Der Gefangenenwärter mit dem dreifachen Kinn und der roten Nase brummte etwas von »ewigem G'stürm«, – weil ihn Studer vom Mittagessen wegholte. Aber Studer war immerhin ein Fahnderwachtmeister von der Berner Kantonspolizei, und so konnte man ihn nicht ohne weiteres zum Teufel jagen.
Der Wärter Liechti stand also auf, füllte sein Wasserglas mit Rotwein, leerte es auf einen Zug, nahm einen Schlüsselbund und kam mit zum Häftling Schlumpf, den der Wachtmeister vor knapp einer Stunde eingeliefert hatte.
Gänge… Dunkle lange Gänge… Die Mauern waren dick. Das Schloß Thun schien für Ewigkeiten gebaut. Überall hockte noch die Kälte des Winters.
Es war schwer, sich vorzustellen, daß draußen ein warmer Maientag über dem See lag, daß in der Sonne Leute spazieren gingen, unbeschwert, daß andere in Booten auf dem Wasser schaukelten und sich die Haut braun brennen ließen.
Die Zellentüre ging auf. Studer blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Zwei waagrechte, zwei senkrechte Eisenstangen durchkreuzten das Fenster, das hoch oben lag. Der Dachfirst eines Hauses war zu sehen – mit alten, schwarzen Ziegeln – und über ihm wehte als blendend blaues Tuch der Himmel. Aber an der unteren Eisenstange hing einer! Der Ledergürtel war fest verknüpft und bildete einen Knoten. Dunkel hob sich ein schiefer Körper von der weißgekalkten Wand ab. Die Füße ruhten merkwürdig verdreht auf dem Bett. Und im Nacken des Erhängten glänzte die Gürtelschnalle, weil ein Sonnenstrahl sie von oben traf.
»Herrgott!« sagte Studer, schoß vor, sprang aufs Bett – und der Wärter Liechti wunderte sich über die Beweglichkeit des älteren Mannes – packte den Körper mit dem rechten Arm, während die linke Hand den Knoten aufknüpfte.
Studer fluchte, weil er sich einen Nagel abgebrochen hatte. Dann stieg er vom Bett und legte den leblosen Körper sanft nieder.
»Wenn Ihr nicht so verdammt rückständig wäret«, sagte Studer, »und wenigstens Drahtgitter vor den Fenstern anbringen würdet, dann könnten solche Sachen nicht passieren. – So! Aber jetzt spring, Liechti, und hol den Doktor!«
»Ja, ja!« sagte der Wärter ängstlich und humpelte davon.
Zuerst machte der Fahnderwachtmeister künstliche Atmung. Es war wie ein Reflex. Etwas, das aus der Zeit stammte, da er einen Samariterkurs mitgemacht hatte. Und erst nach fünf Minuten fiel es Studer ein, das Ohr auf die Brust des Liegenden zu legen und zu lauschen, ob das Herz noch schlage. Ja, es schlug noch. Langsam. Es klang wie das Ticken einer Uhr, die man vergessen hat aufzuziehen; Studer pumpte weiter mit den Armen des Liegenden. Unter dem Kinn durch, von einem Ohr zum andern, lief ein roter Streifen.
»Aber Schlumpfli!« sagte Studer leise. Er nahm sein Nastuch aus der Tasche, wischte sich zuerst selbst die Stirne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Gesicht des Burschen. Ein Bubengesicht: jung, zwei dicke Falten über der Nasenwurzel. Trotzig. Und sehr bleich.
Das war also der Schlumpf Erwin, den man heut morgen in einem Krachen des Oberaargaus verhaftet hatte. Schlumpf Erwin, angeklagt des Mordes an Witschi Wendelin, Kaufmann und Reisender in Gerzenstein.
Zufall, daß man zur rechten Zeit gekommen war! Vor einer Stunde etwa hatte man den Schlumpf ordnungsgemäß im Gefängnis eingeliefert, der Wärter mit dem dreifachen Kinn hatte unterschrieben – man konnte getrost den Zug nach Bern nehmen und die ganze Sache vergessen. Es war nicht die erste Verhaftung, die man vorgenommen hatte, es würde auch nicht die letzte sein. Warum hatte man das Bedürfnis verspürt den Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen?
Zufall?
Vielleicht… Was ist schon Zufall?… Es war nicht zu leugnen, daß man dem Schicksal des Schlumpf Erwin teilnahmsvoll gegenüberstand. Richtiger gesagt, daß man den Schlumpf Erwin liebgewonnen hatte… Warum?… Studer in der Zelle strich sich ein paar Male mit der flachen Hand über den Nacken. Warum? Weil man keinen Sohn gehabt hatte? Weil der Verhaftete auf der ganzen Reise seine Unschuld beteuert hatte? Nein. Unschuldig sind sie alle. Aber die Beteuerungen des Schlumpf Erwin hatten ehrlich geklungen. Obwohl…
Obwohl der Fall eigentlich ganz klar lag. Den Kaufmann und Reisenden Wendelin Witschi hatte man am Mittwochmorgen mit einem Einschuß hinter dem rechten Ohr, auf dem Bauche liegend, in einem Walde in der Nähe von Gerzenstein aufgefunden. Die Taschen der Leiche waren leer… Die Frau des Ermordeten hatte behauptet, ihr Mann habe dreihundert Franken bei sich getragen.
Und am Mittwochabend hatte Schlumpf im Gasthof zum ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt… Am Donnerstagmorgen wollte ihn der Landjäger verhaften, aber Schlumpf war geflohen.
So war es eben gekommen, daß der Polizeihauptmann am Donnerstagabend den Wachtmeister Studer in seinem Bureau aufgesucht hatte:
»Studer, du mußt an die frische Luft. Morgen früh gehst du den Schlumpf Erwin verhaften. Es wird dir gut tun. Du wirst zu dick…«
Es stimmte, leider… Gewiß, sonst schickte man zu solchen Verhaftungen Gefreite. Es hatte den Fahnderwachtmeister getroffen… Auch Zufall?… Schicksal?…Genug, man war an den Schlumpf geraten, und man hatte ihn liebgewonnen. Eine Tatsache! Mit Tatsachen, auch wenn sie nur Gefühle betreffen, muß man sich abfinden. Der Schlumpf! Sicherlich kein wertvoller Mensch! Man kannte ihn auf der Kantonspolizei. Ein Unehelicher. Die Behörde hatte sich fast ständig mit ihm beschäftigen müssen. Sicher wogen die Akten auf der Armendirektion mindestens anderthalb Kilo. Lebenslauf? Verdingbub bei einem Bauern. Diebstähle. – Vielleicht hat er Hunger gehabt? Wer kann das hinterdrein noch feststellen? – Dann ging es, wie es in solchen Fällen immer geht. Erziehungsanstalt Tessenberg. Ausbruch. Diebstahl. Wieder gefaßt. Geprügelt. Endlich entlassen. Einbruch. Witzwil. Entlassen. Einbruch. Thorberg drei Jahre. Entlassen. Und dann hatte es Ruhe gegeben – zwei volle Jahre. Der Schlumpf hatte in der Baumschule Ellenberger in Gerzenstein gearbeitet. Sechzig Rappen Stundenlohn. Hatte sich in ein Mädchen verliebt. Die beiden wollten heiraten. Heiraten! Studer schnaubte durch die Nase. So ein Bursch und heiraten! Und dann war der Mord an dem Wendelin Witschi passiert…
Es war ja bekannt, daß der alte Ellenberger in seinen Baumschulen mit Vorliebe entlassene Sträflinge anstellte. Nicht nur, weil sie billige Arbeitskräfte waren, nein, der Ellenberger schien sich in ihrer Gesellschaft wohlzufühlen. Nun, jeder Mensch hat seinen Sparren, und es war nicht zu leugnen, daß die Rückfälligen sich ganz gut hielten beim alten Ellenberger… Und nur weil der Schlumpf am Mittwochabend eine Hunderternote im Bären gewechselt hatte, sollte er den Raubmord begangen haben?… Der Bursche hatte das so erklärt: es sei erspartes Geld gewesen, er habe es bei sich getragen…
Chabis!… Erspart!… Bei sechzig Rappen Stundenlohn? Das machte im Monat rund hundertfünfzig Franken… Zimmermiete dreißig… Essen? – Zwei Franken fünfzig am Tag für einen Schwerarbeiter war wenig gerechnet. Fünfundsiebzig und dreißig macht hundertfünf, Wäsche fünf – Cigaretten, Wirtschaft, Tanz, Haarschneiden, Bad – Blieben im besten Falle fünf Franken im Monat. Und dann sollte er in zwei Jahren dreihundert Franken erspart haben? Unmöglich! Das Geld bei sich getragen haben? Psychologisch undenkbar. Solche Leute können kein Geld in der Tasche tragen, ohne es zu verputzen… Auf der Bank? Vielleicht. Aber nur so in der Brieftasche?…
Und doch, der Schlumpf hatte dreihundert Franken bei sich gehabt. Nicht ganz. Zwei Hunderternoten und etwa achtzig Franken. Studer sah das Einlieferungsprotokoll, das er unterzeichnet hatte:
»Portemonnaie mit Inhalt: 282 Fr. 25.«
Also… Es stimmte alles! Sogar der Fluchtversuch im Bahnhof Bern. Ein dummer Fluchtversuch! Kindisch! Und doch so begreiflich! Diesmal langte es ja für lebenslänglich…
Studer schüttelte den Kopf. Und doch! Und doch! Etwas stimmte nicht an der ganzen Sache. Vorerst war es nur ein Eindruck, ein gewisses unangenehmes Gefühl. Und der Fahnderwachtmeister fröstelte. Diese Zelle war kalt. Kam denn der Doktor nicht bald?
Wollte der Schlumpf eigentlich gar nicht aufwachen?… Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Liegenden, die verdrehten Augen kamen in die richtige Stellung und Schlumpf sah den Wachtmeister an. Studer fuhr zurück.
Ein unangenehmer Blick. Und jetzt öffnete Schlumpf den Mund und schrie. Ein heiserer Schrei – Schrecken, Abwehr, Furcht, Entsetzen… Viel lag in dem Schrei. Er wollte nicht enden.
»Still! Willst still sein!« flüsterte Studer. Er bekam Herzklopfen. Schließlich tat er das einzig mögliche: er legte seine Hand auf den lauten Mund…
»Wenn du still bist«, sagte der Wachtmeister, »dann bleib ich noch eine Weile bei dir, und du kannst eine Zigarette rauchen, wenn der Doktor fort ist. Hä? Ich bin doch noch zur rechten Zeit gekommen…« und versuchte ein Lächeln.
Aber das Lächeln wirkte auf den Schlumpf durchaus nicht ansteckend. Zwar sein Blick wurde sanfter, aber als Studer seine Hand vom Munde fortnahm, sagte Schlumpf leise:
»Warum habt Ihr mich nicht hängen lassen, Wachtmeister?«
Schwer auf diese Frage eine richtige Antwort zu finden! Man war doch kein Pfarrer…
Es war still in der Zelle. Draußen tschilpten Spatzen. Im Hof unten sang ein kleines Mädchen mit dünner Stimme:
»O du liebs Engeli,
Rosmarinstengeli,
Alliweil, alliweil, blib i dir treu…«
Da sagte Studer und seine Stimme klang heiser:
»Eh, du hast mir doch erzählt, daß du heiraten willst? Das Meitschi… es wird doch zu dir halten, oder? Und wenn du sagst, du bist unschuldig, so ist's doch gar nicht sicher, daß du verurteilt wirst. Und du kannst dir doch denken, daß ein Selbstmordversuch die größte Dummheit gewesen ist, die du hast machen können. Das wird dir als Geständnis ausgelegt…«
»Es war doch kein Versuch. Ich hab wirklich…«
Aber Studer brauchte nicht zu antworten. Es kamen Schritte den Gang entlang, der Wärter Liechti sagte »Da drin ist er, Herr Doktor.«
»Scho wieder z'wäg?« fragte der Doktor und griff nach Schlumpfs Handgelenk. »Künstliche Atmung? Fein!«
Studer stand vom Bett auf und lehnte sich gegen die Wand.
»Ja, also«, sagte der Doktor. »Was machen wir mit ihm? Selbstgefährlich! Suicidal! Na ja, das kennt man. Wir werden eine psychiatrische Expertise verlangen… Nicht wahr?«
»Herr Doktor, ich will nicht ins Irrenhaus«, sagte Schlumpf laut und deutlich, dann hustete er.
»So? Und warum nicht? Naja, dann könnte man… Ihr habt doch sicher eine Zweierzelle, Liechti, in die man den Mann legen könnte, damit er nicht so allein ist… Geht das? Fein…«
Dann, leise, so, wie man auf dem Theater flüstert, jedes Wort verständlich: »Was hat er angestellt?«
»Gerzensteiner Mord!« flüsterte der Wärter ebenso deutlich zurück.
»Ah, ah«, nickte der Doktor bekümmert – so schien es wenigstens. Schlumpf drehte den Kopf, sah hinüber zum Wachtmeister. Studer lächelte, Schlumpf lächelte zurück. Sie verstanden sich.
»Und wer ist dieser Herr da?« fragte der Arzt. Das Lächeln der beiden brachte ihn in Verlegenheit.
Studer trat so heftig vor, daß der Doktor einen Schritt zurückwich. Der Wachtmeister stand steif da. Sein bleiches Gesicht mit der merkwürdig schmalen Nase paßte nicht so recht zu dem ein wenig verfetteten Körper.
»Wachtmeister Studer von der Kantonspolizei!« Es klang aufrührerisch und bockig.
»So, so! Freut mich, freut mich! Und Sie sind mit der Untersuchung des Falles betraut?« Der blonde Arzt versuchte seine Sicherheit wiederzugewinnen.
»Ich hab ihn verhaftet«, sagte Studer kurz. »Übrigens, ich will gern noch eine Weile bei ihm bleiben bis er sich beruhigt hat. Ich hab Zeit. Der nächste Zug nach Bern fährt erst um halb fünf…«
»Fein!« sagte der Arzt. »Wunderbar! Tut das nur, Wachtmeister. Und heut abend legt Ihr mir den Mann in eine Zweierzelle. Verstanden, Liechti?«
»Jawohl, Herr Doktor.«
»Lebet wohl miteinander«, sagte der Arzt und setzte den Hut auf. Liechti fragte ob er schließen solle. Studer winkte ab. Gegen Haftpsychosen waren wohl offene Türen das wirksamste Gegenmittel.
Und die Schritte verhallten im Gang.
Umständlich setzte Studer den Strohhalm in Brand, den er aus der Brissago gezogen hatte, hielt die Flamme unter das Ende derselben, wartete bis der Rauch oben herausquoll und steckte sie dann in den Mund.
Dann zog er ein gelbes Päckli aus der Tasche, sagte: »So, nimm eine!« Schlumpf sog den ersten Zug der Zigarette tief in die Lungen. Seine Augen leuchteten. Studer setzte sich aufs Bett.
Der Wachtmeister sei ein Guter, sagte der Schlumpf.
Und Studer mußte sich zusammennehmen, um ein merkwürdiges Gefühl im Halse zu unterdrücken. Um es zu vertreiben, gähnte er ausgiebig.
»So, Schlumpfli«, sagte er dann. »Und jetzt. Warum hast du Schluß machen wollen?«
Das könne man nicht so ohne weiteres sagen, meinte der Schlumpf. Es sei ihm alles verleidet gewesen. Und er kenne ja den Betrieb. Wenn man einmal verhaftet sei, dann käme man nicht mehr los. Vorbestraft! – Und jetzt werde es für lebenslänglich langen… Und das Meitschi, von dem der Wachtmeister gesprochen habe, das werde ja wohl auch nicht warten wollen. Es wäre schön dumm, wenn es das täte. – Wer denn das Meitschi sei? – Es heiße Sonja und sei die Tochter vom ermordeten Witschi. – Und ob die Sonja glaube, daß er den Mord begangen habe? – Das wisse er nicht. Er sei einfach fort, damals, als er gehört habe, man beschuldige ihn. – Wie das denn zugegangen sei, daß man gerade auf ihn verfallen sei? – Eh, wegen der Hunderternote, die er im ›Leuen‹ gewechselt habe. – Im ›Leuen‹? Nicht im ›Bären‹? – Es könne auch im ›Bären‹ gewesen sein. Natürlich im ›Bären‹! Der ›Leuen‹ sei die fürnehme Wirtschaft, da hätten sie einmal bei einem Anlaß aufgespielt…
»Bei welchem Anlaß? Und wer hat aufgespielt?«
»Bei einer Hochzeit. Der Buchegger hat Klarinette gespielt, der Schreier Klavier und der Bertel Baßgeige. Und ich Handharfe…«
»Schreier? – Buchegger? – Die – die kenn' ich doch!« Studer runzelte die Stirn.
»Denk wohl!« sagte der Schlumpf, und ein kleines Lächeln entstand in seinen Mundwinkeln. »Der Buchegger hat oft von Euch erzählt und der Schreier auch. Ihr habt ihn vor drei Jahren geschnappt…«
Studer lachte. So, so! Alte Bekannte! – Und die hätten sich also zu einer Ländlerkapelle zusammengetan? »Ländlerkapelle?« Schlumpf tat beleidigt. »Nein! Ein richtiger Jazzband. Der Ellenberger, unser Meister, hat uns sogar einen englischen Namen gegeben: ›The Convict Band‹! Das soll heißen: Die Sträflingsmusik…«
Der Bursche Schlumpf schien ganz zufrieden zu sein, von nebensächlichen Dingen zu sprechen. Aber wenn man vom Mord anfing, versuchte er abzubiegen.
Studer war einverstanden. Der Schlumpf sollte nur abschweifen, wenn er Freude daran hatte. Nicht drängen! Es kommt alles von selbst, wenn man genügend Geduld hat…
»Dann habt Ihr auch in den umliegenden Dörfern gespielt?«
»Sowieso!«
»Und ordentlich Geld verdient?«
»Zünftig…« Zögern. Schweigen.
»Also, Schlumpfli, ich will dir ja glauben, daß du den Witschi nicht umgebracht hast – um ihm die Brieftasche zu rauben. Dreihundert Franken hast du erspart gehabt?«
»Ja, dreihundert Erspartes…« Schlumpf blickte zum Fenster auf, seufzte, vielleicht weil der Himmel so blau war.
»Du hast also die Tochter vom Ermordeten heiraten wollen? Sonja hieß sie? Und die Eltern, die waren einverstanden?«
»Der Vater schon; der alte Witschi hat gesagt, ihm sei es gleich. Er war oft beim Ellenberger zu Besuch und dort hat er mit mir gesprochen, der Ermordete, wie Ihr sagt… Er hat gemeint, ich sei ein ordentlicher Bursch, und wenn ich auch ein Vorbestrafter sei, man solle nicht zu Gericht sitzen, und wenn ich einmal die Sonja zur Frau hätte, dann würde ich keine Dummheiten mehr machen. Die Sonja sei ein ordentliches Meitschi… Und dann hat mir mein Meister die Obergärtnerstelle versprochen, weil doch der Cottereau schon alt ist und ich tüchtig bin…«
»Cottereau? Hat der die Leiche gefunden?«
»Ja. Er geht jeden Morgen spazieren. Der Meister läßt ihn machen, was er will. Der Cottereau stammt aus dem Jura, aber man merkt ihm das Welsche nicht mehr an. Am Mittwochmorgen ist er in die Baumschule gelaufen gekommen und hat erzählt, im Walde liege der Witschi, erschossen… Dann hat ihn der Meister gleich auf den Landjägerposten geschickt, um die Meldung zu machen.«
»Und was hast du gemacht, nachdem du vom Cottereau die Neuigkeit erfahren hast?«
Ach, meinte der Schlumpf, sie hätten alle Angst gehabt, weil der Verdacht auf sie fallen müsse, als Vorbestrafte. Aber den ganzen Tag sei es ruhig gewesen, niemand sei in die Baumschule gekommen. Nur der Cottereau habe sich nicht beruhigen können, bis ihn der Meister angeschnauzt habe, er solle mit dem G'stürm aufhören…
»Und am Mittwochabend hast du die hundert Franken im ›Bären‹ gewechselt?«
»Am Mittwochabend , ja…«
Stille. Studer hatte das Päckchen Parisiennes neben sich liegen lassen. Ohne zu fragen nahm Schlumpf eine Zigarette, der Wachtmeister gab ihm die Schachtel Zündhölzer und sagte:
»Versteck beides. Aber laß dich nicht erwischen!«
Schlumpf lächelte dankbar.
»Wann habt Ihr Feierabend in der Baumschule?«
»Um sechs. Wir haben den Zehnstundentag.« Dann fügte Schlumpf eifrig hinzu: »Überhaupt, in der Gärtnerei kenn ich mich aus. Der Vorarbeiter auf dem Tessenberg hat immer gesagt, ich kann etwas. Und ich schaff' gern…«
»Das ist mir gleich!« Studer sprach absichtlich streng. »Nach dem Feierabend bist du ins Dorf, in dein Zimmer. Wo hast du gewohnt?«
»Bei Hofmanns, in der Bahnhofstraße. Ihr findet das Haus leicht. Die Frau Hofmann war eine Gute… Sie haben eine Korberei.«
»Das interessiert mich nicht! Du bist in dein Zimmer, hast dich gewaschen. Dann bist du zum Nachtessen gegangen? Oder?«
»Ja.«
»Also: sechs Uhr Feierabend.« Studer zog ein Notizheft aus der Tasche und begann nachzuschreiben. »Sechs Uhr Feierabend, halb sieben – viertel vor sieben Nachtessen…« Aufblickend: »Hast du schnell gegessen? Langsam? Hast du Hunger gehabt?«
»Nicht viel Hunger…«
»Dann hast du schnell gegessen und warst um sieben fertig…«
Studer schien in sein Notizbuch zu starren, aber seine Augen waren beweglich. Er sah die Veränderung in den Gesichtszügen des Schlumpf und unterbrach die Spannung, indem er harmlos fragte:
»Wieviel hast du für das Nachtessen bezahlt?«
»Eins fünfzig. Zu Mittag hab ich immer beim Ellenberger eine Suppe gegessen und Brot und Käs mitgebracht. Der Ellenberger hat nur fünfzig Rappen für den Teller Suppe verlangt, und z'Immis hat er umsonst gegeben, denn der Ellenberger war immer anständig mit uns, wir haben ihn gern gehabt, er hat so kohlig dahergeredet, er sieht aus, wie ein uralter Mann, hat keine Zähne mehr, aber…« dies alles in einem Atemzug, als ob der Redende vor einer Unterbrechung Angst hätte. Doch Studer wollte diesmal auf das Geschwätz nicht eingehen.
»Was hast du am Mittwochabend zwischen sieben und acht Uhr gemacht?« fragte er streng. Er hielt den Bleistift zwischen den mageren Fingern und blickte nicht auf.
»Zwischen sechs und sieben?« Schlumpf atmete schwer.
»Nein, zwischen sieben und acht. Um sieben warst du mit dem Nachtessen fertig, um acht hast du im ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt. Wer hat dir die dreihundert Franken gegeben?«
Und Studer blickte den Burschen fest an. Schlumpf drehte den Kopf zur Seite, plötzlich warf er sich herum, drückte die Augen in die Ellbogenbeuge. Sein Körper zitterte.
Studer wartete. Er war nicht unzufrieden. Mit kleinen Buchstaben schrieb er in sein Notizbuch: ›Sonja Witschi‹ und malte hinter die Worte ein großes Fragezeichen. Dann wurde seine Stimme weich, als er sagte:
»Schlumpfli, wir werden die Sache schon einrenken. Ich hab' dich extra nicht gefragt, was du am Dienstagabend, also am Abend vor dem Mord, getan hast. Da hättest du mich doch nur angelogen. Und dann steht es sicher in den Akten, und ich kann auch deine Wirtin fragen… Aber sag mir noch: Was ist die Sonja für ein Meitschi? Ist sie das einzige Kind?«
Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.
»Ein Bruder ist noch da. Der Armin!«
»Und den Armin magst du nicht?«
Dem habe er einmal zünftig auf den Gring gegeben, sagte Schlumpf und zeigte die Zähne wie ein knurrender Hund.
»Der Armin hat dir die Schwester nicht gönnen mögen?«
»Ja; und mit dem Vater hat er auch immer Krach gehabt. Der Witschi hat sich oft genug über ihn beklagt…«
»Soso… Und die Mutter?«
»Die Alte hat immer Romane gelesen…« (›die Alte‹, sagte der Bursche respektlos). »Sie ist mit dem Gemeindepräsidenten Aeschbacher verwandt und der hat ihr den Bahnhofkiosk in Gerzenstein verschafft. Dort ist sie immer gehockt und hat gelesen, während der Vater hausiert hat… Nicht gerade hausiert. Er ist mit einem Zehnderli herumgefahren, als Reisender für Bodenwichse, Kaffee… Und das Zehnderli hat man ja auch gefunden, ganz in der Nähe, es stand an der Straße…«
»Und wo ist der alte Witschi gelegen?«
»Hundert Meter davon, im Wald, hat der Cottereau erzählt…«
Studer zeichnete Männlein in sein Notizbuch. Er war plötzlich weit weg. Er war in dem Krachen im Oberaargau, wo er den Burschen verhaftet hatte. Die Mutter hatte ihm aufgemacht. Eine merkwürdige Frau, diese Mutter des Schlumpf! Sie war gar nicht erstaunt gewesen. Sie hatte nur gefragt: »Aber er darf noch z'Morgen essen?«.
Ein kleines Mädchen in Gerzenstein, eine alte Mutter im Oberaargau… und zwischen beiden der Bursche Schlumpf, angeklagt des Mordes…
Es kam ganz darauf an, was für ein Untersuchungsrichter den Fall übernehmen würde… Man müßte mit dem Mann reden können. Vielleicht…
Schritte kamen näher. Der Wärter Liechti erschien in der Tür und sein rotes Gesicht glänzte boshaft.
»Wachtmeister, der Herr Untersuchungsrichter will Euch sprechen.«
Und Liechti grinste unverschämt. Es war nicht schwer zu erraten, was das Grinsen zu bedeuten hatte. Ein Fahnder hatte seine Kompetenzen überschritten und wurde eingeladen, den fälligen Rüffel in Empfang zu nehmen…
»Leb wohl, Schlumpfli!« sagte Studer. »Mach keine Dummheiten mehr. Soll ich die Sonja grüßen, wenn ich sie seh'? Ja? Also; ich komm dich dann vielleicht einmal besuchen. Leb wohl!«
Und während Studer durch die langen Gänge des Schlosses schritt, konnte er den Blick nicht los werden und den Blick nicht deuten, mit dem ihm Schlumpf nachgeblickt hatte. Erstaunen lag darin, jawohl, aber hockte nicht auch eine trostlose Verzweiflung auf dem Grunde?
Ihr seid…« (Räuspern.) »Ihr seid der Wachtmeister Studer?«
»Ja.«
»Nehmt Platz.«
Der Untersuchungsrichter war klein, mager, gelb. Sein Rock war über den Achseln gepolstert und von lilabrauner Farbe. Zu einem weißen, seidenen Hemd trug er eine kornblumenblaue Krawatte. In den dicken Siegelring war ein Wappen eingraviert – der Ring schien übrigens alt.
»Wachtmeister Studer, ich möchte Euch sehr höflich fragen, was Ihr Euch eigentlich vorstellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch eigenmächtig – ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, der…«
Der Untersuchungsrichter stockte und wußte selbst nicht weshalb. Da saß vor ihm ein einfacher Fahnder, ein älterer Mann, an dem nichts Auffälliges war: Hemd mit weichem Kragen, grauer Anzug, der ein wenig aus der Form geraten war, weil der Körper, der darin steckte, dick war. Der Mann hatte ein bleiches, mageres Gesicht, der Schnurrbart bedeckte den Mund, so daß man nicht recht wußte, lächelte der Mann oder war er ernst. Dieser Fahnder also hockte auf seinem Stuhl, die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet… Der Untersuchungsrichter wußte selbst nicht, warum er plötzlich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ überging.
»Sie müssen begreifen, Wachtmeister, es scheint mir, als hätten Sie Ihre Kompetenzen überschritten…« Studer nickte und nickte: natürlich, die Kompetenzen!… »Was hatten Sie für einen Grund, den Eingelieferten, den ordnungsmäßig eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? Ich will ja gerne zugeben, daß Ihr Besuch höchst opportun gewesen ist – das will aber noch nicht sagen, daß er sich mit dem Kompetenzbereich der Fahndungspolizei gedeckt hat. Denn, Herr Wachtmeister, Sie sind schon lange genug im Dienste, um zu wissen, daß ein fruchtbares Zusammenarbeiten der diversen Instanzen nur dann möglich ist, wenn jede darauf sieht, daß sie sich streng in den Grenzen ihres Kompetenzbereiches hält…«
Nicht einmal, nein, dreimal das Wort Kompetenz… Studer war im Bild. Das trifft sich günstig, dachte er, das sind die Bösesten nicht, die immer mit der Kompetenz aufrücken. Man muß nur freundlich zu ihnen sein und sie recht ernst nehmen, dann fressen sie einem aus der Hand…
»Natürlich, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer und seine Stimme drückte Sanftmut und Respekt aus, »ich bin mir bewußt, daß ich wahr- und wahrhaftig meine Kompetenzen überschritten habe. Sie stellten ganz richtig fest, daß ich es bei der Einlieferung des Häftlings Schlumpf Erwin hätte bewenden lassen sollen. Und dann – ja, Herr Untersuchungsrichter, der Mensch ist schwach – dann dachte ich, daß der Fall vielleicht doch nicht so klar liege, wie ich es anfangs angenommen hatte. Es könnte möglich sein, dachte ich, daß eine weitere Untersuchung des Falles sich als nötig erweisen würde und daß ich vielleicht mit deren Verfolgung betraut werden könnte, und da wollte ich im Bilde sein…«
Der Untersuchungsrichter war sichtlich schon versöhnt.
»Aber, Wachtmeister«, sagte er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließlich, wenn dieser Schlumpf sich auch erhängt hätte, das Malheur wäre nicht groß gewesen – ich wäre eine unangenehme Sache los geworden und der Staat hätte keine Gerichtskosten zu tragen brauchen…«
»Gewiß, Herr Untersuchungsrichter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirklich der ganze Fall erledigt gewesen? Denn daß der Schlumpf unschuldig ist, werden auch Sie bald herausfinden.«
Eigentlich war eine derartige Behauptung eine Frechheit. Aber so ehrerbietig war Studers Stimme, so zwingend heischte sie Bejahung, daß dem Herrn mit dem wappengeschmückten Siegelring nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken.
Mit braunem Holz waren die Wände des Raumes getäfelt, und da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren, schimmerte die Luft wie dunkles Gold.
»Die Akten des Falles«, sagte der Untersuchungsrichter ein wenig unsicher. »Die Akten des Falles… Ich habe noch nicht recht Zeit gehabt, mich mit ihnen zu beschäftigen… Warten Sie…«
Rechts von ihm waren fünf Aktenbündel übereinander geschichtet. Das unterste, das dünnste, war das richtige. Auf dem blauen Kartondeckel stand:
SCHLUMPF ERWIN
MORD
»Leider«, sagte Studer und machte ein unschuldiges Gesicht. »Leider hat man in letzter Zeit ziemlich viel von mangelhaft geführten Untersuchungen gehört. Und da wäre es vielleicht besser, wenn man sich auch bei einem so klaren Fall mit den notwendigen Kautelen umgeben würde…«
Innerlich grinste er: Kommst du mir mit Kompetenz, komm ich dir mit Kautelen.
Der Untersuchungsrichter nickte. Er hatte eine Hornbrille aus einem Futteral gezogen, sie auf die Nase gesetzt. Jetzt sah er aus wie ein trauriger Filmkomiker.
»Gewiß, gewiß, Wachtmeister. Sie müssen nur bedenken, es ist meine erste schwere Untersuchung, und da wird mir natürlich Ihre Kompetenz in diesen Angelegenheiten…«
Weiter kam er nicht. Studer hob abwehrend die Hand.
Aber der Untersuchungsrichter beachtete die Bewegung nicht. Er hatte zwei Photographien in der Hand und reichte sie über den Tisch:
»Aufnahmen des Tatortes…«, sagte er.
Studer betrachtete die Bilder. Sie waren nicht schlecht, obwohl sie von keinem kriminologisch geschulten Fachmann aufgenommen worden waren. Auf beiden sah man das Unterholz eines Tannenwaldes und auf dem Boden, der mit dürren Nadeln übersät war – die Bilder waren sehr scharf –, lag eine dunkle Gestalt auf dem Bauch. Rechts am kahlen Hinterkopf, schätzungsweise drei Finger breit von der Ohrmuschel, gerade über einem dünnen Haarkranz, der zum Teil den Rockkragen bedeckte, war ein dunkles Loch zu sehen. Es sah ziemlich abstoßend aus. Aber Studer war an solche Bilder gewöhnt. Er fragte nur:
»Taschen leer?«
»Warten Sie, ich habe hier den Rapport vom Landjägerkorporal Murmann…«
»Ah«, unterbrach Studer, »der Murmann ist in Gerzenstein. So, so!«
»Kennen Sie ihn?«
»Doch, doch. Ein Kollege. Hab ihn aber schon viele Jahre nicht gesehen. Was schreibt der Murmann?«
Der Untersuchungsrichter drehte das Blatt um, dann murmelte er halbe Sätze vor sich hin. Studer verstand:
»… männliche Leiche auf dem Bauche liegend… Einschuß hinter dem rechten Ohr… Kugel im Kopf stecken geblieben… wahrscheinlich aus einem 6,5 Browning…«
»In Waffen kennt er sich aus, der Murmann!« bemerkte Studer.
»… Taschen leer…«, sagte der Untersuchungsrichter.
»Was?« ganz scharf die Frage. »Haben Sie zufällig eine Lupe?« Alle Höflichkeit war aus Studers Stimme verschwunden.
»Eine Lupe? Ja. Warten Sie. Hier…«
Ein paar Augenblicke war es still. Durch einen Spalt der Fensterläden fiel ein Sonnenstrahl gerade auf Studers Haar. Schweigend betrachtete der Untersuchungsrichter den Mann, der da vor ihm hockte, den breiten, runden Rücken und die grauen Haare, die glänzten, wie das Fell eines Apfelschimmels.
»Das ist lustig«, sagte Wachtmeister Studer mit leiser Stimme. (Was, zum Teufel, ist an der Photographie eines Ermordeten lustig! dachte der Untersuchungsrichter.) »Der Rock ist ja ganz sauber auf dem Rücken…«
»Sauber auf dem Rücken? Ja, und?«
»Und die Taschen sind leer«, sagte Studer kurz, als sei damit alles erklärt.
»Ich versteh' nicht…« Der Untersuchungsrichter nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch.
»Wenn…«, sagte Studer und tippte mit der Lupe auf die Aufnahme. »Wenn Sie sich vorstellen, daß der Mann hier im Walde meuchlings überfallen worden ist, daß ihn einer von hinten niedergeschossen hat, so geht aus der Lage der Leiche hervor, daß der Mann vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber seine Taschen sind leer. Wann hat man die Taschen geleert?«
»Der Angreifer hätte den Witschi zwingen können, die Brieftasche auszuliefern …«
»Nicht sehr wahrscheinlich… Was sagt das Sektionsprotokoll, wann der Tod mutmaßlich eingetreten ist?«
Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, eifrig, wie ein Schüler, der gerne vom Lehrer eine gute Note bekommen möchte. Merkwürdig, wie schnell die Rollen sich vertauscht hatten. Studer hockte immer noch auf dem unbequemen Stuhl, der sicherlich sonst für die vorgeführten Häftlinge bestimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hätte…
»Das Sektionsprotokoll«, sagte der Untersuchungsrichter jetzt, räusperte sich trocken, rückte an seiner Brille und las: »Zertrümmerung des Occipitalknochens… Mesencephalum… steckengeblieben in der Gegend des linken… Aber das wollen Sie ja alles nicht wissen… Hier… Tod approximativ zehn Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten… Das wollten Sie wissen, Wachtmeister? Aufgefunden ist die Leiche zwischen halb acht und viertel vor acht Uhr morgens von Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger… Der Mord wäre also ungefähr um zehn Uhr abends verübt worden.«
»Zehn Uhr? Gut. Wie stellen Sie sich die Szene vor? Der alte Witschi kommt von einer Tour zurück, er fährt mit seinem Zehnder ruhig nach Hause. Plötzlich wird er angehalten… Schon da ist vieles nicht klar. Warum steigt er ab? Hat er Angst?… Nehmen wir an, er sei angehalten worden. Gut, er wird gezwungen, seinen Karren an einen Baum zu lehnen, man treibt ihn in den Wald… Warum nimmt ihm der Angreifer nicht auf der Straße die Brieftasche fort und drückt sich?… Nein! Er zwingt den Witschi, mit ihm hundert Meter – es waren doch hundert Meter? – in den Wald zu gehen. Schießt ihn von hinten nieder. Der Mann fällt auf den Bauch… Wollen Sie mir sagen, Herr Untersuchungsrichter, wann ihm die Brieftasche mit den verschwundenen dreihundert Franken aus der Tasche genommen worden ist?«
»Brieftasche? Dreihundert Franken? Warten Sie, Wachtmeister. Ich muß mich zuerst orientieren…«
Stille. Eine Fliege summte dröhnend. Studer hatte sich kaum bewegt, sein Kopf blieb gesenkt.
»Sie haben recht… Frau Witschi gibt an, ihr Mann habe am Morgen zu ihr gesagt, er werde wahrscheinlich am Abend hundertfünfzig Franken mitbringen. Es seien Rechnungen fällig. Hundertfünfzig Franken habe er noch besessen… Telephonische Erkundigungen haben ergeben, daß wirklich zwei Kunden des Witschi ihre Rechnungen bezahlt haben. Die eine Rechnung betrug hundert Franken, die andere fünfzig…«
»Die eine hundert und die andere fünfzig? Merkwürdig…«
Warum merkwürdig?«
»Weil der Schlumpf drei Hunderternoten in seinem Besitz gehabt hat. Eine, die er im ›Bären‹ gewechselt hat, und zwei, die ich ihm abgenommen habe. Wo ist die Brieftasche hingekommen?«
»Sie haben recht, Wachtmeister. Der Fall hat einige dunkle Punkte…«
»Dunkle Punkte!« Studer zuckte die Achseln.
Ein ungemütlicher Mann, dachte der Untersuchungsrichter. Er war nervös wie seinerzeit beim Staatsexamen. Vielleicht war dieser Wachtmeister für Schmeichelei empfänglich… Darum sagte er: »Ich sehe, Wachtmeister, daß Ihre praktische kriminologische Schulung der meinigen überlegen ist…«
Studer brummte irgend etwas.
»Was wollten Sie sagen?« Der Untersuchungsrichter legte die Hand ans Ohr, als wolle er kein Wort seines Gegenübers verlieren.
Aber Studer schien auf einmal vergessen zu haben, wo er sich befand. Denn er zündete umständlich eine Brissago an.
»Rauchen Sie nicht lieber eine Zigarette?« wagte der Untersuchungsrichter schüchtern zu fragen, denn er haßte den Brissagorauch. Er reichte dem Wachtmeister ein geöffnetes Etui über den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: verlag.bucher@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2594-2
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