamten Habe, abgesehen vom Kahn, bei ihrem Vormund ein. Sie hatte sich verhältnismäßig hübsch frisiert, eine saubere Schürze umgebunden – was sie ungern und nur bei festlichen Gelegenheiten tat – und kratzte sich mit der von keiner Tasche in Anspruch genommenen Hand unentwegt hinter dem Ohr. Das ging immer abwechselnd; jetzt trug sie die Tasche rechts und kratzte sich links, jetzt hing die Tasche in der linken Hand, und sie hatte es mit dem rechten Ohr. Aus alledem läßt sich ersehen, daß Wilhelmine ernst zumute war.
»Je, ja«, grunzte der alte Mann, und Wilhelmine Butenhof kniff die Augen zusammen, mißtrauisch und erwartungsvoll, und schlug dann ihre Lider auf und nieder, daß die langen, dunklen Wimpern bald an die stolzen Bogen der Augenbrauen streiften, bald die runden, zart durchbluteten Wangen trafen. Dann stieß sie mit dem Fuß auf. Nicht gerade unhöflich kommandierte sie: »Nun aber mal los.«
Damit war schließlich das erlösende Wort gesprochen, und man konnte verhandeln. Zu diesem Zweck setzte man sich auf das Ledersofa, und nachdem Wilhelmine eine Weile an den aufgeplatzten Stellen des Sitzpolsters herumgezupft hatte, stemmte sie die Hände auf beide Knie und blickte Herrn Müßiggang mit vorgeneigtem Kopfe herausfordernd an. Die Tasche hatte sie zwischen sich und den alten Mann, allerdings mehr auf sich zu, gestellt. Sie bewies wieder einmal ihre große Vorliebe dafür, in der Redeweise der Erwachsenen zu sprechen, was ihr auch vorzüglich gelang.
»Wenn ich jetzt bei Ihnen bleibe und so hier in der Stadt lebe, na, da werden wir wohl mit meiner Erbschaft bald fertig sein.«
Wilhelmine interessierte sich höchlichst für Herrn Müßiggangs zugelaufene Katze, die seine Bettdecke zerzauste. Durch das Fenster über dem Bett sah Wilhelmine die Oder.
»Das wäre aber schlimm«, staunte der Vormund, und Wilhelmine nickte bekräftigend.
»Was ist denn das auch schließlich, so eine Tasche mit Geld«, zerrte sie an den Lederbügeln der Tasche und lehnte den Kopf seitlich zurück, »das ist nur dazu da, um immer weniger zu werden, sagte der Vatel, wenn er dem Steuermann die Löhnung auszahlte.«
»Tje, tje, tje, tje«, zwitscherte Herr Müßiggang durch seine letzten Zähne, und das silberne Lockengewudel nickte heftiger; außerdem schlugen Wilhelmines Absätze in regelmäßigem Takt aneinander; was sollte sie auch mit den Beinen anfangen, wenn sie noch nicht ganz vom Sofa bis zum Fußboden reichten.
»Da werden wir wohl den Kahn verkaufen müssen«, gab der Vormund zu bedenken und krimmerte sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger unter der Nase.
Das Mündel ließ die Ledertasche los und brachte Herrn Müßiggangs gehäkeltes Chemisett in Ordnung; es war zur Weste herausgerutscht.
»Was das alte Ding schon bringen wird«, schob es die Unterlippe über die obere, so daß der rühmenswerte Amorbogen verschwand wie ein untergehendes Schiff.
»Meinst du?« erschrak der Mann.
Die Unterlippe blieb über der oberen, und die Wimpern hafteten auf den Wangen. Doch nun riß Wilhelmine die Augen munter auf, und das kleine Mundwerk stand nicht mehr still.
»Aber wenn wir den Kahn behalten und mit dem Kahn weiterfahren, solange er noch hält, dann können wir natürlich eine Menge herausholen.«
Es war Herrn Müßiggang angenehm zu hören, daß Wilhelmine, was die Besitzrechte auf den Kahn betraf, immer per »wir« redete. Von der Seite hatte er die Vormundschaft noch gar nicht angesehen. Aber als alter Mann mußte er selbstverständlich erst einmal widersprechen. Das wäre ja. Da könnte man ja. So eine Zumutung. Wo er vom ganzen Schifferhandwerk nichts verstehe.
Worauf Wilhelmine, das Mündel, bezaubernd lächelte: »Von welchem Handwerk verstehen Sie denn was?«
Jetzt lächelte der Vormund, abwehrend, verschwiegen und vielsagend, um sofort wieder ernst zu werden.
»Du bist ein gescheites Kind. Wir werden die ›Helene‹ verpachten.«
Wilhelmine nahm sich zusammen, den alten Mann nicht anzuschnauzen, wie sie es sonst gewiß getan hätte. Sie war entsetzt: »Nein, nein, das mit dem Verpachten geht nicht, ganz und gar nicht und ausgeschlossen. Die ›Helene‹ hat ihre Mucken, die nur der Vatel und ich und das Schindluder von Steuermann kennen. Und der Schweinekerl ist doch beim Kochale. Wenn die ›Helene‹ noch Geld bringen soll, dann muß ich schon selber auf dem Kahn sein.«
Sie packte die Tasche mit beiden Händen fest und ließ sie zwischen ihren Knien hin und her baumeln: »Mit Ihnen natürlich. Denn auf meinem Kahn sind Sie jetzt oberster Kapitän.«
Der Alte hielt den Zeigefinger unter der Nase still. Das war etwas.
»Und das ist etwas«, bestätigte Wilhelmine Butenhof nachdrücklich seine Gedanken.
»Werden Sie etwa ungern so auf dem Wasser 'rumfahren und nicht mehr fest wohnen?« wurde sie argwöhnisch. »Aber im Winter werden Sie ja immer hier sein«, beruhigte sie sich selbst und den Vormund.
»Oh, was das fahrende Leben betrifft«, strich jetzt der alte Mann zufrieden über sein Chemisett und tat sehr geheimnisvoll, »was das fahrende Leben betrifft –«
Wenn Wilhelmine Butenhof sich nicht sehr täuschte, so hatte der Vormund ein stolzes Lächeln zu verbergen. Sie klapperte mit den Wimpern, und Verschiedenes war ihr nicht ganz geheuer (trotzdem aber nicht ohne Verheißung).
»Und die Schule?« erkundigte sich Herr Müßiggang, und es schien ihm gar nicht recht zu sein, daß es dieses gefährliche Hindernis noch gab.
»Ja, nicht wahr, die Schule, verflucht und geschissen«, schimpfte der blonde Seraph, »aber Gott sei Dank nur im Winter, in der Schifferschule in Fürstenberg. Mit der Schule ist das für uns Schifferkinder schon alles so eingerichtet, daß wir wenigstens im Sommer –«
Sie zuckte ergebungsvoll die Achseln und flüsterte sanft: »Aber es dauert ja nicht mehr lange.«
»Im Winter müßten wir uns dann trennen?« wollte der Vormund wissen, und Wilhelmine erkannte daraus, daß der Handel geschlossen war.
»Aber die ›Helene‹ bleibt bei dir in Zeuthen«, billigte sie, zum Du übergehend, dem Alten zu, »hier im Hafen, daß du sie jeden Tag vom Fenster aus sehen kannst.«
»Ein schönes Schiff«, belog sich der Vormund aufseufzend, und Wilhelmine seufzte mit. Dabei drückte sie ihm ihre Tasche in die Hände, worauf er »Tochterle« zu ihr sagte und »nu, mein Herzerle«.
»Aber alles aufschreiben, was du mir gibst«, vergewisserte sich das Kind.
Sie beschlossen, Kaffee zu kochen. Wilhelmine ging zum Bäcker oben am ›Schwarzen Berg‹, Propheten und Küsse holen; und weil die festliche Stimmung nach Gästen verlangte, sah sich August Müßiggang schnell einmal in der neugierigen Nachbarschaft nach seinem Großneffen um.
»Wir haben einen schönen Kahn«, flüsterte der Onkel bei dem Vesper dem Neffen zu, und Wilhelmine schubste den Jungen unter dem Tisch und kniff, am Propheten beißend, ein Auge zu. Er würde verstehen, daß der Alte schon ein bissel kindisch wurde, daß man ihm seinen schönen Glauben lassen mußte und daß sie die alleinige Schiffseignerin war, Schiffseignerin Wilhelmine Butenhof.
»Ich erbe mal Vatels Fleischerei«, setzte Müßiggangs Neffe sich ins rechte Licht; und dann gestand er ehrlich: »Aber ich möchte auch lieber auf die Oder.«
»Ich gestehe es frei und offen«, gebrauchte Wilhelmine eine von den Frauen aufgeschnappte Lieblingsredensart, »wenn du eine Fleischerei in der Stadt hast, dann gehörst du aufs Land.«
Als Schifferkind mußte sie ihn verweisen. Der fromme Vormund fiel auch gleich ein: »Bei dir ist das ganz was anderes als bei uns«; und dann begütigte er: »Du hast doch überhaupt deinen Dampfer, Michel.«
Wilhelmine wurde neidisch, neugierig, unruhig. Wie? Was? Einen Dampfer?
Michel lächelte, traurig und verlegen. Die Butenhof ließ nicht locker. So kam die ganze Geschichte heraus, wegen Onkels dummer Redensart. Aber schließlich hatten ja noch hundert andere Leute, ach, die ganze Stadt, von der merkwürdigen Freundschaft mit Fräulein Zerline Leitgöbel gewußt. Damals, als Michel noch sehr klein gewesen war, hatte es sich herumgesprochen, daß er sich einmal an jedem Tage den beschwerlichen Weg die Fischertreppe hinauf machte. Es lohnte ihm, weil droben im ersten Hause in der Richtung auf den Markt zu Fräulein Zerline ihr Schaufenster hatte, wenn man die kleine Scheibe so nennen will. Denn ein Dampfer stand darin mit einem goldenen Gitter, einem Anker und zwei Schornsteinen. Und der Rauch, der aus dem ersten aufstieg, war der Griff des Schlüssels für das Uhrwerk. Staunenswert war auch ein Puppentheater aus Pappe und Holz, mit einem Vorhang, grell bemalten Kulissen und einer knienden Genoveva auf der Bühne. (Daß die Kniende bestimmt Genoveva sei, erfuhr Michel erst später.)
Als Michel und Zerline noch nicht miteinander sprachen, hatte sich des Jungen Sehnsucht nach all den schönen Dingen einmal so unbezähmbar gesteigert, daß er sich ihnen näherbringen zu müssen glaubte. Er drückte seine Hände so heftig gegen das Fenster, daß Fräulein Zerline drinnen im Zimmer – es wurde in seinem vorderen Teil Spielwarenhandlung genannt – ein leichtes Knacken zu hören meinte. Dadurch lernten sie einander kennen.
Denn Fräulein Zerline kam heftig herausgestürzt: Groß, hager, den Rock wie einen Bausch von Falten um die mageren Hüften geschnürt, mit kurzem, dünnem, grauem Haar und leeren, kleinen, grauen Augen.
»Du Nichtsnutz«, begann sie zu schimpfen, »du willst wohl einer armen alten Frau noch Schaden zufügen?«
Bei Michel überwog das Erstaunen den Schrecken: »Ich habe gedacht, Sie wären reich. Wer so herrliche Dinge hat wie die Frau Zerline und sie immer behalten kann –«
»Ja, immer behalten«, erbitterte sich das Fräulein, »das ist eben das Schlimme. Niemand kauft einem in diesem gottverfluchten Nest etwas ab.«
Das war etwas viel auf einmal. Das Fräulein war gar nicht reich, und es sprach den Namen Gottes aus und fluchte dazu. Wirklich, das war aufregend. Denn Michel war ein stilles Kind, weil er so viel allein war. Drunten im letzten Haus an der Treppe hatte sein Vater eine kleine Hafenfleischerei und dazu in einer Kammer zwei Schränke voll alter Kleider zum Weiterverkaufen, und überall in der Kammer und Küche Flaschen und Tüten mit Eßware und dazu Pantoffeln. Mit all der Ware fuhr er immer, wenn Schleppzüge in der Fahrtrinne abends vor Anker gingen, die mit Sonnenaufgang weiter stromauf mußten, im Fischerboot an die Kähne heran. Sonst saß er im Gasthof, ach ja, auch im ›Grünen Baum‹, und ließ seinen Jungen unbeachtet.
Davon kommen die traurigen Augen, dachte das Fräulein barsch, aber die Wimpern, nein, sind die hübsch.
Und hübsch war auch das schmale Gesicht mit dem starken, roten Mund. Michels Körper aber war wie zu niedrig, halb demütig und ungeschickt, halb gedrungen und voller verhaltener, unerwachter Kräfte.
»Sieh dir nur wenigstens alles an, damit du mir nicht nächstens die Scheibe ganz einschlägst«, befahl Zerline und schob den Jungen vor sich her ins Haus, in die Stube, ans Fenster. Michel griff nach dem Dampfer. Was so besonderes an dem Blechding sei, konnte Fräulein Zerline nicht begreifen.
Aber Michel machte es ihr klar.
Der Dampfer arbeitete, leistete Gewaltiges. Allerdings durfte er nie in einer Schüssel fahren, denn er mußte neu und unversehrt bleiben für den Verkauf. Alles spielte sich brav im Trockenen ab, auf Fräuleins Tisch – das war der Fluß; auf dem Sofa – das war der Hafen; auf dem hochgetürmten, geglätteten Bett – das war das Meer. Wenn man ein wenig in die Kissen fuhr, das gab vielleicht einen Sturm. Da konnte der Dampfer seine Kraft erweisen. Der Dampfer hieß er. Das genügte.
Ein Herbsttag war noch einmal so lind, so licht, daß es Zerline und Michel nicht im Zimmer hielt. Sie nahmen den Dampfer mit vor die Tür. Nicht etwa, als hätten sie zum Hafen hinuntergehen und den Dampfer ein wenig ins Wasser setzen können, an einer Schnur um den Schornstein. Nein, das wäre kläglich gewesen. Und außerdem mußte er eben »neu bleiben«.
Auf der obersten Stufe der Fischertreppe standen Zerline und Michel, und das Fräulein kauerte sich tief neben den kleinen Jungen. Sie kniffen beide Augen zusammen, und tatsächlich, wenn Michel den Dampfer dicht vor ihre Gesichter hob und man blinzelte, dann sah es aus, als fahre er drunten unter sich färbenden Bäumen, in zarter Sonne und starkem, klarem Herbstwind auf zitterndem, strömendem Wasser.
Das gab Grund genug, zum erstenmal eine Festvorstellung auf dem Puppentheater zu veranstalten. Fräulein Zerline bestand darauf. Die ganze Geschichte von Genoveva spielte sie, und sie konnte es wundervoll.
»Das verstehst du, Theaterspielen«, sah Michel die Freundin mit großen Augen an. Da machte sie ihm ein Geständnis.
Im Schrank von Michels Vater sollte ein überaus prächtiger Flittermantel hängen. Des Pastors Schwägerin hatte ihn früher einmal getragen. Aber das war noch der alte Pastor. Es ist gar nicht auszudenken, welche Macht die Pastoren, die alten und die neuen, in den kleinen Städten noch haben; trotzdem es Antennen und Kinos und Autos überall und überall schon gibt. Das ändert gar nichts.
Des alten Pastors Schwägerin war sehr zu seinem Leidwesen Schauspielerin. Und einmal, als sie zu Besuch im Pfarrhaus war, hatte sie in Zeuthen eine Fee gespielt, im ›Schwarzen Adler‹, ganz umsonst, mit Dilettanten, aus Wohltätigkeit. Dagegen vermochte auch der Pastor nichts zu sagen. Als die Schwägerin nach den Ferien wieder heimreiste in ihr Theater, ließ sie den Kindern des Pastors den Flittermantel zurück. Daß die Kinder damit spielten, wollte der Pastor ganz und gar nicht. Und weil er den Mantel niemand schenken konnte und er sich nicht verkaufen ließ, nein, mit Würde nicht, schickte er ihn zu Michels Großvater. Der Mantel hatte den Trödler nichts gekostet, aber er brachte ihm und seinem Sohn auch nie etwas. Doch weiterverschenken? Ware blieb Ware. Der Mantel hing im Trödlerschrank und war verloren für Fräulein Zerline, die in den letzten jungen Jahren ihres Lebens geträumt hatte, Schauspielerin zu werden und in solchem Flitterstaat über eine Bühne zu stolzieren und zu deklamieren wie des Pastors Schwägerin.
Michel wühlte daheim im Schrank, er rollte den Flitterschleier zusammen, steckte das Bündel unter den Arm und breitete es dann vor Fräulein Zerline aus. Das gab ein Entzücken! Sie stand vor dem schmalen, blinden Spiegel; sie raffte den Flittermantel um sich, sie steckte ihn in Falten, schlug ihn über die Schulter und zeigte es Michel einmal gründlich, wie sie als richtige Genoveva auf dem wirklichen Theater gesprochen und sich bewegt hätte.
Abends mußte der Flittermantel wieder unter dem Altkleiderkram hängen. Abends mußte Michel wieder in seinem kalten Bett liegen. Aber Tag um Tag, nach der Schule, pilgerte Michel hinauf zu seinem Dampfer und trug das Bündel von vergrautem Tüll mit glitzernden Steinchen zu Fräulein Zerline.
Jahrelang hatte Michels Vater nicht nach dem alten Theaterzeug gefragt. Nun geschah es doch, daß er davon redete: »... du bist keine Hilfe für deinen Vater wie die kleinen Jungen rings, die alle Fischerkähne teeren und die Netze flicken.« Michel hatte viel zu beschwören. Er arbeite auch. Er werde einmal etwas schaffen.
»Einmal, ich verstehe immer einmal«, schrie der Vater und ging zum Schrank, »in der Fleischerei kann ich dich nicht brauchen. Verkauf den Flitterdreck hier, und ich werde dir sagen, ob du etwas verdienen kannst.«
Er warf ihm den Knäuel zu. Von da an spürte Michel einen heftigen, einen schmerzhaften Druck in seinem Herzen, wenn Fräulein Zerline, die arm war und nur den Dampfer besaß und das Theater, den Mantel um sich hüllte oder ihn behutsam ausbreitete wie eine strahlende Erinnerung an ein Leben, das sie nie gelebt hatte.
»Sie spielen wieder einmal in der Stadt. Zur Wohltätigkeit, wie damals. Für Weihnachten«, redete sie aufgeregt zu Michel hinüber, »ganz wie damals.«
Michel schluckte an seinen Tränen. Der Vater hatte es ihm auch schon gesagt. Jetzt wäre die Gelegenheit. Jetzt hieße es beweisen. Und Michel bewies es, weil er den Vater traurig und vergrämt sah, denn der Fluß trieb schwere Eisschollen, die Kähne lagen in größeren Häfen als dem von Zeuthen, und niemand fragte nach Fleisch, Pantoffeln und alten Hosen.
Michel ging zu der Frau Rektor, die er aus der Schule kannte. Sie leitete den Verein, der »das Theater spielte«. Er verkaufte ihr den Flitterstaat für den Weihnachtsengel. Für eine Mark. Er schob es auf bis zum Sonnabend, dann wollte er dem Vater die Mark geben.
Nicht ganz am selben Tage, aber sehr nahe an ihm, machte droben Fräulein Zerline Leitgöbel ihr einziges Weihnachtsgeschäft. Etwas, etwas wurde endlich auch bei ihr geholt. Der Dampfer. Für des Bürgermeisters Jungen. Denn der Bürgermeister sagte immer: »Man muß am Ort kaufen.«
Am dritten Advent, am »Silbernen Sonntag«, wie man so sagt, war es, an dem das Fräulein in ihrem kleinen Laden verkauft und nicht gefeiert hatte. Es brachte ihr, obwohl es polizeilich erlaubt war, keinen Segen. Michel hatte recht, recht, recht mit seinen Warnungen.
»Aber ich habe es ihm gesagt«, murmelte sie, mit roten Flecken auf ihren knochigen Backen, »ich habe es ihm immer gesagt: der Dampfer ist für den Verkauf.«
Sie wiederholte es noch immer, als Michel schon vor ihr stand – vor ihr stand, wie beladen mit Schmerz und Schuld. Dann faßten sie sich an den Händen und setzten sich nebeneinander aufs Sofa und redeten nicht mehr von der Sache.
»Es geht nicht«, stöhnte Fräulein Zerline, als sie am Abend verlassener war als sonst, »ich werde morgen zum Bürgermeister gehen. Entschuldigen werde ich mich. Ich werde sagen: der Dampfer war schon verkauft. Die Frau überm Flur hat mich vertreten und ihn verkauft, und ich habe es nicht gewußt.«
Der Herr Bürgermeister solle nur verzeihen; was recht sei, das wisse niemand besser als der Herr Bürgermeister.
»Sie brauchen doch heut den Flitterstaat nicht mehr«, ereiferte sich Michel vor der Frau Rektor, als wolle er einen ordentlichen Handel betreiben. »Die Vorstellung ist doch vorüber. Ich gebe Ihnen die Mark zurück, und Sie haben umsonst gehabt, was Sie brauchten.«
Das war eine zwingende Beweisführung. Geradezu angenehm war sie. »Aber ein schlechter Trödler«, schüttelte die Frau Rektor den Kopf, »macht erst ein Geschäft und zerschlägt es dann selbst.«
Der Fluß lag dunkel und starr in schmutzigem Schnee. Der Wind der Oderebene heulte über die Fischertreppe hin und riß ein paar Silbersterne aus dem Flitterkleid, das Michel unter dem Arm trug, als er die Treppe hinaufstapfte zum Fräulein.
Was sie bisher vermieden hatte aus Angst vor dem Spott der Leute – heut konnte es Zerline nicht lassen. Sie hielt Ausschau nach Michel. Den Dampfer hatte sie unter der Schürze. Aber nun hob sie ihn mit beiden Händen in die Höhe.
Michel sah es von drunten. Er hielt an und faltete sein Bündel auseinander. Er winkte mit dem Flittermantel wie mit einer schönen Fahne.
Es war nichts geworden mit dem Handel in Zeuthen. Aber niemals und nirgends haben Liebende sich ein größeres Geschenk gemacht.
Als ihm das kleine Mädchen so aufgeregt zuhörte, schien Michel seine alte Freundin Zerline gar nicht einmal mehr so ganz allein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2846-2
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Widmung:
für meine Frau