Franz Dingelstedt
Die Amazone
Roman
Die Amazone handelt von Künstlerleben, Liebe, Verwirrungen und schlussendlich dem Glück. Das Buch ist ein Sittengemälde seiner Zeit. Franz von Dingelstedt war Dichter, Journalist und Theaterintendant.
Es liegt weit draußen in der Vorstadt, da »wo die letzten Häuser sind.« Der Weg hinaus führt vorüber an den Prachtvierteln der großen Residenz, Palästen, Kirchen, Kasernen, Fabriken, Monumenten; vorüber auch an den Manufakturen beliebter Porträtmaler und Schönfärber nach der neuesten Mode; vorüber endlich an der, bald wegen baulicher Reparatur, bald wegen gesetzlicher Ferien geschlossenen Akademie der bildenden Künste ...
Kennst du das Haus?Auf Säulen ruht sein Dach;
es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und schaun sich an:
Was hat man dir, du arme – Kunst, getan?
Kennst du es wohl? Dahin, dahin, –
dahin nämlich möcht ich mit dir, geliebter Leser, keineswegs ziehen. Vielmehr lassen wir alle diese Herrlichkeiten links liegen, oder rechts, je nachdem es kommt. Wir schreiten aus dem altertümlichen Margaretentor hinaus, über mancherlei Winkelbrücklein weg, einen Kanal entlang, zwischen einer Kleinkinderbewahranstalt und einer Gerberei, wahlverwandten Instituten, durch, um die scharfe Ecke des Strafarbeitshauses herum. Dies ist der Markstein großstädtischer Gesittung. Von nun an werden mit jedem Schritte die Polizeidiener, die Straßenlaternen, die Pflastersteine seltener; hingegen mehren sich und wachsen die Gärten und Zäune, auf denen Wäsche getrocknet wird. Endlich schlägt das steinerne Häusermeer der Residenz in einstöckigen Hütten seine letzten Wellen und versiegt dann ganz und gar in der weiten, bis zum fernen Gebirge sich ausdehnenden Ebene. Dort, am äußersten Saume der Vorstadt Sankt Margareten, ist unser Ziel, das Atelier des Malers Roland. Ein weiter Weg. Ob er der Mühe lohnt?
Fehlen können wir ihn übrigens nicht. Wir brauchen uns nur einer jener zahlreichen und bunten Wallfahrten anzuschließen, welche regelmäßig an jedem Morgen während der holden Reisezeit, von den Hundstagen bis zum Windmonat oder November, nach demselben Ziele unterwegs sind. Ein Anblick zum tiefsten Erbarmen für den denkenden Menschenfreund, der aus den Fenstern seines Hauses oder von der schattigen Terrasse seines Gartens in beschaulicher Ruhe auf diese Ewige-Juden-Wanderschaft hinabsieht. Da ziehen sie, ziehen, begleitet von Dienstmännern, Lohnlakaien und Betteljungen, – rot eingebundene Fremdenführer in der Hand, graue Plaids über der Schulter, schwarze Weibsbilder am Arme, – von einer Kirche, einer Bildsäule, einer Sammlung, einer Aussicht zur anderen. Im Schweiße ihres Angesichts schwelgen sie Kunst, im Staube der Landstraße Natur, wie es der Fluch der reisenden Menschheit gebeut.
An dem Freitagmorgen, an welchem unsere Erzählung, wie alle Unglücksfälle, beginnt, hatte sich ebenfalls ein gemischter Personenzug zusammengefunden und nach Rolands Atelier aufgemacht. An der Spitze marschierten Franzosen, nicht unter munterem Geplauder, sondern in dem schweigsamen Ernst, der das junge Frankreich kennzeichnet. Im Haupt- und Mitteltreffen ragte Altengland hervor, rotköpfig und blau verschleiert, den Hut im Nacken, das Glas auf der Nase. Die Reserve bildete Deutschland, das einige Deutschland, streitend in allen Zungen, die sein berühmtes Volkslied namhaft macht, über die Arbeiten und den Wert des Künstlers, welchem der Massenbesuch galt. Ein Sach- oder Schwachverständiger, gebürtig aus Elbflorenz, behauptete, Roland sei der erste Realist unter den zeitgenössischen Malern, worauf eine weit gereiste Enthusiastin vom Buttermarkt zu Bremen erwiderte: »Entschuldigen Sie; er s–teht an der S–pitze der Idealisten, wie sein s–terbender Roland beweist.« Ein anderes Urteil aus Frankfurt am Main verwies ihn wegen seiner berühmten »Dorfschule« unter die Genremaler, und zum Schluß stimmte Köln dafür, ihn als Tiermaler mit Rosa Bonheur und Herring auf eine Stufe zu stellen; man vergleiche nur sein nicht minder berühmtes »Tierspital«, als Prämie für die Mitglieder des lippe-bückeburgischen Kunstvereins in Steindruck erschienen. Hier mischte sich ein alter Lohndiener in die Kontroverse, Vater Winter von seinen Kollegen genannt; ein öffentlicher Charakter, in allgemeinem und hohem Ansehen stehend, neben seinem Beruf auch als Bilderhändler und ständiger Korrespondent des Tagblatts über Gemäldeausstellungen tätig. Er hatte die Wiedergeburt der deutschen Kunst in der Residenz persönlich mit durchgemacht, von der ersten Freske bis zum letzten Giebelfeld; sein Bart war grau geworden, sein Haupt kahl unter Staffeleien und Tonmodellen, so daß sein Wort die Bedeutung eines Orakels unter Einheimischen und Fremden besaß. »Meine Herrschaften,« sagte Vater Winter, »Sie haben alle miteinander recht, und Sie haben auch alle unrecht. Meister Roland ist Tiermaler, Genremaler, Porträtmaler, Historienmaler, alles das zugleich. Sein Grundsatz – ich habe ihn von seinen Schülern mehr als einmal gehört – sein Grundsatz lautet: Der Künstler muß, wie die Natur, alles können, wenn auch eines minder gut, als das andere. Fächer und Schulen gibt's nicht; nur gute und schlechte Bilder. Punktum, streu Sand drum. Dabei ist Ihnen der Herr Roland ein Sonderling aus dem ff. Aufträge nimmt er nicht an, außer wenn man ihm die Wahl des Stoffs, die Zeit der Ablieferung, den Preis, und was sonsten drum- und dranhängt, überläßt. Seine Majestät der König hatten ihm ein lebensgroßes Bild zu befehlen geruht, die Taufe der jüngsten Prinzeß, Königliche Hoheit: vierundzwanzig Allerhöchste, Höchste, Hohe Personen, Hofstaat, Geistlichkeit, lauter interessante Porträts. Meinen Sie, er hätte angenommen? Nichts da, und ich mag mit Respekt vor den Herrschaften die grobe Antwort nicht einmal wiederholen, die er dem Akademiedirektor bei der Bestellung gab. Ich selbst hab's mit angesehen, daß dieser rasende Roland einen russischen Fürsten, der die verschlossene Türe des Ateliers aufsprengen wollte, die Treppe hinunter warf. Und ein andermal wies er einem reisenden Handwerksburschen in eigener Person seine sämtlichen Kunstschätze und lud den verblüfften Gesellen zu guter Letzt noch zum Frühstück in seinem Hausgarten ein. Die Geschichte machte dazumalen aus unserer Morgenzeitung die Runde durch alle Blätter. Der Gast Rolands war seines Zeichens ein Tüncher, Weißbinder oder so was dergleichen auf Wanderschaft. Unser berühmter Meister aber hatte ihn seinen guten Kollegen genannt und lachend hinzugesetzt: ›Wir werden alle nach Fuß und Elle bezahlt.‹ Nun frage ich Sie, meine Herrschaften, ist das ein Sonderling, oder ist er's nicht?«
Mittlerweile war unter Vater Winters belehrendem Vortrag der Haufen der Bilderstürmer an seinem Ziele angelangt, obgleich es niemand dem vorauseilenden Dienstmann glauben wollte, der auf einen baufälligen Torweg in einem nichts weniger als ansehnlichen Bretterzaune wies. Kein Schild, kein Name bezeichnete den Eingang; nur ein rostiger Klingelzug hing daneben. »Dies Rolands Atelier?« so fragte die Gesellschaft, weder ihren Augen, noch ihren Ohren trauend, und die schwärmerische Tochter der alten Hansestadt flüsterte: »Ich kann man s–taunen.« In der Tat, wer hier den Palast eines Kunstfürsten nach neuestem Stile zu finden erwartete, eine Ritterburg mit Erkern und Zinnen, eine italienische Villa mit Loggien und Balkons, oder ein Glashaus voll exotischer Pflanzen, der sah sich bitterlich enttäuscht. Rolandseck, wie die wunderliche Besitzung spaßhaft genannt wird, gleicht viel eher einer im Verfalle begriffenen Landwirtschaft, als einem behaglichen oder glänzenden Wohnhaus. Wenn sich der Torweg auf einen Riß an dem Eisenring und den Laut einer heiseren Glocke durch unsichtbare Hand von innen öffnet, tritt der Besucher in einen weiten, wüsten Raum, weder Hof noch Garten, den von drei Seiten eine verwitterte Planke, von der vierten ein schmaler Flußarm umfaßt. Innerhalb der Türe präsentiert sich rechts eine Hundehütte, deren Insaß, eine riesige Dogge, die Fremden gähnend oder an der Kette sich streckend empfängt, niemals aber mit Gebell; Phylax ist an tägliche Gäste gewöhnt. Ihm gegenüber kräht, gackert, gluckst ein Hühnervolk der verschiedensten Rassen aus einem vernachlässigten Schuppen hervor. Ein paar Pfauen stolzieren unter ihnen umher; Roland liebt von den Vögeln die Pfauen, von den Blumen die Tulpen besonders, wie Vater Winter weiß, der Alleswissende. Der Platz vor dem Haus ist mit zerstreuten Bausteinen, Balken, Sandhaufen unordentlich bedeckt; Gras und Gestrüppe überwuchern ihn, nur für einen schmalen Kiesweg zur Türe Raum lassend. Die Gebäude bestehen aus einem Haus von einem einzigen Stockwerk, am nördlichen Ende auslaufend in einen massiven, viereckigen Turm von ziemlicher Höhe, welchen wilder Wein in üppigster Fülle bedeckt. An der entgegengesetzten Seite stößt ein niedriger Flügel, eine Reihe kleiner Gemächer enthaltend, in rechtem Winkel an das Haus. Hinter und über demselben strecken stattliche Linden, hochstämmige Kastanien und graue Erlen sich empor und beschatten eine natürliche Terrasse, die sich bis an das Wasser herunterzieht. So sieht Rolandseck aus, nicht unfreundlich, aber ernst; in keinem Zuge affektiert, in manchem originell; nur ein Rahmen um das Bild des Eigentümers, während bei so vielen anderen Schneckenhäusern der baulustigen Neuzeit das Gehäuse Hauptsache ist, der Einwohner Nebending. Genug, daß der erste Schauplatz unserer Erzählung ein Gesicht für sich besitzt, und eine Geschichte obendrein, die wir kennen lernen müssen.
Vor undenkbaren Zeiten hat an dieser Stelle eine Meierei bestanden, die sich mit dem Wachstum der Residenz zu einem schwunghaften Milch-, Butter- und Käsehandel ausdehnte. Der Bauer benutzte den Turm, ehedem wahrscheinlich ein befestigtes Tor oder eine Warte vor der Stadt, im unteren, kühlen Stock zum Buttern, im oberen, luftigen, als Käserei. Der Nebenflügel beherbergte Kühe und Ziegen. Nach zwanzigjährigem Betrieb war der Eigentümer reich genug geworden, um als Rentier in die Stadt zu ziehen, seinen Töchtern einen Klavierlehrer und eine Theaterloge zu halten, morgens die Börse und abends das Bürgerkasino zu besuchen; gegenwärtig bewirbt er sich mit Erfolg um einen Sitz in der Kammer. Seinen Hof in Sankt Margareten verkaufte er damals vorteilhaft an einen unternehmenden Kopf, der aus der Idylle ein orientalisches Märchen schuf. Er legte die großartigste Dampfwasch- und Badeanstalt an, mit einem Duodezbassinbad in dem Flußarm, Wannenbädern im Kuhstall, Duschebädern im Turme. Eine Barbierstube, ein Haarschneidesalon, ein Hühneraugenkabinett und ein photographisches Atelier wurde in zeitgemäßem Fortschritt mit dem Etablissement verbunden, so daß darin der gebildete Mensch die Hauptbedürfnisse der Jetztzeit, Rasieren, Frisieren und Porträtieren, um den billigsten Preis und zugleich befriedigen konnte. Dessen ungeachtet hielt sich das Geschäft nur eine kurze Weile; es florierte rasch, um noch rascher zu fallieren. Haus und Hof brachte dann vor ungefähr zehn Jahren ein junger Naturheilkünstler an sich, der selbst an einem unheilbaren Übel litt, dem Mangel an Patienten. Er wandte deswegen der undankbaren Menschheit stoisch den Rücken und gründete, auf Aktien, das homöopathische Tierspital zu Sankt Margareten. Die Badekabinette wurden in Ställe zurückverwandelt, der Turm zu einem zoologischen Museum erhoben, in welchem der Zögling Hahnemanns diejenigen seiner Kranken ausgestopft oder präpariert aufstellte, die seinen Pülverchen nicht widerstehen konnten. Nach fünfjährigem Bestande ging das Tierspital den Weg der Badeanstalt: der Herr Doktor war allmählich vom Pferde auf den Esel, zuletzt auf den Hund gekommen. Da kaufte Roland, der Maler Roland, der berühmte und begüterte Meister Roland das entlegene, verwahrloste, beinahe verrufene Anwesen, obendrein samt allem lebenden und toten Inventar. Unter dem Hohngelächter zahlreicher Neider und Feinde, gewarnt und bedauert von seinen wenigen Freunden, zog er mit Sack und Pack, mit Schülern und Modellen aus dem Innern der Stadt an ihr äußerstes Ende, aufs Land. Mehr noch. Er gab den vorgefundenen Stammgästen des Tierspitals, einem Dutzend verdächtiger Hunde, einem Paar spatlahmen Gäulen, einem lebenssatten Raben das Gnadenbrot, so daß sein Atelier eine Arche Noahs zu werden drohte. Als er vollends kurz darauf eine Menagerie erstand, deren Trümmer in der Hauptstadt Schiffbruch gelitten, weil die wilden Tiere ihren Herrn (figürlich) aufgefressen, konnte kaum noch ein Zweifel darüber obwalten, daß der Sonderling doch verrückt geworden sei. Doch siehe da: zwei Jahre später erschien von ihm ein Bild »Das Tierspital«, im vierten das große Effektstück »Im Zirkus Maximus« auf den Ausstellungen, wo beide das bekannte Furore machten und um fabelhafte Preise abgingen. Die gewöhnliche Logik der öffentlichen Meinung taufte sofort den Sonderling, den Narren in einen schlauen Spekulanten um, der schließlich seine Löwen und Tiger, nachdem er sie als Modelle nicht länger brauchte, um den Einkaufspreis in einen zoologischen Garten abzusetzen gewußt. »Der Kerl hat mehr Glück als Verstand,« knirschten zahme Bestien hinter den abziehenden wilden drein.
So weit orientiert im Haus und über dessen Herrn, klopfen wir, mit der fremden Gesellschaft, nunmehr an die Tür des ersteren erwartungsvoll an. Ein Mann von mittleren Jahren, mit ausdrucksvollem Kopf und dunklem Vollbart, gekleidet in eine hellgrüne Joppe, auf dem Haupt ein rotes Fes mit blauer Quaste, öffnet und bleibt, würdevollen Anstandes sich verneigend, auf der Schwelle stehen. Am Ende Roland in eigener Person?! Gewiß, er ist es, er muß es sein. Die Enthusiastin aus Bremen hat auf den ersten Blick ihn erkannt, obgleich sie ihn niemals gesehen. So, gerade so dachte sie sich ihn. Sie stürzt auf ihn zu. »Sie sind Herr Roland; meine Vaters–tadt ist Bremen!« Da legt sich Winters mit ihrem eigenen Sonnenschirm bewaffnete Hand abkühlend auf ihren Arm. »Madame,« ruft er ihr zu, »das ist nicht Herr Roland; es ist Herr Raff, genannt Raffael, der Kastellan von Rolandseck.« Abermals eine würdevolle Verbeugung. Hierauf wechselten Vater Winter und Raff, genannt Raffael, zuerst einen freundschaftlichen Händedruck, alsdann die silbernen Schnupftabaksdosen, und zuletzt ein paar bedeutungsvolle Blicke. Das linke Auge Raffs, genannt Raffael, fragt blinzelnd: »Was bringst du heute?« Vater Winters rechtes Auge schmunzelt zurück: »Standespersonen und Ausländer; kannst einlassen; Trinkgeld nett, vielleicht sogar honett.« Nach welchem stummen Zwiegespräch Raff, genannt Raffael, mit einladender Handbewegung, immer plastisch, dem Besuche zuruft: »Wenn's gefällig wäre!« Und alle folgten ihm, Bremen etwas langsam und beschämt.
Herr Raff, genannt Raffael, kam einigen Kunstfreunden bekannt vor. Kein Wunder, er ist als Mitglied dreier Akademien verewigt worden, bevor er in Rolands Haus trat. Wer in Düsseldorf war, sah ihn als Ritter Toggenburg oder Uhlandschen Sonntagsschäfer in zwei Meisterwerken dieser zarten Schule (»der letzte Seufzer« und »Hirt mit Herde am Sonntag«, in der Kopie »Herde mit Hirten am Feierabend«). In Berlin stand, vielmehr lag er Modell zu einem trauernden Hiob, und in Dresden ist er als Verräter Judas Ischarioth mit fuchsrotem Barthaar einige Male aufgehängt worden. Er diente der Kunst mit Leib und Seele, vornehmlich aber mit ersterem, welchen er, ihr zu Liebe, proteusartig zu verändern verstand. Für alttestamentarische Gestalten, die er mit besonderem Glück darstellte, ließ er sich Haar und Bart grau oder weiß pudern, diesen zu Moses in zwei Spitzen teilen, jenes als Jeremias fast ganz scheren. Vor seinem Judas ging er ein halbes Jahr rot in der Wolle gefärbt einher. Ihm war kein Gesicht zu schwer, keine Stellung zu anstrengend, und was die mit Recht so gesuchten Körperverkürzungen und Verrenkungen des strengen historischen Stiles anbetrifft, so leistete Raff, genannt Raffael, in diesen Vorwürfen das geradezu Wunderbare. Er konnte sich so niedersetzen, daß er allein gar nicht wieder aufzustehen vermochte, und daß Kritiker den von ihm in natura gelieferten Gliederzwang auf der Leinwand unmöglich nannten. Hierbei, wie bei der mimischen Ausdrucksfähigkeit seines Charakterkopfes, kam ihm ein angeborenes Talent zustatten: Raff, genannt Raffael, stammte aus Berlin, wo seine Mutter beim Ballett stand und fiel; seine Väter hat er niemals gekannt.
Roland fand den Unglaublichen an der Landstraße zwischen zwei Akademien. Dresden hatte ihn schnöde entlassen, weil er eines Tages in trunkenem Zustande in den Aktsaal gekommen war; keineswegs aus Völlerei, nur um sich in die richtige Seherstimmung für einen weissagenden Jesaias zu versetzen. Entrüstet schüttelte er den Staub der undankbaren Stadt des schlechten Kaffees von seinen Füßen und pilgerte gen Wien, um in den Fresken des neuen Arsenals eine seiner würdige Stelle zu suchen. Unterwegs fing ihn Roland, dem das feierliche Gebaren Raffaels, ein stetes: »Anch' io son' pittore«, unmäßig gefiel. Er nahm ihn auf als Modell, Farbenreiber, Famulus, von welchen unscheinbaren Ämtern sich Raffael alsbald zum Hausverwalter und Fremdenführer in Rolands Atelier aufschwang. Seinen Bemühungen verdankten Hof und Garten ihre malerische Unordnung, das Federvieh eine musterhafte Pflege; solange die Menagerie Gastrollen gab, machte er sich sogar als Tierbändiger verdient und saß den Schülern zu einer prächtigen Naturstudie: Daniel in der Löwengrube. Kurz: Raff, genannt Raffael, war der gute Engel von Rolandseck und würde sich in dieser Sendung auch seinerseits ganz wohl gefallen haben, hätte nicht ein geheimer Kummer an seinem ehrgeizigen Herzen genagt. Er, der zeitlebens nur in vornehmen Akademien verkehrt hatte, stand jetzt unter einem Meister, der nicht einmal Professor, geschweige Hofrat war; ein Maler allerersten Ranges, aber ohne jeden Titel, ohne den geringsten Orden. Herr Roland hieß der Meister, wie der Diener Herr Raffael; nichts dahinter, nichts davor. Das wurmte die stolze Seele, in welcher ein hoher Begriff von gesellschaftlicher Welt und Rangordnung wohnte, und nur mit dem tiefsten Ingrimm betrachtete er, so oft der schwarze Frack des Meisters für ein Diner auszuklopfen war, das jungfräuliche Knopfloch dieses farblosen und bürgerlichen Kleidungsstücks, das die Stelle einer schmucken Uniform gar zu elend vertrat.
»Ne,« murrte er für sich, »da sah mein Alter doch ganz anders aus, wenn er auch nicht malen konnte. Himmelblau mit Silberstickerei, daß einem die Augen übergingen; auf der Brust eine Milchstraße von Sternen, Bänder wie ein Regenbogen. Vierspännig fuhren sie bei uns an; die Prinzen nannten ihn ›Lieber Geheimer Rat‹, die Prinzessinnen ›Direktorchen‹, die Lakaien ›Exzellenz‹. Man wußte doch, wo und was man war. Hier – daß Gott erbarm! So einen nichtswürdigen Schwalbenschwanz, wie den da, solch ein verfluchtes Allerweltfeigenblatt kann ja ein jeder tragen, ich so gut wie der Meister. Wo bleibt der Unterschied, die Würde, die Kunst?«
Solches erlesenen Geistes Kind war Herr Raff aus Berlin, unter dem abgekürzten Namen Raffael in allen Ateliers Deutschlands eine volkstümliche Figur. Deswegen und weil wir auch die im Hintergrund und Halbdunkel unseres Gemäldes auftauchenden Gestalten wenigstens in kenntlichen Umrissen dem Zuschauer vorstellen möchten, haben wir mit einiger Ausführlichkeit seine merkwürdige Person geschildert. Dagegen können wir uns um so kürzer fassen in Wiedergabe des ausgezeichneten Vortrages, mit welchem Herr Raff, genannt Raffael, »seine« Fremden durch Rolandseck geleitete. Es war ein Vortrag Numero eins, was folgendermaßen zu verstehen ist. Weil Vater Winter das zu erwartende Trinkgeld als »nett, vielleicht honett« durch beredte Augensprache angekündigt hatte, wurde der Besuch mit allen Ehren des Krieges empfangen, durch den ganzen Künstlersitz geführt und mit einer ebenso belehrenden als unterhaltenden Erklärung der vorhandenen Kunstschätze standesgemäß erquickt. Dies galt als Vortrag Numero eins; Dauer der Wanderung: wenigstens dreißig Minuten. Ein bloß »nettes« Trinkgeld pflegte mit einer Viertelstunde und flüchtigem Vortrag Numero zwei verdient zu werden, während auf das Signal »malhonett« – Achselzucken und Hängenlassen der Unterlippe – entweder der Eintritt gänzlich versagt blieb oder ohne jeden Aufwand von Beredsamkeit nur der Schülersaal sich auftat, um nach fünf Minuten unfehlbar wieder geschlossen zu werden.
Vortrag Numero eins begann im Nebenbau. Hier liegen, wie Zellen in einem Kloster, die Stüblein der Schüler, jedes mit einem Fenster in den Hof. Roland nahm ihrer niemals mehr als acht und von keinem einen Heller Lehr- oder auch nur Kostgeld. Sie lebten mit dem Meister in einer Familie, wurden von ihm geduzt, wie sie ihn und sich einander duzten, speisten gemeinschaftlich, kegelten, turnten, schossen auf der Terrasse hinter dem Hause und machten alljährlich immer mit dem Meister eine tüchtige Studienreise zu Fuß, Ranzen und Mappe auf dem Rücken. Ein eigentümliches Verhältnis, dasjenige einer guten, altdeutschen, jetzt kaum noch irgendwo zu findenden Malerschule; dabei von so fesselndem persönlichen Reiz und so gutem künstlerischen Erfolge, daß Roland, wie er überhaupt wählerisch und streng in der Aufnahme war, Meldungen ohne Zahl zurückzuweisen hatte. Seine »Jungen« fürchteten ihn im ersten Jahre der Lehrzeit, liebten ihn vom zweiten an bis zum Fanatismus und vergötterten lebenslänglich seinen Namen und sein Andenken, nachdem er sie nach in der Regel sechsjährigem Aufenthalt feierlich losgesprochen und mit Tränen in dem sonst so klaren und freundlich milden Auge ziehen geheißen.
Im Hauptbau enthielt der erste Stock die Räume für gesellschaftliche Zwecke: einen Speisesaal, dessen sich kein Prälat zu schämen brauchte, wie Vater Winter versicherte, sowohl was die Ausschmückung, wie was die Lieferungen aus dem Küchen- und Kellerdepartement betraf; daranstoßend auf einer Seite die Bibliothek, nach dem Muster englischer Häuser eingerichtet, auf der anderen das Billardzimmer, das einzige, worin geraucht wird. Roland gebt von der Ansicht aus, daß die künstlerische Freiheit, auf die so laut gepocht zu werden pflegt, nicht gerade mit Mißachtung guter, allgemein gültiger Sitten zu beginnen habe; ein Atelier, welches Damen empfängt, meinte er, solle keine Rauchkammer sein und in demselben auch der Humor sich anders äußern, als durch Karikaturen an den Wänden und Schmutz auf dem Fußboden. Was für ein Pedant und Sonderling, unser Roland!
Den drei Gemächern im ersten Stock entsprechen im Erdgeschoß drei von gleicher ansehnlicher Größe, die eigentlichen Ateliers: der Schülersaal, der Rolandssaal, die Menagerie, aus welcher letzteren eine kleine Treppe in den Turm führte, ein Allerheiligstes, das der Meister für sich selbst bewahrt und allein bewohnt. Kammern für weibliche Dienerschaft – männliche läßt Roland nicht zu – und Wirtschaftsräume birgt ein Souterrain, das dem alten Hause nach der Terrassenseite abgewonnen worden. Daß sämtliche Ateliers jenes köstlichen Nordlichts genießen, welches von Malern ebenso hoch geschätzt wird, wie es gewöhnliche, der Sonne zugewendete Menschenkinder fürchten, das versteht sich von selbst; ebenso ihr einfarbiger Anstrich in einem dunklen, braunroten Tone. Wenn sie diese Eigenschaften mit so ziemlich allen Ateliers gemein haben, so unterscheiden sie sich dagegen von den meisten durch die bis zur Leere und Nüchternheit strenge Einfachheit ihrer Einrichtung. Jene beliebte »malerische Unordnung«, welche die Werkstätten großer, berühmter Künstler für das profane Volk so unendlich reizend, so interessant macht, ist Roland ein Greuel; wir kennen ihn ja nachgerade, den Sonderling, den Pedanten. Er begreift nicht, wie eine schöpferische Einbildungskraft von einem Durch- und Neben- und Übereinander lebloser, ganz zufälliger Dinge nicht vielmehr zerstreut als angeregt werde. Ein Renaissanceschrank dicht neben einem Rokokolehnstuhl; auf jenem chinesische Porzellane, venetianisches Glas, Nürnberger Schnitzereien; in diesem eine kostbare Rüstung, die der glückliche Besitzer einen Benvenuto Cellini tauft; das Bett, worin Wallenstein ermordet worden, und an dessen Pfosten aufgehängt eine Uniform Friedrichs des Großen, beide vom Verkäufer für echt garantiert; Pfeile und Bogen der letzten Rothaut, gekreuzt mit Schwert und Lanze eines römischen Legionärs... was sollen, an solcher Stelle vereinigt, diese unvereinbaren Gegenstände? Anspruchsvoll scheinen sie etwas zu bedeuten, während sie in Wahrheit nichts bedeuten. Der Künstler schaffe in kosmischer, nicht in chaotischer Umgebung, und wenn er zu seiner Arbeit dergleichen Vorlagen braucht – wie er sie denn gewiß brauchen wird, und je mehr er sie braucht, desto besser – so beseitige er sie wieder, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben... O Pedant ohnegleichen, Sonderling ohne Ende! Dein eigener dienstbarer Geist, Herr Raff, genannt Raffael, kann diese deine Anschauung und Grundsätze nicht ohne inneres Widerstreben vortragen, und er verteidigt sie schier gegen bessere Überzeugung. Mit geheimer Schamröte öffnet er den Fremden seine Zimmer, worin nur Kunstwerke die Wände bedecken, keine Kuriositäten. Das war freilich bei dem Alten, dem lieben Geheimen Rat, dem Direktorchen, der Bedienten-Exzellenz, ein anderer Anblick; sein Atelier sah aus wie ein Antiquitäten- und Raritätenladen, und wenn Herr Raff, genannt Raffael, nur die Tür aufmachte, so riefen schon auf der Schwelle, wie versteinert stehen bleibend, die Franzosen: »Ah!«, die Preußen: »Ih!«, die Engländer: »Oh!«, die eine Interjektion immer gedehnter, überraschter, entzückter als die andere. Freilich, vor der Staffelei des großen Mannes wiederholten sich die nationalen Naturlaute der Bewunderung nicht immer; zuweilen verwandelten sie sich sogar in ein höfliches Hm, hm!, mit welchem getäuschte Kenner kleinlaut davonschlichen.
Durch den Schülersaal führte Raffael die Gesellschaft in vollem Trabe; hier gab es nichts zu sehen, als bekannte Gipsabgüsse an den Wänden, Statuen in den Fensternischen und einen Jupiterkopf auf einem Postament, den drei Schüler von verschiedenen Seiten zeichneten. Im nächsten Saal machte man längeren Aufenthalt. Hier hingen die großen Kartons zu dem Rolandzyklus, der zuerst den Namen des Malers berühmt gemacht hat. Es sind ihrer sechs: Klein-Roland, Roland-Schildträger, Orlando innamorato, Orlando furioso, die Schlacht von Roncesvalles, der sterbende Roland. Wir verzichten darauf, die wunderbaren Werke zu beschreiben, die der kunstsinnige Leser aus Photographien und Kupferstichen zweifelsohne auswendig weiß. Auch den erläuternden Vortrag Raffs, genannt Raffael, wollen wir aus angeborener Ehrfurcht vor dem geistigen Eigentumsrecht nicht plündern; er strotzte von treffenden Bemerkungen über zyklische Malerei überhaupt, wie von literaturhistorischen Nachweisen der Quellen, woraus der Stoff geschöpft worden, die alte Rolandssage, Bojardo, Ariosto, Uhland. Über die Geschichte der Bilder erzählt Raff, genannt Raffael, etwa folgendes: »Unser Professor – ich meine Meister Roland – hat dies Werk in frühester Jugend geschaffen, noch ehe wir beieinander waren. Ein englischer Mäcen, Lord Rowland Rochester« – hier fiel eine Berliner Unterbrechung ein: »Ach, der aus der Waise aus Lowood von unserer Birchen?!« – »Derselbe, Madame – Lord Rowland Rochester also, welcher seinen Stammbaum in gerader Linie von Roland ableitet, bestellte sie für sein Schloß Rowlandshall bei meinem Direktor – ich will sagen bei Herrn Roland – als sich beide in Paris kennengelernt hatten. Die Studien machte Roland teils in Paris, teils in den Pyrenäen. Bemerken Sie gefälligst im ersten Karton die zwölf Paladine an Karls des Großen Tafel, von welcher Klein-Roland eben den goldenen Becher nimmt, um ihn seiner Mutter, Frau Berta von Aglant, einer geborenen Pipin und Schwester Karls des Großen, hinzubringen. Diese Paladine sind sämtlich nach der Natur gezeichnet, versteht sich, höchst idealisiert. Mit Porträtmalerei geben wir uns hier auf unseren Historienbildern gar nicht ab. Zu dem Riesen im zweiten Bilde, Roland-Schildträger, hat ein Tambourmajor von der alten Garde gesessen. Mein Professor zeichnet und malt immer nach dem Akt. Was wir dann von dem unsrigen hinzutun wollen, ist unsere Sache. Die Landschaft von Roncesvalles und die Schlucht, worin Roland stirbt, sind Veduten aus den Pyrenäen. Lord Rowland Rochester hat für die sechs Originale nicht mehr als dreitausend Pfund Sterling bezahlt, weil wir dazumal noch nicht so bekannt gewesen sind. Aber großmütig wie ein echter Engländer« – (vielsagender Blick auf die anwesenden Söhne Albions) – »verehrte Seine Lordschaft Herrn Roland über den Kaufpreis noch zwei höchst kostbare Andenken, die Sie in diesem Trophäe aufbewahrt sehen: Nachbildungen von Rolands Schwert Durendarte und Rolands Horn Olifant, mit Wehrgehänge und Kette, jenes aus Birminghamer Stahl, dieses von echtem Silber, fünfhundert Pfund Metallwert, beide mit Zeichnungen nach den Bildern reich verziert. Belieben die Herren das Schwert einmal aufzuheben? Will eine der Damen das Horn versuchen?«
Durendarte ging von Hand zu Hand; eine allein vermochte sie nicht zu schwingen – zu zerbrechen keine, wie weiland auch Rolands tapfere Rechte dies nicht vermochte. Die Arbeit an Griff und Scheide, die treffliche Klinge wurden gleichmäßig bewundert. An Olifant wagte sich geraume Zeit keine der anwesenden Schönen, bis zuletzt die Hanseatin, von ihrem kühnen Angriff auf den falschen Roland allmählich erholt, das silberne Mundstück an ihr rosiges setzte und einen so ausdrucksvollen Seufzer aushauchte, daß die vier Schüler, welche während des ganzen Besuches an ihren Staffeleien ruhig fortarbeiteten, hervortraten und den schönen Blasengel wohlgefällig betrachteten. Ob unter ihnen Held Roland nicht zu suchen war? Sie blickte sie nach der Reihe prüfend an. Der Schwarze mit den feurigen Augen? Oder der schlanke, bleiche Blondin? Und Olifant rief noch einmal nach Roland, aber umsonst.
Da, im dritten Saal, die Menagerie genannt, weil er mit allerlei ausgestopften Tieren, mit Löwen- und Pferdeköpfen aus Gips, mit Bärenfell und Tigerdecken ausgestattet war, – das mußte Roland sein, der Mann im dunklen Sammetrock, welcher, Stab und Palette in der Hand, hinter einem kolossalen Bild hervorkam. »Sie sind Roland,« jauchzte die Entzückte ihm entgegen, »meine Vaters–tadt ist Bremen.« Der Maler verneigte sich kopfschüttelnd und sagte, auf die kleine Treppe zum Turme hindeutend: »Der Meister hat drinnen Sitzung.« Raffael fügte hinzu. »Dies ist Herr Stark, unser ältester Schüler, der unser berühmtes Bild vom Zirkus Maximus für die Galerie zu Neuyork kopiert. Bitte näher zu treten. Herr Stark, Sie erlauben gütigst?«
Herr Stark machte Platz, damit die Fremden das Bild, nach welchem er arbeitete, betrachten konnten. Aber statt näher zu treten, fuhren sie vor dem Anblick desselben zurück, eine nervenschwache Dame sogar mit einem unartikulierten Schrei des Entsetzens, der mehr besagte, als die ganze Tonleiter bewundernder Ah, Ih, Oh, auf die Raff, genannt Raffael, vor den Kartons des Rolandsaales mit heimlichem Verdruß vergeblich gepaßt hatte. Das wunderbare Werk füllt fast die ganze eine Wand des Saales und imponiert schon durch seine Dimensionen. Im Vordergrund erblickt man die vergitterten Zellen der zum Tierkampf verurteilten Opfer: Christen zur römischen Kaiserzeit; einige zum Abschiede einander umarmend, andere kniend im Gebet, oder zusammengebrochen bleiche Gesichter, aus denen die Todesangst in furchtbarer Wahrheit gen Himmel schreit. Alle diese Zellen und die Gruppen darin sind in tiefem Dunkel gehalten. Nur in eine, welche eben von oben geöffnet wird, fällt ein breiter, voller Lichtstrom, wie eine Glorie über einen Jüngling sich ausgießend, der am Boden liegt und – schläft. Man glaubt die ruhigen Atemzüge seiner Brust zu hören, seine weiße Tunika sich heben und senken zu sehen. Die ganze Mitte des Bildes füllt die gelbe Arena; in derselben erblickt man, teils regungslos ausgestreckt, teils in wilden Sprüngen umhersetzend, eine Menge Löwen; Tiger, die mit gesenktem Haupt und Schweif an die Gitter der Zellen schleichen; Hyänen, Leoparden und Schakale, zähnefletschend und einander heiß anschnaubend. Ein wirrer Knäuel gefleckter, gestreifter, geringelter Katzen, deren mächtigste, das Prachtexemplar eines numidischen Wüstenkönigs, in fast natürlicher Größe gemalt, mit weit aufgerissenem Rachen aus dem Bilde heraus den Zuschauer anzuspringen scheint. Im Hintergrunde erheben sich die Marmorstufen des Amphitheaters, wimmelnd vom Volke; in erster Reihe der Kaiser und sein Hof unter dem purpurnen Velarium.
Lange, lange standen die Fremden stumm und erstarrt unter dem Bilde. Dann brach ein Wetter von Aufregungen los: »Welche Fülle der Komposition! Diese Farbenglut! Eine neue, fremde Tierwelt! Und der süße Knabe, der Märtyrer, der Engel!« Worein Raff, genannt Raffael, mit bescheidenem Stolze einfiel: »Wir haben sechs Kopien von diesem Bilde liefern müssen. Herr Stark ist eben über der letzten, die der Meister erlauben will. Er sagt: ich mache Renz keine Konkurrenz.«
Hierauf verlor sich der ehemalige Menageriewärter mit sichtlicher Vorliebe gerade über dieses Stück, den »Löwen« des Ateliers, in einen begeisterten Vortrag. Die Tiere hatte er alle persönlich gekannt und erzählte, vom neuen Raffael zum alten Raff werdend, ihre Naturgeschichte; verfehlte auch nicht, mit gerechtem Behagen darauf hinzuweisen, daß sein Kopf im Vordergrunde angebracht sei, auf dem Rumpf des römischen Ädilen, der die Spiele ordnet. Diesmal hatte der Vollbart seine Naturfarbe. Der junge Christ war des Meisters Lieblingsschüler, am Nervenfieber in der Blüte seiner Jahre gestorben. Roland hatte ihn aus dem Gedächtnis, nein, aus dem Herzen gemalt; eine Arbeit, während welcher niemand den Turm betreten durfte, auch Raffael nicht. Es war ein Totenopfer, wie es wenigen Fürsten der Welt gebracht worden, wie nur Liebe und Kunst im Verein es zu bringen vermögen.
Mit dieser wehmütigen Erinnerung schloß Raffael und rückte am roten Fes. »Andere Bilder«, sagte er, »haben wir den Herrschaften für jetzt nicht zu zeigen. Bei uns gibt's keinen Vorrat. Sie gehen ab von der Staffelei, wie die Semmel vom Laden.« Vater Winter sah nach der Uhr: Elf vorüber. Es wird Zeit, daß Olifant zum Rückzug bläst. Und doch ... Roland! Wo bleibt Roland? Den weiten Weg zu machen, ohne die Hauptperson zu sehen, Rom ohne Papst, – unmöglich! Die Hanseatin faßte sich ein Herz; »sie hat einen Brief an den Meister zu bes–tellen, aus Bremen, ihrer Vaterstadt. Wenn ihr den jemand in den Turm befördern wollte?« Vater Winter bat um Entschuldigung; er kannte den Meister, der in Worten immer sehr kurz, zuweilen äußerst – deutlich war. Auch Raffael sprach von einer Unterrichtsstunde, worin man nicht stören dürfte. Zuletzt erbarmte sich Herr Stark, der gute Herr S–tark, der Flehenden. Er empfing das Empfehlungsschreiben aus ihren zitternden Händen und verschwand in der Türe, die in das Innere des Turmes führt.
Eine Minute bangen Herzklopfens für die blauäugige Tochter der Weser, welche ihr Begleiter, ein Onkel oder sonst eine überflüssige Respektsperson, vergeblich zu beruhigen sucht. »Sie geht nicht von der S–telle, ehe sie vor ihm ges–tanden.« Die übrigen Fremden ermutigen sie, in der Hoffnung, mit ihr einzudringen in das Heiligtum. Dasselbe öffnet sich wieder; Stark erscheint auf der Schwelle, – Triumph! Er winkt; Herr Roland lasse bitten!
»Endlich bin ich so glücklich...«
Die Unglückliche, »die so glücklich war, deren Vaters–tadt Bremen ist,« – sie kam mit ihrer gefühlvollen Anrede zum dritten Male an den Unrechten. Derjenige, an welchen sie dieselbe gerichtet, bei näherer Besichtigung schon ein angehender Graukopf, erhob sich bei ihrem und der übrigen Fremden Eintritt von seinem Lehnstuhle, machte ein steifes, fast verdrießliches Kompliment und wies mit der Hand auf einen anderen Herrn, der in demselben Augenblicke hinter einem großen Vorhang in der Mitte des Turmgemachs hervorkam. Bestürzt wandte die so oft getäuschte Enthusiastin sich ab und ihr Auge zu Boden; hatte ihr abermaliger Mißgriff sie verwirrt, oder gar die Erscheinung Rolands? Des Roland, wie er wirklich war, nicht wie er sein sollte, wie sie sich ihn gedacht hatte? Das letztere könnte immerhin möglich sein, könnte vielleicht auch unseren geneigten Leserinnen begegnen, die durch ein ganzes Kapitel von einem Sonderling, einem Künstler ein langes und breites sich haben erzählen lassen müssen, um nun, am Eingange des zweiten Kapitels, auf einen höchst gewöhnlich aussehenden Menschen zu stoßen. Keine Spur von einem jugendlich holden Raffaelkopf, umflossen von weichen Locken; auch kein majestätisches Dürerantlitz im Rahmen eines männlichen Vollbartes, wie derjenige Raff-Raffaels. Kein türkischer Schlafrock und keine Malerbluse mit Schlapphut. Nein, ein Gesicht, eine Gestalt, ein Anzug wie sie tausend und aber tausend Sterbliche besitzen, die nicht unsterblich sind. Wir werden, um ferneren Verwechslungen und Enttäuschungen vorzubeugen, am besten tun, wenn wir die Personalbeschreibung aus dem jüngsten Reisepaß unseres Helden hier einrücken.
Alter: 35 Jahre. (Wir hören im Geist einen weiblichen Seufzer: Schon fünfunddreißig? –) Statur: Mittlere. Haare: Braun, kurz verschnitten. Stirn: Hoch. Augen: Grau. Nase: Gewöhnlich. Mund: Gewöhnlich. (– Wiederholte Seufzer. –) Bart: Rasiert. Kinn. Stark. Gesichtsfarbe: Gesund. Besondere Kennzeichen: Keine. Kleidung: Rock, Hose und Weste von gleichem Stoff und grauer Farbe; schwarzseidenes Halstuch; Halbstiefeln von Kalbleder. Unterschrift des Paßinhabers, – hier in getreuem Faksimile wiedergegeben:
Kein Vorname, kein Schnörkel. Gerade so stand sie, und nicht ein phantastisches Monogramm, auf den Bildern des Meisters. Also auch in der Handschrift nichts Geniales, Ungewöhnliches, Außerordentliches. Armer Roland! Ärmere Leserin!
Trösten wir uns indessen. Bei genauerer Prüfung stellt sich die Stirn, welche der obrigkeitliche Steckbrief lakonisch als »hoch« bezeichnet, auf das Schönste gewölbt, von den kurzen aber dichten Haaren regelmäßig eingefaßt, und von herrlicher Weiße dar; ein edler Geist, reine Gedanken leuchten von ihrer Höhe herab. Das Auge, grau allerdings, aber tief und klar, liegt unter starken, prächtig geschwungenen Brauen wie ein Gebirgssee unter Wald und Fels. Die Nase – die gewöhnliche, weder griechische noch römische, aber auch nicht kamtschadalische oder feuerländische, ist fein geschnitten; ihre Spitze verrät den scharfen Denker, die Beweglichkeit der Flügel verheißt Temperament und Rasse. Um den gewöhnlichen Mund, diesen ausdruckvollsten Teil des Gesichts, welchen bei den meisten Männern der starre, struppige Bart so ungeschickt – oder auch so geschickt – versteckt, schwebt ein Lächeln, dem man ansieht, daß dies offene, ernste, feste Antlitz in guten Stunden bis zur kindlichsten Heiterkeit sich aufklären kann. Auch kleine, zarte Fältlein des Humors und der Ironie spielen da Schlangen unter Rosen, welche sagen: hüte dich; wir stechen, – aber nur, wenn wir müssen, wenn man uns reizt. Das hervortretende Kinn kündigt Willenskraft und Entschlossenheit an, beinahe Eigensinn. Fügen wir endlich hinzu, daß die Gestalt, obwohl nur von mittlerem Wuchs, sich elastisch trägt und harmonisch bewegt, so hoffen wir, den dunklen Umriß aus dem Reisepaß unseres Helden genugsam koloriert zu haben, um der geneigten Leserin ihr verloren geglaubtes Ideal in einzelnen Zügen zurückzustellen.
Mit klangvoller Stimme, aus welcher natürlicher Wohllaut nebst einem angeborenen Ton des Befehlens spricht, begrüßte Roland seinen Besuch, dankte für den Brief des Jugendfreundes aus Bremen der Überbringerin, und bedauerte, daß sein Atelier nicht mehr zu bieten gehabt habe. Alles in wenig Worten, die eine artige Verbeugung schloß. Die enthusiastische Hanseatin hatte sich inzwischen gesammelt und s–tammelte mit einem durchbohrenden Blick auf den neidischen Vorhang, die Fragen ob die berühmte Amazone nicht zu sehen sei? »Amazone?« war die Gegenfrage des Meisters. Worauf der Herr Onkel oder Vetter aus Bremen eine Nummer der Morgenzeitung hervorbrachte, in welcher gedruckt und zu lesen stand, daß man in dem Atelier des gefeierten Roland eine neue Schöpfung, alle früheren übertreffend, bewundern möge, die Amazone, das Porträt einer hervorragenden Größe aus der Kunstwelt. Roland lächelte, während die kleinen Schlangen um die Mundwinkel lustig zu spielen anfingen. Er beklagte, daß die verw–, die verbindlichen Tageblätter wieder einmal eine Neuigkeit brächten, die dem Betreffenden selbst neu sei. – »Vielleicht ein ganz kurzer, ein halber Blick?« – »Unmöglich; das Bild ist kaum angefangen. Außerdem wird Ihnen Herr Raffael gesagt haben (der Ton des Befehlens erhob sich schon deutlicher), daß ich beschäftigt bin; eine Lektion.« Herr Raff, genannt Raffael, verstand den Wink. Er trat vor, nahm das rote Fes mit ausgesuchter und dabei plastischer Höflichkeit ab und sagte: »Wenn es nunmehr den Herrschaften gefällig wäre?« Die Karawane setzte sich nach einigen mißvergnügt abgekürzten Verbeugungen von beiden Seiten langsam in Bewegung. Vater Winter führte den Rückzug an; Roland geleitete bis an die kleine Treppe, Raffael, mit welchem die Fremden verschämte Händedrücke wechselten, bis an die Haustüre. Dort begegnen sich Winter und Raffael noch einmal in kurzer, aber inhaltvoller Zeichensprache. »Kaum nett,« murmelt Raffael, nachdem er den Inhalt seiner Rechten unzufrieden geprüft. Vater Winter zuckt die Achseln: »Die Amazone ist schuld. Ein Prischen zum Abschied?« Raffael schüttelt das Haupt, der Vollbart schlägt unmutige Wellen. Er verschwindet hinter der mit sanfter Energie zugeworfenen Haustür. Vater Winter treibt seine Herde schweigsam über den grasbewachsenen Hof, wobei die Franzosen den Pfau, die Engländer den Hund, die Deutschen das Federvieh wiederholt bewundern. Beide Geschlechter und alle Nationen stimmen darin überein, daß Herr Roland wenig einnehmend und zuvorkommend sei. Bremen seufzt. Das Album, welches in der entschieden straßenräuberischen Absicht eines Anfalles auf Roland mitgenommen worden war, muß der Herr Onkel ohne Autograph des Meisters zurückschleppen.
Mittlerweile war der letztere in seinen Turm zurückgekehrt und hatte dessen Tür hinter sich verschlossen. Ein dunkler Lockenkopf lauschte aus dem Vorhange, eine Silberstimme fragte: »Sind sie fort?« Roland antwortete: »Auf und davon«; der andere Herr setzte ärgerlich hinzu: »Endlich.« Hierauf schlüpfte das junge Mädchen, nicht doch, eine Sylphide, herein und hing sich dem verdrießlichen Herrn in den Arm, indem sie schmeichelnd bat: »Nun noch ein halbes Stündchen, cher papa, und Sie sind erlöst.«
Sylphide, – verdrießlicher Herr, – wer sind sie? Erlaube der geduldige Leser, daß wir ihm, ehe unsere Erzählung fortschreitet, beide pflichtgemäß vorstellen. Wir wählen dazu die bequeme Form, mit welcher der Theaterzettel seine Personen hohem Adel und verehrungswürdigem Publikum zuführt: er nennt die Namen und überläßt dem Zuschauer, sich in die neuen Erscheinungen und Charaktere, die mit jeder Szene auftreten, wohl oder übel hineinzufinden. So sagen auch wir: Herr Krafft, Großhändler und Bankier. Armgard, dessen Tochter. Doch wollen wir nicht unterlassen, zu besserer Deutlichkeit einige Nachrichten über die letzten Ankömmlinge unserer Geschichte ihrer näheren Bekanntschaft vorauszuschicken. In guter Gesellschaft weiß man doch gern, mit wem man es zu tun hat, bevor man sich auf vertraulichen Verkehr einläßt.
Hans Heinrich Krafft ist der alleinige Gründer, Eigentümer und Führer eines berühmten Handels- und Bankhauses, welches Kommanditen oder doch Korrespondenten auf allen Geldmärkten und Stapelplätzen der fünf Weltteile besitzt. Er gilt für den reichsten Mann der Residenz, in deren Tor er vor einigen vierzig Jahren einzog mit einem Felleisen auf dem Rücken und einem, in das Futter der Westentasche eingenähten Doppel-Louisdor. Jetzt führt eine Straße der Stadt seinen Namen, das größte Dampfschiff des Hauptstromes seine Büste. Das Land dankt seiner unermüdlichen Tätigkeit, seinem Geist und (wie er selbst bescheidentlich hinzuzufügen pflegt) seinem Glück in den großen Geschäften zahlreiche Fabriken, gemeinnützige Anstalten und zwei Eisenbahnen. Er hat eine Not- und Hilfsbank für Arbeiter, eine Bodenkreditanstalt für den kleinen Bauern geschaffen, deren Dividende im letzten Jahre achtzehn Prozent betrug. Zwei Republiken in Südamerika bestehen nur durch die Anleihen, welche er zu unglaublich günstigen Bedingungen realisierte: ob günstig für sie oder für ihn, wissen wir nicht, hoffen aber: für beide. Solchen Verdiensten fehlte die gerechte Anerkennung nicht. Der Magistrat der Residenz wollte ihn, vor Jahr und Tag schon, zum Ehrenbürger machen; er antwortete der Deputation: »Lassen Sie mich bleiben, was ich bin – Ihr Mitbürger.« Unlängst wurde ihm ein Sitz in der ersten Kammer angeboten; er lehnte ab, weil er von hoher Politik nichts verstünde. »Ich will,« sagte er, »keine jüdische Großmacht an der europäischen Börse und auch keine Spezialität im Welthandel sein, sondern ein deutscher, ein christlicher Bürger, schlicht und einfach, wie mein Name: Hans Heinrich Krafft.« Er sagte das oft; nicht so oft, daß man daran zu zweifeln anfängt, aber gerade oft genug, um seine Worte als vollwichtig in Kurs zu setzen. Im Einklang mit dem Wahlspruch seines öffentlichen Lebens weiß er auch sein häusliches, seine äußere Erscheinung zu halten. Krafft ist ein hoher Fünfziger, groß und derb von Wuchs und Gliedern, mit einem eckigen Kopf, langen Füßen und Händen, einer tiefen rauhen Stimme. Sein hellblondes Haar beginnt an den Schläfen sich zu lichten und grau zu werden, wogegen seine bis zur Steifheit aufrechte Haltung von einer Bürde des Alters noch nichts gewahren läßt. Er kleidet sich jahraus jahrein in zwei Farben, welche keine sind und dennoch oder deswegen als eigentümliche Kennzeichen einer altfränkischen Eleganz gelten: weiß und schwarz, im Sommer weiß, im Winter schwarz. Sein ganzes Leben gehört dem Geschäft. Zum Lieben hat er niemals Zeit gehabt, kaum zum Heiraten. Und dennoch war seine Ehe ein Stück Romantik, das einzige, das er jemals sich erlaubt; er entführte, da er noch jung und wenig bemittelt war, die Tochter eines adeligen Hauses, welche die Eltern seiner Werbung versagten. Lange Zeit brauchte es, ehe sein aufblühender Kredit von diesem Geniestreich sich erholte, den ihm die Welt seiner Erfolge wegen verzieh, er selbst nicht. Seine Frau starb im ersten Wochenbett, ehe sie das goldene Zeitalter ihres Mannes gesehen und mitgenossen.
Armgard, die einzige Tochter, ist das Ebenbild ihrer Mutter, der Gegensatz des Vaters: klein und zierlich, ein Tituskopf voll dunkler Locken, darin zwei blitzende, schwarze Augen, ein impertinentes Stumpfnäschen und kindliche Grüblein in Kinn und Wangen. Sie trägt Handschuhe von Nr. 6½ und wird zeit ihres Lebens die Kinderschuhe nicht austreten. Die Stadt erzählt, sie sei vortrefflich, aber furchtbar streng erzogen worden, und Armgard hütete sich wohl, zu widersprechen. Im Hause, das sie allein führt, geht es nach des Vaters Willen »schlicht und einfach« zu; seine Lieblingsworte gelten auch hier. Sie darf den Papa nicht Du nennen, sondern Sie, nach der veralteten Sitte des platten Landes, von dem er stammt. Jeden Morgen und jeden Abend küßt sie ihm die Hand. Alle Küchenrechnungen gehen durch ihre kleinen Finger, obgleich dieselben nur mit Widerwillen die fetten, groben Blätter berühren, aus denen diese Runenschriften bestehen. Ebenso muß sie der Wäsche, den Vorratskammern, den Gesindestuben ein scharfes Augenmerk widmen, und wenn sie den Vater ganz guter Laune machen will, nimmt sie eine weibliche Arbeit vor, ein Taschentuch, an dem sie seit undenklichen Zeiten stickt, ein Dutzend Servietten, deren Zeichnung, H. H. K., »schlicht und einfach« in Kreuzstich ausgeführt, niemals fertig zu werden scheint, wie das Gewebe der sinnigen Penelopeia. Daß Fräulein Armgard daneben dreimal täglich Toilette macht und für ihren Privatgebrauch zwei Reitpferde und drei verschiedene Equipagen besitzt – ein Kupee, eine Kalesche und eine Americaine, in welcher letzteren sie mit ihren eigenen, schönen Händlein den gestrengen Herrn Vater spazieren fährt – dergleichen Nebendinge sieht Hans Heinrich Krafft nicht. Wer den Kopf so voll hat, wie er, kann die Augen nicht überall haben. Außerdem ist für Armgard ein unbeschränkter Kredit eröffnet, so an der Kasse, wie im Herzen des Vaters. Der große Rechenmeister weiß, daß er keinerlei Gefahr dabei läuft. Er hat die Tochter frühzeitig selbständig, im Geiste mündig gemacht. Sie empfängt und besucht, wen sie mag. Ihr liegt es ob, die Honneurs des Hauses zu machen, das eines der gastlichsten der Residenz ist und namentlich Fremde von Auszeichnung täglich sieht. Von Jugend auf der Mittelpunkt eines glänzenden Kreises, als reichste Erbin des Landes mit Heiratsanträgen von Kindesbeinen an verfolgt, blieb Armgard gerade deswegen »kühl bis ans Herz hinan«, wenn nicht gar kalt. Ihre zierlichen Hände flochten mit wahrer Fertigkeit die zierlichsten Körbe und teilten sie freigebig nach allen Seiten aus. Ihre Freundinnen behaupteten, sie sei, die echte Tochter ihres Vaters, keiner Liebe fähig; sie selbst gestand, sich in ihrer goldenen Freiheit und Mädchenschaft so wohl zu fühlen, daß sie töricht sein müßte, ein bekanntes Glück gegen ein unbekanntes umzutauschen. In der Tat, was fehlt ihrem Leben? Den Sommer bringt sie auf dem herrlich gelegenen Landgut des Vaters zu, mit ihm, der sich alsdann in den geborenen Bauern zurückverwandelt und unter einem unermeßlichen Panamahute Rosen aller Gattungen und Preiszwergobst für Gartenausstellungen zieht. Die übrige Zeit des Jahres lebt sie in der Residenz, ihrer Neigung, oder, wie sie gravitätisch versichert, ihren »Pflichten« gemäß. Sie besucht Bälle, Konzerte, Theater. Sie singt italienisch, aber wenig, weil sie für Musik keinen Sinn hat. Sie liest französisch und englisch; deutsche Bücher hält sie für ungesund: ihr Ernst, ihre Empfindsamkeit stecke an. Nur eines treibt sie seit einiger Zeit mit Passion – Zeichnen und Malen . . .
Passion für die Kunst oder für den Meister? That is the question! Das ist die Frage, deren Beantwortung die öffentliche Meinung der Residenz in zwei Lager teilt. So viel steht fest, daß Fräulein Krafft die großen und die kleinen Entrées in dem schwer zugänglichen Atelier Rolands hat. Hinwiederum verkehrt er auf dem vertraulichsten Fuße mit dem Hause Krafft. Er, dem es ein Greuel ist, den Eckensteher in Routs oder den »Löwen« bei feierlichen Zweckessen zu spielen; er, der, je mehr er sich von der Gesellschaft zurückzieht, desto eifriger von ihr verfolgt wird, er fehlt an den Sonntagen Armgards fast niemals bei jenen kleinen, reizenden Soireen, die nur wenige Auserwählte versammeln und nicht von den blendenden Lüstern aller Salons, sondern von ein paar verschleierten Lampen in dem Boudoir Armgards magisch erleuchtet werden. Im Frühling machen Roland und Armgard in der gekannten Americaine gemeinschaftliche Landpartien zu Naturstudien, nur von einer alten Engländerin, Mrs. Henderson, bewacht, welche im Laufe der Jahre von der Bonne zur Gouvernante, von der Gouvernante zur Gesellschafterin Armgards aufgerückt ist. Was Wunder, daß es bei den Schülern Rolands für gemacht gilt, Fräulein Krafft müsse, früher oder später, ihre Frau Meisterin werden? Die jüngeren freuen sich darauf, weil zur vollen Gemütlichkeit dem Hause nichts als eine Herrin fehle. Dagegen machen die älteren, Herr Stark an der Spitze, mit Raff, genannt Raffael, im Bunde, stumme Opposition. Sie hassen im stillen die bevorzugte Mitschülerin, die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 28.04.2013
ISBN: 978-3-7309-2515-7
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