Mord in Montana
von
Peter Jonalik * Smokey Jonalik * Luna Jonalik
VORWORT
In den unendlichen Weiten Montanas, wo die Berge wie stille Wächter am Horizont stehen und die Prärien sich bis zum Rand des Himmels erstrecken, liegt eine tiefe Wahrheit verborgen: Isolation kann sowohl ein Zufluchtsort als auch ein Gefängnis sein. Diese Dualität ist der Kern dessen, was uns zum "Mord in Montana" führt – einer Geschichte, die sich in den Falten einer Landschaft entfaltet, die ebenso majestätisch wie unbarmherzig ist.
Der Mensch hat seit jeher versucht, die Geheimnisse der Wildnis zu entschlüsseln, sie zu zähmen und zu verstehen. Doch Montana, mit seinen unberührten Wäldern, kargen Plateaus und verborgenen Tälern, bewahrt seine Mysterien sorgsam. Es ist ein Land, das keine Fehler verzeiht, aber auch eines, das Heilung und Neuanfang bieten kann. Für Kathy "Shakti" Boxleitner ist es beides.
Als ich die Geschichte von Shakti zu Papier brachte, wurde mir bewusst, dass ich nicht nur einen Kriminalfall dokumentierte, sondern eine Reise der Selbstfindung und Erlösung. Shakti ist keine gewöhnliche Protagonistin. Mit ihrer spirituellen Grundhaltung und ihrem unkonventionellen Ansatz zur Verbrechensaufklärung repräsentiert sie einen neuen Typ der Ermittlerfigur in der Kriminalliteratur. Sie ist weder die abgehärtete, zynische Detektivin noch die naive Idealistin. Stattdessen ist sie eine Frau, die versucht, ihr zerrissenes Leben durch Meditation und Intuition neu zusammenzusetzen, während sie gleichzeitig die harte Realität eines Mordes konfrontieren muss.
Die Inspiration für "Mord in Montana" kam nicht aus einem einzelnen Ereignis, sondern aus der Faszination für die Kontraste, die diesen Bundesstaat definieren: die Spannung zwischen atemberaubender Schönheit und unbarmherziger Härte, zwischen traditionellen Werten und moderner Entwicklung, zwischen tief verwurzelten Gemeinschaften und zersplitterten Familien. Diese Gegensätze bilden den perfekten Hintergrund für einen psychologischen Thriller, der die dunkelsten Winkel der menschlichen Seele erkundet.
In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse zunehmend verschwimmen, wollte ich eine Geschichte erzählen, die diese Ambiguität nicht nur anerkennt, sondern sie zum zentralen Element macht. Jeder Charakter in "Mord in Montana" trägt sowohl Licht als auch Schatten in sich. Sheriff Lyle Blogett mag korrupt sein, aber seine Handlungen entspringen einem verdrehten Sinn für Loyalität gegenüber seiner Gemeinde. Forest Volner versteckt seine Dunkelheit hinter einer Fassade der Gemütlichkeit, während Molly Runningwolf ihre persönlichen Traumata hinter professioneller Distanz verbirgt.
Die Figur des Bentley Boxleitner verkörpert den idealistischen Kampf gegen ein System, das oft gegen die Schwachen und für die Mächtigen arbeitet. Als Tierschützer und Fotograf hat er ein Auge für die Wahrheit entwickelt, aber sein Temperament und seine Impulsivität machen ihn angreifbar. Seine Verhaftung wegen eines Mordes, den er nicht begangen hat, ist nicht nur ein juristisches Drama, sondern eine Metapher für den Konflikt zwischen Idealismus und Realität, zwischen persönlicher Wahrheit und öffentlicher Wahrnehmung.
Matt Dillon, der schlaksige Anwalt mit dem Cowboy-Charme, steht symbolisch für die moralische Ambivalenz, die oft notwendig ist, um in einer unvollkommenen Welt Gerechtigkeit zu erreichen. Sein Verhältnis zu Shakti entwickelt sich langsam und vorsichtig – zwei verwundete Seelen, die in einer feindseligen Umgebung Vertrauen aufbauen müssen.
"Mord in Montana" ist mehr als nur ein Kriminalroman. Es ist eine Erkundung von Schuld und Vergebung, von Verrat und Erlösung. Es ist eine Geschichte über die Macht des Schweigens in kleinen Gemeinschaften und die Kraft, die nötig ist, um dieses Schweigen zu brechen. Es handelt von den Geheimnissen, die wir vor anderen verbergen, und den Wahrheiten, denen wir uns selbst nicht stellen wollen.
Die Struktur des Romans folgt bewusst keinem linearen Pfad. Wie Shaktis eigene spirituelle Reise bewegt sich die Erzählung in Spiralen, kehrt zu bestimmten Themen und Orten zurück, gewinnt jedes Mal an Tiefe und Bedeutung. Die Mine, in der einst der verschwundene Goldgräber Swifty arbeitete, wird zum symbolischen Zentrum – ein dunkler Ort, tief in der Erde, wo vergrabene Wahrheiten ans Licht kommen müssen.
Während der Recherche für diesen Roman verbrachte ich Monate in den kleinen Städten Montanas, sprach mit Einheimischen, besuchte verlassene Minen und lernte die komplexe Dynamik kennen, die diese isolierten Gemeinschaften prägt. Ich beobachtete, wie moderne Entwicklungen – symbolisiert durch Figuren wie Mike Martin und die karikaturhafte Darstellung von Donald Trump Jr. – auf traditionelle Lebensweisen treffen und dabei sowohl Widerstand als auch opportunistische Anpassung hervorrufen.
Die spirituelle Dimension von Shaktis Charakter kam nicht von ungefähr. In unserer zunehmend rationalen, datengetriebenen Gesellschaft wollte ich eine Protagonistin schaffen, die einen anderen Zugang zur Wahrheit findet – durch Meditation, Intuition und das, was ihr spiritueller Lehrer Punjan Singh das "dritte Auge" nennt. Diese Perspektive erlaubt es Shakti, Verbindungen zu sehen, die anderen verborgen bleiben, und Fragen zu stellen, die über das Offensichtliche hinausgehen.
Der Rabe Kevin, der als mystischer Begleiter durch die Geschichte fliegt, verkörpert diese Verbindung zwischen der materiellen und der spirituellen Welt. In vielen Kulturen gelten Raben als Boten zwischen den Welten, als Träger von Geheimnissen und Weisheit. Für Shakti werden Kevins erscheinende schwarze Federn zu Wegweisern auf ihrer Suche nach Wahrheit.
"Mord in Montana" fordert die Leser heraus, über die Natur von Schuld und Unschuld nachzudenken. In einer Welt, in der Beweise manipuliert, Zeugen eingeschüchtert und Wahrheiten verdreht werden können, was bedeutet es dann, "schuldig" oder "unschuldig" zu sein? Kann ein System, das auf menschlichem Urteilsvermögen basiert, jemals wirklich gerecht sein?
Es ist auch eine Geschichte über Heilung – nicht die plötzliche, dramatische Art, sondern die langsame, mühsame Arbeit des Wieder-Ganz-Werdens. Shakti trägt die Narben ihrer Vergangenheit, sowohl die selbst zugefügten als auch die, die ihr von anderen beigebracht wurden. Ihre Reise nach Montana ist nicht nur eine Mission, um ihren Bruder zu retten, sondern auch ein Weg, um mit ihrer eigenen Geschichte Frieden zu schließen.
Am Ende ist "Mord in Montana" ein Plädoyer für Mitgefühl in einer zunehmend polarisierten Welt. Es ist leicht, Menschen in Kategorien einzuteilen – Gut oder Böse, Freund oder Feind. Aber die Realität ist komplexer, und wahre Gerechtigkeit erfordert das Verständnis dieser Komplexität. Selbst die dunkelsten Charaktere im Roman haben ihre Momente der Menschlichkeit, und selbst die edelsten haben ihre Schwächen.
Ich lade Sie ein, sich auf diese Reise durch die physischen und psychologischen Landschaften Montanas einzulassen. Folgen Sie Shakti, während sie nicht nur einen Mord aufklärt, sondern auch sich selbst wiederentdeckt. Und vielleicht werden Sie, wie sie, feststellen, dass die tiefsten Wahrheiten oft in den unwahrscheinlichsten Orten verborgen liegen – in verlassenen Minen, in alten Tagebüchern, in den Augen eines Raben und in den stillen Momenten zwischen den Gedanken.
Willkommen in Montana. Die Wahrheit wartet.
Dorsten, den 02.05.2025
Die Autoren
EINFÜHRUNG
Die Boxleitner-Geschwister wuchsen in einer Welt auf, in der Abenteuer nicht nur in Büchern existierten, sondern um jede Ecke lauerten. Kathy und Bentley, mit nur zwei Jahren Altersunterschied, entwickelten früh ein Gespür für Geheimnisse und ungelöste Rätsel. Ihre Kindheit in Berkeley, Kalifornien, war geprägt von intellektueller Neugier und dem Glauben, dass es hinter jeder Fassade etwas zu entdecken gab.
Es war während eines langen Sommers auf der Ranch ihrer Tante Agnes in Montana, als ihr Interesse an Detektivarbeit eine konkrete Form annahm. Die weitläufige Landschaft, mit ihren versteckten Canyons, verlassenen Minen und verschlafenen Kleinstädten, bot den perfekten Hintergrund für ihre kindlichen Ermittlungen. Sie verfolgten Tierspuren, kartierten verlassene Gebäude und lauschten heimlich den Gesprächen der Erwachsenen, immer auf der Suche nach dem nächsten Mysterium.
Tante Agnes, eine burschikose Frau mit wettergegerbtem Gesicht und einem Lachen, das die Vögel von den Bäumen scheuchte, förderte ihre Abenteuerlust. "Montana bewahrt seine Geheimnisse gut", pflegte sie zu sagen, während sie ihnen Geschichten von verschwundenen Prospektoren, verborgenen Goldadern und ungelösten Mordfällen erzählte. Für die jungen Boxleitners waren diese Geschichten mehr als nur Unterhaltung – sie waren Einladungen zu eigenen Entdeckungen.
An einem besonders heißen Augusttag stießen die Geschwister auf eine verwitterte Holzhütte tief in einer bewaldeten Schlucht der Ranch. Die Tür hing schief in den Angeln, und drinnen fanden sie ein verstaubtes Tagebuch, halb verborgen unter den morschen Dielen. Es gehörte einem Mann namens Hank "Swifty" Marlow, einem Goldsucher, der vor Jahrzehnten in der Gegend gearbeitet hatte. Die letzten Einträge sprachen von einer reichen Goldader und der Angst vor jemanden, der nur als "der Bär" bezeichnet wurde.
Als die Kinder Agnes von ihrer Entdeckung erzählten, nahm ihr Gesicht einen seltsamen Ausdruck an. "Manche Dinge sollten besser begraben bleiben", sagte sie und konfiszierte das Tagebuch. Der Vorfall hinterließ einen bleibenden Eindruck bei den Geschwistern, insbesondere bei Kathy, die von da an von wiederkehrenden Träumen über dunkle Tunnel und glitzernde Goldadern heimgesucht wurde.
Die Jahre vergingen, und die Wege der Geschwister trennten sich zeitweise. Bentley, der immer eine tiefe Verbindung zur Natur verspürt hatte, wurde ein talentierter Fotograf für National Geographic, spezialisiert auf Wildtiere und bedrohte Ökosysteme. Seine Leidenschaft für den Tierschutz brachte ihn oft in Konflikt mit lokalen Behörden und Industrieinteressen, aber seine beeindruckenden Bilder sprachen eine Sprache, die über politische Grenzen hinweg verständlich war.
Kathy hingegen beschritt einen weniger geradlinigen Weg. Nach einem vielversprechenden Start an der Universität von Kalifornien geriet sie in eine Phase der Rebellion und Selbstfindung. Eine Verhaftung wegen zivilen Ungehorsams bei einer Umweltdemonstration führte zu einer Bewährungsstrafe, die ihre beruflichen Möglichkeiten einschränkte. Die Enttäuschung ihrer Eltern und das Gefühl des Versagens trieben sie in eine Phase der Depression und Selbstzweifel.
Die Wende kam, als Kathy den charismatischen Sikh-Lehrer Punjan Singh traf, der ihr half, inneren Frieden durch Meditation und spirituelle Praxis zu finden. Unter seiner Anleitung begann sie, die Verbindung zwischen ihrem analytischen Verstand und ihrer intuitiven Wahrnehmung zu erforschen. Sie nahm den spirituellen Namen "Shakti" an – ein Begriff aus dem Sanskrit, der göttliche weibliche Energie und Kraft symbolisiert.
Während dieser Zeit der Transformation entdeckte Shakti ihre Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, die anderen verborgen blieben. Was als scheinbar zufällige Eingebungen begann, entwickelte sich zu einer bemerkenswerten Gabe für Deduktion und Intuition. Punjan Singh ermutigte sie, diese Fähigkeiten zu nutzen, um anderen zu helfen, und so begann Shakti, als Privatdetektivin zu arbeiten, zunächst für Freunde und später für eine kleine, aber wachsende Klientel.
Ihre Methoden waren unkonventionell. Während andere Detektive auf Technologie und forensische Wissenschaft setzten, verließ sich Shakti auf Meditation, genaue Beobachtung und was Punjan Singh als "das dritte Auge" bezeichnete – die Fähigkeit, über das Offensichtliche hinauszusehen und tiefere Wahrheiten zu erkennen. Ihr Ansatz brachte ihr sowohl Bewunderung als auch Skepsis ein, aber ihre Erfolgsquote bei der Lösung komplexer Fälle sprach für sich.
Bentley beobachtete die Verwandlung seiner Schwester mit einer Mischung aus Stolz und Verwunderung. Obwohl er selbst nicht spirituell veranlagt war, respektierte er ihren Weg und freute sich, dass sie endlich ihren Platz in der Welt gefunden hatte. Die Geschwister blieben eng verbunden, trotz ihrer unterschiedlichen Lebensweisen und geografischen Trennung.
Es war daher keine Frage, dass Shakti alles stehen und liegen ließ, als Bentleys verzweifelter Anruf aus Montana kam. Er war verhaftet worden, beschuldigt des Mordes an Caleb Hegg, einem lokalen Rancher, mit dem er wegen Tierschutzfragen in Konflikt geraten war. Die Beweise gegen ihn waren erdrückend: seine Kamera wurde am Tatort gefunden, seine Fingerabdrücke waren auf der Mordwaffe, und mehrere Zeugen hatten gesehen, wie er am Tag des Mordes in der Nähe von Heggs Ranch war.
Für Sheriff Lyle Blogett war der Fall klar: ein radikaler Umweltschützer aus Kalifornien hatte einen respektierten lokalen Rancher ermordet. Aber Shakti kannte ihren Bruder. Trotz seines aufbrausenden Temperaments und seiner starken Überzeugungen war er kein Mörder. Und so packte sie ihre wenigen Habseligkeiten, nahm das Geld, das Punjan Singh ihr großzügig anbot, und machte sich auf den Weg nach Montana, um die Wahrheit zu finden.
Was als einfache Mission begann – die Unschuld ihres Bruders zu beweisen – würde sich bald in ein Labyrinth aus alten Geheimnissen, korrupten Autoritäten und unerwarteten Verbündeten verwandeln. Und tief in diesem Labyrinth lag eine Wahrheit, die mit dem verschwundenen Goldgräber Swifty, einer verlassenen Mine und einem Tagebuch verbunden war, das sie als Kind entdeckt hatte.
Die Geschichte von Kathy "Shakti" Boxleitner ist mehr als nur ein Krimi. Es ist eine Erzählung über Mut, Entschlossenheit und die Kraft der Wahrheit. Es ist ein Beweis dafür, dass es nie zu spät ist, sein Leben zu ändern und seinen wahren Weg zu finden. Und vor allem ist es eine Erinnerung daran, dass die tiefsten Geheimnisse oft nicht in der Dunkelheit verborgen sind, sondern im Licht der Erkenntnis – wenn wir nur die Augen öffnen, um sie zu sehen.
PROLOG
Der Rabe kam kurz vor Sonnenuntergang.
Er landete auf dem verwitterten Scheunengiebel mit einem sanften Flattern schwarzer Flügel, sein Kopf zur Seite geneigt, als beobachte er die Szene mit besonderem Interesse. Unten, am Fuße der alten Scheune, kniete ein Mann über einer regungslosen Gestalt.
Die Hände des Mannes zitterten, als er den Puls am Hals des Liegenden prüfte, obwohl die klaffende Wunde am Kopf und die unnatürliche Haltung bereits eine deutliche Sprache sprachen. Ein leises Fluchen entwich seinen Lippen, als er sich aufrichtete und nervös den dunkler werdenden Himmel betrachtete.
Der Rabe krächzte einmal, ein durchdringendes Geräusch, das den Mann zusammenzucken ließ. Er schaute hoch, seine Augen trafen die des Vogels, und für einen Moment schien etwas zwischen ihnen zu kommunizieren – eine stille Anerkennung des Todes, der sie verband.
"Verdammter Vogel", murmelte der Mann und wandte sich wieder dem Körper zu. Mit methodischer Präzision begann er, die Taschen des Toten zu durchsuchen, nahm eine Brieftasche, ein Handy und einen kleinen Notizblock heraus. Er stopfte alles in seine eigene Jackentasche, bevor er eine letzte, prüfende Umschau hielt.
Die Berglandschaft Montanas erstreckte sich in alle Richtungen, majestätisch und gleichgültig. Die untergehende Sonne tauchte die schneebedeckten Gipfel in ein blutiges Rot, während die Täler bereits in Schatten versanken. Keine Menschenseele weit und breit – nur der Mann, der Tote und der beobachtende Rabe.
Mit einem entschlossenen Ruck hob der Mann den leblosen Körper auf und trug ihn zu einem Pickup-Truck, der versteckt zwischen den Bäumen stand. Er lud ihn auf die Ladefläche und bedeckte ihn hastig mit einer Plane, bevor er sich hinters Steuer setzte. Der Motor heulte auf, und der Truck verschwand in einer Staubwolke den unbefestigten Weg hinunter.
Der Rabe erhob sich in die Luft, kreiste einmal über der verlassenen Scheune und folgte dann dem Fahrzeug in sicherer Entfernung.
Zehn Meilen entfernt saß Kathy "Shakti" Boxleitner im Schneidersitz auf dem abgenutzten Teppich ihres Motelzimmers. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem gleichmäßig und tief. Die Dämmerung außerhalb des Fensters spiegelte sich in der Stille ihres Geistes wider – ein Übergang, ein Schwellenmoment zwischen Tag und Nacht, zwischen bewusstem Denken und tieferer Wahrnehmung.
Ihre morgendliche Meditation war immer ein Anker gewesen, ein Weg, um ihr "Affenhirn" – wie Punjan Singh es nannte – zur Ruhe zu bringen. Aber seit ihrer Ankunft in Montana vor drei Tagen waren ihre Meditationen unruhig, durchzogen von Bildern und Empfindungen, die sie nicht einordnen konnte. Tunnelvisionen, das Gefühl von kalter Erde unter den Fingernägeln, das Echo von Schritten in leeren Korridoren.
Ein plötzlicher Windstoß ließ das Fenster klappern, und Shaktis Augen öffneten sich. Auf dem Fensterbrett, deutlich sichtbar gegen das verblassende Abendlicht, lag eine einzelne schwarze Feder.
Ein Omen?
Sie lächelte leicht, als sie Punjans Stimme in ihrem Kopf hörte: "Omens sind wie Tinder-Matches, Shakti – 99 Prozent Schwindel. Aber manchmal, nur manchmal, findet man etwas Echtes."
Sie stand auf und nahm die Feder in die Hand, drehte sie zwischen ihren Fingern. Eine Rabenfeder. In vielen spirituellen Traditionen ein Symbol für Transformation, für den Übergang zwischen Welten.
Ihr Blick wanderte zu den Unterlagen, die auf dem schmalen Motelbett ausgebreitet waren – Polizeiberichte, Fotos vom Tatort, handschriftliche Notizen, die sie während ihrer Gespräche mit Matt Dillon, dem Anwalt ihres Bruders, gemacht hatte. Bentleys Situation sah nicht gut aus. Sheriff Blogett hatte den Fall schnell abgeschlossen, unterstützt von einer Gemeinschaft, die den kalifornischen Tierschützer von Anfang an mit Misstrauen betrachtet hatte.
"Er wurde am Tatort gesehen", hatte Matt ihr erklärt, sein hageres Gesicht ernst im fluoreszierenden Licht des Besucherraums des Gefängnisses. "Seine Kamera wurde neben der Leiche gefunden. Die Mordwaffe trägt seine Fingerabdrücke. Und er hatte ein bekanntes Motiv – Hegg hatte gedroht, ihn anzuzeigen, weil er illegal auf seinem Land fotografiert hatte."
"Mein Bruder ist viele Dinge", hatte Shakti geantwortet, "aber er ist kein Mörder."
Matt hatte nur geseufzt. "In Montana zählt nicht, was er ist oder nicht ist. Es zählt, was Sheriff Blogett denkt, dass er ist."
Das Klingeln ihres Handys riss Shakti aus ihren Gedanken. Ein Blick auf das Display zeigte eine unbekannte lokale Nummer.
"Shakti Boxleitner", antwortete sie, die Rabenfeder noch immer zwischen ihren Fingern.
"Miss Boxleitner?" Die Stimme am anderen Ende war weiblich, leise und angespannt. "Sie kennen mich nicht, aber ich... ich habe Informationen über den Fall Ihres Bruders. Informationen, die Sheriff Blogett versucht zu vertuschen."
Shakti setzte sich aufrecht hin, ihr Herzschlag beschleunigte sich. "Wer ist da?"
Eine kurze Pause. "Mein Name ist nicht wichtig. Was wichtig ist, ist, dass ich weiß, dass Ihr Bruder unschuldig ist. Und ich kann beweisen, dass die Beweise manipuliert wurden."
"Warum erzählen Sie mir das? Warum nicht der Staatsanwaltschaft oder..."
"Weil ich meinem Mann nicht vertraue", unterbrach die Frau sie. "Und weil ich nicht will, dass meine Töchter in einer Stadt aufwachsen, wo ein Unschuldiger für ein Verbrechen bezahlt, das er nicht begangen hat."
Shakti's Verstand arbeitete schnell, versuchte die Puzzleteile zusammenzusetzen. Eine Frau, die ihrem Mann nicht vertraute, jemand mit Zugang zu Informationen über den Fall...
"Sie sind Penny Sue Volner", sagte sie schließlich. "Die Frau des Hilfssheriffs."
Ein scharfes Einatmen auf der anderen Seite bestätigte ihre Vermutung.
"Treffen Sie mich in einer Stunde bei der alten Swifty-Mine", sagte Penny Sue hastig. "Kommen Sie allein. Und sagen Sie niemandem, wohin Sie gehen."
Bevor Shakti antworten konnte, hatte die Frau aufgelegt.
Sie starrte auf das stumme Telefon in ihrer Hand, dann wieder auf die Rabenfeder. Ein Omen, in der Tat.
Shakti griff nach ihrer Jeansjacke und dem kleinen Notizbuch, das sie immer bei sich trug. Falls Penny Sue tatsächlich Beweise hatte, die Bentley entlasten konnten, musste sie dieses Treffen wahrnehmen – trotz der offensichtlichen Risiken.
Als sie zur Tür ging, bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Fenster. Ein großer schwarzer Rabe saß dort, wo zuvor die Feder gelegen hatte, seine glänzenden Augen direkt auf sie gerichtet.
"Kevin?", flüsterte sie, den Namen verwendend, den sie und Bentley als Kinder einem besonders zutraulichen Raben auf der Ranch ihrer Tante gegeben hatten.
Der Vogel neigte seinen Kopf leicht, fast wie eine Bestätigung, bevor er sich in die Luft erhob und in den nun dunklen Himmel verschwand.
Shakti atmete tief ein und öffnete die Tür. Die Nachtluft Montanas empfing sie kühl und klar, gefüllt mit dem Duft von Kiefern und dem fernen Versprechen von Regen. In der Ferne grollte der Donner, als spiegle er die Unruhe in ihrer eigenen Brust wider.
Sie wusste nicht, was sie bei der Swifty-Mine erwarten würde, aber sie wusste, dass dieser Moment der Beginn von etwas war – einer Reise, die sie tief in die Geheimnisse Montanas führen würde... und vielleicht auch in die Dunkelheit der menschlichen Seele.
Mit festem Schritt ging sie zu ihrem gemieteten Wagen, die Rabenfeder sicher in ihrer Tasche verstaut, ein Talisman gegen die Schatten, die vor ihr lagen.
In den Bergen über der Stadt beobachtete ein einzelner Rabe ihren Aufbruch, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzte, seine schwarzen Flügel ein Schattenschlag gegen den sternenbesetzten Himmel.
Die Jagd hatte begonnen.
Kapitel 1: Das Elchkopf-Omen
Der Geruch von Räucherstäbchen hing schwer in der Luft des Meditationsraums, als Kathy "Shakti" Boxleitner ihre Augen schloss. Das gedämpfte Licht malte honigfarbene Schatten auf die Gesichter der fünf Senioren, die im Halbkreis vor ihr saßen. Ihre Atemzüge wurden langsamer, ihre schmalen Schultern entspannten sich unter der batikbedruckten Tunika.
"Atmet tief ein... und wieder aus", flüsterte sie, ihre Stimme wie Samt in der Stille des Raumes. "Stellt euch vor, ihr seid ein Blatt, das sanft auf einem Fluss treibt..."
Shakti war in ihrem Element. Mit 27 Jahren und gerade mal 165 Zentimetern war sie keine imposante Erscheinung, aber wenn sie den Meditationsraum des Berkeley Zentrums betrat, füllte ihre Präsenz jeden Winkel aus. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem losen Knoten gebunden, einzelne Strähnen umrahmten ihr Gesicht wie ein lebendiger Heiligenschein.
Als Bhakta – eine Suchende auf dem spirituellen Pfad – hatte sie gelernt, im Einklang mit sich selbst zu leben. Die Welt konnte brennen, doch Shakti blieb gelassen. Meistens jedenfalls.
"Lasst alle Gedanken ziehen wie Wolken am Himmel", fuhr sie fort und spürte, wie sie selbst in die tiefe Meditation glitt. "Ihr seid nur Beobachter eurer Gedanken, nicht ihre Gefangenen..."
Die Worte flossen aus ihr heraus, während sie selbst tiefer und tiefer sank. Ihr Bewusstsein weitete sich, wurde schwerelos. Es war die süße Leere, die sie so liebte.
Dann sah sie ihn.
Der Mann mit dem Elchkopf erschien so plötzlich in ihrem geistigen Auge, als hätte jemand einen Film eingeschaltet. Er lag auf dem Boden, sein Körper menschlich, aber der Kopf – ein gewaltiger Elchschädel mit einem imposanten Geweih. Er wand sich, zuckte, seine Glieder verdrehten sich in unmöglichen Winkeln. Kein Ton kam über seine Lippen, aber Shakti konnte seinen Schrei spüren, wie er durch ihren eigenen Körper hallte.
Ihre Augen flogen auf. Der Schweiß perlte auf ihrer Stirn, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen wie ein gefangener Vogel.
"Shakti? Geht es dir gut, Kindchen?" Martha, 78 Jahre alt und die älteste der Gruppe, beugte sich besorgt vor, ihre faltigen Hände auf den Knien gefaltet.
Shakti zwang sich zu einem Lächeln. "Ja, natürlich. Manchmal... manchmal kommen unerwartete Bilder hoch." Sie strich sich eine schweißnasse Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das ist nur ein Zeichen, dass wir tiefer eintauchen."
*Oder ein böses Omen*, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Shakti schob den Gedanken beiseite. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie würde sich später damit befassen.
"Wo waren wir? Ah ja – stellt euch vor, wie eure Sorgen davonschwimmen..."
Die restliche Stunde zog sich wie Kaugummi. Als der letzte Senior den Raum verließ – Herbert, der immer einen Witz über Zen-Buddhisten und Pizzabäcker auf den Lippen hatte – stürzte Shakti zum Büro ihres Lehrers.
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Punjan Singh saß hinter seinem winzigen Schreibtisch, eine gigantische Gestalt in einem zu kleinen Raum. Sein rosafarbener Turban leuchtete beinahe neonfarben unter dem flackernden Neonlicht. Sein wallender weißer Bart war akribisch gepflegt, und seine Augen funkelten, als Shakti hereinstürmte.
"Ah, kleine Shakti", begrüßte er sie mit seiner tiefen Stimme. "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." Er trank einen Schluck aus seinem Star-Wars-Thermobecher – ein Geschenk von einem seiner Schüler, das er nie ohne war.
"Schlimmer", keuchte Shakti und ließ sich auf den abgewetzten Besucherstuhl fallen. "Ich hatte eine Vision. Einen Mann mit einem Elchkopf. Er litt Qualen, Punjan. Es war..." Sie schüttelte sich. "Es fühlte sich so real an."
Punjan nahm einen weiteren Schluck und stellte den Becher ab. "Nun, was hat Yoda immer gesagt? 'Schwer zu sehen, die dunkle Seite ist.'" Er schmunzelte über seinen eigenen Witz.
"Das ist nicht witzig!", protestierte Shakti. "Was, wenn es ein Omen ist? Was, wenn etwas Schreckliches passieren wird?"
Der alte Sikh lehnte sich zurück, sein Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. "Omens sind wie Tinder-Matches, meine Liebe – 99 Prozent reiner Schwindel."
"Aber das eine Prozent...?"
"Ist manchmal ein Treffer, ja." Er strich sich nachdenklich durch den Bart. "Aber meistens sind solche Visionen nur das Ergebnis eines überaktiven Geistes. Du hast, wie ich es nenne, ein 'Affenhirn'."
Shakti verzog das Gesicht. "Ein Affenhirn?"
"Ja, deine Gedanken springen herum wie ein Affe von Ast zu Ast." Er demonstrierte mit seinen Händen wilde springende Bewegungen. "Bei der tiefen Meditation kann das zu... interessanten Ergebnissen führen."
Sie sank erleichtert zurück. "Also denkst du, es hat nichts zu bedeuten?"
"Das habe ich nicht gesagt." Er hob einen weisen Finger. "Aber es muss auch nicht gleich der Weltuntergang sein." Er reichte ihr einen Keks aus einer Schublade. "Hier, das hilft immer."
Shakti lächelte schwach. "Ich sollte lieber nicht... meine Schokoladeneissucht ist schon schlimm genug."
"Ah, dein ewiger Kampf." Er schob den Keks näher. "Ein Keks wird dich nicht umbringen."
Sie nahm ihn dankbar und knabberte daran. "Du hast wahrscheinlich recht. Ich mache mir zu viele Gedanken."
"Das tust du immer, kleine Shakti. Das tust du immer."
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In ihrer winzigen Wohnung in Berkeley starrte Shakti die Uhr an: 23:47 Uhr. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zum Kühlschrank. Sie wusste genau, was sich dahinter verbarg: Nichts. Kein Schokoladeneis weit und breit.
*Gott sei Dank*, dachte sie. Ihre letzte Ben & Jerry's-Episode hatte drei Tage gedauert und mit einer spirituellen Krise geendet. Die Zuckersucht war ihre persönliche Nemesis, ihr Kryptonit.
"Meditation", murmelte sie zu sich selbst. "Das wird helfen."
Sie setzte sich auf ihr Meditationskissen, zündete eine Kerze an und schloss die Augen. Der Duft von Sandelholz umhüllte sie. Ihre Atmung verlangsamte sich, ihre Gedanken wurden ruhiger...
...und dann war sie woanders.
Ein Raum. Kalt. Klinisch. Die Wände in einem hässlichen Grünton gestrichen. In der Mitte stand eine Liege, darauf ein Mann, festgeschnallt mit Lederriemen. Um ihn herum standen Männer in Uniformen.
Ein Hinrichtungsraum.
Der Mann auf der Liege zerrte an seinen Fesseln, sein Gesicht verzerrt vor Angst. "Kathy!", schrie er. "KATHY!"
Shakti erstarrte. Niemand nannte sie mehr Kathy. Außer...
Das Gesicht des Mannes drehte sich zu ihr, und obwohl sie nicht wirklich dort war, konnte sie direkt in seine Augen sehen. Bentley. Ihr Bruder.
Mit einem erstickten Schrei tauchte sie aus der Meditation auf, schwer atmend, ihr Herz raste wie wild. Das konnte nicht sein. Sie musste sich irren. Bentley war... wo war Bentley eigentlich?
Sie griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Es klingelte. Und klingelte. Keine Antwort.
"Verdammt, Bent", flüsterte sie, während die Angst in ihr aufstieg wie eine Flutwelle. Sie versuchte es wieder. Nichts.
Ohne nachzudenken, schlüpfte sie in ihre Schuhe, schnappte sich ihre Fahrradschlüssel und stürmte aus der Tür. Die kühle Nachtluft Berkeleys schlug ihr ins Gesicht, als sie zu ihrem alten Fahrrad eilte. Bentleys Wohnung war nur ein paar Blocks entfernt.
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Der süßliche Geruch von Marihuana schlug ihr entgegen, als Ulrike die Tür öffnete. Bentleys deutsche Freundin – oder Ex-Freundin, je nachdem, welcher Wochentag war – lehnte im Türrahmen, ihre Augen gerötet und halb geschlossen.
"Shakti!" Sie dehnte den Namen zu etwas, das wie "Schaaaaaktiiii" klang. "Kommst du, um mit uns zu kiffen?"
"Ist Bentley da?", fragte Shakti und schob sich an der Frau vorbei in die Wohnung.
"Nööö", antwortete Ulrike träge und schloss die Tür. "Er ist weg. Auf Mission." Sie kicherte, als hätte sie einen großartigen Witz gemacht.
"Welche Mission? Wo ist er hin?"
Ulrike zuckte mit den Schultern und ließ sich aufs Sofa fallen. "Sagte was von Elchen und Fotoshooting. Keine Ahnung. Bin nicht seine Sekretärin."
Shakti ging zielstrebig zu Bentleys Schreibtisch. Ihr Bruder war zwar ein chaotisches Genie, aber seine Arbeit organisierte er penibel. Sie fand, wonach sie suchte, in der obersten Schublade: eine Mappe mit der Aufschrift "National Geographic – Elchjagd Montana".
Sie blätterte hastig durch die Unterlagen. Eine E-Mail vom Redakteur, Kartenausdrucke, Recherchematerial über eine Anti-Jagd-Demonstration in Virginia City, Montana.
"Er hat mir versprochen, keine Anti-Jagd-Demos mehr zu besuchen", sagte Shakti mehr zu sich selbst als zu Ulrike. Das letzte Mal war er mit einem blauen Auge und einer gebrochenen Rippe nach Hause gekommen.
"Er ist ein großer Junge", nuschelte Ulrike vom Sofa aus. "Kann tun, wassermill."
Shakti griff nach dem Telefon auf Bentleys Schreibtisch und wählte die Nummer des National Geographic Büros. Es war weit nach Mitternacht, aber bei einem so großen Magazin musste jemand erreichbar sein.
Nach einem kurzen Gespräch mit einem sehr überraschten Nachtredakteur hatte sie die Information, die sie brauchte: Bentley war tatsächlich auf dem Weg nach Virginia City, Montana. Er wollte Fotos von einer Demonstration gegen die Elchjagd machen und würde vermutlich irgendwo im Freien campen, wo er nicht erreichbar war.
"Elche", murmelte Shakti und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. *Der Mann mit dem Elchkopf.*
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"Montana?!" Punjan Singh starrte sie ungläubig an. Es war fast zwei Uhr morgens, aber der Sikh hatte die Tür des Meditationszentrums geöffnet, als hätte er sie erwartet. "Du willst mitten in der Nacht nach Montana fahren?"
"Ich muss, Punjan", sagte Shakti mit fester Stimme. "Die Visionen... sie waren eine Warnung. Bentley ist in Gefahr."
Punjan kratzte sich am Bart. Ohne seinen Turban, nur mit einem schlichten Tuch über dem Haar, sah er weniger imposant aus. "Du weißt, dass ich nicht an Zufälle glaube", sagte er langsam. "Wenn Gott dir Botschaften schickt, darfst du sie nicht ignorieren."
Er öffnete eine Schublade, zog seine abgewetzte Brieftasche heraus und reichte ihr alles, was er an Bargeld hatte – es waren nicht mehr als hundert Dollar. Dann zog er einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.
"Nimm den Van des Zentrums", sagte er und drückte ihr die Schlüssel in die Hand. "Er hat schon bessere Tage gesehen, aber er wird dich nach Montana bringen."
Tränen stiegen in Shaktis Augen auf. "Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."
"Du kannst mir danken, indem du zurückkommst. Mit deinem Bruder." Er ging zu einem Schrank, öffnete ihn und nahm ein großes goldenes Medaillon heraus. "Und nimm das hier mit."
Es war ein wunderschönes Amulett mit dem Bild der göttlichen Mutter. "Aber Punjan, das ist dein wertvollstes Stück..."
"Deshalb sollst du es ja haben", sagte er mit einem Lächeln. "Es wird dich daran erinnern, zu beten und immer an Gott zu denken."
Sie umarmten sich lange, und als sie sich lösten, sah Shakti Tränen in den Augen des alten Mannes glitzern.
"Pass auf dich auf, kleine Shakti", flüsterte er. "Montana kann ein rauer Ort sein."
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Der Schnee fiel dicht und unerbittlich, als Bentley Boxleitner die Stadtgrenze von Virginia City überfuhr. Die Scheibenwischer seines alten Kompaktwagens kämpften einen verzweifelten Kampf gegen die weißen Flocken.
"Scheiße", murmelte er, während er sich vorbeugte, um durch die beschlagene Windschutzscheibe zu spähen. "Warum zum Teufel hab ich mir keinen Wagen mit Allradantrieb gemietet?"
Zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass er nicht mit Schnee gerechnet hatte – nicht in dieser Jahreszeit. Aber Montana schien seine eigenen Regeln zu haben.
Ein Schild am Straßenrand erregte seine Aufmerksamkeit: "TIERSCHÜTZER RAUS! WIR SCHÜTZEN UNSERE TRADITION!" Daneben war das Bild eines Jägers, der triumphierend neben einem erlegten Elch posierte.
"Na toll", seufzte Bentley. Mit seinen 29 Jahren und seinem drahtigen Körperbau sah er mehr wie ein Künstler aus als wie ein Aktivist, aber sein "Tiere sind auch Menschen"-Sweatshirt sprach Bände über seine Überzeugungen. Er hatte einen schwarzen Gürtel vierten Grades in Judo, aber hoffte, dass er ihn hier nicht einsetzen musste.
Die Main Street von Virginia City war menschenleer, die Geschäfte längst geschlossen. Nur ein einziges Gebäude zeigte noch Lebenszeichen: das "Last Chance Hotel". Davor stand ein Schild: "Späte Ankünfte melden sich bitte in der Eagle Tavern gegenüber."
Bentley parkte sein Auto so gut es ging auf dem schneebedeckten Parkplatz hinter der Bar. Seine Reifen rutschten auf dem eisigen Untergrund, und mit einem dumpfen Krachen stieß er gegen einen alten Pick-up.
"Verdammt!" Er stieg aus und inspizierte den Schaden. Der Pick-up, ein rostiger alter Chevrolet, hatte eine neue Delle am Kotflügel – kaum zu unterscheiden von den zahlreichen anderen Beulen, die die Karosserie zierten.
"Zum Teufel damit", murmelte er müde. Es war zu spät und zu kalt, um sich darum zu kümmern. Er würde morgen eine Notiz am Wagen hinterlassen. Jetzt brauchte er dringend ein Bett.
Die Eagle Tavern war genau das, was Bentley erwartet hatte: ein holzvertäfelter Raum voller Jagdtrophäen, der nach Bier und Schweiß roch. Ein halbes Dutzend Männer saß an der Bar, alle drehten sich zu ihm um, als er eintrat.
Die Gespräche verstummten.
"Ähm, hi", sagte Bentley und klopfte sich den Schnee von der Jacke. "Ich suche nach einem Zimmer im Last Chance Hotel."
Ein Hüne von einem Mann hinter der Bar – fast einsneunzig groß und bestimmt drei Zentner schwer – nickte ihm zu. "Forest Volner", stellte er sich vor. "Ich bin der Besitzer. Du kannst bei mir einchecken."
Ein hagerer Mann mit Baseballkappe am Ende des Tresens starrte auf Bentleys Sweatshirt. "'Tiere sind auch Menschen'?", las er laut vor, seine Stimme triefend vor Verachtung. "Was für ein Schwachsinn."
"Red", warnte der Barkeeper, aber der Mann – Red – war nicht zu bremsen.
"Bist du einer von diesen Tierschutz-Spinnern, die uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben haben?"
Bentley spürte, wie sein Temperament aufflammte. Er war müde, durchgefroren und in keiner Stimmung für eine Auseinandersetzung. Aber er hatte auch noch nie gelernt, seine Zunge im Zaum zu halten.
"Und du bist vermutlich einer dieser Neandertaler, die ihren Selbstwert dadurch definieren, wehrlose Tiere abzuknallen?", konterte er.
Die Bar wurde totenstill.
Ein anderer Mann – unrasiert, verwahrlost, mit einem Gesicht, das aussah, als hätte es schon zu viele Fäuste gesehen – stand langsam auf. "Dieser Idiot hat meinen Camper auf dem Parkplatz ramponiert", knurrte er. "Hab's durchs Fenster gesehen."
*Oh, großartig*, dachte Bentley. *Der Pick-up gehört natürlich dem einzigen Typen in der Bar, der aussieht wie ein ehemaliger Häftling.*
"Es tut mir leid wegen Ihres Wagens", sagte Bentley und bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. "Es ist rutschig da draußen, und ich bin nicht gewohnt, auf Schnee zu fahren. Wir können morgen die Versicherungen regeln."
Der verwahrloste Mann kam näher, sein Atem roch nach billigem Whiskey. "Ich will keine Versicherung. Ich will Bargeld. Jetzt."
"Caleb", mischte sich Forest Volner ein, "lass den Jungen in Ruhe. Es ist spät."
"Halt dich raus, Forest", fauchte Caleb. "Dieser Stadtjunge schuldet mir fünfhundert Dollar für die Reparatur meines Campers."
"Fünfhundert Dollar?!" Bentley lachte ungläubig. "Für eine Delle an einem Wrack, das aussieht, als hätte es den Dritten Weltkrieg überstanden? Das ist Erpressung!"
Calebs Gesicht verdunkelte sich. "Du nennst mich einen Erpresser, du kleiner Scheißer?"
Er griff nach Bentley, aber der Fotograf war schneller. Mit einer fließenden Bewegung packte er Calebs ausgestreckten Arm, drehte sich und warf den größeren Mann mit einem perfekt ausgeführten Judo-Wurf über seine Schulter.
Caleb landete hart auf dem Rücken, die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Die Bar-Gäste sprangen überrascht auf, aber niemand griff ein.
Mit einem wütenden Knurren rappelte sich Caleb auf und stürmte auf Bentley zu. Diesmal ließ der Fotograf ihn näher kommen, duckte sich unter dem wilden Schwinger weg und legte dann seinen Arm um Calebs Hals – ein klassischer Würgegriff.
"Beruhige dich", zischte Bentley in Calebs Ohr, während er den Druck vorsichtig dosierte. "Ich will keinen Ärger."
Für ein paar Sekunden kämpfte Caleb, dann erschlaffte er kurz, bevor Bentley ihn losließ. Der Mann taumelte, hustete und fasste sich an den Hals.
"Du bist tot", krächzte er. "Du bist so was von tot!"
"Das reicht!" Forests donnernde Stimme ließ alle zusammenzucken. Der riesige Barkeeper war hinter dem Tresen hervorgekommen und stellte sich zwischen die beiden Männer. Ein anderer Mann – schlank, mit einer medizinischen Tasche – gesellte sich zu ihnen.
"Dr. Manoli", stellte er sich vor und warf einen prüfenden Blick auf die beiden Kampfhähne. "Lassen Sie mich nachsehen, ob jemand verletzt ist."
Während der Arzt sie untersuchte – Bentley hatte nur ein paar Kratzer, Caleb würde einen hübschen blauen Fleck am Hals bekommen – zog Forest Volner einen Schlüssel aus seiner Tasche.
"Zimmer 12, zweiter Stock", sagte er zu Bentley und drückte ihm den Schlüssel in die Hand. "Geh hoch und schließ die Tür ab. Morgen sieht alles anders aus."
Bentley zögerte. "Danke. Und tut mir leid wegen der Unruhe."
Forest nickte nur. Als Bentley zur Tür ging, spürte er Calebs brennenden Blick in seinem Rücken. Ein kaltes Gefühl der Vorahnung überkam ihn – vielleicht hätte er doch außerhalb der Stadt campen sollen.
Draußen hatte der Schnee aufgehört zu fallen. Die Straße lag still und weiß unter dem Mondlicht. Bentley überquerte sie, die Schlüssel fest in der Hand, und fragte sich, was zum Teufel er sich dabei gedacht hatte, in diese Stadt zu kommen.
In dieser Nacht träumte er von einem Mann mit einem Elchkopf, der ihm mit angsterfüllten Augen etwas zuflüsterte – eine Warnung, die er nicht verstehen konnte.
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Auf einer verschneiten Straße, irgendwo zwischen Kalifornien und Montana, lenkte Shakti Boxleitner den alten Van des Meditationszentrums durch die Nacht. Das goldene Medaillon der göttlichen Mutter baumelte am Rückspiegel und glänzte im Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer.
Neben ihr auf dem Beifahrersitz lag eine geöffnete Packung Ben & Jerry's "Chunky Monkey" Eiscreme, halb geschmolzen. Manchmal brauchte auch eine Bhakta etwas Trost auf einer langen, gefährlichen Reise.
"Halt durch, Bentley", flüsterte sie in die Dunkelheit. "Ich komme."
Kapitel 2: Der eisige Fund
Francis Drake hasste seinen Namen. Seit seiner Kindheit musste er sich die gleichen dummen Witze anhören: "Hey, Francis! Schon die Welt umsegelt?" oder "Wo hast du denn dein Schiff geparkt, Drake?" Er war kein Entdecker. Er war ein Schneepflugfahrer in Virginia City, Montana – ein Job, der vor allem eines erforderte: die Fähigkeit, stundenlang die immer gleiche Route zu fahren, ohne dabei einzuschlafen.
An diesem eisigen Morgen räumte er den Parkplatz hinter der Eagle Tavern. Die Schneeflocken tanzten im Licht der frühen Morgensonne wie winzige Diamanten. Francis gähnte. Seine Nachtschicht neigte sich dem Ende zu. Noch eine halbe Stunde, dann würde er nach Hause fahren, ein heißes Bad nehmen und sich in sein warmes Bett fallen lassen.
Der Pflug schrammte über den gefrorenen Asphalt, schob den Schnee in ordentlichen Haufen zur Seite. Francis summte leise vor sich hin – das Lied "Ice Ice Baby" von Vanilla Ice, ein schrecklicher Ohrwurm, den er seit Tagen nicht loswurde.
Dann sah er etwas.
Zwischen zwei parkenden Autos ragte etwas aus dem Schnee hervor. Etwas, das dort nicht sein sollte. Etwas, das aussah wie...
"Was zum Teufel...?", murmelte Francis und bremste den Schneepflug abrupt ab.
Er kletterte aus dem Führerhaus und stapfte durch den tiefen Schnee zu der Stelle. Mit jedem Schritt wurde sein Herzschlag schneller. Als er näher kam, erkannte er, dass es sich um einen Fuß handelte. Einen menschlichen Fuß in einem abgewetzten Cowboystiefel.
"Oh Gott", flüsterte Francis. Mit zitternden Händen begann er, den Schnee wegzuschieben.
Was er freilegte, ließ ihn taumeln und fast in den Schnee fallen: Ein Mann lag dort, steif und leblos, die Augen weit aufgerissen in einem Ausdruck ewigen Entsetzens. Aber das Schlimmste war sein Kopf – oder vielmehr das, was seinen Kopf ersetzte.
Auf dem Hals des Toten thronte ein ausgestopfter Elchkopf, die Glasaugen starr und leblos, das gewaltige Geweih wie eine groteske Krone gegen den weißen Himmel ragend.
Francis wandte sich ab und übergab sich in den Schnee. Dann rannte er, so schnell seine Beine ihn trugen, zum Sheriff-Büro, sein Gesicht so weiß wie der Schnee unter seinen Füßen.
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"AUFMACHEN! SHERIFF-DEPARTMENT!"
Das Donnern an der Tür riss Bentley aus einem unruhigen Schlaf. Bevor er auch nur begreifen konnte, was geschah, splitterte das Holz und die Tür flog auf.
Vier Männer stürmten in das kleine Hotelzimmer, alle mit gezogenen Waffen. Im Halbdunkel erkannte Bentley Forest Volner, den freundlichen Barmann vom Vorabend. Neben ihm stand ein bulliger Mann mit buschigem Schnurrbart und einer Sheriff-Uniform, die über seinem Bauch spannte.
"Auf die Knie, Dreckskerl!", brüllte der Sheriff und richtete seine Waffe auf Bentleys Kopf.
"Was zum–" Bentley wurde unsanft aus dem Bett gezerrt und auf den Boden gestoßen. Sein Gesicht presste sich in den abgenutzten Teppich, der nach Mottenkugeln und altem Rauch roch.
"Lyle, nicht so grob", sagte Forest Volner und legte eine beschwichtigende Hand auf die Schulter des Sheriffs. "Der Junge wird kooperieren, nicht wahr?"
"Wovon redet ihr?", keuchte Bentley, während einer der Hilfssheriffs ihm Handschellen anlegte. "Was ist los?"
"Tu nicht so unschuldig", fauchte Sheriff Blogett und packte Bentley am Kragen seines T-Shirts. "Caleb Hegg wurde ermordet. Mit einem deiner verdammten Elchköpfe!"
"Was?" Bentleys Gesicht wurde kreidebleich. "Caleb... tot? Mit einem Elchkopf?"
"Ja, genau so einer, wie du sie im Dutzend in deinem Auto hast", knurrte Blogett. "Du dachtest wohl, du könntest in meine Stadt kommen und einen unserer Leute abmurksen, weil er gestern nicht nett zu dir war?"
Bentley schüttelte heftig den Kopf. "Ich habe niemanden ermordet! Ich bin direkt vom Eagle hierher ins Hotel gegangen und..."
"Spar dir den Atem für dein Geständnis", unterbrach ihn der Sheriff. "Zieh dich an. Du kommst mit uns."
Während Bentley hastig in seine Jeans schlüpfte, durchsuchten die Hilfssheriffs sein Zimmer und seine Taschen. Forest Volner stand in der Tür, die Arme verschränkt, sein Gesicht eine Maske der Besorgnis.
"Ich bin unschuldig", sagte Bentley zu ihm, während er sich ein Hemd überzog. "Sie müssen mir glauben!"
"Jeder sagt, er ist unschuldig", erwiderte Forest mit einem traurigen Lächeln. "Aber ich verspreche dir, wir werden fair sein."
Auf dem Weg nach draußen zog Bentley seinen Kopf ein, als sie ihn durch die enge Tür führten. "Ich bestehe auf einen Anwalt!", rief er. "Ich kenne meine Rechte! Ich bin amerikanischer Staatsbürger!"
"Hier bist du vor allem eines", knurrte Sheriff Blogett, während er Bentley grob die Treppe hinunterschubste. "Der Hauptverdächtige in einem Mordfall."
Als sie ihn durch die Lobby des Hotels zum Streifenwagen brachten, drehten sich alle Köpfe nach ihnen um. In der Ecke stand eine alte Dame, die sich bekreuzigte.
"Ich bin unschuldig!", rief Bentley laut in die Runde. "Dieser Sheriff versucht, mir einen Mord anzuhängen!"
"Halt die Klappe", zischte Blogett und drückte Bentleys Kopf nach unten, als er ihn in den Streifenwagen schob.
Draußen hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt. Virginia City war klein genug, dass Nachrichten sich schneller verbreiteten als das Licht.
"Ist das der Mörder?", hörte Bentley jemanden fragen.
"So ein junger Kerl", sagte eine andere Stimme. "Und sieht gar nicht wie ein Killer aus."
"Diese Tierschützer sind alle irre", knurrte ein Mann.
Die Autotür schlug zu und schnitt die Stimmen ab. Bentley starrte durch das vergitterte Fenster nach draußen und fragte sich, wie zum Teufel sein Leben in einer einzigen Nacht so komplett aus den Fugen geraten konnte.
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Im Sheriff-Büro von Virginia City herrschte ein Chaos, das dem Namen "Büro" spottet. Es war ein altes Gebäude mit knarrenden Dielen und einer altersschwachen Heizung, die mehr Geräusche als Wärme produzierte. Die Wände waren mit Jagdtrophäen dekoriert – darunter mehrere Elchköpfe, was Bentley unter den gegebenen Umständen besonders morbide vorkam.
Sheriff Lyle Blogett stapfte wie ein wütender Stier um seinen Schreibtisch herum, während er Bentley anschrie. Seine Uniform war fleckig, sein Gesicht rot vor Zorn.
"Du kommst in meine Stadt", bellte er, "und bringst einen unserer Bürger um! Weil er dich gestern beleidigt hat! Was fällt dir ein, du elender Stadtjunge?!"
"Ich habe niemanden umgebracht", wiederholte Bentley zum hundertsten Mal. Seine Stimme war heiser vom vielen Reden. "Ich bin direkt ins Hotel gegangen und geblieben."
"Mit einem Elchkopf auf seinem Gesicht!", tobte Blogett weiter, als hätte er Bentley nicht gehört. "Was für eine kranke, perverse Idee! Ihr Tierschützer seid doch alle krank im Kopf!"
Die Tür öffnete sich, und ein schlaksiger Mann in einem zerknitterten Anzug trat ein. Er hatte ein schmales Gesicht mit intelligenten Augen und trug ein abgewetztes Lederaktentäschchen. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, als er den Sheriff erblickte.
"Na, Lyle", sagte er mit einer tiefen, melodiösen Stimme. "Wieder mal beim Befragen ohne Anwalt erwischt, hm?"
"Dillon", knurrte Blogett. "Was zum Teufel willst du hier?"
"Mr. Boxleitner hier hat nach einem Anwalt verlangt", sagte der Mann und stellte sich neben Bentley. "Matt Dillon, zu Ihren Diensten." Er streckte Bentley seine Hand entgegen.
Bentley ergriff sie dankbar. "Sie sind mein Anwalt?"
"Der einzige in dreihundert Meilen Umkreis, der Sie vor diesem Haufen Kakerlaken verteidigen wird", erwiderte Dillon mit einem Augenzwinkern in Richtung Blogett.
"Pass auf, was du sagst, Dillon", warnte der Sheriff.
"Lyle, Lyle", seufzte Matt Dillon und setzte sich neben Bentley. "Wir wissen doch beide, dass du keine Ahnung vom Strafprozessrecht hast. Du kannst meinen Mandanten nicht ohne Anwalt verhören. Das ist Verfassungsrecht. Miranda gegen Arizona, 1966. Kennst du die Verfassung, Lyle? Dieses alte Stück Papier, auf das du angeblich einen Eid geschworen hast?"
Der Sheriff knirschte hörbar mit den Zähnen.
"Nun", fuhr Dillon fort und öffnete sein Aktentäschchen, "was haben Sie denn gegen meinen Mandanten in der Hand? Außer einem ungesunden Hass auf Tierschützer und einem überdurchschnittlichen Cholesterinspiegel?"
Ein Hilfssheriff trat ein, die Arme voller Plastiktüten mit Beweismitteln. "Sheriff, wir haben den Wagen durchsucht. Da sind etwa zwei Dutzend dieser Elchköpfe drin. Pappmachémodelle. Einer fehlt."
"Da haben wir's!" Blogett schlug triumphierend mit der Faust auf den Tisch. "Du hast einen der Elchköpfe genommen und dem armen Caleb auf den Kopf gesetzt, nachdem du ihn ermordet hast!"
"Das ist absurd!", protestierte Bentley. "Warum sollte ich jemandem einen verdammten Elchkopf aufsetzen? Das macht doch keinen Sinn!"
"Genau deshalb hast du es getan", konterte der Sheriff. "Um es so aussehen zu lassen, als würde jemand versuchen, dir etwas anzuhängen!"
Bentley starrte ihn ungläubig an. "Das ist die dümmste Logik, die ich je gehört habe! Sie sind ein ignoranter Idiot!"
"Bentley", zischte Matt Dillon warnend. "Nicht hilfreich."
"Wer hat sonst noch einen Schlüssel zu deinem Auto?", fragte der Sheriff.
"Niemand", antwortete Bentley. "Ich bin allein hierher gefahren."
"Also warst du der Einzige mit Zugang zu den Elchköpfen", konstatierte Blogett.
"Mein Auto war nicht abgeschlossen", erwiderte Bentley. "Jeder hätte sie nehmen können."
"Ach ja? Und warum war es nicht abgeschlossen?"
"Weil ich in Kalifornien lebe! Wir schließen unsere Autos nicht ab, wenn wir nur kurz aussteigen!"
Der Sheriff schüttelte den Kopf. "Eine lahme Ausrede."
Die Tür flog erneut auf, und ein aufgeregter Hilfssheriff stürmte herein. "Sheriff! Da ist eine Frau, die behauptet, die Schwester des Verdächtigen zu sein! Sie macht draußen ziemlichen Radau und droht mit Meditation oder so etwas!"
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Zur gleichen Zeit, als Bentley verhört wurde, kämpfte sich Clyde Apple durch den tiefen Schnee. Er fluchte bei jedem Schritt. Seine zerlumpten Stiefel waren längst durchweicht, seine Zehen taub vor Kälte. Aber die Aussicht auf Gold ließ ihn weiterstapfen.
Clyde war ein hagerer Mann Anfang dreißig, mit struppigem Bart und ruhelosen Augen. Die meisten Leute in Virginia City hielten ihn für verrückt – vielleicht war er es auch ein bisschen. Aber er wusste Dinge, die andere nicht wussten. Er wusste von der Mine, von Swifty und dem Gold.
Die Briefe, die er aus Heggs Wagen gestohlen hatte, brannten in seiner Jackentasche wie ein Versprechen. Swifty hatte vor seinem Verschwinden einen Claim abgesteckt, einen großen Goldfund gemacht. Und Caleb Hegg wusste davon.
"Zu blöd für dich, Caleb", murmelte Clyde und schob sich durch das dichte Unterholz. "Jetzt bin ich der Einzige, der davon weiß."
Er hatte die Gegend westlich der Stadt erreicht, wo die alten Minen lagen. Der Schnee fiel jetzt dichter, aber Clyde ließ sich nicht aufhalten. Der Brief enthielt eine grobe Karte, und er war entschlossen, Swiftys Mine zu finden, bevor irgendjemand anderes auf die Idee kommen würde, sie zu suchen.
Was auch immer mit Caleb Hegg passiert war – es spielte Clyde in die Hände. Ein toter Mann konnte keine Ansprüche mehr geltend machen.
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In einem kleinen, mit Plüschtieren überfüllten Haus am Stadtrand von Virginia City saß Sharon Sundance an ihrem Küchentisch und schnitt konzentriert Buchstaben aus alten Zeitschriften aus. Die 45-jährige Frau mit den flammendfarbenen Haaren und dem exzentrischen Make-up summte dabei fröhlich vor sich hin.
"V... O... L... N... E... R...", murmelte sie, während sie jeden Buchstaben sorgfältig auf ein Blatt Papier klebte. "Du... weißt... was... du... getan... hast..."
Neben ihr lag ein kleiner Dackel, der mit traurigen Augen zusah, wie sein Frauchen Buchstaben ausschnitt.
"Mr. Wiggles", sagte Sharon zu dem Hund, "wenn Forest auf diesen Brief anbeißt, haben wir ihn am Haken."
Sie kicherte bei dem Gedanken. Der gute, freundliche Forest Volner – der Mann, den alle in der Stadt respektierten. Wenn er der Mörder war, würde das einen Skandal auslösen, der selbst den alten Goldgräberskandal von 1875 in den Schatten stellen würde.
Sie betrachtete ihren Erpresserbrief und runzelte die Stirn. Etwas fehlte... etwas, das Forest wirklich treffen würde.
"Ich weiß!", rief sie aus und schnitt weitere Buchstaben aus. "S... W... I... F... T... Y..."
Der Name allein würde ausreichen, um Forest in Panik zu versetzen – wenn er tatsächlich etwas mit Calebs Tod zu tun hatte.
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Im Keller des großen Holzhauses am Ortsrand, das den Volners gehörte, kniete Penny Sue Volner vor dem alten Holzofen. Mit behandschuhten Händen durchwühlte sie vorsichtig die kalte Asche. Ihre runden, vom Backen geröteten Wangen waren vor Konzentration angespannt.
Sie war eine stämmige Frau Anfang fünfzig, deren mütterliches Äußeres einen stahlharten Kern verbarg. Als sie kleine Reste verbrannten Stoffs entdeckte, hielt sie inne. Mit spitzen Fingern zog sie ein kleines, halb verkohltes Stück heraus.
Es war der Rest eines karierten Hemdes – genau wie jenes, das Forest gestern Abend getragen hatte.
"Oh, Forest", flüsterte sie und schloss kurz die Augen. "Was hast du nur getan?"
Sie hatte Forests seltsames Verhalten nach seiner Rückkehr von der Arbeit bemerkt. Wie er sich mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen hatte. Das Waschen seiner Kleidung um drei Uhr morgens.
Penny Sue war keine dumme Frau. Sie hatte zwei Töchters durch die Highschool gebracht, hatte dreißig Jahre an der Seite eines schwierigen Mannes überlebt und wusste, dass Forest Geheimnisse hatte.
Sie steckte das Stoffstück in eine kleine Plastiktüte und versteckte sie in ihrer Schürzentasche. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie weit sie gehen würde, um ihren Mann zu schützen.
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Mike Martin lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und grinste in den Telefonhörer. Sein Büro im obersten Stock des einzigen dreistöckigen Gebäudes von Virginia City bot einen panoramaartigen Blick über die verschneite Stadt.
"Ja, genau so ist es", sagte er zu seinem Gesprächspartner. "Ein Tierschutz-Terrorist hat einen unserer Bürger ermordet und ihm einen Elchkopf aufgesetzt. Grausam, nicht wahr? Diese Leute sind zu allem fähig."
Er lauschte der Antwort und lächelte noch breiter. "Natürlich können Sie ein Team schicken. Das wird eine nationale Geschichte sein, da bin ich mir sicher."
Mike Martin war ein Immobilienmogul mit einer Vorliebe für goldene Krawattennadeln und teure Uhren. In seinen Augen war der Mord ein Glücksfall – er würde Virginia City auf die Karte bringen. Touristen würden kommen, Häuserpreise steigen, und er, Mike Martin, würde ein noch reicherer Mann werden.
"Ein furchtbarer Vorfall, natürlich", fügte er mit geheuchelter Betroffenheit hinzu. "Eine echte Tragödie für unsere Gemeinschaft."
Er beendete das Gespräch und wählte sofort die nächste Nummer. "Donald?", sagte er aufgeregt. "Du wirst nicht glauben, was hier passiert ist..."
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Tschubai und Anime Tschato saßen im Flugzeug nach Montana. Die Zwillingsbrüder, beide mit scharfen Gesichtszügen und wachsamen Augen, unterhielten sich leise.
"New York Times?", fragte Tschubai und betrachtete seinen gefälschten Presseausweis. "Konnte Sven nichts Besseres finden?"
"Wir sind Luxusdetektive, keine Meisterfälscher", erwiderte Anime und nippte an seinem Tomatensaft. "Außerdem machen Journalisten niemanden nervös. Sie können überall herumschnüffeln, ohne Verdacht zu erregen."
Die Detektei Martin, benannt nach ihrem deutschen Eigentümer Sven Martin aus Dorsten, war bekannt für ihre Diskretion und Effizienz. Die Zwillinge waren die besten Ermittler der Agentur – ein ungewöhnlicher Export aus Deutschland in die weiten Ebenen Montanas.
"Was genau weiß Mike Martin über diese Sache?", fragte Tschubai.
"Wenig", antwortete Anime. "Nur dass ein Tierschützer einen Einheimischen ermordet haben soll. Aber Cousin Sven meint, da steckt mehr dahinter."
"In dieser Kleinstadt gibt es immer mehr Geheimnisse als Einwohner", bemerkte Tschubai trocken.
Sie ahnten nicht, wie recht sie damit hatten.
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Sheriff Blogett starrte ungläubig auf das Fax in seiner Hand. Die Staatspolizei von Montana schickte ihm eine Gerichtsmedizinerin – und nicht irgendjemanden, sondern Molly Runningwolf.
"Eine verdammte Indianerin", knurrte er und knüllte das Papier zusammen. "Das hat mir gerade noch gefehlt."
Molly Runningwolf war berüchtigt für ihre akribische Arbeit und ihre Unnachgiebigkeit. Sie hatte schon mehrere korrupte Sheriffs auffliegen lassen und galt als unbeugsam in ihrer Suche nach der Wahrheit.
"Probleme, Boss?", fragte einer der Hilfssheriffs.
"Die Staatspolizei schickt uns Dr. Runningwolf", antwortete Blogett missmutig.
"Die Indianerin mit dem Doktortitel in Pathologie? Die, die den Sheriff von Butte County ins Gefängnis gebracht hat?"
"Genau die."
Der Hilfssheriff pfiff durch die Zähne. "Na, dann pass mal auf, dass deine Beweise wasserdicht sind."
Blogett knurrte nur. Er hatte nicht vor, sich von einer Indianerin in seiner Arbeit reinreden zu lassen – egal wie viele Doktortitel sie hatte. Er würde Bentley Boxleitner hinter Gitter bringen, koste es, was es wolle.
Als die Tür aufging und eine kleine Frau in einer batikgefärbten Tunika und mit einem goldenen Medaillon um den Hals hereinstürmte, ahnte Blogett nicht, dass sein Tag gerade noch komplizierter werden würde.
"Wo ist mein Bruder?", verlangte Shakti zu wissen, ihre blauen Augen funkelten vor Zorn. "Und warum werfen Sie ihm einen Mord vor, den er nicht begangen haben kann?"
Sie beäugte die Elchköpfe an den Wänden mit unverhohlenem Abscheu. "Und was ist das für ein kranker Ort? Überall tote Tiere!"
Blogett seufzte tief. Manchmal hasste er seinen Job.
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In der Eagle Tavern, die zu dieser frühen Morgenstunde noch geschlossen war, wischte Forest Volner den Tresen mit langsamen, kreisenden Bewegungen. Seine massigen Schultern waren angespannt, sein Gesicht ungewöhnlich blass.
Er dachte an Caleb Hegg, an den Elchkopf, an Bentley Boxleitner. An Swifty und die Mine. An all die Geheimnisse, die Virginia City barg.
Mit zitternden Händen schenkte er sich einen doppelten Whiskey ein und stürzte ihn hinunter. Es war kaum acht Uhr morgens, aber heute brauchte er die Betäubung mehr als je zuvor.
"Reiß dich zusammen, Forest", murmelte er zu sich selbst. "Es ist alles unter Kontrolle."
Doch als er sein Spiegelbild in der Flasche betrachtete, wusste er, dass nichts unter Kontrolle war. Gar nichts.
Kapitel 3: Affenhirn auf Eis
Die Morgensonne kroch über die zackigen Bergrücken von Montana und vergoldete die alten Fassaden von Virginia City, als hätte ein himmlischer Dekorateur beschlossen, dem Wildwest-Städtchen etwas Glamour zu verleihen. Im Kontrast zu diesem malerischen Anblick stand das Sheriffbüro – ein graues, funktionales Gebäude, das wie ein finsterer Wächter am Rande der Main Street lauerte. Hier drin roch es nach kaltem Kaffee, Waffenöl und dem säuerlichen Schweiß von Männern, die zu viel Macht und zu wenig Seife kannten.
### Virginia City (Montana), Sheriffbüro:
Bentley Boxleitner saß mit hängenden Schultern auf einer Metallbank im Verhörraum. Sein normalerweise lebhaftes Gesicht wirkte abgespannt, die sonst so entschlossenen Augen starrten ins Leere. Sein "Rettet die Elche"-Sweatshirt hing schlaff an seinem drahtigen Körper herab. Die Handschellen an seinen Handgelenken schimmerten im grellen Neonlicht wie eine bizarre Schmuckkollektion.
Die Tür öffnete sich quietschend, und Bentley blickte auf. Sein Gesicht durchlief eine Achterbahnfahrt der Emotionen – Überraschung, Freude, Entsetzen – als er seine Schwester erkannte.
"Shakti? Was zum...? Was machst du hier?" Seine Stimme klang rau, als hätte er die ganze Nacht geschrien oder geweint.
Kathy "Shakti" Boxleitner stand im Türrahmen, eine zierliche Gestalt in einem wallenden, batikgefärbten Kleid, das aussah, als hätte ein Regenbogen einen heftigen Niesanfall gehabt. Um ihren Hals hing das goldene Medaillon der göttlichen Mutter, das im tristen Licht des Verhörraums beinahe spöttisch funkelte. Ihre großen blauen Augen fixierten ihren Bruder mit einer Mischung aus Sorge und überirdischer Gelassenheit.
"Namaste, Bentley," sagte sie mit sanfter Stimme und formte mit ihren Händen ein Mudra. "Der göttliche Funke in mir grüßt den göttlichen Funken in dir."
"Spar dir den spirituellen Kram," knurrte Bentley, obwohl seine Augen verrieten, dass er froh war, sie zu sehen. "Du solltest nicht hier sein. Das ist kein Ort für dich."
Shakti setzte sich ihm gegenüber und atmete tief durch. Sie beschloss, ihm nichts von ihren Visionen zu erzählen – von dem schrecklichen Bild, das sie in der Meditation gesehen hatte: Bentley, gefesselt auf einer Hinrichtungsliege, während eine tödliche Injektion durch klare Schläuche floss. Ihr Bruder glaubte ohnehin nicht an Visionen; er war der Pragmatiker in der Familie, der Aktivist, der lieber handelte als meditierte.
"Du hast mir versprochen, dich von Protesten gegen die Elchjagd fernzuhalten," sagte sie stattdessen, ihre zierlichen Hände flach auf den Tisch legend. "Ich bin hier, um dich an dein Versprechen zu erinnern."
Bentley lachte bitter auf. "Ein bisschen spät dafür, findest du nicht?" Er zog an seinen Handschellen. "Diese verdammten Rednecks haben mich reingelegt, Shakti. Sie haben mich in eine Falle gelockt."
"Was ist passiert?" fragte sie, während sie versuchte, ihr "Affenhirn" – wie Punjan Singh es nannte – zu beruhigen, das sofort in alle Richtungen zu springen begann wie ein überdrehtes Eichhörnchen auf Espresso.
Bentley lehnte sich vor, seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. "Diese ganze Sache wird bundesweit in den Nachrichten sein. Ein furchtbarer Schlag für die Tierschutzbewegung – verstehst du? Das quält mich mehr als die Mordanklage." Seine Augen flackerten wild. "Das hier ist ein gefährlicher Ort, Shakti. Du musst sofort wieder abreisen. Diese elchmordenden, erzkonservativen Hinterwäldler..." Er blickte nervös zur Tür. "Nicht auszudenken, wozu die noch fähig sind."
Die Tür öffnete sich erneut, und zwei uniformierte Gefängniswärter traten ein. Der eine war dünn wie ein Besenstiel, der andere hatte einen Nacken, der direkt in seine Schultern überzugehen schien.
"Zeit ist um, Boxleitner," brummte der Besenstiel-Wärter.
Bentley griff hastig nach Shaktis Hand. "Bitte, Shakti, fahr zurück nach Berkeley! Kontaktiere meine Freunde von der Tierschutzbewegung. Ich brauche Geld für richtig gute Anwälte – nicht irgendwelche Provinz-Juristen, die den Sheriff zum Pokerabend treffen!"
Als die Wärter ihn wegführten, drehte er sich noch einmal um, sein Gesicht eine Maske der Verzweiflung. "Und pass auf dich auf! Hier ist niemand zu trauen, hörst du? Niemand!"
Die Tür fiel schwer ins Schloss, und Shakti blieb allein zurück, ihre Gedanken so wirr wie die Fäden in ihrem Batikkleid.
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### Virginia City (Montana), Straßen:
Draußen empfing sie die klare Bergluft Montanas wie ein erfrischender Schlag ins Gesicht. Shakti holte tief Luft und versuchte, ihre spirituelle Gelassenheit wiederzufinden. Sie zog ihr altes Nokia-Handy (Bentley nannte es spöttisch "das archäologische Artefakt") aus ihrer gewebten Tasche und begann, Anrufe zu tätigen.
Die ersten fünf Kontakte auf Bentleys Liste reagierten mit vagen Ausflüchten und plötzlich entdeckter Liebe zum Schweigen. Ein Tierschutzaktivist murmelte etwas von "Image-Schaden" und legte schnell auf, als hätte Shakti eine ansteckende Krankheit namens "Verdacht des Mordes durch Assoziation".
Frustriert setzte sich Shakti auf eine Bank vor dem örtlichen Postamt. Ein glänzend schwarzer Rabe landete neben ihr und betrachtete sie mit schiefgelegtem Kopf.
"Na, Kevin? Auch der Meinung, dass ich hier fehl am Platz bin?" murmelte sie dem Vogel zu, der durch einen glücklichen Zufall denselben Namen trug wie ihr Ex-Freund aus Berkeley – beide hatten die Angewohnheit, plötzlich aufzutauchen und kryptische Botschaften zu hinterlassen.
Mit einem tiefen Atemzug wählte sie die Nummer, die sie eigentlich hatte vermeiden wollen.
"Sat Nam, mein Kind," erklang die warme, akzentgefärbte Stimme von Punjan Singh nach dem dritten Klingeln. "Ich habe auf deinen Anruf gewartet."
Shakti verdrehte die Augen. Natürlich hatte er das. Der 65-jährige Sikh mit dem pinkfarbenen Turban und dem wallenden Bart behauptete immer, Dinge zu wissen, bevor sie passierten – was statistisch gesehen gelegentlich sogar stimmte.
"Ich brauche deine Hilfe, Punjan," sagte sie, während sie beobachtete, wie der Rabe eine verlassene Pommes aufpickte. "Und deine Gebete."
"Dein Bruder steckt in Schwierigkeiten," stellte Punjan fest, als würde er über das Wetter sprechen. Im Hintergrund konnte sie das vertraute Klappern seines Star-Wars-Thermobechers hören.
"Er wurde des Mordes angeklagt," erwiderte Shakti und senkte ihre Stimme, als ein älteres Paar an ihr vorbeilief und sie misstrauisch musterte. Der Mann trug einen Cowboyhut, der größer war als sein gesamter Oberkörper, und die Frau balancierte eine Frisur, die mindestens drei Dosen Haarspray beansprucht haben musste.
"Und du hattest eine Vision," sagte Punjan. Es war keine Frage.
Shakti schwieg einen Moment lang. "Ich habe ihn gesehen... auf einer Hinrichtungsliege, Punjan. Es war so real."
"Hmmm," brummte ihr Lehrer nachdenklich. "Das bedeutet, dass du trotz deines Affenhirns mit deinen spirituellen Übungen viel weiter bist, als wir beide vermutet haben, wenn du eine so klare Vision hattest."
"Aber stimmt es?" drängte Shakti. "Wird Bentley tatsächlich... hingerichtet werden?"
Es folgte eine lange Pause, in der sie nur Punjans ruhigen Atem hören konnte.
"Das weiß ich nicht, mein Kind," antwortete er schließlich. "Omens sind wie Tinder-Matches – 99% Schwindel, aber manchmal führen sie zu etwas Echtem. Du musst herausfinden, warum du diese Vision erhalten hast."
"Und wie soll ich das tun?"
"Indem du tust, was du am besten kannst – deinem Herzen folgen und deinen Verstand benutzen. Nicht umgekehrt." Sie konnte sein Lächeln förmlich durch die Leitung spüren. "Ich werde für dich und Bentley beten. Und ich schicke dir etwas Geld. Der göttliche Geist sorgt für seine Kinder."
Nach dem Gespräch fühlte sich Shakti seltsam gestärkt. Sie blickte zum Himmel, wo Kevin, der Rabe, nun Kreise zog, als würde er eine unsichtbare Spirale in die Luft zeichnen.
"In Ordnung, Kevin," murmelte sie. "Führe mich zur Wahrheit."
Als hätte er sie verstanden, ließ der Rabe eine glänzend schwarze Feder fallen, die sanft vor ihre Füße schwebte.
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### Virginia City (Montana), Café:
Das "Golden Nugget Café" hätte direkt aus einer Western-Filmkulisse stammen können – rustikale Holzmöbel, fleckige Speisekarten und ein lebensgroßer ausgestopfter Grizzlybär, der in der Ecke stand und mit Glasaugen die Gäste anstarrte, als überlege er, wen er als Nächstes verspeisen sollte.
Matt Dillon saß bereits an einem Tisch am Fenster, als Shakti eintrat. Seine schlaksige Gestalt wirkte seltsam fehl am Platz zwischen den stämmigen Einheimischen, die misstrauische Blicke in ihre Richtung warfen. Er trug ein abgetragenes Jeanshemd und hatte dieses lässige Lächeln aufgesetzt, das sowohl beruhigend als auch leicht beunruhigend wirkte – wie ein Cowboy, der genau wusste, wann er seine Waffe ziehen musste.
"Miss Boxleitner," grüßte er sie und erhob sich höflich, als sie sich näherte. Seine Stimme war leise, fast sanft – ein bemerkenswerter Kontrast zu seiner Erscheinung.
"Bitte nennen Sie mich Shakti," erwiderte sie und setzte sich ihm gegenüber.
Eine Kellnerin in einer fleckigen Schürze erschien neben ihrem Tisch. Sie hatte ein Gesicht, das aussah, als hätte sie jeden Tag ihres Lebens bereut, und kaute Kaugummi mit der Entschlossenheit eines Wiederkäuers.
"Was darf's sein?" fragte sie mit gelangweilter Stimme.
Matt bestellte nur Kaffee, aber Shakti konnte nicht widerstehen. "Schokoladeneis mit Marshmallowsauce, bitte."
Matt hob eine Augenbraue. "Zum Frühstück?"
"Die göttliche Mutter manifestiert sich in vielen Formen," erwiderte Shakti ernst. "Manchmal als Schokoladeneis."
Die Mundwinkel des Anwalts zuckten amüsiert. "Ihr Bruder hat erwähnt, dass Sie... spirituell sind."
"Und er hat wahrscheinlich die Augen dabei verdreht," ergänzte Shakti mit einem schiefen Smith im Gebüsch der Juristen gesehen.
"Sagen wir, er hat Ihre Weltanschauung als 'kosmischen Quatsch mit Glitzerfaktor' bezeichnet." Matt lächelte entschuldigend.
Die Kellnerin brachte Shakti ihre Eisschale – eine zuckrige Oase in der Wüste aus Problemen – und Matt seinen Kaffee, schwarz wie die Seelen korrupter Politiker.
Shakti tauchte ihren Löffel in die süße Versuchung und versuchte, die Schuld zu ignorieren, die sie jedes Mal empfand, wenn sie ihrer Schwäche für Zucker nachgab. Eine BHAKTA sollte über solche weltlichen Gelüste erhaben sein. Andererseits hatte Buddha nie Schokoladeneis probiert.
"Ich wurde einmal wegen Verabredung zu einer Straftat vor Gericht gestellt und verurteilt," begann Shakti zwischen zwei Löffeln Eis. "Seitdem mag ich Anwälte nicht besonders."
"Und doch sitzen Sie hier mit mir," bemerkte Matt trocken.
"Für Bentley würde ich sogar mit dem Teufel frühstücken," erwiderte sie und blickte ihm direkt in die Augen.
Sie fühlte einen seltsamen Stich der Verwirrung, als sie feststellte, wie sehr sie sich zu diesem schlaksigen, höflichen Cowboy mit der leisen Stimme hingezogen fühlte. Seine Augen waren von einem tiefen Grau, wie der Himmel kurz vor einem Gewitter, und hinter seiner entspannten Fassade spürte sie einen scharfen, analytischen Verstand. Sie sagte sich, dass es im spirituellen Leben einer BHAKTA durchaus Platz für einen Mann gab – solange er ihren höheren Zweck unterstützte. Außerdem musste sie sich darauf konzentrieren, ihrem Bruder zu helfen.
"Glauben Sie, dass Bentley unschuldig ist?" fragte sie direkt.
Matt nahm einen Schluck von seinem Kaffee, bevor er antwortete. "Als Strafverteidiger ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Ihr Bruder die bestmögliche Verteidigung erhält. Es spielt keine Rolle, ob er schuldig oder unschuldig ist – dafür bin ich nicht zuständig."
Shakti spürte, wie ihr Löffel sich in ihrer Hand verbog. "Wie bitte?"
"Verstehen Sie mich nicht falsch," fuhr Matt fort und hob beschwichtigend eine Hand. "Ich muss realistisch sein. Die Beweislage spricht stark gegen Bentley. Seine größte Chance, der Todesstrafe zu entgehen, besteht darin, sich auf eine Urteilsabsprache einzulassen."
"Urteilsabsprache?" Shaktis Stimme wurde höher.
"Der Staat Montana hat kein Interesse an einer bundesweiten Medienberichterstattung, die ein solcher Prozess mit Sicherheit auslösen würde," erklärte Matt ruhig. "Die Ankläger haben keine Lust, als ein Haufen Waffennarren dazustehen, die einen harmlosen Umweltaktivisten verfolgen. Mit der richtigen Verhandlungstaktik könnten wir—"
"Mein Bruder wird sich auf keinerlei Absprachen einlassen!" Shakti sprang auf, ihre Gelassenheit vergessen. Die Eisschale wackelte gefährlich. "Er ist unschuldig!"
Mehrere Köpfe drehten sich zu ihnen um. Der ausgestopfte Bär schien sie missbilligend anzustarren.
Sofort schämte sie sich für ihren Ausbruch. Eine BHAKTA sollte niemals ihre Beherrschung verlieren. Sie atmete tief durch und setzte sich wieder.
"Entschuldigung," murmelte sie. "Das war nicht... spirituell angemessen."
Matt betrachtete sie mit neuem Interesse. "Die meisten Leute in Montana würden einen Jagdsport-Gegner am liebsten schon aufhängen, wenn er bloß bei Rot über die Straße geht," sagte er leise. "Ich versuche nur, das Beste für meinen Klienten zu erreichen. Und manchmal bedeutet das, einen Kompromiss zu finden."
"Wir sollten lieber herausfinden, wer es wirklich getan hat," entgegnete Shakti entschlossen und schob ihr halbgegessenes Eis beiseite.
Matt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. "Ein Privatdetektiv kostet 500 Dollar pro Tag," erklärte er sachlich. "Der Staat wird uns nur Mittel zur Verfügung stellen, wenn es darum geht, bestimmte Punkte der Anklageschrift zu widerlegen, und die wird erst in vier oder fünf Monaten fertig sein." Er musterte sie. "Können Sie es sich leisten, einen Privatdetektiv privat zu finanzieren?"
Shakti dachte an ihr mageres Bankkonto und Punjans Versprechen. "Bentley und ich haben kein Geld, aber ich versuche alles, um welches aufzutreiben. Bis dahin muss ich sehen, was ich alleine herausfinden kann."
Matt lachte ungläubig. "Mit Verlaub, das ist Blödsinn. Sie sind keine Ermittlerin."
"Doch, bin ich," erwiderte Shakti mit unerwarteter Festigkeit. "Fast."
"Ach ja?" Matt beugte sich vor. "Dann sagen Sie mir doch: Wie interpretieren Sie eine Blutspritzeranalyse? Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Zugangs- und einem Austrittsloch bei einer Schusswunde? Können Sie eine Schmauchspur identifizieren?"
Shakti lächelte ironisch. "Nein. Aber ich habe als Kind viel Nancy Drew gelesen."
Matt starrte sie einen Moment lang an, dann brach er in Gelächter aus – ein überraschend warmer, angenehmer Klang in dem düsteren Café.
"Okay," sagte er schließlich und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. "Wo will unsere Nancy Drew denn anfangen?"
"Was meinen Sie damit?"
"Man sollte immer mit dem Tatort anfangen," erklärte Matt. "Das haben auch immer die Hardy Boys in der Detektivserie getan."
Shakti spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem echten Lächeln verzog – dem ersten seit ihrer Ankunft in Montana.
Hinter ihnen, am Fenster des Cafés, landete ein glänzend schwarzer Rabe und beobachtete sie aufmerksam. Kevin schien zuzustimmen.
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### Am selben Morgen, Eagle Tavern:
Forest Volner wischte mit einem schmuddeligen Tuch über die Theke seiner Bar, wobei sein massiger, bärenhafter Körper den Raum zu dominieren schien. Mit seinen drei Zentnern und der Körpergröße von 1,91 m wirkte er wie ein freundlicher Riese – ein Eindruck, den sein gemütliches Gesicht noch verstärkte. Doch hinter seiner jovialen Fassade verbarg Forest ein Netz aus Geheimnissen und dunklen Machenschaften.
Die Tür der Eagle Tavern schwang auf, und Sheriff Lyle Blogett trat ein, seine bullige Statur füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Sein buschiger Schnurrbart zuckte nervös, und die Uniform spannte bedenklich über seinem Bierbauch.
"Ist noch zu früh für 'n Bier, Forest," brummte der Sheriff und ließ seinen Blick durch die leere Bar schweifen.
"Für dich hab ich immer was, Lyle," erwiderte Volner mit einem breiten Grinsen, das seine gelben Zähne entblößte. "Aber ich vermute, du bist nicht wegen des Frühschoppens hier."
Blogett schüttelte den Kopf und lehnte sich vertraulich über die Theke. "Der Hippie-Fotograf hat Besuch bekommen. Seine Schwester – noch so ein Öko-Spinner aus Kalifornien."
Volner hörte auf zu wischen, sein freundliches Gesicht verhärtete sich. "Was will sie hier?"
"Was denkst du wohl? Sie glaubt nicht, dass ihr Brüderchen ein Mörder ist." Der Sheriff schnaubte verächtlich. "Hat sich auch schon mit diesem Dillon getroffen – dem einzigen verdammten Anwalt im Umkreis von hundert Meilen, der nicht weiß, wann er seinen Mund halten soll."
In diesem Moment erschien Penny Sue Volner aus der Küche, eine rundliche Frau mit Backen wie "frisch aufgebackene Brötchen" und wachsamen Augen. Sie trug ein Tablett mit frisch geschnittenen Zitronen und erstarrte kurz, als sie den Sheriff sah.
"Guten Morgen, Lyle," sagte sie mit gezwungen freundlicher Stimme.
"Morgen, Penny Sue," erwiderte Blogett und tippte an seinen Hut.
Forest warf seiner Frau einen warnenden Blick zu. "Penny, Schatz, würdest du uns kurz allein lassen? Der Sheriff und ich haben Geschäftliches zu besprechen."
Penny Sue presste die Lippen zusammen, nickte aber gehorsam und verschwand wieder in der Küche – nicht ohne einen letzten, besorgten Blick auf die beiden Männer zu werfen.
Als sie außer Hörweite war, senkte Forest seine Stimme. "Was machen wir jetzt mit der Schwester?"
Blogett zuckte mit den Schultern. "Nichts. Vorerst. Sie kann eh nichts beweisen. Die Beweise gegen ihren Bruder sind wasserdicht." Er grinste hämisch. "Dafür hast du ja gesorgt."
"Ja, aber diese Runningwolf könnte Probleme machen," murmelte Forest und blickte nervös zur Küchentür. "Sie ist zu gründlich."
"Molly?" Der Sheriff winkte ab. "Die Staatspolizei hat hier nichts zu melden. Ich bin für den Fall zuständig, und ich sage, der Hippie hat Hegg erschossen." Er beugte sich noch näher. "Apropos, Mike Martin hat angerufen. Er will das Grundstück um Swiftys alte Mine kaufen – für einen seiner reichen Freunde aus New York."
Forests Augen weiteten sich alarmiert. "Die Mine? Aber wenn jemand dort gräbt und auf—"
"Genau deshalb müssen wir den Verkauf beschleunigen," unterbrach ihn Blogett. "Solange der Fall Hegg noch heiß ist, kann niemand dort rumschnüffeln. Sobald das Land verkauft ist, kann Martins Kumpel da einen Golfplatz oder eine Luxusvilla draufsetzen – und dann viel Glück beim Graben nach irgendwelchen... Überraschungen."
Forest wischte sich mit seinem schmutzigen Lappen über die schweißnasse Stirn. "Und was ist mit Sharon Sundance? Diese verrückte Kuh schreibt mir immer noch Erpresserbriefe."
"Lass mich das regeln," sagte der Sheriff mit einem Grinsen, das nichts Gutes verhieß. "Die gute Sharon wird bald verstehen, dass es gesünder ist, den Mund zu halten."
Keiner der Männer bemerkte Penny Sue, die in der halb geöffneten Küchentür stand und jedes Wort mitgehört hatte. Ihre Hände zitterten, als sie einen kleinen digitalen Rekorder in der Tasche ihrer Schürze ausschaltete.
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### Zeitgleich, an der Bergstraße außerhalb von Virginia City:
Clyde Apple lenkte seinen rostigen Pickup über die kurvenreiche Straße, die zu Swiftys verlassener Goldmine führte. Sein verwahrlostes Äußeres, die zerlumpte Kleidung und die zahlreichen Gefängnis-Tattoos ließen ihn wie einen Mann aussehen, den man nachts lieber nicht in einer dunklen Gasse treffen wollte.
"Dieser verdammte Schatz muss irgendwo sein," murmelte er zu sich selbst, während er nervös den Rückspiegel im Auge behielt. "Swifty hat es in seinem Brief geschrieben. 'Gold, das die Sonne nie gesehen hat.' Der alte Bastard war schlau, aber nicht schlauer als Clyde Apple!"
Er bog auf einen kaum sichtbaren Pfad ab, der in den dichten Nadelwald führte. Die Reifen knirschten auf dem felsigen Untergrund, und Zweige kratzten an den Seiten des Pickups.
Plötzlich blitzte etwas im Rückspiegel auf – Sonnenlicht, das sich in einer Windschutzscheibe spiegelte. Clyde fluchte lautstark. Jemand folgte ihm!
"Verdammte Schatzjäger!" knurrte er und trat das Gaspedal durch. Der alte Pickup ächzte protestierend, beschleunigte aber tapfer den steilen Pfad hinauf.
Als er eine enge Kurve nahm, verlor er kurzzeitig die Kontrolle über das Fahrzeug. Die Reifen rutschten über loses Geröll, und der Pickup schlingerte gefährlich nahe an den Abgrund heran. Mit einem verzweifelten Ruck am Lenkrad brachte Clyde den Wagen wieder unter Kontrolle und kam schlitternd zum Stehen.
Keuchend lehnte er sich zurück und starrte in den Rückspiegel. Nichts. Wer immer ihm gefolgt war, hatte aufgegeben oder sich versteckt.
Clyde zog eine abgegriffene Ledermappe unter dem Sitz hervor. Darin befand sich Swiftys Tagebuch – ein vergilbtes, mit zittriger Handschrift vollgekritzeltes Notizbuch, das er vor einer Woche in der verlassenen Mine gefunden hatte. Das Tagebuch, das möglicherweise erklärte, warum Caleb Hegg hatte sterben müssen. Und warum Forest Volner so verzweifelt versuchte, jede Verbindung zu Swiftys Mine zu vertuschen.
"Heute ist mein Glückstag," murmelte Clyde und strich fast zärtlich über das alte Leder. "Ich finde das Gold und die Wahrheit – und dann bin ich weg aus dieser verfluchten Stadt."
Was Clyde nicht sah, war die schwarze Gestalt, die sich durch die Bäume bewegte und ihn aus sicherer Entfernung beobachtete, eine Waffe fest in der Hand.
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### Zur gleichen Zeit, Leichenhalle des Bezirkskrankenhauses:
Dr. Molly Runningwolf stand über dem Körper von Caleb Hegg gebeugt, ihre scharfen dunklen Augen nahmen jedes Detail des Leichnams auf. Die Blackfoot-Indianerin mit ihrem schulterlanges schwarzen Haar, zurückgebunden in einen praktischen Zopf, bewegte sich mit präziser Effizienz um den Seziertisch.
"So, Mr. Hegg," murmelte sie, während sie eine Probe unter dem Mikroskop platzierte, "wollen wir mal sehen, was Sie uns wirklich zu sagen haben."
Die Tür zur Leichenhalle öffnete sich quietschend, und Reverend Diggs trat ein – ein hagerer Mann mit Predigerkragen und einem permanent wütend wirkenden Gesicht. Die ramponierte Bibel in seiner Hand sah aus, als hätte er sie mehr zum Zuschlagen als zum Lesen benutzt.
"Dr. Runningwolf," grüßte er mit kaum verhohlener Abneigung. "Ich komme, um für die Seele des Verstorbenen zu beten."
Molly blickte nur kurz auf. "Der Leichnam wird für eine gründliche forensische Untersuchung benötigt, Reverend. Das Beten kann warten."
"Diese heidnischen wissenschaftlichen Rituale," spuckte Diggs verächtlich aus. "Wir wissen alle, wer Caleb getötet hat – dieser gottlose Umweltfanatiker aus Kalifornien!"
"Wissen wir das?" fragte Molly kühl und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. "Die Beweise, die ich bisher gesehen habe, sind... interessant."
"Was soll das heißen?" Der Reverend trat näher, sein Gesicht verzog sich zu einer misstrauischen Grimasse.
"Das bedeutet, dass ich meinen Job mache, Reverend," erwiderte Molly sachlich. "Und mein Job ist es, die Wahrheit zu finden – nicht vorgefertigte Schlussfolgerungen zu bestätigen."
Diggs öffnete den Mund zu einer zornigen Erwiderung, als die Tür erneut aufging und Sharon Sundance hereinrauschte wie ein menschgewordener Glitzerwirbelsturm. Ihr exzentrisches Outfit – eine Kombination aus Westernfransen und New-Age-Kristallschmuck – ließ sie wie eine Kreuzung zwischen einer Saloon-Lady und einer Wahrsagerin wirken. An ihrer Seite trottete Mr. Wiggles, ein übergewichtiger Dackel mit einem Gesichtsausdruck permanenter Enttäuschung.
"Oh! Entschuldigung," rief Sharon mit theatralischer Überraschung. "Ich wusste nicht, dass hier jemand ist." Ihre Augen huschten neugierig zwischen Molly, dem Reverend und dem Leichnam auf dem Tisch hin und her.
"Mrs. Sundance," sagte Molly mit undurchdringlicher Miene. "Dies ist ein gesperrter Bereich. Wie sind Sie hier hereingekommen?"
Sharon winkte lässig ab. "Die Hintertür stand offen, Liebes. Und ich wollte nur... Abschied nehmen." Ihre Augen wurden feucht, eine Träne drohte, ihre dicke Mascara zu ruinieren. "Caleb und ich... wir waren enge Freunde."
"Enge Freunde?" schnaubte Reverend Diggs verächtlich. "Sie meinen wohl eher, dass Sie seine Geliebte waren, während seine arme Frau nichts davon wusste!"
Sharon warf ihm einen giftigen Blick zu. "Urteile nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst, Reverend. Steht das nicht irgendwo in Ihrem Buch?"
Mr. Wiggles schnüffelte interessiert am Saum von Mollys Laborkittel, was die Gerichtsmedizinerin mit stoischer Gelassenheit ignorierte.
"Sie beide müssen jetzt gehen," sagte Molly bestimmt. "Dies ist ein aktiver Untersuchungsort, kein Treffpunkt für persönliche Vendettas oder... Abschiedsbesuche."
"Ich habe ein Recht zu erfahren, was mit Caleb geschehen ist," beharrte Sharon und trat einen Schritt näher an den Leichnam heran. Ihre Augen huschten kurz zu einer Schublade im Metallschrank, der die persönlichen Gegenstände des Verstorbenen enthielt.
"Die Polizei wird die Öffentlichkeit informieren, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist," erwiderte Molly kühl.
"Wenn Sheriff Blogett überhaupt die Wahrheit sagt," murmelte Sharon halblaut.
Reverend Diggs' Augen verengten sich. "Was soll das heißen, Frau Sundance?"
Sharon zuckte mit den Schultern, eine Geste, die die zahlreichen Kristallketten an ihrem Hals klimpern ließ. "Nur dass in dieser Stadt manches nicht so ist, wie es scheint. Vielleicht weiß unser Sheriff mehr, als er zugibt."
"Das reicht jetzt," unterbrach Molly scharf. "Beide raus. Sofort."
Während sie die beiden ungleichen Besucher zur Tür eskortierte, bemerkte Molly, wie Sharon geschickt etwas in ihre übergroße Handtasche gleiten ließ – etwas, das verdächtig nach einem kleinen Notizbuch aussah, das vorher auf dem Nebentisch gelegen hatte.
"Mrs. Sundance," sagte Molly leise, als sie die Frau durch die Tür schob, "denken Sie daran, dass Diebstahl von Beweismitteln ein Verbrechen ist."
Sharon blinzelte unschuldig. "Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Dr. Runningwolf. Komm, Mr. Wiggles, wir gehen." Der Dackel trottete ihr nach, nicht ohne Molly einen letzten anklagenden Blick zuzuwerfen.
Als die Tür sich hinter den beiden geschlossen hatte, kehrte Molly zu ihrem Mikroskop zurück. Die Unterbrechung hatte sie verärgert, aber nicht aus der Ruhe gebracht. Nichts brachte Dr. Molly Runningwolf aus der Ruhe – nicht einmal, als sie entdeckte, dass die Blutspuren an Calebs Kleidung nicht mit den Schusswunden übereinstimmten.
"Interessant," murmelte sie und machte sich eine Notiz. "Sehr interessant."
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### Zeitgleich, im Büro von Matt Dillon:
Shaktis Finger trommelten nervös auf der abgenutzten Armlehne des Besucherstuhls, während Matt in einem schäbigen Aktenschrank wühlte. Sein Büro war ein chaotisches Sammelsurium aus juristischen Dokumenten, Western-Devotionalien und einem seltsamen Sammelsurium an Kakteen in verschiedenen Größen und Formen.
"Ich kann nicht glauben, dass Sheriff Blogett mir keinen Zugang zum Tatort gewährt," sagte Shakti frustriert. "Das ist doch lächerlich!"
Matt zog eine dicke Mappe hervor und legte sie auf den überladenen Schreibtisch. "Nicht wirklich. Du bist die Schwester des Angeklagten und hast keinerlei offizielle Funktion. Warum sollte er dich in die Ermittlungen einbeziehen?"
"Weil es das Richtige wäre?" Shakti verdrehte die Augen. "Vergiss es. Dummer Gedanke."
Matt lächelte schief. "Willkommen in der realen Welt der Strafverfolgung, Nancy Drew. Nicht ganz so glamourös wie in den Büchern, was?"
Shakti seufzte und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr "Affenhirn" sprang wieder von Idee zu Idee wie ein hyperaktives Känguru. "Was ist mit dieser Molly Runningwolf? Könntest du mit ihr sprechen? Als Anwalt hast du doch Zugang zu den Untersuchungsergebnissen, oder?"
"Theoretisch ja," Matt kratzte sich am Kinn. "Molly ist gut. Zu gut für diese Gegend, ehrlich gesagt. Sie arbeitet für die Staatspolizei und ist nicht Teil von Blogetts kleinem Korruptionszirkel. Aber sie ist auch sehr... protokollorientiert."
"Dann müssen wir einen anderen Weg finden," sagte Shakti entschlossen. "Ich muss den Tatort sehen."
Matt lehnte sich zurück, sein Stuhl quietschte protestierend. "Warum ist dir das so wichtig?"
Shakti zögerte. Sie konnte ihm kaum von ihrer Vision erzählen – einem rational denkenden Anwalt zu erklären, dass sie ihren Bruder in einer spirituellen Trance auf der Hinrichtungsliege gesehen hatte, würde ihr kaum Vertrauen einbringen.
"Nennen wir es Intuition," antwortete sie schließlich. "Oder schwesterliche Verbundenheit. Ich weiß einfach, dass Bentley unschuldig ist, und ich will es beweisen."
Matt betrachtete sie nachdenklich. "Nun, es gibt vielleicht einen Weg... nichts Offizielles oder Legales, wohlgemerkt."
Shaktis Augen leuchteten auf. "Ich bin offen für kreative Lösungen."
"Ich kenne jemanden, der uns zum Tatort bringen könnte – inoffiziell, nachts," sagte Matt zögernd. "Ein alter Freund, der in der Nähe des Jagdreviers wohnt, wo Hegg erschossen wurde."
"Perfekt!" Shakti klatschte in die Hände.
"Nicht so schnell," warnte Matt. "Es ist riskant. Wenn Blogett uns erwischt, könnte das meinen Job kosten und deinem Bruder schaden."
"Manchmal muss man Risiken eingehen, um die Wahrheit zu finden," erwiderte Shakti mit überraschender Festigkeit. "Ein weiser Lehrer sagte mir einmal: 'Der Pfad zur Erleuchtung führt manchmal durch den Schlamm.'"
"Klingt nach einem pragmatischen Guru," bemerkte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (C) 2025 by Peter Jonalik, Luna Jonalik, Smokey Jonalik
Bildmaterialien: (C) 2025 by Peter Jonalik
Cover: (C) 2025 by Peter Jonalik
Satz: Terra- A World United Verlag, Pliesterbeckerstr 152, 46284 Dorsten, Terra
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2025
ISBN: 978-3-7554-8072-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die gute Thriller lieben!
Dorsten, den 01.05.2025
Die Autoren