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Heinrich Zschokke


Heinrich Zschokke


Der Flüchtling im Jura

(Als Herausgeber habe ich mir elaubt, minimalste Anpassungen an die heutige Rechtschreibung vorzunehmen. Geändert habe ich nur, was dem Lesefluss entgegenstand.)

1. Die Flucht

Nachdem sich die französische Regierung im Jahre 1798 in die bürgerlichen Unruhen der Schweizer eingemischt, den alten Bund der Eidgenossen aufgelöst und das ganze Gebirgsland mit ihrem Kriegsvolk überschwemmt hatte, wurden mehrere der achtbarsten Männer des Landes von den Siegern in's Innere Frankreichs fortgeschleppt, um entweder als Geiseln für die Summen zu dienen, welche den sogenannten oligarchischen Städten zu zahlen auferlegt waren, oder um die zu entfernen, deren Einfluß und Ansehen beim Volke man kannte, und deren entschiedenen Haß gegen die neue Ordnung der Dinge man fürchtete.

Für einen solchen hätte man auch einen jungen Schweizer halten können, der, sorgfältig bewacht, in der letzten Maiwoche 1799 über Lausanne und Yverdon nach Besançon geführt wurde, wenn er nicht zu jung geschienen hätte, um bei seinem Volke eine bedeutende obrigkeitliche Würde haben bekleiden zu können, da er wohl kaum dreißig Jahre zählen mochte. Auch im Äußern verriet er nicht Reichtum genug, um Bürge für irgend eine gebrandschatzte Stadt zu sein. Er fuhr auf einem elenden Leiterwagen und saß zwischen zwei französischen Soldaten, deren geladene Gewehre vor ihnen an ein Strohbund lehnten, das einem Bauern zum Sitze diente, der vermutlich der Eigentümer des Fuhrwerks war.

Bei dem allen erregte der Gefangene die Teilnahme jedes Vorübergehenden. Eine schlanke Gestalt und geistvolle Gesichtsbildung, ein stolzer, durchdringender Blick seiner großen blauen Augen und eine würdevolle Haltung schienen zu verraten, daß er von guter Erziehung sei. Noch mehr zog ihm der Anblick seines blassen Antlitzes das Mitleiden zu, da man seinen grauen, vorn eingeknöpften Frack und den grünen Sammetkragen am Halse überall von Blutflecken besprengt sah, welche man für sein eigenes, vielleicht im Kampfe für's Vaterland vergossene Blut halten mußte; um so mehr, da er etwas Schmerzhaftes in seinen Bewegungen, eine große Entkräftung verriet und mit schwacher Stimme redete.

Die kriegerischen Begleiter, ein Korporal und ein Gemeiner, behandelten ihn mit einer gewissen Höflichkeit und Schonung, und suchten ihm sein Los so viel als möglich zu erleichtern. Seine Freigebigkeit mochte auch etwas dazu beitragen, denn, wo angehalten wurde, sorgte er immer dafür, sie mit einem Glase guten Weines zu erquicken.

Als sie ihn in der Frühe des Morgens im Dorfe Balaigues, wo sie unweit der französischen Grenze übernachtet hatten, zum Leiterwagen führten, wurde er so schwach, daß er ohnmächtig zwischen ihnen zu Boden sank. „Lasset mich hier sterben, wenigstens auf Schweizerboden sterben“, sagte er mit gebrochener Stimme; „denn lebend bringt Ihr mich doch nicht nach Besançon.“

Die Soldaten trugen ihn in die Wirtsstube zurück und schienen in Verlegenheit darüber, was sie tun sollten; denn sie fürchteten, er möchte unter ihren Händen den Geist aufgeben. Alle Bewohner des Hauses eilten herbei und umringten den Unglücklichen. Man wollte zu einem entfernt wohnenden Arzte schicken; doch die Soldaten verbaten sich dieses und meinten, er werde sich schon erholen.

„Wahrhaftig, sagte der Korporal“, es tut mir leid; „aber fort muß er, heute wenigstens nach Pontarlier, lebendig oder todt. Er ist mir übergeben, ich habe meine Verhaltungsbefehle; also vorwärts! Nehmt ihn und legt ihn auf den Wagen!“

Der Gefangene schlug die Augen auf, sah den Korporal finster von der Seite an und begehrte Kirschwasser und Brot. Er aß einige Bissen, steckte den Überrest zu sich und stürzte drei bis vier Gläser des stärksten Getränks hinunter, ohne eine Miene zu verziehen.

„Alle Wetter!“ rief der Korporal, der den Kirschgeist ebenfalls versucht hatte, „das tue ich ihm nicht nach, obschon ich kerngesund bin. Er säuft noch wie ein Russe.“ – Die gesamte Gesellschaft des Wirtshauses, welche den Gefangenen umgab, geriet nicht minder in Erstaunen über die Trinklust des Todtkranken. Er aber bezahlte den Wirt, stand auf und bat, daß man ihn unterstützen möge, um zum Wagen zu gelangen. Man hob ihn auf den Sitz des Karrens; die Soldaten setzten sich zu beiden Seiten neben ihn und fort ging es über die Grenze in's französische Gebiet.

Nach einigen Stunden erreichte man Chaux-de-Joux, wo sich die Berge und Felsen zum Engpasse von La Cluse zusammenziehen. Hier stöhnte der Gefangene heftiger und schien nicht mehr Kraft genug zu haben, um sich zwischen den Wächtern aufrecht halten zu können. Er schlang seine Arme um ihre Achseln, um sich auf diese Weise zu halten.

Aber plötzlich fuhr er den erschrockenen Soldaten wie mit Riesenkrallen in den Nacken, drehte gewaltsam ihre Köpfe gegen einander und schmetterte deren Gesichter zu wiederholten Malen mit so fürchterlicher Kraft zusammen, daß ihnen das Blut stromweise von Stirn und Nase rann und Beide betäubt und besinnungslos vor sich niederstürzten. Als der Bauer aus dem Strohbund, hinter sich blickend, die Soldaten im Blute schwimmend, den Gefangenen vom Wagen gesprungen und im Begriff sah, die Gewehre der Soldaten zu ergreifen, sprang er ebenfalls, mit Grausen, vom Sitze herab und floh. Er hörte hinter sich ein Krachen und sah, wie der Gefangene die Kolben beider Gewehre am Boden zerschlug, sie hinwarf und erst eine weite Strecke auf der Landstraße, dann plötzlich seitwärts bergan davon eilte und wie eine Gemse über Fels und Klippen setzte. Als hätte er Flügel, so ging es mit ihm die steilsten Felsen hinauf, wo vor ihm gewiß nie der Fuß eines Menschen gestanden hatte. Dann verschwand er im Gebüsch zwischen den Steinblöcken.

Weder der verblüffte Fuhrmann, welcher glauben mochte, der halbtodte Gefangene sei vom Teufel besessen, noch die beiden Krieger, welche lange nicht zur Besinnung kamen, dachten daran, den Entsprungenen zu verfolgen. Um so mehr ist's unsere Pflicht, ihm nachzugehen, damit wir wissen, wohin er kam.

Der junge Mann, welcher wahrscheinlich schon längst Pläne zu seiner Befreiung gemacht haben mochte, hatte seine Rolle, als Sterbenskranker, um den Argwohn und die Wachsamkeit der Hüter einzuschläfern, meisterhaft gespielt; denn jetzt wanderte er mit großen, leichten Schritten bergauf, bergab, immer nordwärts, den wilderen, höheren Bergen des Jura zu. Er wich nicht von der einmal angenommenen geraden Richtung, als wenn ihn diese irgend einer einsamen Berghütte oder einer fernen menschlichen Gestalt zu nahe brachte. Gebahnte Wege waren nicht seine Wege. Er schöpfte erst Atem, als er nach zwei oder drei Stunden den steilen Rücken eines der höheren Berge erreicht hatte, von wo er die umliegende Gegend zu durchmustern gedachte.

Hier, hoch über den Tälern und Wohnsitzen der Menschen, in der lautlosen Wildniß, die nur der einsiedlerische Adler liebt, stand er still. Er trank in tiefen Zügen eine reinere Luft, deren kühler Strom den Schweiß seiner Stirn trocknete, und wohltuend das helle Gold seiner Locken durchfloß. Unter seinen Füßen schwankten die Wipfel der Tannen am Abgrunde. Morgenwärts strichen die langen waldigen Bergrücken hin, welche den einförmigen grünen Teppich der Täler einschlossen. Abendwärts stufte sich das Gebirge in die französischen grau erscheinenden Ebenen nieder, über welche Waldstreifen, wie dunkle Schatten, gelagert waren. Im Mittag glänzten weit hinter den Seen und Ländern die silbernen Spitzen der Alpen am Horizont hervor, wie aus Strahlenduft gewoben, gleich erstarrten zackigen Wolken. Dahin wandte der Flüchtling lange die Augen, ernst und düster. Dann durchirrte sein Blick noch einmal die näheren Niederungen, um sich für die Fortsetzung seines Weges zurecht zu finden.

Nachdem er sich erfrischt, ging er den scharfen verwitterten Grat des Gebirges entlang, um einen Felskopf desselben zu erreichen, welcher eine noch freiere Aussicht über einzelne Bäume verhieß, die ihm hier entgegenstanden.

2. Die Sibylle

Ueber die losen Stücke des grauen Felsens, die, von seinem Fuße kaum berührt, in den Abgrund prasselnd niederrollten, zur Höhe der Steinkuppe gelangt, überraschte ihn der Anblick eines menschlichen Wesens. Es war eine betagte Frau, die auf einem bemoosten Felsblocke saß und unbeweglich in die blaue Ferne hinausstarrte. Ihr Wams und Rock von einem halbwollenen, nußbraunen Zeuge, in welchem, durch langen Gebrauch, die weißen Linnenfäden des Gewebes schon sichtbar wurden, verkündigten Aermlichkeit; ihre weiße Haube jedoch und das kleine blaue Halstuch, nebst der rotgestreiften Schürze von grober Leinwand, zeigten bei aller Armut eine gefällige Sauberkeit. Ihre dürre Rechte lehnte sich auf einen Krückstock von Schwarzdorn; der linke Arm, mit dem Ellbogen auf das Knie gestemmt, stützte mit der Hand das Kinn. Das von der Sonne gebräunte, welke Antlitz wäre durch eine gewisse Gutmütigkeit des Ausdruckes nicht unangenehm gewesen, wenn nicht ein falbes Barthaar, wie ein grauer Schatten, auf Kinn und Lippen gelegen hätte.

Der Flüchtling sah sie eine Weile schweigend an; dann grüßte er mit lauter Stimme. Die Alte wandte sich, aus ihrem Nachdenken erwacht, dankend gegen ihn und betrachtete aufmerksam, doch ohne Verlegenheit, seine Gestalt. Er setzte sich ihr gegenüber, zog sein Brot hervor und hielt sein einfaches Mahl, indem er einige Worte über das Wetter und die Gegend fallen ließ, um ein Gespräch anzuknüpfen. Die Alte, keine Silbe erwiedernd, starrte ihm fort und fort in's Angesicht, und als er ihr durch seine Fragen endlich eine Antwort abnötigte, gab sie diese wie eine Person, deren Geist mit andern Gegenständen beschäftigt ist und offenen Auges träumt. Inzwischen erfuhr er doch, und das beruhigte ihn nicht wenig, er sei nicht mehr auf französischem Grund und Boden, sondern im Gebiete des Fürstentums Neuenburg, und zwar auf einer Höhe des Gros-Taureau, in der Nähe des Dorfes Les Verrieres.

„Woher sind Sie, wenn mir die Frage erlaubt ist?“ sagte nach einem abermaligen langen Schweigen die Alte, deren Blicke noch immer träumend an seinem Gesichte hingen.

Er zeigte mit der Hand nach Morgen und sagte: „Mein Haus ist dort hinten, wo die letzten Alpen kaum noch sichtbar sind.“

„Aus dem Bündnerlande?“ fragte das Mütterchen etwas belebter. Der Flüchtling wandte den Kopf auf die Seite und konnte bei der Frage eine gewisse Ueberraschung nicht verhehlen.

„Ungefähr!“ erwiderte er.

„Fürchten Sie sich nicht vor mir,“ sagte die Alte; „Sie sind bei uns vollkommen sicher. Nicht wahr, Sie kommen aus Frankreich, etwa von Pontarlier; sind gefangen gewesen, entwischt?“

Der junge Mann trug kein Bedenken, es zu gestehen.

„Und das ist Menschenblut?“ sagte sie, auf die Flecken seines grauen Rockes und der Beinkleider zeigend, „das da ist noch ganz frisch.“

Der Flüchtling bemerkte jetzt selbst erst die frischen Blutflecken an seinen Kleidern. Er erzählte unverhohlen, auf welche Weise er den Soldaten unweit Pontarlier entronnen sei, und erkundigte sich, ob er im Neuenburgischen vor Gewalttätigkeit und Nachstellung der Franzosen sicher sein werde.

„Allerdings,“ erwiderte die Alte, „denn Preußen hat mit Frankreich Frieden und der König von Preußen ist der Souverain des Landes. Gewalt haben Sie nicht zu besorgen; doch tun Sie weise, in abgelegener Gegend zu leben, und der Hinterlist auszuweichen. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen dieses zu sagen.“

„Was?“ rief der Flüchtling, „Ihr habt doch nicht wissen können, Mütterchen! daß Ihr mich hier finden würdet.“

„Trotz Ihres Zweifels, junger Herr! wurde ich Ihretwillen hergesandt.“

„Das ist unmöglich! rief der Flüchtling. Mich kennt keine menschliche Seele in diesem Lande, das ich in meinem Leben zum ersten Male berühre.“

„Aber dieses Land wird Ihnen bald unvergeßlich werden, und bald so lieb sein, wie Ihr Land in den hohen Alpen. Dort wohnten Sie im weiten, großen Tale. Ich sehe Ihr schönes Haus, beinahe in der Mitte desselben, unter hohen Bäumen an einem wilden Bache, der vom nahen Gebirge daherrauscht. Die grauen Felswände steigen seitwärts schroff in die Wolken, und im Hintergrunde der Landschaft, wo das Tal sich schließt, scheint es wie von Eis- und Schneebergen versperrt. Das ist hier ganz anders; unsere Berge sind dagegen nur Hügel.“

Der junge Mann stierte die alte Frau mit großen Augen an und fragte verwundert: „Habt Ihr meine Heimat gesehen, so sagt mir, wie heißt sie?“

Die Alte erwiderte: „Ich weiß keinen Namen, aber ich glaube, sie sehr deutlich zu sehen; und Sie, junger Herr! sehe ich auch mit der Jagdflinte in den hohen Bergen, von einem Freunde begleitet. Sie sind ein wackerer, rechtschaffener Mann. Halten Sie fest an Ihrer Redlichkeit! Sie haben es immer gut gemeint; doch Sie würden weniger Verdruß gehabt haben, wenn Sie nicht zu aufbrausend, nicht auf Ihre körperliche Stärke manchmal zu trotzig gewesen wären. Recht gut, daß Sie sich noch nicht verheirateten, obgleich man Sie einige Male dazu zwingen wollte. Es gab viel Streit im Hause; jetzt sind Sie frei, wie der Vogel in der Luft. Man hat Sie oft gefragt, ob Sie von einer Liebe gefesselt wären, weil Sie jede vorgeschlagene Vermählung ablehnten; Sie sagten mit Wahrheit: Nein! Aber jetzt fragt Sie Keiner und doch tragen Sie eine Sehnsucht mit sich in der Welt herum, und wissen nicht, wo Balsam kaufen für die heimliche Wunde. Ja, ja, ich rate Ihnen, gehen Sie in den Feentempel und fragen Sie da den Schlaf um einen offenbarenden Traum!“

Die Alte schwieg, doch stierte sie ihn noch immer an. Während sie sprach, schienen ihre Augen sich hervorzudrängen und in ihre verwandelten Gesichtszüge etwas Feierliches zu kommen. Der Flüchtling hingegen saß wie versteinert vor ihr; er horchte noch immer, als sie schon zu reden aufgehört hatte.

„Wenn Ihr mich nicht kennt, Mutter! wer hat Euch denn das Alles erzählt?“

„Wer kann mir erzählen, junger Herr! was Sie Niemanden erzählt haben? Aber Sie hätten mich nicht stören sollen!“ setzte sie unwillig hinzu, rieb sich die Augen und schien, wie eine Erwachte, munter zu werden. Sie sah links und rechts, dann wieder auf ihn hin und sagte: „Nun geht Alles hin, wie Nebel, und es ist mir doch, als hätte ich für die Zukunft noch viel zu Ihrem Besten sagen sollen. Nun ist's hin.“

„Woher wißt Ihr, was Ihr mir da sagtet?“ fragte der Fremde.

Die Alte hob beide Hände mit ausgespreizten Fingern hoch in die Luft, sie nach allen Richtungen hin und her bewegend, den Blick in die Ferne gewandt und dazu den Kopf schüttelnd, als wollte sie mit diesen sonderbaren Geberden sagen: „Es kommt, ich weiß nicht, von wannen; und wüßte ich's, würde ich's doch nicht sagen dürfen.“

„Könnt Ihr mir noch mehr erzählen, Mütterchen?“

„Es ist vorbei, Alles vorbei! Dunkel zieht's noch dem Vorigen nach, als ständen seltsame Sachen bevor. Sie haben Anlagen zum Glück; deswegen sucht Sie eben das Unglück auf. Mehr weiß ich nicht!“

Wie eine weissagende Sibylle saß die Alte auf dem Felsgipfel vor ihm. Es wurde ihm unheimlich bei ihr und fast hätte er sie für eine der geheimnißvollen Gestalten gehalten, von denen der Aberglaube meint, sie wohnen im Innern der Berge und erschienen den Hirten oder verirrten Wanderern bald als Zwerge, bald als tanzende Elfen, oder als andere abenteuerliche Wesen. Manchen Augenblick glaubte er, er habe es mit einer Wahnsinnigen zu tun; doch wenn er an das dachte, was sie ihm von seinen häuslichen Verhältnissen, von seiner Persönlichkeit und von seiner Vergangenheit gesagt hatte – Dinge, die er zum Teil verschwiegen gehalten, andere Dinge, die nur in seiner Familie bekannt sein konnten –, so mußte er fast an Hexerei denken.

„Mütterchen!“ sagte er sanft, „Ihr seid schon weit umhergekommen in der Welt?“

Sie legte den Finger bedeutsam an die Stirn und erwiderte mit halbem Lächeln: „Das glaube ich; weit, sehr weit! Aber hier – im Geiste; nicht mit den Füßen auf der Landstraße. Ich war schon vier Mal in Neuenburg, das letzte Mal bei der Huldigung des königlichen Statthalters. Da herrschte eine Pracht! Ich bin auch vielmals in Locle gewesen; doch weiter nicht.“

„Und wo wohnt Ihr?“

Sie zog mit dem Krückstocke einen Kreis in der Luft und sagte: „In den Bergen allen. Man gibt mir gern das Plätzchen in einer Hütte. Ich bin gar wohl bekannt, und für mich braucht's nicht viel.“

„Aber was führt Euch zu diesem Berggipfel, der selbst für jüngere Personen schwer zu ersteigen ist? Doch nicht das Vergnügen?“

„Junger Herr! ich gehe, wohin ich muß, wenn es auch scheint, als ginge ich, wohin ich wollte. Der Geist leitet des Menschen Schritte. Heute wurde ich ausgesandt, Sie hier oben zu erwarten.“ – Bei diesen Worten stand sie auf und entfernte sich, ohne Abschied zu nehmen. Bald aber blieb sie stehen und winkte dem Fremdling mit der Krücke. Als er zu ihr hinabgekommen war, deutete sie mit dem Stocke auf eine Stelle des unter der Felshöhe eine kleine halbe Stunde weit gelegenen Waldes und sagte: „Dort finden Sie ein klares Wasser; es quillt, man weiß nicht woher, und fließt, man weiß nicht wohin. Dort reinigen Sie Ihre Kleider vom Blut; Menschenblut steht übel am Gewande der Menschen.“

„Und werde ich in der Nähe Wohnungen finden?“

„Wenn Sie dort hinabsteigen, sehen Sie Les Verrieres im Tale, durch welches die große Straße nach Pontarlier hinzieht. Sie müssen da nicht bleiben, wohin leicht Verfolger kommen könnten. Gehen Sie drüben von Les Verrieres bergauf, in die Jeannets oder zur Feenhalde. Dort finden Sie Einsamkeit und Sicherheit.“

Nach diesen Worten wandte sich die Alte von ihm und ging mit langen raschen Schritten über den Rücken des Gebirges hin, bis sie im Tannengestrüpp, aus welchem ihre hohe Gestalt noch lange sichtbar hervorragte, endlich seinen Augen entging.

3. Der Naturforscher

„Närrisch!“ murmelte der junge Mann, als er von der Höhe gegen den bezeichneten Wald niederstieg. In jener erhabenen Einöde hatten sich seiner Empfindungen bemächtigt, die er sich selbst nicht klar machen konnte. Die Flucht aus der Gefangenschaft, das Zusammentreffen mit der geheimnißvollen Sibylle auf dem Felsen des Gros-Taureau, die Worte, die sie zu ihm gesprochen, die Erinnerungen, die sie in ihm erweckt hatte, waren etwas der gewöhnlichen Erfahrung so Fremdes, so Fabelhaftes, daß es ihm vorkam, als habe er mit dem Sprunge aus dem Leiterwagen den Sprung in die neue Welt getan.

Unterwärts, ihm zur Seite, im Tale und in den Bergwiesen, überall bemerkte er zerstreut liegende menschliche Wohnungen, setzte aber seinen Weg längs dem Bergrücken fort, damit die Dunkelheit des Tannenwaldes seine blutigen Kleider, die ihn allerdings verdächtig machen mußten, verberge. Darum suchte er die Wasserstelle, welche von der Sibylle sehr genau bezeichnet worden war, doch fand er sie erst nach langem Suchen. Es war nur eine kleine vom Regenwasser gebildete Pfütze, zwischen dem Gebüsch versteckt, in einer Vertiefung des Bodens und, wie es schien, zur Tränke der Herden gebraucht.

Hier, in der Verborgenheit des Waldes, schritt er zum notwendigsten Werk. Er entkleidete sich und wusch zuerst die schwarzroten Flecken der Beinkleider. Diese Arbeit, wie ungewohnt sie ihm auch war, ging rasch von Statten. Dabei machte er die unangenehme Entdeckung, daß auch die Wäsche, welche er am Leibe trug, eines solchen Liebesdienstes sehr bedürftig sei. Das Hemd hatte in den drei Wochen, seitdem er es trug, fast Isabellfarbe bekommen; aber es war das einzige, welches er besaß. Aus einem breiten Ledergurt, den er verborgen um die Hüfte trug, zog er mehrere Goldstücke hervor, um einen Schlüssel zur Freundschaft und Gefälligkeit der Menschen in Händen zu haben, hier um so notwendiger, da er, bei seiner, einem Bettler oder Landstreicher ähnlichen Erscheinung, auf Menschenliebe nicht rechnen konnte. Nachdem er Alles geordnet, kniete er abermals nieder, um den blutbespritzten Frack zu säubern.

Inmitten dieses Geschäftes überraschte ihn eine menschliche Stimme mit den Worten: „Da kann ich Gesellschaft leisten und will's auch!“

Der Flüchtling sah auf. Hinter ihm stand ein kleiner, schwarzgekleideter Herr, welcher ein großes Buch, einen Hammer und ein Bündel Blumen am Stamme einer Tanne behutsam niederlegte und sich dann das weiße Musselinhalstuch, welches indessen nicht mehr weiß war, dann die bestaubten Schuhe, und schließlich die vor mehreren Wochen sauber gewesenen, etwas durchlöcherten Strümpfe auszog.

Immer eine nützliche, wenngleich kleinliche Arbeit, sobald man vor der Hand keine bessere hat; sagte der schwarze Herr, indem er ebenfalls zum Wasser niederkniete. „Aber warum waschen Sie den Rock?“

„Ich glitt beim Gehen aus und besudelte ihn am Boden,“ antwortete der junge Mann.

„Freund!“ rief der schwarze Herr, indem er das Wasser der Pfütze aufmerksam betrachtete, „Sie müssen mir sagen, wo Ihnen die Füße oder der Boden untreu wurden. Sehen Sie denn nicht, Sie färben das ganze Wasser rotbraun! Das kommt offenbar vom Eisenoker. Waren Sie in der Gegend von Fenin, oder gar in der Nachbarschaft von La Brevine, wo ich schon so lange vergebens das Eisenflötz suche, welches den dortigen Gesundbrunnen mit seinem Oxyde schwängert? Sie können Ihrem Unfalle eine für das Land äußerst wichtige Entdeckung danken.“

„Ich bin zu kurze Zeit und zu fremd in diesen Gegenden,“ antwortete der Flüchtling, „als daß ich Ihnen die Ortschaften nennen könnte.“

„Aber Sie werden doch einige Zeit im Lande verweilen?“

„Ich denke. Es wäre mir lieb, dieses der Schweiz so nahe verwandte Fürstentum näher kennen zu lernen.“

„Vortrefflich, vortrefflich! Sie können viel von mir lernen. Ich bin der Professor Onyx; fragen Sie nur nach mir. Ich führe Sie überall hin; aber vor allen Dingen müssen wir das Erzflötz suchen, auf dem Sie das Glück hatten, zu fallen. Herr, nur dies Flötz zu Tage gefördert, und das Glück des Landes ist gemacht! Ich lege sogleich Hochöfen und Eisenhämmer an; wir haben Holz genug für die kleinen Feuer und zur AusHilfe Torf im Ueberflusse.“

Der Flüchtling sah mit forschendem Blicke auf den zur Seite neben ihm knienden Mitarbeiter, der, ohne sich unterbrechen zu lassen, noch lange von dem reichen Ertrage der Eisenhüttenwerke sprach, die dazu erforderlichen Kapitalien berechnete und seine Strümpfe wusch. Als derselbe endlich eine Pause machte, sagte sein Zuschauer: „Ohne Zweifel sind Sie bei einer Lehranstalt hiesiger Gegend angestellt?“

„O mit nichten, mein Seelenfreund!“ rief der Professor; „ich lebe unabhängig für mich. Ich habe ganz andere Aufgaben zu lösen, als ungezogenen Buben das Latein einzubläuen. Sie glauben nicht, in welcher unglaublichen Unwissenheit das hiesige Volk lebt. Da sitzt es, macht Uhrräder, Uhrfedern, Uhrketten, klöppelt Spitzen zusammen, und weiß nichts von den Schätzen des Bodens, den es bewohnt; hat keine Ahnung von Landbau, ist selbst in der Viehzucht um ein Jahrhundert zurück. Bei ihrer einförmigen mechanischen Arbeit werden die Menschen selbst zu gedankenlosen Maschinen, blind gegen die Schätze der Natur, wie das Vieh, mit dem es unter demselben Dache lebt. Man sollte in keinem Staate Fabrikarbeit dulden, bis der Grund und Boden für die Bevölkerung zu klein wird. Ich habe darüber eine gründliche Abhandlung geschrieben, und hoffe, der Staatsrat werde anderer Ansicht werden. Allein das Volk ist hier zu frei; es läßt sich nichts befehlen; es hängt am alten Schlendrian, wie die Klette am Schaf. Man muß mit dem Beispiel des Bessern vorangehen; bloßes Demonstrieren hilft nichts. Fangen wir ohne Weiteres mit Eisenschmelzen an. Das gibt dem Forstwesen einen Anstoß, bringt die Torfmoore in bessere Benutzung, legt stundenweites Sumpfland trocken und macht es zum Ackerbau verwendbar.“

Der Professor fuhr fort, seine staatswissenschaftlichen Ansichten zu entwickeln, bis die Wäsche nicht nur vollendet, sondern auf einigen Baumstämmen hängend im heißen Sonnenstrahl, der dann und wann durch das dicke Gewölk drang, halb und halb getrocknet war. Der Flüchtling zog seinen Frack wieder an; der Professor wollte dasselbe mit seinen Strümpfen tun, fand aber mit Erstaunen, daß sie noch vom Wasser trieften, obwohl sie schon seit einer Stunde da hingen.

„Sehen Sie her, sehen Sie her, mein Herr!“ rief er; „das ist erstaunlich! Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Tierwolle hält sonst das Wasser länger fest, als dünne Baumwolle, und doch ist Ihr Tuchrock schneller getrocknet, als meine Strümpfe; ja sogar mein Halstuch ist noch völlig naß. Das ist erstaunlich.“

Der Flüchtling lächelte und sagte: „Vermutlich haben Sie in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung daran vergessen, gleich anfangs das Wasser auszuringen.“

Herr Onyx runzelte die Stirn und erwiderte kopfschüttelnd: „Nein, das kann der Grund dieser schlechten Verdunstung des Wassers in meiner Wäsche nicht sein. Ich sollte sie nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2636-9

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