2012 Runzelwald – Adelheid Wildberger-Cattaneo
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Hardcover ISBN: 978-3-940490-16-2
Die Morgendämmerung kleidete alles in ein vages, verträumtes Licht. Nebelseen füllten die weiten Täler. Der Wind strich sanft über Bäume, Büsche und Gräser. Ein Geschenk zwischen Traum und Wirklichkeit – so, als würde durch die große Macht eine Ruhepause kreiert. Die Luft lau, säuselnd. Kein Geräusch, nur das Tropfen der Feuchtigkeit, die von den tauschweren Blättern zum Boden und auf sein Gesicht fiel, es liebevoll reinigten, ihn zurückholten aus dem Erschöpfungsschlaf, aus tiefen Träumen.
Der Boden bebte und die wundersam weichen Nüstern seines Pferdes stupsten ihn, beinahe liebkosend in den aufgehenden Tag. »Nein, ich will nicht, ich wache heute nicht auf, lass mich, lasst mich alle.« Der Junge hielt seine Augen krampfhaft geschlossen, immer noch gefangen im Traum. Das Pferd schnaubte ihm ins Gesicht und auch mit geschlossenen Augen wusste Tim, dass die Stute ihre Lippen bis zu den Ohren zog. Sie lachte. Sie liebte es, ihn zu necken und würde nicht aufhören mit ihrem Geschnaube, das immer feuchter wurde. Er war chancenlos. Kaum öffnete er die Augen, richtete sie den Blick in die Ferne mit großen unschuldigen Augen. »Komm, wir müssen weiter, dies ist ein geschenkter Augenblick.«
Tim rappelte sich hoch und fühlte sich plötzlich voller Mut. »Danke«, flüsterte er, »danke, große Macht.« Birba scharrte ungeduldig. »Ich komme ja. Du könntest ein bisschen in die Knie oder noch besser auf die Knie gehen oder – noch viel großartiger – dich hinlegen. Es gibt nämlich Pferde, die das können.« Seufzend kletterte er auf die Stute oder versuchte es und wieder hatte er das Gefühl, dass Birba sich köstlich amüsierte. So wie jetzt, als er auf der anderen Seite runterpurzelte, weil sie genau in diesem Moment ein spezielles Grashälmchen im grasübersäten Boden entdeckte. Tim bekam einen Lachkrampf. Sein glockenhelles Lachen erfüllte die Gegend, die Täler, die Wälder. Ohrenbetäubend kreischten, zwitscherten und gackerten nun die Vögel. Energieschwaden reiner Freude stiegen auf. Blumen öffneten ihre Blüten, Bäume und Sträucher streckten sich dem Licht entgegen und für eine nicht messbare Zeitspanne, frohlockte die Schöpfung.
Birba näherte sich ihm, fiel auf die Knie und ließ ihn aufsteigen. Er packte ihre Mähne, sie erhob sich und preschte davon. Weiter dem Sinn des Lebens entgegen, durch Hunderte und Tausende von Leben. Von einem Bild ins andere wechselnd, von einer Realität in die nächste, bis seine Aufgaben erfüllt waren und er überall sein Lachen und seine Lebensfreude gesät hatte. Am Ende wartete das gleißende Licht, in dem alle seine Geliebten lebten, – in Friede, Glück und Freude.
Die Traurigkeit im Haus erfüllte Tim mit Verzweiflung und Wut. Seine Hilflosigkeit nahm ihm den Atem. Er musste die kleine Schwester aus den Fängen der großen Macht befreien. Sie gehörte zu ihm, zu seiner Familie. Irgendetwas war komplett falsch gelaufen. Nie würde er den Verlust von Tina akzeptieren. Dies hatte er dem Schicksal und vor allem der großen Macht geschworen. All diese entsetzlich trostlosen Wochen lang, Tag und Nacht, wenn die unbeschreibliche Sehnsucht ihn bis in seine wildesten Träume verfolgte. Er war ganz sicher, dass dieser Schlag nicht zu den Abmachungen gehörte – damals, als seine Seele ein neues Leben bejahte. Tief in seinem Innern lebte dieses Wissen und hatte ihn noch nicht ganz verlassen. Dieses vage Wissen, das sich immer mehr verflüchtigte, je älter er wurde.
Er knallte den Ball an die Zimmerwand und freute sich, als seine aus der Kindergartenzeit stammende, eingerahmte Zeichnung auf den Boden fiel und – welch eine explosive Erleichterung – das Glas in tausend Scherben zersprang. Am liebsten wäre er darauf rumgetrampelt und hätte sich wild schreiend in den Glassplittern gewälzt. An den unzähligen kleinen Schnitten würde er verbluten! Seine kleine Tina musste auch gehen, wurde abgeholt, ha, ha! Ihn hatte keiner gefragt. Nun saß er da mit seinem Zorn und dieser unendlichen Sehnsucht. Ausgeliefert und wehrlos seinen Gefühlen preisgegeben.
»Tim, was tust du da?« Die Mutter trat müde ins Zimmer. »Oh, Tim, wenn ich dir nur helfen könnte, dir und uns allen.« Sie zog ihn an sich. »Mein wunderbarer, armer Junge.« Er fühlte die Wärme ihrer Umarmung und spürte gleichzeitig ihren Schmerz. »Wir können einander nicht helfen, liebster Tim, aber man sagt, dass die Zeit heilt. Komm, wir räumen die Splitter zusammen weg und dann musst du ja auch zur Schule. Das Leben geht weiter und die Erde dreht sich immer noch. Wir können nichts anderes tun, als uns Wärme zu schenken und gemeinsam das Überleben üben. Wir können das nur zusammen leisten. Andrea wird bald hier sein, um dich abzuholen.«
Tim hörte die Worte, sie erreichten ihn nicht. Er wollte nur seine Tina zurück. Er würde die unsichtbare Schranke bezwingen, die seine Welt von dem Totenreich trennte. Einige Geheimnisse waren in ihm gespeichert und irgendwie mochte er sich leise daran erinnern, dass er eine Aufgabe zu lösen hatte in diesem Leben. Er würde sein Unterbewusstsein knacken; das wusste er – nur nicht wie. Ohne auf seinen Freund zu warten, stapfte er missmutig zur Schule.
Der Regen schlug auf die Blätter der Bäume. Einige Blumen schlossen ihre Kelche, andere verloren ihre Blüten, die nun in den Pfützen schwammen. Es roch nach Frische und Sauberkeit. Als sein Leben noch glücklich und voller selbstverständlicher Geborgenheit war, zogen er und Tina ihre Gummistiefel an. Einander an der Hand haltend gab es nichts Schöneres für Tina, als mit ihm von Pfütze zu Pfütze zu springen. Er vermeinte, ihr Jauchzen und Lachen zu hören.
Heute drückte der Schulsack, sein Herz war verschlossen wie auch seine Augen und alle seine Sinne. Es war ihm, als säße seine Seele in einem dunklen Schacht. Blind stolperte er über die Strasse. Unter dem Getrommel des Regens erfasste ihn das Auto. Er wirbelte laut schreiend durch einen Tunnel. Sein Bewusstsein verließ ihn.
Prontolo huschte aus der momentan nicht allzu gemütlichen Wurzelbehausung. Die letzte Zeit war ein bisschen anstrengend, nein, sehr anstrengend gewesen. Jawohl! Mochte seine Genoveva eine andere Meinung vertreten, er jedenfalls war dieser komischen Hektik überdrüssig. Im Übrigen konnte anscheinend nur er sich daran erinnern, dass alle 200 Jahre, das gesamte Gebiet des Runzelwaldes von einer unbeschreiblichen Putzwutenergie erfasst wurde. Orkanartig breitete sie sich aus. Alles wurde hergerichtet, umgestellt, gereinigt. Sogar die geduldeten Mitbewohner, kleine Runzelhaselmäuse, mussten andere Zugänge und Tunnels graben. Keiner wusste, warum er selber sich so benahm, nicht einmal sein bester Freund Knorro. Seine Auflehnung wurde genährt durch das Wissen um die viele Arbeit und Mühe, die auf sie zukommen würde, wenn so ein Wesen vom Himmel fiel. Letztes Mal hatten sie alle sehr viel zu tun, um dem Geschöpf wieder Vertrauen und Liebe einzuflößen. Er fand jedenfalls, dass es immer schlimmer wurde, mit der seelischen Verwahrlosung dieser Menschenkinder. So hießen nämlich diese Dinger, diese Himmelrunterfalldinger. Jawohl! Sie hätten überhaupt nicht putzen müssen, ach du liebe Runzelwaldgüte, der Schlingel beschmutzte alles, das Wort Ordnung existierte für ihn nicht und überhaupt! Prontolo schmunzelte, als er daran dachte, wie der Knabe sich bei ihnen entwickelte. Alle mussten sie weinen, als der Junge sie verließ. Er am meisten, aber das ist eine andere Geschichte und nicht interessant. Jawohl!
Nur weil er sich getraute, Genoveva darauf aufmerksam zu machen, dass die Putzerei völlig vergebens sei, schimpfte sie mit ihm. Er wolle ganz einfach seinen Blick nicht klären und endlich den Moderblätterhaufen, der anscheinend in seinem Herzen und Gehirn (!) vorhanden sei, wegräumen. Dann sagte sie noch, jawohl, zu ihm sagte sie: »Vielleicht aber besteht ja dein Gehirn bald nur noch aus einem vergorenen Haufen Blätter!«
All dies nur, weil sein vergorenes Hirn, wie sie sagte, jawohl, also sein vergorenes Hirn ganz genau registrierte und wusste: Es sind noch keine 200 Jahre vergangen, seit dem letzten Geschehnis. Keiner glaubte ihm, obwohl er oberster Haselnussverwalter war. Ein Zähl- und Zahlengenie, jawohl!
»Wenn die Energie uns heimsucht, sind 200 Jahre vorbei, auch wenn es für die Runzel-Wirklichkeit nur 120 sind oder 100 oder was weiß ich! Und jetzt mach Platz, ich muss noch die Küche umräumen.« Genoveva schubste ihn resolut nach draußen. Sie hatte natürlich recht und besaß ein tiefes Wissen, beinahe so tief wie seines. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war – nun, vielleicht war sein Bewusstsein nicht ganz so runzelklar, wie das seiner geliebten Genoveva, aber auch er fühlte, dass dieses Mal sich alles anders entwickelte. Nur, da er ein Mann, ja, ein sehr gewichtiger Mann war, musste er nicht immer alles preisgeben. Jawohl. Im Moment erfüllte ihn nur ein einziger Wunsch: Weg von all dieser Unruhe. Er wusste auch genau, was er benötigte für seinen Seelenfrieden – und was ihm auch zu einer Runzel mehr verhelfen würde. Runzeln musste man sich verdienen. Runzeln und Falten galten als Auszeichnung. Er würde durch den Wald streifen, Beeren essen, Nüsse vertilgen, Pilze sammeln und sich dem süssen Nichtstun hingeben. Mit Glück fand er auch den so begehrten Runzelnektar.
Manchmal hinterließen die Bienen einen Tropfen ihres Honigs in einer Spalte der Baumrinde des Schnapsbaumes. Es brauchte schon sehr viele Falten, um zu wissen, wie man diese Bäume fand. Das hatte die Runzelwaldmacht so bestimmt. Die Kinder und Jugendlichen waren dadurch geschützt. Oh, was für ein Trank! Bei all diesen Schlemmergedanken lief Prontolo der Speichel im Mund zusammen. Einmal kam er in den Genuss von mehreren Tropfen des Nektars. Es war ein Zustand von einer anderen Welt; er stolperte plötzlich über die eigenen Falten, konnte sich sehr schlecht orientieren und kam vor lauter Kichern immer wieder vom Weg ab. Nur, wie das Runzelwaldleben so spielt, brachte ihn der Anblick Genovevas in die raue Wirklichkeit zurück. Uhi. Die fand seinen Zustand überhaupt nicht lustig. Als er so wunderschön singend (Genoveva sagte: johlend und krähend), endlich nach vielen Irrwegen und schmerzhaften Stürzen zu Hause eintraf, flogen ihr bei seinem Anblick sämtliche Runzeln vom Gesicht. Uhi. Dieses glatte, faltenlose Wesen erschreckte ihn so tief, dass er von da an den Nektar genügsam kostete. Jawohl.
Ach, seine Genoveva. Ihr größter Lebenswunsch war, ein süßes kleines Runzelbaby zu haben und aufzuziehen. Doch obwohl sie beide darum baten, dass auch ihnen eine Adlerfeder als Ankündigung eines Babys zuflog, blieb ihr gemütliches Zuhause leer. Nun, man musste mit dem zufrieden sein, was man besaß. Wir haben uns, unser Wurzelhaus und eben alle 200 Wurzeljahre (bis jetzt war es so), eine große Aufgabe zu erfüllen. Dann fiel plötzlich ein glatthäutiges Wesen vom Himmel. Manchmal hintereinander zwei oder drei oder in Kriegszeiten (die nur bei den komischen Menschen existierten) auch sehr viele mehr. Uhi, dann hatten er und Genoveva und alle Bewohner sehr viel zu tun. Sie mussten diese kleinen Menschlein gesund pflegen an Leib und Seele. Ja, und wenn sie wieder lachten und Vertrauen in sich selbst spürten, flogen sie weg. Doch fanden Genoveva und er Trost und Zufriedenheit in dieser Aufgabe. Nie würde er das nach außen hin zugeben. Dafür stand auch sein Name. Jawohl!
Prontolo spürte, wie sich alles in ihm mit Freude und Leichtigkeit füllte. Ein freier, unbeschwerter Tag lag vor ihm. Vielleicht traf er noch einige Freunde auf seinem Streifzug; das wäre der Gipfel der Glückseligkeit. Pfeifend guckte er einem Adler nach, der hoch in den Lüften kreiste und auf verlorene Runzeln Jagd machte. Stolpernd wurde er unsanft ins alltägliche Dasein zurück befördert. Er fiel über eine Wurzel, die sich in Kinderbeine verwandelte.
Als Tim durch einen Schlag an seinen Beinen ins Bewusstsein zurückkehrte, erschrak er fürchterlich. Am liebsten hätte er seine Augen wieder geschlossen, aber er konnte den Blick nicht von dem runzligen Geschöpf, das ihn äußerst missmutig anstarrte, abwenden.
Der kleine Wicht stemmte seine Arme in die Hüften. Die Augen, das einzig Erkennbare in den Falten, blickten streng und sehr ärgerlich. Dann öffneten sich die Falten und aus dem entstehenden Spalt prasselten und regnete es Worte auf Tim. »Musste das sein? Konntest du keinen Tag länger warten, hä? Da hätte man einmal einige Stunden für sich, spaziert ahnungslos, friedlich und nichts Böses denkend durch den Wald und schon wird einem der Weg versperrt. Nicht einmal gefragt wird man, ob´s einem passt; nein, ihr kommt, wann ihr wollt. Schneit einfach vom Himmel. Jawohl. Und ich muss auf meinen Nektar und meine Freunde verzichten wegen so eines ungeduldigen und eventuellen Taugenichts, Faulpelz, Schlingel, Schulschwänzer, Ausreisser, Tunichtgut, Spitzb …«
»Prontolo! Was tust du da? Siehst du nicht, dass dieser Junge schwach und verletzt ist? Er braucht sofort Hilfe. Hol die Schubkarre und führe ihn auf das Mooslager vor unserem Haus. Aber stante pede! Seit Tagen benimmst du dich aufsässig, stehst im Weg rum und mir scheint es, als hättest du nur Läusen, äh Fläusen im Kopf!«
Genoveva stand hinter ihm und vor lauter Entrüstung präsentierte sich ihr kleines Gesicht makellos glatt, ja sogar die Arme waren bar jeder Falte. »Uhi, ich mach ja schon, bitte beruhige dich. Das ist ja grässlich, du solltest dich sehen mit diesem faltenlosen Gesicht und deinen glatten Armen. Abscheulich! Pfui Teufel.« Prontolo schüttelte es vor Grauen und er verlor zwei seiner Runzeln. Im hohen Bogen flogen sie davon. Adlerfutter! »Siehst du? Bitte, bitte, hör auf, ich helfe ja und tue ALLES, was du willst und begehrst. Im Übrigen heißt es Flausen und nicht Fläusen!« Den letzten Satz flüsterte er aber mehr für sich. So außer sich hatte er Genoveva nicht einmal bei seinem Nektar-Abenteuer erlebt. Er brummelte vor sich hin. »Ich tue ja alles, was du wünschst – sogar, wenn es sich um
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2012
ISBN: 978-3-86479-489-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen Mann Rolf und unsere Kinder Christoph, Fabienne und Bettina.