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Legenden

Rudolf Binding

 

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Coelestina

Eine Märchenlegende

An einem Samstagnachmittag im November hatten die Englein nichts zu tun und die himmlische Musik, die jeden Vor- und Nachmittag spielte, mußte sich ohne die Unterstützung behelfen welche sie ihr sonst durch ihren Gesang zu leisten hatten. Und das kam so. Am verflossenen Sonntag während der großen Himmelsandacht hatte der Herrgott zu bemerken geglaubt daß die Engelchöre nicht so frisch klangen wie er es sonst zu hören gewohnt war, ja daß kleine Rauhigkeiten die himmlische Harmonie störten auf deren ungeschmälerte Reinheit er sehr sah. Er ließ sich daher nach der Andacht den Kapellmeister und den Gesanglehrer kommen und stellte sie ziemlich verdrießlich über seine Wahrnehmungen unter dem Hinweis zur Rede, er könne nach einer arbeitsreichen Woche wohl verlangen daß ihm am Sonntag in der Himmelskirche eine anständige Musik vorgemacht würde. Das aber was er heute da hätte zu hören bekommen, erinnere ihn eher an üble irdische Katzenmusiken, die er nicht allzusehr liebe, als an eine Symphonia coelestis wie sie einzig hier am Platze sei. Der Kapellmeister, dem der Gesanglehrer durch Haftung und Gesichtsausdruck stumm beizupflichten sich bemühte, erklärte dem lieben Gott hierauf, daß er seine Wahrnehmungen nicht bestreiten könne; er müsse für die beobachteten Mißstimmigkeiten die Engel verantwortlich machen, von denen sich einige Schreihälse im Übereifer ganz heiser geschrien hätten und dadurch die Klangschönheit des Ganzen, wenn auch nur wenig, so doch für Gottes Ohr wohl vernehmlich beeinträchtigten. Der Herr hatte darauf befohlen daß Maßregeln getroffen würden, die solche Vorkommnisse für die Zukunft unmöglich machten, und die himmlische Vorsehung, welche für diese Dinge die zuständige Stelle war, erließ daraufhin eine Verordnung, wonach nicht nur den Engeln das Singen an Samstagnachmittagen überhaupt verboten sondern ihnen auch noch ans Herz gelegt wurde, sich nicht durch unnötiges Springen und Tollen zu erhitzen, Schreien und Zanken zu unterlassen und ihre Stimme für den großen Himmelskirchgesang am Sonntag möglichst zu schonen. Denn der Herrgott ging, weil er es nicht nötig hatte, nur Sonntags in die Kirche, im Gegensatz zu allen anderen Himmelsbewohnern, insbesondere den Heiligen, die schon aus alter lieber Gewohnheit in die Kirche gingen, und den vielen armen Sündern die, seit der Heiland die Auferstehung in der Welt eingeführt hatte, den Himmel bevölkerten und den Kirchenbesuch recht nötig hatten.

So saßen also an jenem Samstagnachmittage die Englein teils tatenlos auf den himmlischen Wolken herum, die Hände über den Knien und die Flügel über dem Rücken gefaltet, teils waren sie höchst überflüssiger- und unnützerweise damit beschäftigt festzustellen, wer von ihnen die schönsten Goldspitzen an den Federn hätte, oder sie standen an der Milchstraße und gafften dem endlosen Zug der Sterne nach, der an ihnen vorüber des Weges zog.

Im Gegensatz zu den Englein hatte am nämlichen Nachmittag der heilige Petrus alle Hände voll zu tun. Vor dem Himmelstor drängte sich gerade eine besonders große Menge von Einlaß begehrenden Seelen; denn zu der sich ziemlich gleich bleibenden Anzahl an andern Wochentagen kamen am Samstag noch diejenigen hinzu welche sich mit ihrer Auferstehung besonders aus dem Grunde beeilt hatten, um den Sonntag im Himmel und alle Erbaulichkeiten dieses Tages mitzugenießen und solchergestalt im neu angetretenen ewigen Leben ja nichts zu versäumen. Außer seinem Torhüteramt hatte aber der heilige Petrus auch noch die Aufsicht über die Sterne zu führen, von denen eine sehr große Zahl nicht im eigentlichen Himmel sondern außerhalb desselben im ewigen, unendlichen Raum verteilt war; und diese Aufgabe, welche ihn in seinem himmlischen Torwärterhäuschen keinen Moment schlafen ließ, machte ihm keine geringe Sorge. Denn gerade wieder einmal hatte sich unter den Sternen, besonders unter den kleineren, die bedauerliche Neigung eingestellt, ihren Platz plötzlich zu verlassen oder mit glänzenden Stücken um sich zu werfen, die sie planlos in das Weltall und nicht zum geringen Teil auf die Erde hinabschleuderten deren Bewohner diese Vorgänge in klaren Novembernächten teils mit Bewunderung teils mit Furcht beobachteten. Denn sie konnten sich von dem Herkommen dieser Sternschnuppen, wie sie die lichtglänzenden, am Himmel dahinfahrenden Sternstücke nannten, keine rechte Vorstellung machen. Besonders in dem Sternbilde der Leoniden war in diesen Tagen wieder einmal der Teufel los, wie der heilige Petrus sagte wenn er das Himmelstor hinter sich zugeschlagen hatte und im weiten Raum allein war, um an irgendeinem besonders rebellischen Punkt nach dem Rechten zu sehn und dem Verschleudern des kostbaren Sternenmaterials Einhalt zu tun.

Als er daher an jenem Samstagnachmittag die Engel so nichtsnutzig und nichtstuerisch herumlungern sah, kam ihm in seiner Arbeitsbedrängnis der Gedanke, ob er sie nicht in irgendwelcher Weise für sich anstellen könnte; und da er ihnen die himmlische Torhüterstelle unmöglich ohne das Umstoßen aller geheiligten Traditionen anvertrauen konnte, so machte er sie in der anderen ihm aufgebürdeten Obliegenheit dienstbar. Diese schien ihm für ihre geistigen Fähigkeiten, die er nicht allzuhoch anschlug, auch nicht zu schwer, zumal er sie anwies, etwaige widerspenstige Sterne die das Schnuppen nicht lassen wollten, sofort von ihrem selbständigen Platz im Raume ab- und dem großen Strome derer zuzuführen die auf der Milchstraße ihre leicht übersehbare und kontrollierbare Bahn am Himmelsgewölbe dahinziehen mußten. Die Englein, froh einmal aus dem goldnen Himmelsgitter herauszukommen, unterzogen sich belustigt ihrer neuen Aufgabe und begaben sich in gesonderten Trüppchen, immer ein größerer Engel mit einigen kleineren, auf die ihnen zugewiesenen Posten.

Anfänglich und bis in die Dämmerung hinein ging alles ganz gut. Sei es daß sich die Sterne aus Galanterie gegen den himmlischen Besuch von allem Unfug fernhielten, sei es daß sie fürchteten, auf eine Anzeige der aufsichtführenden Engel beim heiligen Petrus wirklich zur Milchstraßenwanderung verdammt zu werden, was ungefähr dem Schicksal gleich zu achten war, wenn Menschen von freien luftigen Höhen mit herrlicher Aussicht auf denen sie wandeln plötzlich für immer auf die staubige Landstraße versetzt würden wo sie mit allerlei Volks in Sonne und Unbehagen ihres Weges ziehen müßten, kurz: sie begaben sich zunächst völlig ihres aufgeregten Wesens und zogen still und geordnet, wie es ihnen zukommt, ihre vorgeschriebenen Bahnen. Kaum aber war die Dämmerung vorüber und die Nacht über das blanke Himmelsgewölbe als ein schützendes schwarzes Tuch gegen mutwillige Beschädigungen der Himmelspolitur ausgebreitet worden, als nach allen Seiten ein heftiges Feuerwerk und Bombardement mit Sternschnuppen vor sich ging und die Engel, welche einsahen daß es eine unmögliche Aufgabe sei, die weggelaufenen Sternlein oder ihre losgeschleuderten Bestandteile wieder einzufangen, nichts weiter tun konnten, als die Schuldigen aufzuschreiben, um sie dem heiligen Petrus beim Rapport zur Meldung zu bringen. Dies alles wäre nun freilich nicht so schlimm gewesen, zumal der heilige Petrus in den Monaten August und November an solche Vorkommnisse reichlich gewöhnt war; als aber plötzlich aus dem Sternbilde der Leoniden so etwa um halb neun Uhr ein entsetzliches Geschrei und Gejammer und darauf ein gottserbärmliches Geheul und Geschluchze gehört wurde, da wußte er daß etwas Unangenehmes und Außerordentliches passiert sein müsse, ließ sofort von einer himmlischen Posaune in den Raum hinaus Appell blasen, warf das Himmelstor einem Einlaß begehrenden Sünder rasselnd vor der Nase zu und begab sich eiligst und Böses ahnend nach dem ihm wohlbekannten Gestirn. Von dort kamen ihm schon auf halbem Wege sechs Engel entgegengelaufen, die fünf kleinen heulend und die Fäustchen in die beiden Augen gedrückt und der größere ganz fassungslos vor sich hinweinend. Auf seine Frage erhielt Petrus zunächst keine Antwort aus der er etwas hätte machen können, und bugsierte also die heulende Gesellschaft zunächst in sein Geschäftszimmer, wo er sie, nachdem sie sich etwas gefaßt hatten, auszufragen begann. Da erfuhr er nun daß sie erst ihrer sieben gewesen seien, daß aber auf einmal das kleine Englein Coelestina beim Versuche, eine nichtsnutzige Sternschnuppe wieder einzufangen, so schnell in der Richtung nach der Erde verschwunden sei daß sie vermuteten, es sei diesem Himmelskörper zu nahe gekommen und dann von der dort herrschenden Schwerkraft, vor der sie ja freilich oft genug gewarnt worden seien, da die kleinen Engel sie mit ihrer geringen Flügelkraft nicht überwinden könnten, auf sie herabgezogen worden. Sie hätten zwar alle gerufen und geschrien, aber das fallende Englein sei bald in dicken, grauen Regenwolken, welche die Erde umgaben, ihren Blicken entschwunden. Als das der heilige Petrus hörte, wurde er sehr zornig; denn wenn die verlorene Coelestina nicht wiedergefunden wurde, so gab es für ihn eine Menge Schreibereien die er haßte und am Schlusse noch eine lange Auseinandersetzung mit dem Herrgott. Man konnte es ihm daher nicht verübeln, wenn er den aufsichtführenden Engel unter harten Worten gehörig an den Flügeln zauste, daß er Federn lassen mußte, die fünf kleinen Engelknirpse aber einen nach dem andern über sein heiliges Knie legte und ihnen mit seiner heiligen Hand eine Strafe verabfolgte, wie er sie noch von seinen irdischen Zeiten her kannte.

Damit war nun freilich nicht viel gebessert; im Gegenteil: alle sechs heulten von neuem los und die kleinen brüllten sich ganz heiser, was doch gerade durch die von der himmlischen Vorsehung angeordnete Samstagsnachmittagsruhe hatte vermieden werden sollen. Und so blieb ihm nichts übrig, als den Rest einer Lakritzstange unter sie zu verteilen, die er sich einmal in Kapernaum nach seinem berühmten großen Fischzug gekauft hatte, da er sich dabei einen starken Schnupfen und einen leichten Husten zugezogen. Dieses Mittel hatte insoweit den gewünschten Erfolg als sich die Engel bei seinem lange währenden Genuß beruhigten und ihre geröteten Stimmbänder allmählich wieder zu einem zarten Rosa verblaßten, so daß in der Kirchenmusik am darauffolgenden Sonntag die Stimmlein frisch und rein klangen als ob nichts geschehen wäre. Der heilige Petrus aber, welcher wegen der Anstellung der Engel in seinen Diensten ein böses Gewissen hatte, beschwichtigte dieses mit der unbegründbaren Hoffnung, des verlorenen Engleins doch vielleicht in den nächsten Tagen auf eine ihm noch unklare Weise wieder habhaft zu werden, und beschloß daher, vorläufig von dem ganzen Vorfall dem lieben Gott nichts zu sagen.

Als aber Tag um Tag verrann ohne daß sich das Englein an der Himmelstür wieder einfand oder von einem befreundeten Kometen daselbst abgegeben wurde, war der heilige Petrus durch die Unterlassung der sofortigen Meldung von dem Begebnis erst recht in eine prekäre Lage versetzt. Und so kam er auf die Idee, die Sache überhaupt zu vertuschen, da Engelzählungen nur alle Jubeljahre einmal stattfanden und Namenslisten nicht geführt wurden. Dies war nämlich insofern unnötig, als die Engel von Rechts wegen aus dem Himmelsgitter nie herauskamen, also wer darin war auch darin blieb; nur über die etwa zu frommen Kindern abkommandierten wurde eine Liste geführt, deren Einträge der heilige Petrus beim Aus- und Eingang dieser Engel am Himmelstore selbst besorgte. In diese trug er nun den Namen der kleinen Coelestina mit dem Zusatz »auf unbestimmte Zeit« ein, obgleich eigentlich so unerfahrene Engelkinder zu derartigen Missionen nicht verwendet zu werden pflegten. Die an der Geschichte beteiligten sechs Engelchen aber hielten fein dicht, eingedenk der Tracht Prügel die sie weg hatten und der Federn die sie hatten lassen müssen; und selbst wenn sie etwas davon hätten laut werden lassen, so würde es die himmlische Vorsehung, der sie es hätten anbringen müssen, doch nicht geglaubt sondern ihnen vermutlich noch das alberne Geschwätz verboten haben. So blieb es im Himmel unentdeckt daß das Englein auf die Erde hinabgefallen war.

Als Coelestina dem Sternknirps aus dem Leonidenschwarm, welcher mit unglaublicher Geschwindigkeit der Erde zustrebte, nachsprang um ihn an seinen Platz zurückzuführen, hatte sie ursprünglich nur vor, ihn bis zu der Wolkenschicht zu verfolgen, welche grau und schwer ihr die gefährliche Nähe der Erde deutlich genug anzeigte. Aber von dem tollen Hinterherjagen war sie dermaßen im Schwung daß sie noch ein ganz beträchtliches Stück über diese Grenze hinaus- und in die dichten feuchten Massen hineinfuhr; und als sie dann unter Aufbietung aller Kräfte mit den Flügeln schlug, um wieder nach oben zu kommen, waren diese so naß geworden daß sie nur noch unvollkommen ihren Dienst taten. Schon fühlte das Englein, wie die Schwerkraft, welche es sich wie eine große vielarmige Spinne vorstellte, seine Beine ergriff und da verließ es bald aller Mut und damit auch die letzte Kraft für weiteren Widerstand. Die Erde zog es unbarmherzig an sich, es sank unter müdem Geflatter wie ein krankes Vöglein tiefer und tiefer bis es endlich, etwas hart wie ihm schien, im Kohlgarten eines Bauern auf dem Boden aufstieß. Es war ganz erschöpft und außer Atem und die irdische Luft kam ihm schwer und drückend vor im Vergleich mit der durch den Äther verdünnten himmlischen Atmosphäre. Da stand es nun fremd in einer fremden Umgebung und wußte nicht was beginnen. Denn es war unterdessen stockfinstere Nacht geworden daß man nicht die Hand vor den Augen sah, und kein Stern vermochte mit seinem Licht die dicke dunkle Wolkenmauer zu durchdringen, welche einförmig und steinern die Erde vom Himmel abschloß; der Mond aber wurde in jener Nacht wieder einmal seiner Aufgabe als Himmelslicht gar nicht gerecht, da er erst Tags zuvor von seinem vertragsmäßigen monatlichen Urlaub heimgekehrt war, nach welchem er zum Arger der Mutter Erde immer so schmächtig und glanzlos war daß sie einen halben Monat mit ihm zu tun hatte, bis er wieder rund und voll wurde. Dazu legte sich der erste stille breite Frost über das Land und Coelestina, die außer ihren Flügeln nichts anderes an hatte, sah sich daher frierend nach einem Obdach um. Aber die Bauern im Dorfe hatten längst ihre Lichter gelöscht und sich ihr zunächst befindliche Gehöfte, zu dem der Gemüsegarten gehörte, konnte sie in der Dunkelheit nicht entdecken. So fühlte sie sich wirklich ganz von Gott verlassen und weinte, da sie nicht zu rufen wagte, noch eine Zeitlang still vor sich hin. Dann aber duckte sie sich unter eine große Kohlstaude, brach von der danebenstehenden noch einige Blätter ab, die sie über die frostigen Beinchen legte, breitete die Flügel über Schulter und Rücken soweit sie reichen wollten, und schlief, indem sie die Knie eng an sich zog, sie mit den Armen umfaßte und ihr Köpfchen darauflegte, bald vor Ermüdung fest ein. Als sie am andern Morgen hungrig und frierend erwachte, hatte der Frost Bäume und Sträucher mit blitzendem, starrem Reif überzuckert und alles ringsum sah so prächtig aus daß sie zuerst dachte, vielleicht doch nicht auf der Erde sondern in einem Märchenlande zu sein. Unter diesem Eindruck und unter dem Hunger der sie zu plagen begann, brach sie von einem nahestehenden Strauch ein bezuckertes Ästchen ab, das sie unverzüglich in den Mund steckte. Aber da es kein Zucker war, wie es im Märchenlande hätte sein müssen, vielmehr genau so fade schmeckte wie wenn sie an einer Regenwolke geleckt hätte, deren Geschmack sie früher mit ihren englischen Gespielen öfters in dieser Weise untersucht hatte, so bemerkte sie wohl daß es doch die Erde sei auf welche sie verschlagen worden war. In den Betrachtungen über ihr bitteres Los, denen sie sich gerade von neuem hingeben wollte, wurde sie durch die barsche Stimme des Bauern gestört, der hinter einer Scheune herumkam um seinen Gemüsegarten zu besuchen und nachzusehen, ob der Frost seinem Kohl gut zugesetzt hätte.

»Ei, was will es denn unter meinem Kohl?« rief er grob. »Gewiß einige fette Stauden mitgehen heißen!«

Da er aber näher kam und das Englein so ganz nackt wie es vom Himmel gefallen dastehen sah, mit ungeordneten nassen Flügeln, triefendem Haar und einem ebenso triefenden blau gefrorenen Näschen, mit verweinten Augen und am ganzen Körper zitternd vor Frost, daß es sich in Gedanken über seinen Anblick vor sich selbst schämte, blieb er stehen und betrachtete sich das seltsame Wesen genauer. Und da er noch keinen Engel gesehen hatte, hielt er es für irgendeine seltene Art Federvieh, wie es vielleicht auf dem Monde zu Haus sein könnte. Er stellte also zunächst keine Fragen mehr sondern stieg mit einigen großen Schritten über die schmalen Beete, ergriff das Englein wie ein junges Gänschen bei den Flügeln und trug es so aus dem Garten über den Hof in die Stube, um das Wesen dort näher zu besehen. Dort erkannte er freilich daß es kein Vogel sei sondern eher ein Menschlein mit ein paar kleinen ihm sehr untauglich und unnütz vorkommenden Flügeln und so fragte er es, woher es komme. Das Englein aber schwieg darauf und konnte es nicht übers Herz bringen, zu sagen daß es ein Englein wäre und stracks aus dem Himmel käme; denn es fühlte gar wohl welch eine jämmerliche Figur es in diesem Moment abgab, und da gedachte es lieber insoweit inkognito zu bleiben. Da der Bauer also keine Antwort bekam, fragte er weiter, wie es heiße.

»Coelestina«, antwortete das Englein nach einigem Zögern gedehnt, wobei es sich auf den Fersen hin und her drehte.

»Coelestina?« sagte der Bauer. »Ach was, dummes Zeug! Coelestina ist überhaupt kein Name und außerdem viel zu lang.« Und indem seine Gedanken eine andere Richtung annahmen, fügte er, die kleine Gestalt mit den Augen von neuem überfliegend, hinzu; »Ich will dir etwas sagen: schön bist du nicht aber vielleicht nützlich.« Zu diesen Worten, deren Sinn Coelestina nicht verstand, dachte er sich daß er das Knirpslein, da er keine Kinder hatte, behalten wollte, damit es seine Gänse hüten oder seiner Frau, deren Augenlicht nachließ, mit seinen jungen Augen und zarten Fingern beim Linsenlesen behilflich sein könne. Denn Linsen und Sauerkraut war des Bauers Lieblingsgericht. Damit er aber sicher wäre daß das Englein ihm nicht wieder durch die Luft entwische, wie es durch die Luft in den mit Zäunen und hohen Hecken umgebenen Garten gekommen war, ergriff er eine große Schere, mit der er sowohl jene Hecken als die Flügel seiner Gänse zu verschneiden pflegte wenn diese die Gefahr des Entfliegens in sich zu tragen schienen, und stutzte dem Englein die Schwingen um ein solch beträchtliches Stück daß von ihnen kaum etwas übrig blieb als zwei kleine formlose Stümpfchen an den Schultern, Coelestina vor Schmerz ach! und weh! schrie und von neuem in ein herzzerreißendes Schluchzen ausbrach.

»So,« sagte der Bauer, ohne daß ihn das Gejammer mehr rührte als wenn ein Gänschen schrie, »jetzt siehst du schon etwas menschlicher aus. Nun heule mir nicht die Ohren voll; ich gebe dir auch einen hübschen und anständigen Namen.«

Darauf kam es nun freilich dem Englein in seinem Schmerz um den Verlust seines wichtigsten englischen Requisites weniger an; aber der Bauer verstand das nicht und dünkte sich beinahe gnädig, als er der weinenden Coelestina den Namen Anneliese verlieh, aus keinem anderen Grunde als weil seine Frau, die Bäuerin, auch so hieß und ihm also der Name am nächsten lag. Daß er wesentlich kürzer gewesen wäre wie Coelestina, kann füglich nicht behauptet werden; es kam aber dem Bauern so vor und also war es so.

Unterdessen trat auch die Frau in die Stube, die mit der Nachbarin ihren Morgenschwatz über das Wetter und das eine Ei beendet hatte welches ihre siebzehn Hühner bei der zunehmenden Kälte täglich legten. Sie war nicht in der besten Laune, da ihr die Nachbarin gesagt hatte, sie hätte am heutigen Morgen von ihren sechzehn Hühnern zwei Eier gehabt, und hielt dafür daß diese Sache nicht mit rechten Dingen zuging. Als sie daher das nackte schluchzende, nun in der Zimmerwärme ganz krebsrote Wesen zu Hause vorfand und der Mann ihr seine auf dasselbe gerichteten Absichten kund tat, brummte sie etwas vor sich hin, daß er auch etwas Besseres tun könne als hergelaufenes Gesindel in das Haus zu nehmen und er solle den Balg wieder auf die Landstraße jagen woher er gekommen sei. Da konnte sich aber Coelestina denn doch nicht mehr halten, nahm allen ihren Mut zusammen und sagte mutzig: »Ich bin nicht hergelaufen sondern hergeflogen, daß ihr es nur wisset!« Und da nun die Bäuerin, über diese Worte verwundert, auch noch die abgeschnittenen Flügel auf dem Boden herumliegen sah und die feinen Gliederchen des Kindes erblickte, sie auch von dem ersten Blatte ihrer Bibel die Abbildung eines Engels kannte die ungefähr dem Anblick der Coelestina entsprach wenn man sich vorstellte daß ihr die Flügel noch an den Schultern säßen, so ging ihr die Wahrheit schrecklich auf. Da zog sie aber erst recht über ihren Mann her: »Du alter gottvergessener Esel,« sagte sie, »du siehst natürlich in deinem Unverstand, den Gott dir verzeihen möge, nicht daß dies weder ein Mensch noch ein Vogel ist, wie du angenommen hast, sondern ein wirklicher leibhaftiger Engel vom Himmel, noch dazu einer mit Goldspitzen an den Flügeln wie sie so selten sind. Das kommt aber davon daß du nie in die Kirche gehst und nie in unserer Bibel liesest; denn dann wäre dir's auf dem Titelkupfer schon aufgefallen oder der Pfarrer hätte dir einmal einen beschrieben. Ach Gott, ach Gott! Was soll man nun machen, da du ihm die Flügel abgeschnitten hast. Zusammenbinden hättest du sie sollen, daß er nicht entfliegen konnte,

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4511-7

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