TEACH ME HOW TO FLY
Clara Blais
TRIGGERWARNUNG
Liebe/r Leser*in,
»Teach me how to fly« ist eine Geschichte über Freundschaft, Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Allerdings werden auch Themen behandelt, die für manche von euch triggernd sein können.
Die Triggerthemen findet ihr unter zeilenfluss.de/trigger, da sie Spoiler fürs ganze Buch enthalten.
Viel Spaß auf Evergreen!
PLAYLIST
Evergreen – Richy Mitch & The Coal Miners
seven – Taylor Swift
Sunrise – Norah Jones
Daylight – David Kushner
This Little Life – Tom Rosenthal
As It Was – Harry Styles
Penny Rabbit and Summer Bear – Kishi Bashi
Little Freak – Harry Styles
Wash. – Bon Iver
Hey Girl – Stephen Sanchez
invisible string – Taylor Swift
Barcelona – George Ezra
What Was I Made For? – Billie Eilish
Southern Star – Gregory Alan Isakov
right where you left me – Taylor Swift
Broken – Jake Bugg
She Burns – Foy Vance
Apple Pie – Lizzy McAlpine
Work Song – Hozier
Illustration von Carina Vellichor
PROLOG
ODER: WIE DEM VOGEL DIE FLÜGEL BRACHEN
Die Sonne strahlt durch das Zugfenster und wärmt meine Wange. Wir fahren erst seit einer Stunde und haben die Hälfte der Strecke noch vor uns, bis wir beim Festival ankommen.
Meine beste Freundin Jessica dreht Drake, dessen Songs aus ihrer Bluetooth-Box ertönen, mehrere Nuancen hoch und gewinnt damit unser Jubeln und ein paar tadelnde Blicke der älteren Fahrgäste.
Gewappnet mit einer Flasche hochprozentigem Alkohol kommt sie zu mir herüber und schwingt sich auf meinen Schoß.
»Das wird die Party des Jahres«, grölt sie. Da sie sich weder festhält, noch mit den Füßen auf dem Boden aufkommt, schleudert die Kraft, mit der der Zug ins Stocken gerät, sie von meinen Oberschenkeln.
»Bist du okay?«, frage ich besorgt, doch Jess lacht nur und lässt sich von mir hochhelfen.
Verwundert schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel legt sich in einem strahlenden Blau über die Wipfel der Tannen. Ein dichter Wald ist das Einzige, was ich als unsere direkte Umgebung ausmachen kann. Keine Häuser, kein Bahnhof. Keine Möglichkeit, den Zug zu verlassen.
In dem Moment, als ich mich wieder meinen Freunden zuwende, spüre ich es zum ersten Mal. Ein ungewöhnlicher Druck schleicht sich auf meine Brust. Als hätte sich ein Brocken darauf niedergelassen, der mit jedem Gedanken, der sich ihm widmet, größer und schwerer wird. Mein Puls hämmert mir bereits in den Ohren, während es über meinem Herzen bei jedem Atemzug, der mir nur mit Konzentration gelingt, schmerzt.
Gott, fühlt sich so etwa ein Infarkt an?
»Das ist der Beginn eines Horrorfilms. Würde mich nicht wundern, wenn gleich jemand mit einer Axt in unser Abteil gestürmt kommt«, scherzt mein Freund Kyle, und alle lachen. Außer mir.
Ich japse.
Und das so laut, dass sich die Köpfe meiner Freunde in meine Richtung wenden.
»Stimmt etwas nicht, Ivy?«, fragt Jess.
Ich will antworten, doch dazu bin ich längst nicht mehr in der Lage. Verzweifelt versuche ich einzuatmen, aber der Sauerstoff erreicht meine Lungen nicht.
Gleich werde ich sterben. Einfach so ersticken.
In meiner Panik suche ich nach einer Erklärung, die all die Szenarien in meinem Kopf widerlegen könnte. Eine Allergie? Oder hat mir jemand etwas in mein Getränk getan? Doch auf rationaler Ebene gibt es keinen Grund.
Mein Japsen verstärkt sich, und je länger ich mich auf meine Atmung konzentriere, desto schwindeliger wird mir. Mein Kopf glüht, als steckte ich mitten im Fieber, und der Schweiß lässt meine Hände klebrig werden.
»Ivy, jetzt im Ernst. Was ist los?« Kyle geht vor mir in die Hocke und nimmt mein Gesicht in beide Hände, als würde das diese Situation auch nur irgendwie besser machen. Aber das tut es nicht. Seine Nähe ist das Seil, das sich um meine Lungenflügel schnürt und mit jedem Schritt, den er näher kommt, fester zieht.
»I-irgendwas stimmt … nicht …«, bringe ich unter rasselnden Atemzügen hervor. Jess kreischt panisch und schreit, dass jemand den Notruf wählen muss. Einer meiner Freunde reicht mir Wasser, von dem ich zitternd zwei Schlucke nehme. Auch Jessica kniet jetzt direkt vor mir, gleich neben Kyle. Ihre Augen schimmern besorgt.
Als das Personal informiert ist und der Zug in den nächsten Bahnhof einfährt, weiß ich bereits, dass mein Leben nie mehr so unbeschwert sein wird wie bis zu diesem Moment. War ich eben noch ein freier Vogel, der vom Reisen träumte, jeden Tag nutzte, um sich die Zukunft auszumalen, steht hier und jetzt an diesem fremden Ort die Zeit still. Denn obwohl mein Leben mich stets das Fliegen gelehrt hat, ist es die Panik, die mir mit einem Mal die Flügel bricht.
KAPITEL EINS
IVY
Gefühle sind da, um gefühlt zu werden.Das hat mein Großvater früher ständig gesagt. Ich war immer das Mädchen, das zu schnell weinte. Das sich die Ohren zuhielt, wenn es laut um sie herum wurde. Das immer am Arm ihrer Mutter blieb, weil sie glaubte, nur dort sicher zu sein. Mein Großvater hat mich nie dafür verurteilt. Er hat mir stets ermutigend zugelächelt und die magischen Worte ausgesprochen, die alles ein bisschen leichter machten. Gefühle sind da, um gefühlt zu werden.
In meinen Ohren hatte dieser Satz immer etwas Malerisches an sich. Grandpa hat mich nie darüber aufgeklärt, dass es auch schwer sein kann, zu fühlen. Wenn man zu viel empfindet, zu intensiv. Ahnungslos wuchs ich heran, ohne zu wissen, dass manche Gefühle so schwer auf der Seele lasten können, dass sie die Macht haben, mir den Atem zu rauben.
Ich starre die Tür an.
Ein Mädchen in einem dieser Onlineforen, in denen Betroffene mit Gleichgesinnten schreiben können, hat mir erzählt, dass sie jeden Tag das Foto einer Spinne ansieht. In der Hoffnung, damit ihre panische Angst vor dem Tier zu überwinden. Quasi der Angst aus sicherer Distanz ins Auge schauen.
Ihr Therapeut hat ihr dazu geraten, da es ihrem Unterbewusstsein zu verstehen gibt, dass ihre Angst keine reale Bedrohung darstellt. Schließlich kann ihr die Spinne auf dem Foto nichts tun. Genauso wenig, wie die Tür zu meiner Scheune vorhat, mich anzugreifen. Sie ist bloß ein Symbol für etwas, das ich weder in Worte noch in Bilder fassen kann.
Sie umschreibt alles, was hinter verschlossenen Türen liegt.
Der Schulbesuch.
Die Busfahrt in die Stadt.
Der Wocheneinkauf.
Wenn ich die Tür anstarre, denke ich an die Welt, die mir seit fast einem Jahr verborgen bleibt. Fernab meines Elternhauses, meiner neuen Scheune und den grünen Wiesen rund um das Anwesen.
Ich weiß, dass ich in Kürze durch sie hindurchgehen werde und mein Leben das gleiche sein wird wie Sekunden zuvor. Aber das, was sie symbolisiert, wird nicht verschwinden, egal, wie lang ich auf das weiß gestrichene Holz starre.
Es ist etwas anderes, ein Foto von einer Angst zu betrachten, die eine Gestalt hat. Doch Gefühle haben nicht immer Formen und Farben. Gerade die unsichtbaren sind die hinterlistigsten. Sie können sich anschleichen, ganz ohne gesehen zu werden. Daher ist es egal, wie lange ich meinen Blick auf die Tür richte. Meine Angst wird nicht verschwinden. Sie wird bleiben.
Ich balle die Hände zu Fäusten und atme gegen die aufsteigende Wucht an Gefühlen an.
Hier bist du sicher. Hier kann dir die Welt nicht den Atem rauben.
Als die Tür sich mit einem Mal bewegt, glaube ich schon fast, mit meinen Augen telepathische Kräfte beschworen zu haben. Doch dann blicke ich in das vertraute Braun von Aleynas Iriden, die sich weiten, als sie mich entdeckt.
»Ivy? Alles in Ordnung?«
Ich schüttele mich aus meiner Trance und merke erst jetzt, wie verkrampft ich die letzten Sekunden über war. Kein Wunder, dass ich ständig Muskelkater vom Nichtstun habe.
»Ehm, ja?« Warum klingt meine Antwort nach einer Frage?
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, erklärt meine beste Freundin mit einem schiefen Grinsen. Keinen Geist, nur all meine Ängste in Form einer einfachen Tür.
In ihren Händen erblicke ich eine Papiertüte, die meine Sorgen gleich kleiner wirken lässt. »Du hast Milchshakes mitgebracht?«
Ich strahle und bin selbst überrascht, welchen Einfluss eine gefrorene Süßigkeit auf meine Laune hat. War ich nicht zuvor noch zu Tode betrübt? Aleyna reicht mir den Behälter. »Ich erkaufe mir deine Geduld.«
»Ich bin dir sehr dankbar, dass deine Wahl auf Milchshakes gefallen ist«, erwidere ich.
»Sogar Erdbeere.«
Ich ziehe einen Schmollmund und lege eine Hand auf mein Herz. »Heirate mich.«
Aleyna lacht. Das letzte Mal, als ich diese Worte zu ihr gesagt habe, hat sie mir einen langen Monolog darüber gehalten, dass sie die echte ›Braut, die sich nicht traut‹ werden würde, sollte ich wirklich überlegen, sie zu heiraten. Schließlich lässt ihre Nervosität kaum ein Date zustande kommen. Wie soll es dann erst mit einer Hochzeit aussehen?
Sie legt einen Arm um meine Schultern. »Nur das Beste für meine Beste.«
Ich grinse, in der Gewissheit, dass es mir vor einem Jahr noch unmöglich vorgekommen wäre, Aleyna Raad könnte so etwas zu mir sagen.
Dass sie jetzt bei mir ist, grenzt quasi an ein Wunder. Zu deutlich erinnere ich mich an die fiesen Sprüche, die meine Clique in der Schule über sie hat fallen lassen, bloß weil ihnen ihre Brille nicht cool genug war. Ich überlege, ob das der Grund dafür ist, warum sie für ihr heutiges Date Kontaktlinsen trägt, aber wenn ich sie danach frage, gehe ich das Risiko ein, alte Wunden aufzureißen.
Stattdessen lächele ich sie an und sage aufrichtig: »Du siehst wunderschön aus, das weißt du, oder? Du musst dich gar nicht mehr für diesen Posaunen-Frank zurechtmachen.«
»Würdest du aufhören, ihn so zu nennen?«, erwidert Aleyna und weicht der eigentlichen Frage damit gekonnt aus. Sie weiß nicht, wie schön sie ist. Sowohl von innen als auch von außen.
»Warum? Er spielt nun mal Posaune.« Ich greife in die Tüte und schnappe mir den Shake.
»Ob du es glaubst oder nicht: Er hat auch noch andere tolle Charaktereigenschaften.«
»Davon kannst du mir ja nach eurem Date erzählen. Vielleicht benenne ich ihn dann um.« Ich werfe ihr ein freches Grinsen zu und ahne gleich, dass mein zweideutiger Unterton bei ihr angekommen ist.
Aleyna hält mir abwehrend eine Hand hin. »Nenn mir bloß keine Beispiele. Ich will ihm gleich noch in die Augen sehen können.«
Ich lasse mich auf die senffarbene Couch fallen und klopfe auf den Platz neben mir. »Ist keine Voraussetzung für so manche Dinge.«
Mit einem empörten »Ivy!« erteilt sie mir einen liebevollen Hieb gegen die Schulter und setzt sich. »Noch ein Wort und ich nehme den Milchshake zurück.«
»Okay, ich bin ruhig. Das Risiko gehe ich nicht ein«, sage ich und sauge die rosafarbene Flüssigkeit durch den Strohhalm auf. Sie ist von der langen Fahrt aus der Innenstadt bereits erwärmt, aber das tut der Geschmacksexplosion auf meiner Zunge keinen Abbruch.
»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr denkst du darüber nach, zu kneifen?«
Aleyna wirft mir einen ertappten Blick zu, bleibt aber ruhig.
»Hast du dir schon eine Ausrede einfallen lassen?«
Sie nippt an ihrem Schokoladenshake. »Du brauchst sicher Hilfe bei deinem Umzug, oder?«
»Dad hilft mir mit den letzten Kisten«, erwidere ich erhobenen Hauptes.
»Oder deine Mum im Garten?«
»Dafür hat sie mich.« Auch wenn ich Mums Pflanzen eher schade, als ihnen helfe.
Meine beste Freundin seufzt. »Vielleicht vertrage ich den Shake nicht.«
»Aleyna«, murre ich in einem mahnenden Unterton und fühle mich gleich scheinheilig. Wie kann ich ihr vorhalten, dass sie vor jedem Date kneift, während ich mich hier vor der Welt verstecke? Daher atme ich tief ein und sage: »Wenn du wirklich nicht gehen willst, spiele ich liebend gern deine Ausrede. Aber nicht, wenn ich dich damit davon abhalte, einen tollen Jungen kennenzulernen.«
Aleynas Lächeln gefriert, während das Eis in ihrem Getränk schmilzt. Der letzte Part muss sie umgestimmt haben. Dann wird ihr Gesicht sanft.
»Du hast recht. Ich glaube, Frank ist sogar einer von den besonders Guten. Lou hat erzählt, dass er Grundschülern Nachhilfe gibt, ohne Geld dafür zu fordern.« Ihre Stimmlage erhöht sich, so wie immer, wenn sie etwas verzückt.
»Posaunen-Frank ist es wert.«
»Posaunen-Frank ist es wert«, wiederholt sie meine Worte standhaft, und ich muss lachen, weil sich sein Spitzname aus ihrem Mund noch viel absurder anhört.
Was wird es mir je wert sein, mich meiner Angst zu stellen? Der Gedanke ploppt auf, ohne dass ich die Kontrolle darüber habe.
Denk. Nicht. Drüber. Nach.
Wir trinken unsere Shakes, bis Aleyna einen schnellen Blick auf die alte Vintageuhr über der Tür wirft und die Augen weitet.
»Ich muss mich beeilen. Was dagegen, wenn ich deinen Kleiderschrank durchstöbere?«, fragt sie vorsichtig.
»Klar. Wenn du mit dem Chaos dort drüben klarkommst.« Ich deute auf die hintere Ecke meiner Scheune, in der sich neben meinem Bett die Kisten stapeln.
Den Pferdestall in eine Wohnung zu verwandeln, hat mich das letzte Jahr über neben dem Unterricht auf Trab gehalten. Ich habe Dad geholfen, wo ich konnte, und doch verdanke ich es ihm, dass ich es trotz meiner Umstände geschafft habe, etwas an meinem Leben zu ändern. Jetzt lebe ich nicht mehr in meinem rosafarbenen Kinderzimmer, sondern in meinen eigenen vier Wänden. Zwar in unmittelbarer Reichweite zu meinen Eltern, aber für mich allein.
Zunächst war es der Plan meiner Eltern, die Scheune in ein Airbnb zu verwandeln. Für Reisende, die zwar Canterbury erleben wollen, jedoch die ländliche Idylle in der Nähe der Großstadt schätzen. Als meine Eltern dann aber endgültig begriffen, dass mein Zustand sich nicht so schnell bessern würde, boten sie mir an, mein Reich in der Scheune einzurichten. Ich fiel ihnen um den Hals, so dankbar war ich, dass sie meine Entscheidungen – auch wenn sie diese nicht immer für gut befanden – unterstützten.
Letzte Woche jedoch habe ich in einem Küchenschrank einen Ordner gefunden, der mit Notizzetteln meiner Mutter gefüllt war. Aus ihnen konnte ich lesen, dass das Airbnb und alles, was damit zusammenhing, mehr als nur eine Schnapsidee war. Sie plante, den Gästen jeden Tag Frühstück zu servieren. Eier mit frischen Kräutern aus dem Garten, selbstgebackenes Brot und Saft von unseren Obstbäumen. Ich habe mir ihre Träume unter den Nagel gerissen, und dafür schäme ich mich mehr, als sie glauben kann. Vielleicht ist das der Grund, warum ich es nicht über mich bringe, die Kisten auszuräumen.
»Ivy, ist das etwa das, wonach es aussieht?«, reißt mich Aleyna aus den Gedanken. Ihr Tonfall ist ungewöhnlich spitz. Ich stütze das Kinn auf die Sofalehne und erblicke meine Freundin zwischen Klamottenbergen. In ihrer Hand hält sie ein dunkelblaues Sweatshirt, das viel zu groß für meinen kurzen Oberkörper ist. Das muss mich gleich verraten haben.
»Ich kann das erklären!« Nein, kann ich nicht. Zumindest nicht auf eine Art und Weise, die ihr Verständnis versprechen würde.
»Du hast gesagt, dass du beim Umzug all seine Sachen weggeschmissen hast.« Sie stemmt empört eine Hand in die Hüften.
»Das … das war mein Lieblingspulli von ihm«, gebe ich kleinlaut zurück und sinke immer tiefer in die Couch hinein. Kann sie mich nicht einfach verschlucken? Mein Gesicht wird warm.
»Umso schlimmer!« Sie pfeffert den Stoff in die Ecke hinter meinen Kleiderschrank. »Was hast du letzte Woche noch gesagt? Kyle hat nichts mehr in deinem Leben verloren?«
Ich schlucke.
Sie spricht von dem Tag, an dem sie mir erzählt hat, dass Kyle in der Schule nach mir gefragt hat. Ich habe mich dafür verflucht, dass ich gleich ein warmes Kribbeln im Bauch spürte, das jedoch erlosch, als ich mir in Erinnerung rief, dass er mit Jessica ausging. Meiner ehemaligen besten Freundin.
Ausgerechnet die beiden Menschen, die mich aus ihrem Leben strichen, als ich ihnen zu viel wurde, haben einander wenige Wochen darauf gefunden. Vielleicht war es Schicksal. Oder Karma. Oder beides. Vielleicht werden die beiden glücklich, ziehen irgendwann nach New York und führen dort den High Society Lifestyle, von dem sie immer geträumt haben. Vielleicht wird er sie aber auch auf der nächsten Party betrügen, und die beiden werden unglücklich ihr Leben aneinander vorbeileben. Kyle würde häufig zu tief ins Glas schauen, und Jessica sich in Clubs nach jemandem umschauen, der sie noch einen Funken mehr catcht als er. Vielleicht werden sie in all ihrem Unglück verstehen, was sie mir angetan haben, als sie mich in meiner schlimmsten Zeit alleinließen, und endlich ihre Fehler eingestehen.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Bis zu diesem Tag werde ich mich wohl weiter jeden Abend in Kyles Pullover in den Schlaf weinen. Ein Glück, dass Aleyna ihn nicht unter meiner Bettdecke vorgefunden hat, wo er normalerweise liegt.
»Alles andere ist verschwunden, ich schwöre.« Die letzten Silben stolpern über meine Zunge, als ich mich daran erinnere, dass die Wände meines Kinderzimmers noch immer mit seinen Fotos geschmückt sind.
Aleyna legt den Kopf in den Nacken und kneift die Augen zusammen. »Tut mir leid, dieser Mistkerl macht mich einfach so wütend. Jeden Tag, wenn er mit seinem selbstgefälligen Grinsen im Chemiekurs sitzt, möchte ich ihn daran erinnern, was er getan hat.« Jetzt schaut sie wieder zu mir. »Ich meine, wie kann man jemanden ghosten, mit dem man zwei Jahre lang in einer Beziehung war?«
Eine Frage, die ich mir ebenfalls nicht zum ersten Mal stelle. Ich habe es ihm wohl zu leicht gemacht. Das Einzige, was Kyle tun musste, war, nicht mehr aufzutauchen. Ich konnte ihm nicht hinterherrennen und ihn anflehen, bei mir zu bleiben. Alles, was er tun musste, war, meine Anrufe wegzudrücken und ein ›Es tut mir leid, ich glaube, so hat das mit uns keinen Sinn‹ in sein Handy zu tippen. Er hatte die simpelste Trennung der Welt.
»Schätze, das war Mitleid«, murmele ich und die Erinnerungen rieseln meinen Körper hinab wie kalter Regen. Es ist nicht fair, dass ich unter Gewitterwolken bade, während er sich im Sonnenschein suhlt.
»Mitleid?« Aleyna schnaubt. »Das war blanker Egoismus.«
Ich seufze, weil mir klar ist, dass sie recht hat. Gespräche wie diese führen wir wöchentlich, und im Grunde habe ich verstanden, dass er der Bösewicht der Geschichte ist. Der Bösewicht, der mein Herz ab und an noch zum Poltern bringt.
Als ich noch zur Schule ging, den Unterricht mit Jessica durchquatschte und mit Kyle händchenhaltend über die Flure schlenderte, wusste ich von Aleyna nicht mehr als ihren Namen und dass sie im Schulorchester Querflöte spielte. Wir besuchten zwar seit der Primary School denselben Jahrgang, haben uns aber in verschiedenen Welten aufgehalten.
Ich habe eine Theorie. Und zwar glaube ich fest daran, dass wir an unserem ersten Schultag das Klassenzimmer betreten und unsere Zukunft davon abhängt, neben wen wir uns setzen. Meine Wahl fiel auf Jessica Collins, die mir mit ihren dunkelbraunen Haaren und den dazu passend grünen Augen wie die perfekte Bilderbuchfreundin zulächelte. Von da an war der Verlauf meiner Schulzeit grundsätzlich beschlossen.
Jessica und ich wuchsen gemeinsam auf und profitierten voneinander wie in einer Symbiose. Ich nahm sie mit auf die glamourösen Veranstaltungen, zu denen meine Eltern eingeladen waren, selbst aber nie hingingen. Sie brachte mich zum Cheerleading. Ich schmuggelte uns mit fünfzehn teuren Wein aus dem Keller meiner Eltern, Jessica überredete die Jungs aus der Abschlussklasse, uns zu ihrer Party einzuladen. Die Party, auf der ich Kyle das erste Mal küsste.
Wäre Aleyna an unserem Einschulungstag einfach fünf Minuten eher aufgetaucht und hätte mich angelächelt, hätte sie mir zehn Jahre Freundschaft mit Jessica erspart. Vielleicht würde ich jetzt wie Aleyna im Orchester spielen, Trompete oder so etwas. Meine Schulter würde nicht ständig schmerzen, weil Amber Steward beim Cheerleading darauf abgerutscht ist, und ich würde mit jemandem ausgehen wie Posaunen-Frank.
Und vielleicht, ja, ganz vielleicht würde ich mein Leben nicht versteckt auf unserem Anwesen verbringen. Der Ort, über dem ein unsichtbarer Schutzschild liegt, der die Panik und Angst von mir fernhält.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Dieses verfluchte Wort.
Was ich allerdings mit Sicherheit weiß: Wäre Aleyna nicht eines Tages vor meiner Haustür aufgetaucht, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen, hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden. Nicht die Trennung von Kyle, Jessicas Verrat und auch nicht den Unterricht von zu Hause, fernab von allem, was ich kannte. Sie hat mich gerettet, obwohl ich es am wenigsten verdient habe. Wer braucht schon einen Prinzen, wenn man eine Freundin wie sie haben kann?
Deswegen werfe ich ihr ein versöhnliches Lächeln zu. »Ich hab dich lieb, weißt du?«
Sie senkt die Schultern und neigt den Kopf. »Ich dich auch, Dumpfbacke.«
KAPITEL ZWEI
IVY
Die Tür quietscht, als wir aus der Scheune heraustreten. Der Frühlingswind umweht uns und pustet mein kinnlanges Haar in alle Richtungen. Gleich kriecht mir der Duft von Blütenstaub und frisch gemähtem Rasen in die Nase. Mum hat sich bereits heute früh an die Gartenarbeit gesetzt. Ich sehe sie vor dem Gemüsefeld hockend. Wahrscheinlich ist sie damit beschäftigt, neues Saatgut zu verstreuen.
Unsere Gänse watscheln schnatternd an uns vorbei, als würden sie ihren eigenen Nachmittagstratsch führen. Manchmal stelle ich mir vor, worüber sie sich unterhalten.
»Hast du schon gesehen, die Agatha hat sich einen neuen Platz für ihr Mittagsschläfchen gesucht.«
»Nicht dein Ernst!«
»Wann gibt es eigentlich Essen?«
Aleyna folgt meinem Blick und zieht die Stirn kraus. »Wenn ich nicht so aufgeregt wäre, würde es mir Angst machen, wie nah sie mir sind.«
Ich kichere. Es hat tatsächlich mehrere Anläufe gebraucht, bis ich Aleyna dazu überreden konnte, mich in den Garten zu begleiten. Neben den Gänsen kreuzt ab und an ein Huhn unseren Weg. Die Enten kühlen sich in dem Teich hinter der großen Eiche ab, und an warmen Tagen grasen Kühe oder Schafe auf den Feldern hinter unserem Anwesen.
Den meisten, die mich früher hierher begleiteten, fiel es schwer zu glauben, dass meine Familie so zurückgezogen lebt. Mit dem Geld, das mein Vater aus seinem Familienunternehmen geerbt hat, hätten wir uns sicherlich eine der größten Luxusvillen Englands leisten können oder ein Penthouse mitten in London.
Meine Mutter aber liebt die Natur und ihren Garten, der ihr jede erdenkliche Zutat innerhalb von Sekunden liefern kann. Und mein Vater liebt sie. So sehr. Ich glaube, wenn es ihr Wunsch wäre, würde er für sie auch in einem Trailerpark leben.
Die Laute der Tiere begleiten uns bis zu den moosbewachsenen Steinmauern, hinter denen das Evergreen-Anwesen vor der Außenwelt verborgen liegt. Der Ort, der nicht nur mein Zuhause ist, sondern nun auch meine ganze Welt.
»Denkst du, ich werde ihm gefallen?«, fragt Aleyna und schaut unsicher an sich hinab. Sie trägt ein pfirsichfarbenes Kleid, das sich perfekt für die milden Frühlingstemperaturen eignet. Ihr dunkles Haar ist in einem hohen Dutt zusammengebunden, und ihre Ohrläppchen werden von Perlen geschmückt.
»Na klar«, erwidere ich und tätschele ihre Schulter. »Außerdem bist du Blasmusikerin.«
Sie verzieht den Mund, doch ihre Augen lächeln. »Und du bist ein Ekelpaket.«
»Stets zu Diensten.«
Ich öffne das Tor für sie und sehe ihr hinterher, wie sie den verwilderten Pfad zu ihrem Auto hinunterläuft.
Der bekannte Schmerz in meiner Brust ist gleich zur Stelle. Dieser Drang, einfach hinterherzugehen. Doch wenn ich dieses Gefühl jemals in Worte fasse, wird mir nur in Erinnerung gerufen, dass ich eine Wahl habe.
Eine Wahl. Wieso klingt das so verdammt einfach?
Natürlich ist es meine Entscheidung, hierzubleiben, statt meine beste Freundin in die Stadt zu begleiten. Niemand hält mich zurück. Niemand, außer mir selbst.
Aber eine Wahl habe ich dennoch nicht. Die Angst lässt mir keine.
Mit einem Stich im Herzen lasse ich meine Freundin davonziehen und schließe das Tor hinter mir. Es ist – wie so vieles hier auf Evergreen – mit Efeu umwoben. Laut Mum rührte daher die Inspiration zu meinem Namen. Sie war hochschwanger, als sie das alte Anwesen besichtigten, und so von der Naturbelassenheit des Hauses verzaubert, dass sie diese Magie auf mich übertragen wollte: Ivy.
Mittlerweile verzichte ich darauf, sie daran zu erinnern, dass Efeu nicht nur wunderschön, sondern giftig ist.
Jedes Mal, wenn die Sonne wie heute durch die Wolken bricht und das Anwesen in goldenes Licht hüllt, verstehe ich, warum sie sich in Evergreen verliebt haben. Von dem Tor aus kann ich wie so oft nicht anders, als das malerische Panorama der ländlichen Idylle zu bestaunen. Das Landhaus vermischt den traditionellen englischen Baustil mit modernen Akzenten. Die Wände tragen die Spuren der Zeit in sich und sind mit wildem Wein und Blumenranken gesäumt. Die cremefarbene Fassade strahlt Ruhe aus, die von den Sprossenfenstern mit filigranen Verzierungen verstärkt wird. Die hellblauen Fensterläden sind wohl meine Lieblingsdetails am Haus – sie passen sich dem wolkenfreien Himmel über dem Dach an. Immer wenn ich durch die bogenförmige Tür trete, werde ich von dem vertrauten Geruch von Holz und Lavendel in Empfang genommen. Es ist der Duft von zu Hause.
Jessica hat mich einmal gefragt, warum wir uns gegen die Stadt entschieden haben, um abgeschottet zwischen Wiesen und Feldern zu leben. Sie konnte nicht verstehen, warum Menschen freiwillig einen halbstündigen Weg zum Einkaufen hinnehmen und auf Abendrundgänge durch die Restaurants und Bars Canterburys verzichten. Sie liebt das Stadtleben, was ich nachvollziehen kann. Lange Zeit versuchte ich mir einzureden, dass ich später ebenfalls luxuriös in einer Großstadt leben möchte. Schließlich war das immer Kyles Ziel. Was nützt eine Beziehung, wenn man nicht die gleiche Vorstellung von der Zukunft hat?
Aber jetzt, da das Anwesen alles ist, was ich habe, weiß ich, dass ich nichts davon gegen die schönste Villa der Welt eintauschen würde. Nicht die knarrenden Holzböden auf den Fluren, die Balken, die durch die Zimmer führen, oder die quietschenden Türen. Sie hauchen meinem Zuhause erst Leben ein.
Ich entdecke meine Mutter auf den Feldern hinter der Scheune. Sie schneidet Tulpen und wird von der Sonne angestrahlt, die ihr honigblondes Haar zum Leuchten bringt.
»Brauchst du Hilfe?«, frage ich. Der Duft von nasser Erde und sprießenden Blumen steigt mir in die Nase. Um die Gemüsefelder herum wachsen die Frühlingsblumen, eine bunter als die andere. Gänseblümchen, Hyazinthen und Maiglöckchen.
Mum hält mir ein Messer hin. »Du kannst ein paar Narzissen sammeln. Die machen sich sicherlich gut im Wohnzimmer.«
»Okay.« Ich scanne die Wiese nach den gelben Blüten ab.
»Hat Aleyna wieder ein Date?«, fragt sie interessiert. Das Wieder resultiert daraus, dass Aleyna zwar immer ein Date ankündigt, es dann aber doch nicht zustande kommen lässt. Gut möglich, dass sie auf dem Weg zu ihrem Auto noch eine Absage in ihr Handy getippt hat.
Ich hocke mich auf den Boden, um die ersten Pflanzen zu schneiden. »Ja.«
Kurz ist sie still. »Macht dich das traurig?«
Ich lege die Stirn in Falten und konzentriere mich auf meine Arbeit, um den Fakt zu überspielen, dass sie mich mit ihrer Frage auf frischer Tat ertappt hat. »Wie kommst du darauf?«
»Würdest du nicht auch gern wieder mit jemandem ausgehen?«
»Schon«, antworte ich mit einem Schulterzucken, das nicht im Geringsten der Gefühlswucht gleichkommt, die ihr Nachhaken in mir auslöst.
Seit Kyle habe ich mit keinem Jungen mehr Händchen gehalten, niemanden geküsst oder von meinen Träumen erzählt. Das ist jetzt fast ein Jahr her. Während andere Mädchen in meinem Alter ein Poesiealbum voller Erfahrungen sammeln, verbringe ich die Wochenenden mit meinen Eltern. Es klingt trauriger, als es ist. Denn ich habe ja eine Wahl.
Aber nein, die habe ich nicht.
»Wäre das nicht ein Ziel?«
»Ein Ziel?«, wiederhole ich verwundert.
»Ja, ein Ziel, das du dir stecken kannst. Quasi eine Motivation, um irgendwann wieder rauszugehen.« Das Irgendwann ist pure Absicht von ihr. Um den Druck herauszunehmen. Sie weiß, wie ich darauf reagieren kann.
Ich lache hell auf und lege die Blumen in Mums geflochtenen Korb. »Da kann ich mir deutlich bessere Motivationen vorstellen.«
»Zum Beispiel?« Sie richtet sich auf und schmiert sich den Dreck ihrer Hände an der Arbeitsschürze ab. Ich klemme mir derweil den Korb unter den Arm. »Na ja, mal wieder zum Cheerleading gehen. Den Abschlussball miterleben. Die Welt bereisen. Such dir was aus.«
Mum erwidert nichts, und als wir schweigend zum Haus laufen, entdecke ich, dass ihre Mundwinkel gesenkt sind, so wie immer, wenn sie in Gedanken ist. Ihr ist bewusst, wie weit ich von diesen Vorstellungen entfernt bin.
Die Welt bereisen. Dass das mal mein Traum nach dem Schulabschluss gewesen ist, scheint mir jetzt vollkommen fremd.
Ivy Brooks, das Mädchen, das sich nicht traut, ihr Zuhause zu verlassen, will ferne Länder erkunden. Ja klar.
Ich helfe Mum, das Essen zuzubereiten, und decke den Tisch auf der Terrasse ein, den wir immer nutzen, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen. Es ist noch nicht warm genug, um ohne Jacke draußen sitzen zu können, aber meine Haut, die zwischen der Kleidung hervorlugt, wird von der Sonne gestreichelt. Als ich beobachte, wie die Wäsche auf der Leine im Wind zappelt, kommen mir Mums Worte wieder in den Sinn.
Mit jemandem ausgehen. Schmetterlinge im Bauch haben. Weiche Lippen auf meinen. Spaziergänge am Kanal entlang. Hände, die mich halten und vor Aufregung genauso schwitzig sind wie meine.
Das sind Dinge, auf die ich verzichte, um mich vor der Angst zu verstecken. Ist sie es wert?
Mein Herz pocht schnell, als würde es laut Ja schreien. Ja, hier bist du sicher.
Ja, die Welt da draußen ist nicht gut für dich. Sie versteht dich nicht.
Ich schließe die Augen und atme gegen die innere Stimme an.
Sie soll aufhören.
Aufhören, aufhören, aufhören.
Die letzten Monate, bevor ich beschloss, von zu Hause unterrichtet zu werden, war sie mein stetiger Begleiter.
»Schau, wie diese Frau dich ansieht. Sie kann dich bestimmt nicht leiden.« Druck auf meiner Brust. »Und Jessica hat vorhin viel zu lang auf deine Augenbrauen gestarrt. Sicherlich hast du sie diesmal zu dünn gezupft.« Zittern in meinen Händen. »Du atmest viel zu schnell. Denkst du nicht, dass sie das mitbekommen?« Hyperventilieren. »Gleich wirst du ersticken.« Panikattacke.
Es war ein Hamsterrad. Die Gedanken kamen, mein Körper reagierte, und mein Kopf weigerte sich, klar zu denken. Dann kam die Scham. Die Wut auf mich selbst. Die Verzweiflung.
Wenn ich so darüber nachdenke, kann ich meine Frage mit einem entschlossenen Ja beantworten. Diesen Situationen zu entgehen, ist es wert, auf das Verliebtsein zu verzichten.
Irgendwann, ja, irgendwann wird alles wieder normal sein.
Nur eben noch nicht jetzt.
»Na Kleines, worüber denkst du nach?« Dads Hand auf meiner Schulter reißt mich aus den Gedanken.
»Nur über den Unterricht.«
»Unterricht?«, wiederholt er und runzelt in gespieltem Ärger die Stirn. »Es ist Samstag, wer hat dir erlaubt, an Unterricht zu denken?«
»Ach, Dad«, murmele ich lächelnd und lege mich in seinen ausgebreiteten Arm. Irgendwie spürt er immer, wenn die Stimme wieder da ist. Das tun sie beide. Hier hat sie es noch nie geschafft, mich in eine Panikattacke zu treiben. Vielleicht genau deswegen. Weil meine Eltern da sind, um mich aufzufangen, bevor ich in dem Tunnel der Angst verloren gehe.
Dad füllt jedem einen Teller Eintopf auf, und ich gieße Mums selbstgepresste Zitronenlimonade in unsere Gläser. Wir essen und Dad erzählt von der Location für seine Sommer-Spendengala. Er und sein Bruder haben eine Menge Geld aus dem Unternehmen ihrer Eltern gezogen und beschlossen, das, was sie nicht benötigen, an diejenigen weiterzugeben, die es brauchen. Deswegen riefen sie verschiedene Projekte ins Leben, von denen eines pro Jahr eine riesige Benefizveranstaltung erhält, auf der sich die Reichsten der Reichen Englands versammeln. Dass es dieses Jahr um rumänische Tierheime geht, ist ganz sicher in Mums Sinn.
»Was hast du heute so gemacht, Ivy?«, fragt Dad interessiert, als würde er eine spannende Abenteuergeschichte von seiner Stubenhockertochter erwarten.
»Aleyna war da und hat sich auf ihr Date vorbereitet. Danach habe ich mit Mum gekocht. Nicht besonders viel also.«
Die Wochenenden sind schwierig. Unter der Woche hält mich ein strammer Zeitplan von der Langeweile ab. Morgens vor dem Unterricht mache ich einen Rundgang durch die Tiergehege. Um neun Uhr kommt Ani – meine Privatlehrerin – und startet mit mir in den Unterricht. Mittags essen wir gemeinsam, dann geht es weiter im Lehrplan, meistens bis vier Uhr nachmittags, wie jeder gewöhnliche andere Schüler auch. Außer, dass die Schule weitaus weniger spannend ist. Kein Tratschen während des Unterrichts, keine Pausen mit Freunden, keine AGs am Nachmittag.
Nach dem Abwasch suche ich mir frische Pinsel aus meinem alten Zimmer und bin dabei, mich zur Scheune zu schleichen, als Dad mich im Hauseingang zurückruft. Ich drehe mich um und entdecke zwei Kisten, die ihre besten Tage schon hinter sich haben. Er klopft auf die Deckel und erklärt: »Die sind gefüllt mit deinem Kram. Habe sie in meinem Büro gefunden, und ich dachte: Wenn du schon ausziehst, dann richtig.«
Er grinst amüsiert, als er meinen flehenden Blick entdeckt. Zwei weitere Kisten, die sich zu meiner Sammlung dazugesellen.
Wir tragen sie zusammen zur Scheune. Neben meinem Bett liegt noch immer das Klamottenwollknäuel, das Aleyna und ich hinterlassen haben.
»Vielleicht solltest du langsam auspacken«, sagt Dad sanft. Er ist kein Mensch, der mich dazu verpflichten würde, gewisse Dinge zu tun. Er gibt immer nur liebgemeinte Empfehlungen.
»Ja, du hast recht. Wie gut, dass ich mich gegen die wilde Partynacht entschieden habe. Kisten ausräumen klingt doch viel besser.«
»Hinterlass wenigstens einen Zettel, wenn du dich doch noch rausschleichen solltest. Dann weiß ich, wo ich dich später einsammeln muss«, erwidert Dad spaßend. Wahrscheinlich denkt er zurück an die zahlreichen Nächte, die genau so abliefen.
»Mr Brooks, Ihre Tochter hat zu viel getrunken, können Sie sie bitte abholen. Oh, wo wir sind? In London. Eineinhalb Stunden von Canterbury entfernt.«
Wenigstens eine Sache, um die sie sich jetzt keine Sorgen mehr machen müssen.
Als Dad mich allein zurücklässt, betrachte ich die Kisten mit einem Seufzen.
Er hat recht. Ich sollte auspacken. Ich habe Mum ihren Traum gestohlen, ganz gleich, ob ich nun im Chaos lebe oder es wenigstens zu schätzen weiß, was sie für mich aufgegeben hat.
Ganz bald gehört all das dir, Mum, versprochen. Wenn mein Leben endlich wieder normal ist.
Ich setze mich auf das Laminat, das von der durch die bodentiefen Fenster scheinenden Sonne erwärmt ist. Die Kisten, die ich gerade mit Dad hergebracht habe, erwecken den Eindruck, als würden sie jeden Moment auseinanderbrechen. Daher komme ich ihrem Schicksal zuvor und öffne den Deckel.
Vor meinen Augen tut sich eine Sammlung sämtlicher Erinnerungen meiner Kindheit auf. Meine ersten Malversuche, die gar nicht so übel aussehen wie gedacht. Gepresste Blumen, Lesezeichen, Weihnachtskarten. Auch mein altes Freundschaftsbuch entdecke ich. Ich blättere durch die Seiten, als ich plötzlich an Jessicas Steckbrief hängen bleibe. Als hätte ich mich verbrannt, lasse ich das Album fallen und schiebe es mit dem Fuß zur Seite.
Es tut weh, sie nicht mehr als meine Freundin bezeichnen zu können. Sie kannte meine Träume, meine Geheimnisse, ja, vielleicht auch meine Ängste. Doch eines Tages haben sich diese von einem Marienkäfer zu einem gigantischen Elefanten entwickelt, der mein Leben voll und ganz einnahm. Und bevor er auch Jessicas Leben beeinflussen konnte, hat sie unseren Kontakt abgebrochen.
Rückblickend betrachtet ist Jessicas Reaktion gar nicht so schwer nachzuvollziehen. Gut … Dass sie einen Monat später Kyle auf einer Party küsste, war für mich sehr schwer nachvollziehbar. Aber alles andere? Wieso sollte sie ihr Leben für mich einschränken? Auf Partys verzichten, um mit mir zum achten Mal Pretty Woman zu schauen?
Mum sagt immer, es gibt Freunde im Leben, und es gibt Freunde fürs Leben. Jessica war Teil eines langen Abschnitts davon. Jetzt ist sie es nicht mehr.
Finde dich damit ab.
Um den Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, widme ich mich den Fotos, die sich ungeordnet in der Kiste verteilen. Viele von ihnen sind in Urlauben entstanden. In Portugal, Norwegen, Italien. Durch diese Reisen wurde das Fundament für meinen großen Traum gebildet.
Denn da ist noch so viel, das ich sehen will. So viel, dass es mir jedes Mal die Tränen in die Augen treibt, wenn ich in meiner Brust spüre, wie weit ich davon entfernt bin.
Als ich die Fotos niederlege, fallen mir ein paar Briefe ins Auge. Erst, als ich sie genauer betrachte und die kleinen Vögel auf den Umschlägen entdecke, wird mir klar, dass ich die alten Schriftstücke meiner Brieffreundschaft in den Händen halte.
Brieffreundschaften waren in meiner Schulzeit das Ding.
Mum ließ meinen Namen und meine Adresse in einer Zeitschrift namens Childhood Heroes abdrucken, woraufhin ich so viele Briefe erhielt wie noch nie in meinem Leben. Viele der Absender schrieben nur einen einzigen, und als ich ihnen dann antwortete, blieb ein weiterer aus. Aber mit zwei Kindern tauschte ich regelmäßig Zeilen aus.
Molly Anderson war eine von ihnen. Sie war auch die Erste, die auf meine Anzeige reagierte. Sie wurde sehr schnell zu etwas wie meiner besten Freundin – wenn man das überhaupt behaupten konnte, ohne sich je gesehen zu haben. Wir erzählten uns so viel voneinander, dass Jessicas Kopf stets vor Eifersucht glühte, wenn ein neuer Brief eintrudelte. Doch irgendwann schrieb sie nicht mehr regelmäßig. Bis ihre Nachrichten dann von einer neuen Adresse kamen und sie mir erzählte, dass es ihr plötzlich nicht gutgegangen wäre und sie erst mal im Krankenhaus bleiben müsste. Ich schickte ihr eine Ansammlung meiner Lieblingssticker zu, in der Hoffnung, sie würde sich dadurch besser fühlen. Doch das tat sie nicht.
Zwei Monate später erhielt ich einen Brief von Mollys Mutter, in dem sie mir schrieb, dass Molly an den Folgen ihrer Krebserkrankung gestorben sei. Dazu hatte sie ein Bild mitgeschickt, auf dem Molly breit lächelte und der Krebs offenbar noch weit entfernt von ihrem Leben war. Ich weinte so sehr, dass ich zwei Tage nicht zur Schule ging und Mum und Dad mich zu Mollys Beerdigung begleiteten, obwohl meine Freundin drei Stunden von uns entfernt gelebt hatte.
Lange konnte ich keine Brieffreundschaften mehr führen, weil jeder Brief, den unser Postbote Edwin in unseren Briefkasten warf, mich an Molly und ihr Lächeln erinnerte.
Bis mir eines Tages Jake Montgomery schrieb und den Beginn einer monatelangen Brieffreundschaft setzte.
Neugierig öffne ich einen von Jakes Briefen und scanne die Zeilen ab. Dann einen weiteren und noch einen, bis das Papier den Teppich vollständig verdeckt. Zu Beginn waren es nur belanglose Worte, kurz und knapp gehalten. Doch irgendwann wurden sie länger, als würde er mir mehr vertrauen. Er erzählte von seinem Leben in London, von Schulfreunden, dem Soccer-Training. In den ersten Briefen sprach er mich noch mit ›Liebe Ivy‹ an. In den späteren ersetzte ›Birdy‹ meinen Namen.
Liebe Ivy,
ich finde die Zeichnungen von den Vögeln superschön. Ich habe versucht, welche auf dem Umschlag nachzumachen, aber die sehen doof aus. Wusstest du, dass Ivy fast so wie Birdy klingt? Das finde ich viel besser. Efeu ist nämlich giftig, hat Mum gesagt. Vögel können dafür fliegen. Nenn dich lieber Birdy.
Grinsend lasse ich die Augen über die kleinen Vogelskizzen auf dem Briefpapier gleiten. Es sieht fast so aus, als würden sie durch die Buchstaben hindurchfliegen.
Jake hatte Verwandte in Canterbury, und wir haben uns ausgemalt, was wir unternehmen würden, sollte er sie das nächste Mal besuchen, und wir hätten Gelegenheit, uns zu sehen.
Doch dazu kam es nie. Jake beendete unsere einjährige Brieffreundschaft, ohne sich zu verabschieden, indem er mir nicht mehr zurückschrieb. Die Tage, an denen unser Postbote Edwin mir mit einem Grinsen Jakes Briefe überreichte, waren Vergangenheit, und all die, die ich ihm noch schrieb, blieben unbeantwortet.
Das erste Mal, dass mir auf gewisse Weise das Herz gebrochen wurde, war also mit elf.
Was wohl aus Jake geworden ist? Hat er es aufs Soccer-Internat geschafft, so wie er es sich immer gewünscht hat? Lebt er weiter in London? Studiert? Ist er glücklich? Vielleicht sogar schon verheiratet? Ich erinnere mich, dass er zwei Jahre älter war als ich. Dann wäre er jetzt zwanzig. Kein gewöhnliches Alter, um zu heiraten, aber möglich wäre es.
Ich ziehe die Unterlippe zwischen die Lippen und denke an das Leben, das mein früherer Brieffreund nun führen könnte.
Frei wie ein Vogel.
Was er wohl dazu sagen würde, dass ich nun alles andere als das bin, was er früher in mir gesehen hat? Ich bin kein Adler, der durch die Lüfte streift, sondern ein Wellensittich, der in einem Käfig lebt, damit er sich nicht verirrt.
Es tut gut zu wissen, dass es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der mich so in Erinnerung hat. Mit all den Hoffnungen und Träumen, mit denen meine Kindheit geschmückt war. In seinen Erinnerungen bin ich Birdy.
Die Sonne geht unter und blendet meine Augen, als eine eigenartige Mischung aus Entschlossenheit und Nervosität in meiner Brust klopft.
Würdest du nicht auch gern jemanden kennenlernen?
O ja, Mum, und wie. Und vielleicht ist das nun gar nicht mehr so abwegig.
Ich notiere mir Jakes Adresse, lasse die Briefe auf dem Boden liegen und setze mich dann an den Tisch, um einen Brief zu schreiben, den ich mit Birdy unterzeichne.
KAPITEL DREI
JAKE
Sehr geehrter Mr Montgomery, vielen Dank für Ihre Bewerbung. Leider können wir …
Weiter lese ich nicht. Ich weiß, wie die Mail ausgeht. Leider können wir Ihnen aus diversen Gründen keine Anstellung in unserem Supermarkt anbieten. Es ist die zwölfte Mail dieser Art, die so ausgeht. Auch wenn die Stellenausschreibungen der meisten Läden schon seit Wochen online sind und sie das Personal dringend bräuchten. Niemand möchte sich mit dem Gesicht eines Kleinkriminellen schmücken.
Ich schiebe das Handy in die Tasche mit den Einkäufen und schließe die Tür unseres Apartments auf.
»Hunger!«, ruft Maisie, als ich sie in die Wohnung hineinspazieren lasse, und legt den Kopf in den Nacken.
Geht mir genauso, denke ich, doch schlucke die Worte hinunter. Ich bin nicht in der Position, mich über meinen Hunger zu beklagen, sondern muss dafür sorgen, dass meine Geschwister keinen mehr haben.
»Bringt eure Rucksäcke weg, ich brate schnell ein paar Eier.«
Die Zwillinge trotten in ihren Schuhkarton von Kinderzimmer, und ich mache mich hektisch ans Mittagessen. Die Tage, an denen Mum Doppelschichten im Diner arbeitet, laufen immer so stressig ab. Aber anders bekommen wir dieses wunderschöne Fleckchen Erde, auf dem wir wohnen, nicht finanziert. ›Wunderschön‹ ist in diesem Fall ein Synonym für ›brüchig‹ und ›voller Baustellen‹. Die Küchenregale über dem Herd wurden vor ein paar Monaten von einem Holzwurm attackiert und weisen tunnelartige Löcher auf. Der dunkle Vinylboden wellt sich vor Feuchtigkeit, und Mum gibt ständig Geld, das wir nicht haben, für Räucherstäbchen aus, um den undefinierbaren Geruch nach Schimmel und Nässe zu verbergen.
»Wie war die Schule?«, frage ich meinen kleinen Bruder.
Er hat sich mit seinem Hausaufgabenheft an den Küchentisch gesetzt und schlägt die aktuelle Seite auf. Der Gartenstuhl, den wir im Sperrmüll gefunden haben, ist zu mächtig für seinen zarten Körper.
»Ganz gut. Wir haben die Uhr geübt.«
»Und bei dir, Maisie?«
»Scheiße«, höre ich sie aus ihrem Zimmer brummen. Ich seufze und rufe meine Schwester zu mir. Ich hasse es, den Chef zu spielen, aber Maisie kann nicht im Alter von sieben Jahren durch die Gegend laufen und solche Worte von sich geben. All das wird Mum und ihrer Erziehung in die Schuhe geschoben, und das muss ich mit aller Kraft verhindern, denn sie bekommt genug Kritik zu hören. Als hätten diese Mustereltern nichts Besseres zu tun, als sich in die Familienangelegenheiten anderer Mütter einzumischen. Ich muss es wissen, schließlich durfte ich am letzten Elternabend der Schule selbst teilnehmen, weil Mum für eine Kollegin einspringen musste. Als ich diesen Raum betrat, hätte man meinen können, ich sei Madonna, so ein aufgeregtes Gemurmel hat meine Anwesenheit ausgelöst.
Langsam kommt Maisie zu mir herübergeschlurft und schaut mit zusammengezogenen Augenbrauen zu mir auf.
»Du weißt, dass man solche Worte nicht sagt.«
»Aber –«
»Kein Aber«, unterbreche ich sie. »Max benutzt solche Worte auch nicht.« Ich streue Salz und Pfeffer über die brutzelnden Eier und schiebe zwei Scheiben Brot in den Toaster.
»Max weiß einfach genau, wann du ihn nicht hören kannst«, murmelt Maisie trotzig und lässt das Kinn auf die Brust fallen. Im Augenwinkel bemerke ich, wie sich mein kleiner Bruder sein schelmisches Grinsen verkneift.
Versöhnlich streiche ich Maisie durch die Haare und serviere beiden ihr Mittagessen. Neben Einkaufen, Essen-Zubereiten und dem Abholdienst von der Schule gehört mittlerweile auch die Erziehung meiner dreizehn Jahre jüngeren Geschwister zu meinen Aufgaben. Aber das ist okay. Ihr Lachen, mit dem sie von ihrem Tag erzählen, ist all das wert.
Als Mum nach einer Stunde noch immer nicht von der Arbeit nach Hause gekommen ist, werden meine Hände schwitzig. In Kürze muss ich im Seniorenheim sein. Eine weitere Verspätung hat mit Sicherheit Konsequenzen. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, versetzt zu werden. Aber meine Geschwister alleinzulassen, kommt gar nicht infrage.
Irgendwann klopft es an der Tür unseres Apartments, und ich stoße ein stummes Jubeln aus. Vielleicht hat sie einfach ihren Schlüssel vergessen.
Doch statt meiner Mutter entdecke ich die alte Mrs Hudgerson vor der Tür. Anders als an den Tagen, an denen sie Kuchen oder Aufläufe vorbeibringt, fehlt ihrem herzförmigen Gesicht das Lächeln. Ihre Lippen sind zu einem farblosen Strich gepresst.
»Hallo Jake, ist deine Mutter da?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich warte auch auf sie. Worum geht es denn?«
Sie senkt ihre Stimme, vermutlich, damit Maisie und Max nichts von ihren Worten mitbekommen. »Die Miete. Ihr habt sie immer noch nicht überwiesen.«
Ich lege den Kopf in den Nacken und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare. Sie sind mal wieder etwas zu lang, aber für einen Friseurbesuch fehlt mir das Geld. Natürlich. Wir haben ja nicht einmal genug Geld zusammen, um unser Dach über dem Kopf zu finanzieren.
»Ich dachte, Mum hätte es überwiesen«, murmele ich, was die Wahrheit ist. Ich spiele ihr keine Mitleidsnummer vor, damit sie den Mietverzug abwinkt. Das hat sie bereits mehrere Male getan. Offensichtlich sind wir diesen Monat richtig spät dran.
»Jake, du weißt, dass ich euch vertraue und mir sicher bin, dass ihr irgendwann zahlt. Aber ich muss euch daran erinnern.« Mrs Hudgerson schickt ein Lächeln hinter ihren Worten her. Keine Ahnung, warum sie so schuldbewusst wirkt. Jeder andere Vermieter hätte uns schon vor Jahren im hohen Bogen rausgeschmissen.
»Ich gebe es gleich an meine Mutter weiter. Tut mir leid.«
Sie verschwindet, nachdem sie meinen Geschwistern zugewunken hat, und ich schließe mit einem Seufzen die Tür hinter mir.
»Warum kommt Mrs Hudgerson nicht rein?«, fragt Maisie. Mir rauscht der Kopf. Erst die Absage, jetzt noch die Miete. Wie soll ich jemals einen Job finden, ohne vernünftige Ausbildung und mit Vorstrafe?
Der Supermarkt, in dem ich nach meinem Schulabschluss gearbeitet habe, hat mich entlassen, nachdem sie die Gerüchte über mich gehört haben. An einem Nachmittag bat Mr Andrews mich in sein Büro. Er erzählte, dass eine seiner Angestellten gesehen habe, wie ich mir während meiner Schicht die Taschen mit Lebensmitteln vollgestopft hätte. Was eine verdammte Lüge war. Alles, was ich aus dem Laden mit nach Hause nahm, bezahlte ich zum vollen Preis. Selbst wenn Andrea, die Tochter meines Chefs, mir anbot, einen Apfel für die Zwillinge einzustecken, habe ich dankend abgelehnt. Sie hatten keinen Grund für meine Entlassung, also mussten sie sich einen suchen. Und haben damit dafür gesorgt, dass kein anderer Supermarkt in Canterbury mich jemals wieder einstellen wird.
»Sie hat nur nach Mum gefragt.« Mum, die immer noch nicht da ist. Langsam werde ich unruhig und suche nach der Nummer von Brad – meinem Betreuer im Seniorenheim –, doch da stürmt unsere Mutter durch die Tür.
»Sorry!«, ruft sie hektisch und streift sich Jacke und Schuhe vom Körper.
»Ich habe ihnen schon Essen gemacht«, versichere ich ihr. Sie ist völlig außer Atem. Wahrscheinlich ist sie von der Bushaltestelle bis zu unserem Wohnblock gesprintet.
»Oh Jake, wenn ich dich nicht hätte …«
Ich verziehe das Gesicht. Schließlich bin ich mir sicher, dass sie gut ohne ihren Sohn zurechtkommen würde, der ihr in letzter Zeit nur Probleme bereitet hat.
Mum hält mir einen Umschlag unter die Nase und legt ihn auf den Küchentresen. »Der lag für dich im Briefkasten.«
Verwundert wende ich den Blick von dem beigefarbenen Briefpapier ab.
Ich kann nur hoffen, dass es nicht mein Bewährungshelfer ist, aber normalerweise klärt er seine Angelegenheiten telefonisch. Oder das Gericht? Bitte lass es nicht das Gericht sein. Eine weitere Verhandlung ertrage ich nicht.
Ich fahre den Zwillingen durch die Haare, was sie mit einem knatschigen »Ey« kommentieren, und mache mich auf den Weg zum Bus. Von hier fahre ich zwar nur drei Stationen, doch bis zum Heim ist es noch ein gutes Stück zu laufen. Den restlichen Weg lege ich im Vollsprint zurück und schaffe es somit um vierzehn Uhr zwei, genau zwei Minuten zu spät, in Brads Büro hineinzustürmen.
Er wirft zwar einen kurzen Blick auf die Uhr, kommentiert meine geringe Verspätung aber nicht. Vermutlich, weil er mittlerweile weiß, wie knapp der Zeitplan meiner Familie gesteckt ist.
»Welche Aufgaben hast du heute für mich?«, frage ich und stemme die Hände auf die Oberschenkel. Peinlich, dass ein Fünf-Minuten-Sprint mich jegliche Ausdauer kostet. Früher habe ich Fußball gespielt und davon geträumt, einmal in die Profiliga aufgenommen zu werden. Der Traum verschwand allerdings zusammen mit all den anderen, als Dad uns verließ. Er hat sie alle in einen Koffer gestopft und nie wieder zurückgebracht.
»Trink erst mal etwas«, sagt Brad mit einem kritischen Blick auf mein rot angelaufenes Gesicht und gießt mir Wasser aus einer Karaffe ein. Auch wenn Brad seine Zeit brauchte, um mit mir warm zu werden, ist er ein guter Betreuer. Jeder andere hätte meine Verspätungen schon an meinen Bewährungshelfer verpfiffen.
»Bezieh die Betten auf Station drei neu. Danach kannst du schauen, ob du Brenda behilflich sein kannst. Sie backt mit einigen Bewohnern in der Großküche.«
Ich nicke und verlasse Brads Büro, um mich an die Arbeit zu machen. Glücklicherweise beziehe ich Betten, seit ich dreizehn Jahre alt bin, daher brauche ich nicht lang, bis alle mit frischen Bezügen ausgestattet sind. Als ich runtergehe und die Küche betrete, sind die Bewohner schon fleißig dabei, ihren Teig anzurühren.
»Jake, wie schön!«, ruft Brenda strahlend. Sie ist Brads Frau und der Gegenpart zu seiner grummeligen Art. »Schau mal, ob du Benjamin und Judy unterstützen kannst, ich habe den Eindruck, dass einer den anderen gleich mit Eiern abwirft.« Brenda zuckt die Schultern. Sie kennt die Raufereien der beiden Senioren schon. Warum sie sich immer nebeneinandersetzen, obwohl sie sich ständig gegenseitig aufziehen, ist mir ein Rätsel.
»Jake, könntest du dem alten Mann hier bitte erklären, dass es in der heutigen Zeit ganz normal ist, dass Männer sich im Haushalt beteiligen?«, fragt Judy, die ihre rot gefärbten Haare wie üblich in einem Flechtzopf trägt.
»Alter Mann«, raunt Benjamin von der Seite. Er sitzt zurückgelehnt in seinem Stuhl und hat die Arme vor der Brust verschränkt. »Bist du nicht drei Jahre älter als ich?«
»Du bist unmöglich, Benjamin.«
Er zwinkert mir unauffällig zu, als ich mich neben ihn sinken lasse.
»Du musst mir versprechen, dass du deine Freundin mit Leckereien verwöhnst, wie du nur kannst«, meint Judy und gleitet mit dem Schneebesen durch den Teig.
»Deine Freundin?«, fragt Benjamin. »Wie heißt die Glückliche?«
»Das sage ich dir, wenn ich sie kennengelernt habe«, beantworte ich seine Frage schmunzelnd.
Ich folge Judys Anweisungen und schlage Eier hinzu.
»Mh. Hier hast du nicht sonderlich viele Möglichkeiten, ein nettes Mädchen kennenzulernen, was? Das Problem habe ich auch.« Benjamin lacht, und ich bemerke Judys schmale Augen. Er schiebt seinen Rollstuhl vom Tisch zurück und reckt den Hals. »Ich sehe mich mal nach Kaffee um.«
Judy stößt einen empörten Laut aus. »Siehst du! Das macht er die ganze Zeit. Immer Gründe suchen, um sich vor der Arbeit zu drücken.«
Ich grinse. Auf irgendeine Weise erinnern die beiden mich an ein lange verheiratetes Ehepaar. Aber wenn ich das jemals laut ausspreche, bin ich derjenige, der die Eier gegen die Stirn bekommt.
Nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken räume ich das Geschirr ab und helfe Brenda beim Spülen. Sie ist wieder einmal eifrig dabei, von ihren Enkelkindern zu schwärmen, doch ich kann nur mit einem Ohr zuhören, weil mich die Sache mit unserer Miete beschäftigt.
Warum hat Mum Mrs Hudgerson das Geld noch nicht überwiesen? Davon hat sie mir nie etwas erzählt. Natürlich hatten wir vor zwei Monaten noch Einkünfte durch meinen Job. Aber die Miete haben wir immer von ihrem Lohn bezahlt. Das Geld aus dem Supermarkt ging für den Haushalt drauf.
Sobald Maisie und Max im Bett sind, muss ich dringend mit ihr sprechen.
Nachdem wir das Essen ausgeteilt haben, darf ich in den Feierabend aufbrechen. Mehr als achtzig Prozent meiner Sozialstunden sind mit dem heutigen Tag abgeleistet. Es überrascht mich, dass mich diese Erkenntnis auf dem Heimweg beinahe traurig stimmt. Das hier soll schließlich meine Strafe sein. Wenn Strafen enden, sollte man sich freuen. Oder etwa nicht?
»Bin wieder da«, rufe ich in die Wohnung und streife meine Schuhe ab. Normalerweise begrüßen mich die Zwillinge überschwänglich, sobald ich zur Tür reinkomme. Aber Kinderstunde läuft, und da sind die beiden wie auf einem anderen Planeten. Grinsend betrachte ich meine Geschwister, die mit zwei Kissen auf dem Boden hocken und einer Katze dabei zusehen, wie sie einen Hund jagt.
»Nicht mal ein Hallo?« Keine Antwort. Was wohl passiert, wenn ich den Fernseher ausschalte?
»Hey Jake.« Mum kommt aus dem Badezimmer zurück und fällt erschöpft aufs Sofa. »Möchtest du noch etwas zu Abend essen?« Ihre Frage klingt schuldbewusst.
»Nein«, antworte ich daher. »Ich habe auf der Arbeit gegessen.« Habe ich nicht, doch das werde ich ihr nicht sagen. Weil sie diesen Blick ansonsten den ganzen Abend nicht mehr ablegt oder sogar in die Küche stürmt, um irgendwas zuzubereiten.
Ich greife in die Obstschale und suche nach dem Apfel, der die wenigsten dunklen Stellen aufweist. »Mum? Mrs Hudgerson war heute Mittag hier. Die Miete ist noch nicht überwiesen.«
Für einen kurzen Moment erkenne ich, wie ihre Mundwinkel nach unten sinken. Es sind nur wenige Sekunden, in denen der Schock ihr ins Gesicht geschrieben steht. Doch sie fängt sich schnell wieder. Als würde sie diese Aussage ungerührt lassen, zuckt sie die Schultern und sagt: »Ach, die lassen sich immer so viel Zeit bei der Bank. Ich habe die Miete gestern überwiesen. Morgen früh gehe ich zu Mrs Hudgerson rüber und erkläre ihr die Verspätung.«
Sie streicht sich hektisch eine Haarsträhne hinters Ohr und richtet den Blick auf den Fernseher. Ich verbiete mir, weiter nachzufragen. Wenn Mum meint, das Geld überwiesen zu haben, wird sie das auch getan haben. Es gibt keinen Grund, mich anzulügen.
Im Augenwinkel sehe ich den Brief, den Mum heute Mittag mit nach oben gebracht hat, und nehme ihn in die Hand.
Kein offizieller vom Amtsgericht. Nicht einmal von meinem Bewährungshelfer. Stattdessen lese ich einen Namen, der mir zwar bekannt vorkommt, jedoch Millionen Fragezeichen in mir hochschießen lässt.
Ivy Brooks
Mein Blick fällt auf meine eigene Adresse, die mit einem Sticker versehen wurde. War dieser Brief original etwa gar nicht an mich gerichtet? Ich puhle die Ecke des Aufklebers ab und entdecke unsere damalige Adresse in London. Die Adresse des Vorstadthauses, in dem wir gelebt haben, bevor mein Erzeuger abgehauen ist. Die neuen Bewohner haben ihn wohl an mich weitergeleitet.
Ich reiße den Umschlag auf und falte das Briefpapier auseinander.
Lieber Jake,
der letzte Brief ist lang her, was? Ich weiß nicht, ob du dich noch an unsere Brieffreundschaft erinnerst. Jedenfalls sind mir deine Briefe wieder in die Hände geraten, und ich habe mich daran erinnert, dass du mich früher Birdy genannt hast.
Birdy, weil Vögel fliegen können.
Ich habe mich gefragt, an welche Art von Vogel du dabei gedacht hast. Da es sich dabei um eine essenziell wichtige Information für meinen Lebenslauf handelt, freue ich mich auf deine Antwort.
Ivy … Birdy
O-kay? Meine Brieffreundin aus Kindheitstagen hat also beschlossen, unsere Verbindung neu aufleben zu lassen? Obwohl mindestens sieben Jahre zwischen jener Zeit und heute liegen müssten? Wenn es nicht sogar mehr sind.
Ich lasse den Brief sinken, beiße in meinen Apfel und denke angestrengt darüber nach, was dieses Mädchen von mir hören möchte.
Ich erinnere mich an meine Brieffreundschaft mit Ivy. Dennoch kommt es mir vor, als hätte sie in einem anderen Leben stattgefunden. Mum hatte mich damals dazu ermutigt, Brieffreundschaften zu beginnen, um an meiner Sozialkompetenz zu arbeiten. Nicht, weil ich schon damals ein Kleinkrimineller war, sondern wegen meiner Schüchternheit.
Ich habe mich auf jeden ihrer Briefe gefreut, weil sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit ziemlich coolen Zeichnungen versehen waren.
Erst mit dieser Erinnerung fällt mir auf, dass auch dieser Brief von einer kleinen Vogelzeichnung geschmückt ist. Sie ist im Inneren des Umschlags und wirkt fast wie gedruckt. Es handelt sich um einen Spatzen, wenn ich mich nicht täusche. Dads Lieblinge.
Ich habe noch genau in Erinnerung, wie Dad mir früher die Unterschiede der Vogelarten erklärt hat, wenn wir durch den Hyde-Park spazierten. Das waren meine liebsten Sonntage. Nur mein Vater und ich, Eiscreme und die freilebenden Tiere im Park. Jedes Mal, wenn dabei ein Vogel unseren Weg kreuzte, habe ich an sie denken müssen. Was ich Dad aber verschwieg. Schließlich war ich zwölf und verdammt nochmal zu cool, um für Mädchen zu schwärmen.
Ich schiebe den Brief mit der Erinnerung an meinen Vater beiseite. Sie gehört nicht mehr hierher. Genauso wenig wie die Briefe dieses Mädchens.
Brieffreundschaften passten in das Leben des damaligen Jake. Der Junge, der noch eine heile Familie hatte. Mit großem Haus in dem Vorort einer Stadt, mit grünem Garten und Eltern, die sich liebten.
Dieses Kapitel ist seit acht Jahren abgeschlossen.
Tut mir leid, Ivy. Vielleicht in einem anderen Leben.
Ich falte das Papier zusammen und setze mich zu meiner Familie auf die Couch.
KAPITEL VIER
JAKE
Als mein Freund Peter am Freitagabend unangekündigt vor der Tür stand, mit den Worten ›Ich hole dich für Chrissys Party ab‹, hätte ich alles dafür gegeben, um einen weiteren Abend auf meine Geschwister aufpassen zu müssen. Da allerdings Mum ihm geöffnet und schon verkündet hat, dass sie erst morgen früh arbeiten müsse, fiel meine Ausrede ins Wasser.
Tatsache ist, dass eine der letzten Partys an diesem Ort dazu geführt hat, dass mein Leben in eine Abwärtsspirale geriet. Ich bin nicht scharf darauf, daran erinnert zu werden.
»Hab Spaß«, hat meine Mutter gesagt, als wir davonzogen, und mich überkam das Gefühl, ein stummes ›Bitte‹ zwischen ihren Worten gehört zu haben. Jede andere Mutter hätte ihren Sohn, der mit Drogen in den Taschen erwischt wurde, vermutlich nirgendwo mehr hingelassen. Mum hingegen ist froh, dass ich auch noch ein Leben außerhalb unserer Familie führen kann. Na ja, zumindest einmal im Monat.
Jetzt stehe ich hier in dem verqualmten Keller von Chrissy, meiner Ex-Freundin, und warte darauf, dass der Abend vorübergeht.
»Hier, schnapp dir ein Bier«, ruft Peter und triezt mich in Richtung Kühlschrank. Seiner Meinung nach gehört zu jeder guten Party eine Gratwanderung an der Alkoholvergiftung. In meiner Schulzeit habe ich mich oft davon mitreißen lassen. Schließlich ließ mich der Rausch meist vergessen, wie beschissen alles war. Aber heute schäme ich mich regelrecht, betrunken in unser Apartment zu torkeln und bestenfalls noch die Zwillinge zu wecken. Sollen sie so ein Bild von ihrem Bruder bekommen? Es reicht, dass sie von meinem Gerichtstermin erfahren haben.
Peter drückt mir eine kühle Flasche Heineken in die Hand, und ich beschließe, dass es meine erste und einzige für diesen Abend bleibt.
Chrissys Kellerraum ist groß, beinhaltet eine eigene Theke, an der sich die Gäste in Selbstbedienung ihre Drinks mischen können, einen Billardtisch und Loungesessel. Auch wenn ihre Partys wöchentlich stattfinden, scheinen es die Menschen immer noch nicht leid zu sein, herzukommen. Es ist so etwas wie eine Tradition geworden.
Mit einem Seufzen stelle ich fest, dass die Sofas fast alle belegt sind. Das bedeutet, dass ich meinen Abend stehend hinter mich bringen muss.
»Achtung, Chrissy im Anmarsch«, raunt Peter und entfernt sich unauffällig aus meiner Nähe. Mieser Verräter.
Dann entdecke auch ich Chrissys leuchtend grüne Augen. Ich frage mich, warum sie noch immer funkeln, wenn sie mich sieht. Eigentlich sollte sie mich dafür hassen, dass ich unsere Beziehung nicht einmal drei Monate lang habe aufrechterhalten können.
»Jake Montgomery«, sagt sie mit einem anerkennenden Nicken und lächelt verschwörerisch. »Du auf einer Party? Wie lang ist das her? Zwei Jahre?«
»Nicht ganz«, erwidere ich, und ein merkwürdiges Schweigen breitet sich zwischen uns aus, weswegen ich hinterherschicke: »Mir war in letzter Zeit nicht nach Party zumute. Hatte anderes im Kopf.«
»Oh, davon habe ich gehört. Du wärst fast in den Knast gekommen, was?« Ihre Stimme hebt sich, als wäre sie beeindruckt von dem, was ich mir geleistet habe. Was gar nicht so unrealistisch ist. Nun sieht sie in mir den Badboy, den sie sich immer gewünscht hat. Den gebrochenen Mann, den ein Mädchen wie sie heilen kann. Eigentlich müsste ihr nach unserer Zeit längst klar sein, dass all das nur Fassade ist.
»Habe Sozialstunden bekommen«, entgegne ich knapp.
»Hm.« Sie fährt sich durch ihr schwarzes Haar. »Und bereust du’s?«
»Ob ich es bereue? Natürlich.« Mein Leben, das ohne den ganzen
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Clara Blais
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2023
ISBN: 978-3-96714-359-1
Alle Rechte vorbehalten