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Überraschungsbesuch

Ein schrilles Klingeln an der Tür weckte mich.

Ich schaute auf die Uhr. 11 Uhr. Wer war das denn jetzt um die Zeit? Naja, vielleicht der Postbote.

Gott sei dank waren Ferien, ich war ein richtiger Langschläfer. Eigentlich würde ich jetzt auch noch gar nicht aufstehen, aber da ich alleine Zuhause war, musste ich das wohl, denn sonst würde keiner die Haustür öffnen.

Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Mein Zimmer war ausnahmsweise ordentlich. Ich hatte gestern aufgeräumt, weil mir langweilig war, sonst hätte ich das wahrscheinlich nicht gemacht, zumindest nicht ohne guten Grund.

Ich sah mich um. Wenn es ordentlich war, sah es ganz anders aus...so...so ordentlich halt. Mein Reich war groß. Der ganze erste Stock. Die lila Wände, deren Farbe von dem Teppich aufgegriffen wurde. Die modernen Holzmöbel, die super zu dem hellen Holzboden passten und mein geliebtes Bett. Das Bett stach aus dem Zimmer heraus. Ein Metallgestell und Metallranken, die sich das Gestell hochschlängelten, ich liebte diese Art von Bett.

In einem der Regale standen sehr viele Bücher. Von Krimis über Fantasie zu Drama, weil ich oft und gerne las. Über meinem Bett hing auch noch eine Collage von mir und meiner besten Freundin Jessica, die aber seit ungefähr einem Jahr vermisst wurde. Ich betrachtete die Bilder. Wir hatten oft Fotos in den Automaten gemacht, die man in ganz München fand. Ich wohnte zwar nicht in München, sondern in der Nähe vom Starnberger See, aber Jess wohnte in der Stadt und ich hatte sie oft besucht. Auf den Bildern hatten wir herumgealbert, wir hatten unsere Zungen in die Kamera gestreckt, Duckface gemacht und noch mehr Grimassen geschnitten. Ich vermisste sie so, wir waren immerhin beste Freunde. Wir hatten wirklich ALLES zusammen gemacht, wir hatten uns alles erzählt, zusammen geweint und zusammen gelacht. Sie war mein perfektes Gegenstück und jetzt ohne sie war mein Leben durcheinander.

Es klingelte nochmal. Ich rief: „Ich komm ja schon!“ und eilte aus meinem Zimmer und hüpfte die Treppe runter. Ich nahm nur jede zweite Stufe, weil es so schneller ging und ich es schon gewohnt war, und kam unten auf Marmorboden auf.

Unsere Wohnung war protzig eingerichtet, das gefiel mir nicht, aber meiner Mutter schon. Sie zeigte gerne, dass wir nicht wenig Geld hatten. Sie hatte auch darauf bestanden, dass ich mein Zimmer 'prunkvoll' einrichtete, aber wir hatten den Kompromiss gefunden, dass ich mir neue zusammenpassende Möbel aussuchte und keine gebrauchten Möbel, die nicht einmal zusammengehörten, in mein Zimmer stellte. Sie betrat mein Zimmer sowieso fast nie, weil sie es nicht wollte und ich wollte es auch nicht. Deswegen verstand ich auch nicht, warum es ihr so wichtig war, wie ich es einrichtete.

Als ich an einem großen antiken Spiegel vorbeikam, sah ich eine verschlafene und müde Person, die mich aus verschlafenen brauen Augen ansah. Ich hatte lange Wimpern, die meine Augen betonten und lange braune lockige Haare, die mir wirr ins Gesicht hangen. Ganz anders wie Jessica, denn sie hatte blaue Augen und kurze blonde Haare, die ihr sehr gut standen. Ich zupfte mir noch die Haare zurecht und öffnete die Tür. Was machte er denn hier?

Luis stand davor. Er schaute mich von oben bis unten an und sagte: „Hey Neela.“

Ich fragte sehr verunsichert: „Was willst du hier?“

Er antwortete mir nicht, aber sagte stattdessen: „Darf ich reinkommen?“

Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern schob mich zur Seite, trat ein und schloss schnell die Tür.

Luis war der große Bruder von meiner besten Freundin Jess. Er war achtzehn. Und seitdem Jess verschwunden war, hatte ich fast nichts mehr von ihm gehört, manchmal hatte er noch angerufen und mich gefragt, ob es was neues über seine Schwester gebe. Ich glaubte, er machte sich große Vorwürfe und gab sich die Schuld für ihr Verschwinden, weil Jess nach einem schlimmen Streit mit Luis aus dem Haus gelaufen und danach nicht mehr aufgetaucht war. Keiner hatte etwas von ihr gehört.

Er war nervös, das erkannte ich, weil er auf seiner Lippe herumkaute. Ich hatte ihn schon lang nicht mehr gesehen, sein Blick war viel ernster geworden. Er war nicht viel größer als ich, ungefähr 1,75m. Seine hellbraunen Haare waren auch länger geworden, sie gingen fast bis zu den Schultern. Er sah ziemlich gewöhnlich aus. Er stach nicht aus der Menge hinaus, aber er kannte sich gut mit Computern und Technik aus. So manches technisches Problem hatte er mir schon gelöst.

Ich hoffte, dass er mir nicht erzählen würde, dass man Jessica tot aufgefunden hatte oder etwas dergleichen. Das würde ich nicht verkraften. Jetzt hatte ich Angst. Bitte, bitte, bitte, lass Jess nicht tot sein.

Er sah mich an und gerade als er etwas sagen wollte, platze mir hysterisch heraus: „Luis, ist Jess t... ?“

Mir brach die Stimme ab und kamen fast die Tränen,

Ich war wütend, dass er es nicht einfach sagte.

„Nein!“ Er sah mich erstaunt an, als ob er sich fragte, wie ich denn darauf komme.

Das machte mich noch wütender. Als wäre das nicht denkbar. Er platzte hier so rein und wollte nicht mit der Sprache rausrücken!

„Was willst du dann von mir?“

„Du musst mir einen Gefallen tun“, antwortete er ruhig.

„Was für einen Gefallen?Warum sollte ich...“ Er hatte sich schon ewig nicht mehr gemeldet und jetzt sollte ich ihm helfen?!

Aber Luis unterbrach mich: “Ich hab nicht viel Zeit, du trägst diese Kette doch immer oder?“ Er zeigte auf meine Halskette.

Was sollte das denn jetzt? Die Kette trug ich wirklich immer. Es ist ein Medallion mit den Bildern von Jess und meinem Dad, der gestorben war, als ich sechs war. Er hatte einen Autounfall, den er und zwei andere Personen nicht überlebt hatten. Seitdem Tag war meine Mutter nicht mehr dieselbe, sie verhielt sich kühl und zeigte mir keine Zuneigung oder Liebe. Auch nicht, als ich sie dringend gebraucht hatte. Stattdessen war sie fast nicht Zuhause, sondern war zu beschäftigt mit ihrer Arbeit oder auf Geschäftsreisen. In Wirklichkeit ging sie mir aus dem Weg. Der Tod von meinem Vater hatte unsere Familie zerstört und ich vermisste ihn jeden Tag.

Mir fiel die Frage wieder ein und ich nickte.

„Gibst du sie mir bitte kurz?“ fragte er und streckte die Hand aus.

„Wieso?“

Luis hatte vielleicht Nerven, hier plötzlich aufzutauchen und so geheimnisvoll zu tun.

„Gib sie mir einfach, ok? Du bekommst sie auch gleich wieder zurück!“

Er würde mir meine Frage also nicht beantworten, er erzählte mir gar nichts. Ich verschränkte die Arme. Ich sah keinen Grund, ihm meine Kette zu geben.

Er flehte: „Bitte, Neela!“

Ich schüttelte den Kopf: „Erst erzählst du mir, was los ist!“

Er machte die Augen zu und presste die Hände an den Kopf, dann machte er sie wieder auf und seufzte: „Ich kann dir nicht viel erzählen, das ist zu gefährlich.“ Als ich in nach dem Grund fragen wollte, redete er weiter: „Aber ich kann dir erzählen, dass ich in der letzten Zeit Nachforschungen über Jess' Aufenthalt und ihr Verschwinden betrieben habe. Ich hab fast nichts herausgefunden und hab immernoch keine Ahnung, wo sie sein könnte, aber ich bin auf etwas Anderes gestoßen. Es geht da um was Großes, dass alle haben wollen und es ist auf diesem Chip drauf. Es ist gefährlich, etwas darüber zu wissen, deswegen darfst du es auch keinem erzählen!“. Er hielt mir einen kleinen Chip vor die Nase.

„Sie suchen mich und wollen diesen Chip und du musst ihn für mich verstecken.“

Ich wollte ihm tausend Fragen stellen, aber als ich anfing, unterbrach er mich: „Ich kann dir nicht mehr sagen, es wäre zu gefährlich, aber bitte, gib mir kurz deine Kette!“

Ich händigte sie ihm aus und sah zu, wie er das Medallion öffnete und traurig das Bild von Jess anschaute, dann nahm er kurz das Bild von meinem Dad heraus und legte den Chip hinein und dann das Foto von meinem Vater.

Er gab mir das Medallion zurück, drehte sich um und sagte nur noch: „Sag niemandem etwas und vertraue keinem, am Besten nicht mal der Polizei, man weiß ja nie!“ Dann riss er die Tür auf und ging hinaus. Ich sah ihn noch in sein Auto steigen und wegfahren und schon war ich allein. Ich kannte mich nicht mit Autos aus, aber es war ein alter grauer VW.

Ich schloss die Tür und fragte mich, was gerade passiert war. Was war das gefährliche Etwas, das alle wollten? Wer verfolgte Luis? Wie war er an das, was auf dem Chip war, gekommen? War er in irgendetwas verwickelt? War Jess deswegen verschwunden? Nein, das konnte nicht sein, Luis würde niemals Jess in Gefahr bringen.

Ich war verwirrt, es musste so sein, deswegen konnte ich nicht klar denken. Ich stapfte die Treppe langsam hinauf, setzte mich auf mein Bett und weinte. Ich wollte nicht weinen wie ein kleines Mädchen, aber Luis hatte Erinnerungen wieder aufgefrischt, die ich lieber hätte vergessen wollen und verdrängt hatte.

Keiner würde mich heute trösten, weil keiner da ist, meine Mum nicht, mein Dad nicht und auch Jess nicht. Ich war alleine.

 

 

Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, wollte ich mich ablenken, ich dachte daran, joggen zu gehen. Wenn ich joggte, fühlte ich mich immer frei und unabhängig, also zog ich mir meine Jogginghose an, die bequemer war als jede Jeans. Dann zog ich mir noch ein Top und Schuhe an, steckte mir die Kopfhörer von meinem MP3-Player in die Ohren, schloss die Tür ab und lief los.

Ich betrieb viel Sport. Ich ging regelmäßig zum Tanzen, weil es mir richtig Spaß machte und um mich fit zu halten, joggte ich mindestens zweimal in der Woche.

Ich lief zuerst an der Straße entlang, aber es kamen fast keine Autos hier vorbei, manchmal verfuhren sich Leute und fragten dann nach dem Weg, aber sonst so gut wie nie. Dann lief ich in einen Wald hinein. Es war kein großer Wald, dafür konnte ich mich dort auch nicht so leicht verlaufen, denn mein Orientierungssinn war echt miserabel. Es fühlte sich gut an, auf dem Erdboden zu laufen und sich auszupowern, außerdem atmete ich frische Luft ein und das brauchte ich gerade wirklich.

Ich kam an einem Brunnen vorbei, trank einen Schluck und lauschte den Geräuschen vom Wald.

Ich hörte ein paar Amseln zwitschern und einen Specht gegen einen Baum klopfen. Der Wald war einfach fantastisch, soviel Leben. Und noch dazu unkompliziertes Leben. Hier werden Vogelbabys von ihren Müttern gefüttert und verpflegt.

Der Wind blies in mein Gesicht und das war sehr angenehm, denn es war ziemlich warm für Mai.

Ich lief noch ein paar Kilometer und machte mich dann auf den Rückweg. Ich war erschöpft. Als ich dann endlich zu Hause ankam, freute ich mich schon darauf, mir den Schweiß vom Körper zu waschen und lange zu duschen.

Ich stand vor der Haustür und holte den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Ich steckte den Schlüssel in das Schloss, aber es war gar nicht abgesperrt. Hatte ich etwa nicht abgesperrt?

Vielleicht irrte ich mich aber auch. Ich betrat das Haus. Alles war so wie es immer war, also hatte ich mich anscheinend doch getäuscht.

Ich dehnte noch ein wenig meine Muskeln, dann zog ich mich aus und stopfte die Klamotten in die Wäschetonne, legte meine Kette neben das Waschbecken und stellte mich unter die Dusche.

Es tat so gut, das Wasser zu spüren, das auf meine Haut prasselte. Ich stellte das Wasser zuerst auf kalt, dann machte ich es aber schön heiß, sodass man es fast nicht aushalten konnte, aber ich fand es gerade entspannend.

Ich stieg aus der Dusche und band mir mein Handtuch um. Ich musste auch noch Zähne putzen, also nahm ich meine Zahnbürste, gab ein bisschen Zahnpasta drauf und ab in den Mund. Der Badezimmerspiegel war angeschlagen, ich wischte einmal über den Spiegel und schon sah man das Badezimmer wieder einigermaßen klar. Es war auch so, wie fast alle Räume in diesem Haus, edel. Die Fliesen waren schneeweiß, genau wie die große Badewanne, das mit Gold verzierte Spülbecken, die Toilette und die Dusche.

Ich spülte meinen Mund mit Wasser aus, zog meine Halskette wieder an und ging in mein Zimmer. Immer noch völlig überhitzt, legte ich mich mit meinem Handtuch umgebunden, auf mein Bett und lauschte.

Zuerst hörte ich nichts, aber dann fiel mir ein leises piep, piep, piep auf, es klang gedämpft, aber es war da. Hoffentlich wurde ich nicht verrückt.

Der Sache würde ich gleich auf den Grund gehen. Davor warf ich aber noch einen Blick in meinen Kleiderschrank. Ob andere das Gefühl auch kannten, wenn sie genug Kleidung hatten, aber doch nichts zum Anziehen hatten? Ich stand vor meinem Kleiderschrank und hatte Entscheidungsprobleme. Letztendlich entschied ich mich dann für schwarze Unterwäsche, ein schlichtes Top und eine dunkle Jeans.

Ich hörte nochmal auf das Piepen, es kam nicht aus meinem Zimmer. Ich verließ mein Zimmer und horchte, als ich im Gang stand. Das Piepen war ein ganz kleines bisschen lauter geworden. Ich glaubte, dass es aus dem Schlafzimmer von meiner Mutter kam. Was konnte das sein? Vielleicht ein Handy? Nein, das wäre nicht so ein eintöniges Piepsen. Außer meine Mutter hatte den schrecklichsten Klingeltongeschmack entwickelt, den es gab. Aber sie hatte ihr Handy sicher nicht hier vergessen. Immerhin war sie auf "Geschäftsreise". Da vergisst man sein Handy nicht Zuhause.

Ich ging in das Zimmer von meiner Mutter. Dort war ich nicht besonders oft. Es gefiel mir auch nicht. Der Raum war zu unpersönlich. Es hingen keine Bilder an der Wand. Alles war überordentlich. Man könnte meinen, das hier niemand wohnte. Ich würde zumindest erwarten, dass ein Foto von meinem Dad hier stand, was leider nicht der Fall war. Meine Mutter enttäuschte mich, sie hatte sich so verändert.

Der Ton war jetzt schrill, aber trotzdem so leise, dass er einem normalerweise nicht auffallen würde. Das Geräusch kam aus ihrem Kleiderschrank, ganz sicher. Zögernd machte ich ein paar Schritte auf ihn zu. Ich wollte nicht in die Privatspähre von meiner Mutter eindringen, möglicherweise ging es mich nichts an. Das Piepen war vielleicht schon immer da gewesen, aber mir nie aufgefallen...

Dann raffte ich mich doch dazu auf, den Schrank zu öffnen. Die Neugierde siegte doch. Ich spähte vorsichtig hinein und bekam einen Schock.

Dort lag ein Gerät mit vielen Kabeln und einem Countdown, es sah gefährlich aus. Aber das konnte meiner Mutter nicht gehören. Oder?

 

Und dann dämmerte es mir langsam: Jemand war in unserem Haus gewesen, ich hatte die Tür also doch abgeschlossen. Und das Ding vor mir ist glaube ich ein Sprengsatz sein, es sah den Bomben im Fernsehen zumindest sehr ähnlich, aber warum? Es konnte nur was mit Luis und diesem Chip zu tun haben, in was hatte er mich da verwickelt?

Der Countdown zeigte 00:14:53....00:14:52....00:14:51 an.

Wenn ich die Polizei rufen würde, würden sie niemals rechtzeitig kommen, geschweige denn, die Bombe schnell genug entschärfen können.

Ich war in einer Art Schockstrarre und schaute diesen Sprengsatz ungläubig an, aber dann ging die Panik los. Bald flog hier alles in die Luft! Scheiße!

Ich rannte in mein Zimmer und griff mir schnell meine Sporttasche, weil sie relativ groß und gut zu tragen war. Ich schmiss mein Handy in die Tasche, steckte meinen Ausweis und Geld ein, das ich aus meinem klassischen rosa Sparschwein genommen hatte, dass ich gerade zerschlagen hatte, legte einen warmen Pullover mit einem Kätzchen bedruckt, eine Jeans, meine blaue Jogging- oder auch Wochenendhose, Unterwäsche, und noch zwei Tops in meine Sporttasche hinein. Jetzt hatte ich nur noch ungefähr 8 Minuten. Ich nahm noch das Foto von meinem Dad und mir, das immer auf meinem Schreibtisch lag und das ich mir immer anschaute wenn ich traurig war. Auf dem Foto war ich gerade fünf geworden und wir waren in einem Freizeitpark. Mein Papa hatte mich hochgehoben und wir beide grinsten über beide Ohren, im Hintergrund war eine wilde Achterbahn, mit der ich früher nie hatte fahren wollen, weil ich zu viel Angst hatte, aber inzwischen, wenn ich, zwar selten, in den Freizeitpark ging, fuhr ich immer mit dem Fahrgeschäft, auch wenn viele Leute anstanden.

Ich steckte das Bild hinten in meine Hosentasche und sauste die Treppe runter in die Küche. Wenn hier bald alles explodierte, dann brauchte ich auf jeden Fall etwas zu essen für die nächsten Tage. Wir hatten aber nicht viel da. Ich packte fünf Müsliriegel, eine Breze und einen Apfel ein.

Noch ca. 5 Minuten bis alles hochgehen würde.

Ich lief noch kurz in das Schlafzimmer von meiner Mutter und holte mir aus ihrer Schmucktruhe, die noch ein Geheimfach mit Geld hatte, wie ich als kleines Kind herausgefunden hatte, die restlichen Scheine hinaus. Ich blickte noch einmal auf den Sprengsatz in dem offenen Kleiderschrank: drei Minuten noch.

Ich sprintete die Treppe wieder hinunter und wäre fast hingefallen, weil ich ausgerutscht bin, aber ich konnte mich noch halten. Ein Nachteil an Marmor, er ist rutschig. Deswegen mochte ich ihn auch nicht.

Ich schlüpfte noch schnell in meine bequemsten Schuhe, mit denen ich auch stundenlang laufen konnte, und zwar meine schwarzen Sneakers. Dann hängte ich mir meine Sporttasche um, griff nach einer warmen Jacke, riss die Tür auf und rannte los.

Ich lief die Straße entlang so schnell ich konnte, wer weiß, wie weit die Explosion reichte, nicht, dass es mich noch ein paar Meter weit weg schleuderte. Das kam mir alles vor wie in einem Actionfilm, so unwirklich. Wem passierte so etwas denn in Wirklichkeit? War ja klar, mir!

Ich war nicht weit gekommen, als ich einen ohrenbetäubenden Knall hörte, mich umdrehte und mein Zuhause, in dem ich schon so lange lebte, seit ich mich erinnern konnte, in die Luft flog. Kleine Teile von Möbeln oder anderem und jede Menge Holz- oder Metallsplitter flogen in der Luft herum. Sie wurden von der Wucht der Explosion mehrere Meter weit geschleudert. Ich schützte mein Gesicht mit meinem Arm vor dem Splitterregen und presste die Augen fest zu, aber ich spürte, wie sich die Splitter in meine Haut ritzten oder an meiner Hose abprallten.

Als ich mich wieder traute, die Augen zu öffnen, sah ich Feuer und Rauch lag schwer in der Luft. Der Rauch brannte sich in meine Lunge, ich hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können und hustete. Meine Ohren klingelten und ich hörte nur noch gedämpft, so als würde ich träumen und Ohrenstöpsel tragen, nur dass noch ein hoher Ton zu hören war.

Es war schrecklich, alles war schrecklich, so viele Erinnerungen gingen verloren, gute sowie schlechte Erinnerungen. Meine Augen brannten vom Rauch und auch von der Tatsache, dass alles, was ich besaß, jetzt zerstört war. Ich hatte kein Zuhause mehr. Keinen Zufluchtsort. Das war mein Zuhause gewesen. Der Ort, an dem ich immer sein konnte. Der Ort, an den ich immer gehen konnte, wenn ich alleine sein wollte.

Ich flüchtete mich aus dieser Rauchwolke hinaus, sodass ich wieder bessere Luft einatmen und klarer denken konnte.

Ich atmete tief ein. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann brach ich zusammen. Alles kam hoch. Ich fiel auf die Knie und weinte. Ich weinte darüber, dass ich alles verloren hatte, dass meine Mutter so wütend, wie noch nie, sein würde, dass Luis mich in etwas verwickelt hatte, das mich mein Leben kosten könnte und dass ich hätte sterben können.

Man wollte mich anscheinend ermorden, und wenn diese Leute, die es gerade versucht hatten, herausfinden würden, dass ich noch lebte, dann würde vielleicht noch Schlimmeres passieren. Das kam mir alles wie ein schlechter Scherz vor, aber das war es nicht, es war todernst.

Ich wusste nicht, wann oder ob Polizei und Feuerwehr kamen, denn unser Haus war ziemlich weit weg und abgelegen von den nächsten Nachbarn, aber ich befürchtete, dass sie kommen würden und sie würden sicherlich fragen stellen, die ich aber nicht beantworten konnte oder wollte. Und außerdem hat Luis mir geraten, dass ich nicht einmal der Polizei vertrauen sollte. Und ich brauchte es gerade echt nicht, dass Polizisten mich mit auf das Revier nahmen, verhörten und in die Psychiatrie einweisen ließen. Ich meine, wenn ich ihnen sagen würde, dass da eine Bombe drin war und mir jemand Schaden zufügen wollte, und ich ihnen dann gar nicht mal einen richtigen Grund nennen kann, dann glauben die mir ja kein Wort. Vielleicht war ich auch nur zu geschockt um klar zu denken. Aber ich vertraute Luis irgendwie. Was tun?

Nach ein paar Mintuen hörte ich wieder fast normal und meine Tränen waren versiegt, also rappelte mich langsam auf und dann schaute ich nochmal auf das Chaos. Die Luft war zwar nicht mehr so unrein, wie vorher, aber immernoch schmutzig und ungesund und es brannten nur noch kleine Flammen vor sich hin. Ich betastete mein Gesicht und sah an mir herunter. Meine Arme waren zerkratzt, aber nicht schlimm, meine Kleidung war voller Staub und am linken Wangenknochen blutete ich. Gottseidank war nichts schlimmeres passiert.

Ich tastete in meiner Tasche mit zitternden Händen nach meinem Handy und rief die Feuerwehr an.

Ich erklärte, dass ein Haus explodiert war, aber keiner verletzt wurde, gab ihm die Adresse und legte auf.

Dann drehte ich mich um und wollte davongehen, als ich einen schwarzen BMW mit abgedunkelten Scheiben, der sehr teuer aussah, entdeckte. Abgedunkelte Scheiben fand ich schon immer gruselig. Ich war mir auch sicher, dass das Auto, als ich joggen war, noch nicht dort stand. Das beunruhigte mich. Wenn auch vielleicht unbegründet.

Lauf, verdammt!

Ich wusste echt nicht, was mich dazu trieb, aber ich lief in die entgegengesetzte Richtung des Autos. Mit anderen Worten, ich floh. Lief weg. So schnell ich konnte. Die Straße entlang durch den Rauch. Ich hatte nur eingeschränkte Sicht, weil der Rauch doch noch dichter war als ich gedacht hatte, aber ich lief weiter. Und das Schlimmste. Das Auto fuhr mir hinterher. Noch hatte ich Vorsprung, aber ich bin nur einen Bruchteil so schnell wie ein Auto. Aus meiner Intuition heraus lief ich von der Straße ab in einen Wald, bevor das Auto mich einholte. In einen großen Wald. Nicht in dem kleinen Wald, in dem ich joggen war, denn der war in der anderen Richtung. Ich hörte das Auto noch bremsen und dann kurze Zeit später Autotüren zuknallen. Das trieb mich noch mehr an. Ich hatte Angst.

Ich lief einfach so schnell ich konnte zwischen den Bäumen und Pflanzen durch. Immer tiefer in den Wald. Hinter mir hörte ich Schritte. Ich war außer Atem. Mit einem Rasseln sog ich Luft in meine zugeschnürte Lunge. Mein Puls schlug bis zum Hals und ich spürte das Pochen in meinen Ohren. Mein Atem ging stoßweise und ich achtete auf nichts mehr. Blätter peitschten gegen mein Gesicht. Ich stolperte öfters über Wurzeln und konnte mich glücklicherweise immernoch halten. Lauf! Verdammt, du musst durchhalten! Meine Beine schmerzten und ich dachte, dass ich gleich zusammenbrechen würde. Ich biss die Zähne zusammen und rannte weiter.

Die Schritte folgten mir aber und ließen sich nicht abschütteln. Meine Verfolger riefen auch etwas, was ich aber nicht verstand. Ich wusste nur, dass es Männerstimmen waren. Die Männer holten immer weiter auf. Meine Kräfte verließen mich langsam. Ich schlängelte mich mit meinen letzten Kräfte zwischen die Bäume durch und einen Hügel hinunter. Dann versteckte ich mich hinter einem großen Felsen, von denen es hier glücklicherweise sehr viele gab. Ich presste mich gegen den Stein und versuchte meinen Atem zu kontrollieren und kein Geräusch von mir zu geben. Aber ich hatte das Gefühl, dass man meinen Atem im Umkreis von mehreren hundert Metern hören konnte. Neela, du darfst jetzt keinen Mucks machen! Beruhig dich! Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen! Wenn sie dich finden, wer weiß was dann passiert?! Also pscht jetzt! Reiß dich zusammen!!! Ich versuchte mich zu beruhigen und atmete durch die Nase, aber bald bekam ich das Gefühl, als würde mir der Sauerstoff ausgehen.

Die Schritte von meinen Verfolgern stoppten jetzt. Die Blätter raschelten unter ihren Füßen. Sie waren ganz in meiner Nähe. Langsam schritten sie umher und sahen sich um. Dann verstummten ihre Schritte und sie horchten. Ich hielt die Luft an. Und horchte auch.

"Wo ist dieses Mädel?", hörte ich eine tiefe genervte Stimme.

"Keine Ahnung, aber sie ist verdammt schnell!", erwiderte eine andere nicht ganz so genervte Stimme.

"Ja, aber sie muss hier doch noch irgendwo sein!", sagt der Erste. "Komm raus, Kleine, wir tun dir auch nicht weh!", ruft er jetzt lauter.

Wer's glaubt! Warum laufen sie mir dann eine gefühlte Ewigkeit hinterher? Ich wagte immernoch kaum zu atmen. Ich würde nicht aus meinem Versteck rauskommen, soviel stand fest.

Als die Beiden bermerkten, dass sie keine Antwort bekommen würden, ruft jetzt der Andere: "Es ist viel leichter für uns, wenn du freiwillig rauskommst, das erspart uns allen viel Zeit und Aufwand!"

Ich war doch nicht bescheuert. Lieber sterbe ich, als mich zu zeigen. Diese Leute hatten mein Haus möglicherweise in die Luft gesprengt. Da war es doch kein Wunder, dass ich nicht mit ihnen kooperierte, oder? Außerdem machte mir das, was sie gerade mit "Aufwand und Zeit ersparen" gesagt hatten, Angst.

Ein tiefes Seufzen ertönte, aber ich wusste nicht von wem. "Dann halt nicht, aber sag dann ja nicht, wir hätten es dir nicht angeboten. Aber ich warne dich, unsere Laune ist jetzt nicht mehr so gut wie vorher!", ruft der Erste warnend.

War das etwa eine Drohung? Verdammt, ich musste hier weg, bevor sie mich entdeckten. Die beiden Männer setzten sich wieder in Bewegung und suchten jetzt nach mir. Einer kam immer näher zu meinem Felsen und ich presste mich so fest in die kleine Nische hinter mir, wie es nur ging, mehr konnte ich ja nicht machen, außer weglaufen, aber das würden meine Beine nicht aushalten und dann hätten sie mich sicher. Das Rascheln von den Blättern unter dem Gewicht von einem der Männer kam immer näher. Immer immer näher. Noch näher. Ich konnte schon seinen Atem ganz leise hören. Warum sah er mich nicht schon längst? Ich bewegte mich nicht. Stand ganz starr. Wartete bis er mich erblickte. Er musste nur noch einen Schritt nach vorne machen. Ich schloss die Augen und wartete drauf, dass er mich entdeckte. Doch er wandte sich ab und die Schritte entfernten sich langsam. Das war Glück! Verdammtes Glück! Er hätte mich wirklich fast endeckt. Eine kleine Erleichterung machte sich in mir breit und ich entspannte mich ein wenig, aber ich spürte, wie das Adrenalin durch meine Adern rauscht. Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Noch war ich nicht in Sicherheit.

"Fuck?!? Wo ist die kleine Schlampe?", zischte der Zweite jetzt auch wütend. Schlampe? Hallooo? Diese Typen kannten mich nicht mal.

"Suchen wir mal weiter da hinten", machte der Erste den Vorschlag.

Und damit entfernten sich die Schritte ein Stück. Aber halt noch nicht ganz. Noch nicht genug. Nicht genug, dass sie mich nicht mehr sehen würden. Aber ich musste dringend hier weg! Ich wartete noch ein bisschen ab und mein Puls hatte sich auch wieder beruhigt, als ich losrannte. Ich rannte mal wieder schnellstmöglich. Aber ich blickte mich nicht um, um zu schauen, ob die Männer mir hinterherliefen.

Der Wald wurde immer dichter und ich machte oft Kurven und wechselte die Richtung, damit man mir schwerer folgen konnte. Ihre Schritte hörte ich nicht mehr. Irgendwann drosselte ich mein Tempo und....keine Spur von meinen Verfolgern. Erleichterung. Ich joggte noch ein Stück weiter, nur um sicherzugehen. Dann blieb ich stehen, erschöpft und fix und fertig. Ich atmete schwer und stoßweise. Ich stand ein paar Minuten einfach nur auf meine Knie gestützt da und versuchte meinen Puls wieder runter zu bekommen. Mein Herz schlug viel zu schnell und ich spürte das Pochen bis in meine Ohren. Außerdem spürte ich meine Beine nicht mehr, sondern nur die Hitze, die von überall zu kommen schien. Ich schloss die Augen. Und wartete. Sekunden. Minuten. Ich hörte auf meine Umgebung. Vögel zwitscherten, der Wind brachte die Blätter zum Rascheln, ein Specht klopfte gegen einen Baum und ich hörte...Plätschern. Bei diesem Geräusch wurde mir bewusst, wieviel Durst ich hatte. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich öffnete wieder meine Augen und richtete mich auf. Im Wald war es ziemlich düster. Ich wusste nicht, wie spät es war und wie lange ich gelaufen war. Das einizige, was mich gerade interessierte, war etwas zu Trinken. Ich folgte dem Plätschern langsam, weil meine Beine jetzt schmerzten und dann kam ich bei einem kleinen Bach an.

Ich war so glücklich in diesem Moment, dass ich eine Wasserstelle gefunden hatte. Vor dem Bach ließ ich mich auf die Knie fallen, legte meine Sporttasche zur Seite und trank erstmal das klare Wasser. Es war mir egal, ob das Wasser möglicherweise kein Trinkwasser war, es hätte vermutlich auch mit Keimen verseucht sein können und ich hätte es getrunken. Als ich meinen Durst gestillt hatte, legte ich mich auf den Boden uns schaute nach oben zur Blätterdecke, die mir die Sicht auf den Himmel versperrt und den Wald stark abdunkelt. Ich lag einfach nur da und dachte nach.

Was war heute alles passiert? Wenn mich das jemand fragen würde und ich es ihm ehrlich erzählen würde, würde derjenige mir kein Wort glauben. Zuerst hat der Bruder von meiner besten Freundin mir einen Chip in meine Halskette getan, damit ihn keiner in die Finger bekommt. Dann haben ein paar Vollidioten mein Haus in die Luft gejagt. Dann haben diese Trottel mich durch den Wald verfolgt. Fast hätten sie mich entdeckt. Dann bin ich wieder vor ihnen geflohen und bin ihnen entkommen und jetzt liege ich im Wald auf dem Boden und habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Das klang doch verrückt! Keiner würde mir das glauben!

Ja, was sollte ich jetzt machen? Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, geschweige denn, wie ich wieder aus diesem scheiß Wald herausfinden sollte (hatte ich schon meinen schlechten Orientierungssinn erwähnt?) und auch wenn ich hier herauskam...wo sollte ich denn hingehen? Mein Zuhause war explodiert, Jessica war immernoch verschwunden, deren großer Bruder war auch wie vom Erdboden verschluckt, mein Vater war tot, meine Mutter war irgendwo im Ausland und würde mich köpfen, wenn sie unser Haus, oder besser gesagt, den Ort, wo es stand, sehen würde und...naja, wo konnte ich denn sonst hin? Das war ja die Frage.

Vielleicht sollte ich meine Mutter ja doch anrufen, immerhin würde sie auch irgendwann nach Hause kommen. Und wenn sie die Überreste von unserem Haus sehen würde, würde sie bestimmt denken, dass ich tot wäre, weil sonst hatte mich ja auch niemand mehr gesehen. Ja, keiner hatte mich mehr gesehen seit der Explosion, außer die zwei Kerle, aber die würden das wohl kaum der Polizei mitteilen. Man würde denken, dass ich umgekommen bin. Oder, dass ich das Haus gesprengt hätte.

Was machte man denn in einer solchen Situation? Ich hatte keine Ahnung. In meinem Kopf schwirrten meine Gedanken nur wirr umher und konnten keinen klaren Gedanken oder Befehl fassen. Ich hatte Kopfschmerzen. Ich griff zu meinem Handy und wollte meine Mutter oder irgendwem berichten, dass ich noch am Leben war, aber mein Vorhaben konnte ich nicht in die Tat umsetzen, denn ich hatte keinen Empfang. Und aufstehen, um nach Empfang zu suchen, wollte ich jetzt auch nicht, dafür war ich zu erschöpft. Ich blickte auf meine Handyuhr. Es war 19:25 Uhr. Normalerweise aß ich um diese Zeit, aber ich hatte keinen Hunger, also aß ich weder meine Breze noch sonst etwas, sondern lag nur da und hing meinen Gedanken nach. Morgen war ja auch noch ein Tag. Morgen würde ich mir einen Weg aus dem Wald bahnen, meine Mum vielleicht anrufen und dann....mal sehen.

Irgendwann schlief ich wohl ein, aber ich träumte nicht, bloß ein tiefer, erholsamer Schlaf.

Mein Klogefecht

Am nächsten morgen war ich wieder einigermaßen fit, aber halt nur einigermaßen, denn es war echt nicht bequem auf einem harten kalten Waldboden zu schlafen und außerdem hatten mich komische Geräusche immer wieder aufgeweckt. Diese Nacht war wie in einem Horrorfilm. Allein im Wald. Rascheln von irgendwelchen nachtaktiven Tieren. Rauschen von Bäumen. Geräusche und Rufe von Waldtieren. Mich hatte in der Nacht sogar ein Tier gestriffen. Es war so gruselig. Nie wieder.

Aber jetzt war es ja wieder hell. Wohin sollte ich jetzt? Am Besten raus aus dem Wald, dann sehen wir weiter. Ich sammelte meinen Kram zusammen und wollte mich auf den Weg machen, aber welcher Weg war der Richtige? Ich hatte keine Ahnung, wie immer eigentlich. Na, dann auf gut Glück. Ich ging ein Stück an dem Bach entlang und dann einfach immer geradeaus. Irgendwann musste ich ja schließlich hier rauskommen. Zwischendurch blickte ich immer mal wieder auf mein Handy. Empfang hatte ich immer noch keinen und dann kam noch dazu, dass der Akku nicht mehr allzu voll war. Das könnte noch zum Problem werden. Aber ich ging weiter, gefühlte 10 Stunden, aber ganz so viel war es dann doch nicht. Ich schätzte so  4 oder 5 Stunden bin ich gegangen, bis ich das Ende vom Wald sah. Endlich!

Du hast es geschafft! Du hast hier rausgefunden! Ohne Hilfe! Juhuuu! Ein bisschen Stolz war ich schon. Das letzte Stück rannte ich fast aus dem Wald hinaus bis ich an einer Landstraße ankam. Ich war mitten im Nirgendwo, aber das war ja ziemlich nah an meinem alten Zuhause dran. Auch nirgendwo. Jetzt musste ich erst einmal herausfinden, wo ich war, also ging ich an der Straße entlang, bis ich in einen kleinen Ort gelangte, an dem ich aber noch niemals zuvor war. Was sollte ich jetzt machen? Meine Mum anrufen? Wieder zurückgehen? Während ich das überlegte, betrat ich ein kleines nettes Cafe und bestellte mir bei einer jungen Bedienung einen Cappuccino.

Ich hatte keine Lust mit meiner Mutter zu telefonieren, denn ich würde ihr alles erklären müssen, obwohl ich zu den meisten Themen auch keine Erklärungen habe. Aber ich musste mich bald entscheiden, weil sonst mein Handyakku leer werden würde. Eine SMS! Ich schickte ihr einfach eine SMS.

Hallo Mutter,

Zuhause sind einige Sachen passiert, die ich dir nicht erklären kann.

Du musst nur wissen, dass es mir gut geht und den Rest wirst du selbst noch sehen...

Ich kann vorerst nicht nach Hause kommen, glaube ich, denn irgendwer verfolgt mich.

Es tut mir leid

Lg Neela

Ich las mir den Text nochmal durch. Das, was ich geschrieben hatte, klang irgendwie komisch. Eigentlich sagte es gar nichts aus, aber was sollte man den sonst schreiben? Ja, hallo, Mutti, unser Haus ist in die Luft geflogen, aber es geht mir gut. Sollte ich lieber so etwas schreiben? Ach, eigentlich war es ja egal, meine Mum würde sich eh nur über das zerstörte Haus aufregen. Also konnte es ruhig so geheimnisvoll klingen. Es war ihr scheißegal, warum ich verfolgt wurde oder dass es mir gut ging. Sie würde mich sogar eher in den Knast stecken, weil sie mir nicht glaubte. Ich starrte noch kurz den Bildschirm an und dann drückte ich auf SENDEN. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Abgschickt. Weg.

Mein Hauptproblem hatte ich aber immernoch...Was zum Teufel sollte ich jetzt tun? Wo sollte ich hin? Die Bedienung brachte mir meinen Cappuccino und anscheinend konnte mir meine Sorgen ansehen, denn sie fragte mich vorsichtig: "Ist alles in Ordung mit dir?" Ich schaute ihr in die Augen, man konnte daraus aufrichtige Sorge ablesen, aber keiner konnte mir in meiner Situation wirklich helfen, außer Luis, der nicht da war.

Ich antwortete ihr höflich: "Ja, alles Bestens, danke der Nachfrage."

Nachdem ich meinen heißen Cappuccino halb ausgetrunken hatte, ging ich auf die Toilette, um mich ein bisschen aufzufrischen. Ich betrachtete das zerkratzte und schmutzige Mädchen im Spiegel. Ich sah kaputt aus und man könnte echt meinen, dass ich eine ganze Nacht im Wald verbracht hatte. Meine Haare waren total zerzaust und kleine Laubblätter hingen zwischen meiner braunen Haarpracht. Auf meiner Wange war ein größerer Kratzer, aber so schlimm sah er nicht aus. Ich wusch mir mit dem kalten Wasser mein Gesicht so gut es ging, zupfte das Laub aus meinen Haaren und richtete sie so gut es ging. Schon viel besser. Aber noch lange nicht perfekt. Dann kehrte ich dem Spiegel den Rücken zu und verließ das Damenklo. Auf meinem Platz zurück, wollte ich gerade weiter meinen Kaffee trinken, als mein Handy klingelte. Ich schaute auf das Display. Es war nicht meine Mutter, wie ich es erwartet hatte. Unbekannte Nummer. Immer diese Nummern-Unterdrücker. Sollte ich rangehen? Immerhin war es vielleicht Luis. Oder aber auch einer von meinen Verfolgern, aber woher sollten die meine Nummer haben?

Manche Leute würden sich jetzt bestimmt denken, warum ging sie denn an ihr Handy! War sie bescheuert? Aber Tatsache ist, dass ich alleine war. Total einsam. Ich hatte niemanden mehr, der mir wirklich etwas bedeutete und wenn das am Telefon Luis war, dann wäre das ein kleiner Trost. Außerdem...es war nur ein Anruf, was sollte schon passieren?

Mit neutraler Stimme sage ich: "Ja?"

Keine Antwort. Aber es war jemand in der Leitung, denn ich hörte leises Rauschen.

"Hallloooooo?!?!", fragte ich jetzt ziemlich genervt.

Immernoch keine Reaktion. Der hatte vielleicht Nerven! Gar nicht mal eine Antwort wollte man mir geben. Wütend legte ich auf und und haute mein Handy auf den Tisch. Nicht aufregen, Neela, das bringt dir gar nichts. Wahrscheinlich war es nur ein Telefonstreich oder jemand hat sich verwählt. Oder Shit! Vielleicht war es Jessica! Vielleicht konnte sie nichts sagen, aber ich sollte zuhören! Nein, das kann nicht sein, oder? Oder vielleicht ist Luis etwas passiert? Nein, nein, das konnte nicht so sein, das dramatisierte ich zu sehr. Ich versuchte mich mit meinen Gedanken abzulenken, was aber nicht klappte, denn jetzt machte ich mir Sorgen. Ob es Jessica gut geht? Das hatte ich mich schon tausendmal gefragt. Vielleicht saß sie jetzt in einem Keller von irgendeinem Perversen oder vielleicht war sie im Ausland, weil irgendwer sie verschleppt hatte. Ich legte meine Hände auf meine Augen und seufzte. Sowas durfte ich nicht denken! Sie war ein starkes Mädchen! Sie ließ sich nicht unterkriegen oder verschleppen! Und das würde ich auch nicht mit mir machen lassen!

Ich werde stark sein und keiner kriegt mich unter, dir zuliebe, Jess! Wir werden uns wiedersehen! Beide wohlauf und munter!

Ich hing mit geschlossenen Augen meinen Gedanken nach und hatte neue Stärke und Hoffnung geschöpft. Das eine ganze Weile anscheinend. Ich hatte nichts um mich herum mitbekommen und mein Cappuccino war auch kalt geworden. Ich starrte gedankenverloren meine Tasse an bis sich jemand an meinen Tisch setzte. Zwei Jemande um genau zu sein. Ich schaute sie an. Zwei Kerle. Die aus dem Wald? Ich hatte sie ja nicht gesehen, also konnten es auch genauso gut zwei Typen sein, die mich nur anbaggern wollten. Die Beiden mir gegenüber sahen gut aus, verdammt gut um ehrlich zu sein. Muskulös, Groß, der eine schwarze, der andere blonde Haare, und markante Gesichter, die sie geheimnisvoll wirken lassen. Ich schätzte sie so auf 18-20 Jahre.

"Was?", fragte ich ein wenig genervt, aber nur weil ich meine leichte Panik überspielen wollte.

"Dürfen sich zwei Männer nicht zu einer schönen Frau setzen?", flirtete der Schwarzhaarige mich an. Er hatte ein verschmitztes Lächeln aufgesetzt, dass ich leider...sehr sexy fand.

"Kommt darauf an, was diese zwei Männer von der schönen Frau wollen", antwortete ich und zog eine Augenbraue hoch.

"Wie wärs mit einem frischen, heißen Cappuccino?", erwiderte der Schwarzhaarige und zog ebenfalls eine Augenbraue hoch. Seine Stimme kam mir verdammt bekannt vor, jetzt wo ich drauf achtete. Davor war ich wohl von seinem Aussehen überrumpelt gewesen. War das die Stimme aus dem Wald? Ich war mir nicht sicher, aber wessen Stimme sollte es sonst sein? Wenn ich diesen Typen schon mal gesehen hätte, würde ich mich bestimmt daran erinnern. Eine Stimme aus dem Fernsehen? Wohl kaum. So eine Stimme gehörte nicht ins Fernsehen. Dafür war sie zu...wie sollte man das beschreiben...männlich? Ich war verunsichert. Wenn das wirklich meine beiden Verfolger waren...sollte ich doch jetzt wegglaufen, oder? Aber wie standen meine Chancen? Es gab nur einen Weg nach draußen. Und zwar durch die einzige Tür. Es könnte aber auch noch einen Ausgang in der Küche von dem Cafe geben. Aber den sah ich von meinem Platz aus nicht, also wäre diese Fluchtmöglichkeit zu unsicher. Gab es in der Toilette ein Fenster aus dem ich klettern konnte? Könnte sein, aber das hieß noch lange nicht, dass man es weit genug oder auch überhaupt öffnen konnte. Aber vielleicht waren das gar nicht meine Verfolger. Wie hätten sie mich denn finden sollen?

Ich spürte immernoch die abwartenden Blicke der Beiden auf mir und erinnerte mich wieder an die Frage.

"Nein, danke. Ich will keinen Cappuccino, den hier", ich deutete auf meinen kalten Kaffee, "hab ich nicht ausgetrunken, weil ich nicht so ein Fan von dem Kaffee-Geschmack bin." Aber das stimmte nicht. Ich liebte Kaffee und unter anderen Umständen hätte ich mir auch einen ausgeben lassen, aber lieber nicht heute. Ich wollte schleunigst hier weg.

"Möchtest du etwas anderes haben?", meldete sich jetzt der Blonde zu Wort. Die Stimme kam mir ebenfalls bekannt vor. DAS waren die Kerle aus dem Wald. Verdammt. Woher wussten die, wo ich war?!?!

"Nein, nein", antwortete ich einen Tick zu hastig, "ich wollte sowieso gerade gehen. Davor muss ich mich aber nochmal frisch machen." Ich stand halb auf, nahm meine Sporttasche und wollte nach meinem Handy greifen, aber der Schwarzhaarige hatte es in der Hand und klopfte damit leise und rhytmisch auf den Tisch.

"Kann ich bitte mein Handy haben?", fragte ich mit einer, leider, nervösen Stimme.

"Ich gebs dir zurück, wenn du von der Toilette wiederkommst. Wir wollen zumindest noch, dass du dich verabschiedest, bevor du gehst", sagte der Schwarzhaarige mit seinem verführerischen Lächeln. Ich fluchte innerlich. Wenn ich jetzt widersprach, würden sie wissen, dass ich sie erkannte und gerade abhauen wollte.

"Natürlich verabschiede ich mich noch von euch!", log ich.

"Gut, dann kannst du dein Handy ja dann holen, wenn du zurückkommst", sagte der Blonde und stellte damit klar, dass sie mir mein Handy jetzt nicht geben würden. Zumindest konnten sie mir nicht auch noch meine Sporttasche wegnehmen, denn das wäre zu auffällig. Ich biss die Zähne zusammen, presste ein wütendes "Na gut!" hervor, drehte mich um und versuchte mit normaler Geschwindigkeit und entspannt zum Damenklo zu gehen, aber meine Panik erhöhte mein Tempo etwas. Als ich durch die Tür zum Reich der Damen war, verlor ich meine Fassade ganz. Ich blickte kurz in den Spiegel und sah, wie mein verängstigtes Spiegelbild mich anschaute. Mein Handy! Diese Deppen hatten mein Handy! Mein Kontakt zu....ja zu wem eigentlich?....zu meiner Mum, aber das war mir relativ egal...Luis könnte anrufen, aber das hatte er bis jetzt auch nicht getan, wieso sollte er es dann jetzt tun?...Jessica könnte auch anrufen, aber ich konnte jetzt nicht wieder da raus gehen, denn meine Chancen auf eine Flucht standen diesmal sehr schlecht. Ich stürmte zu dem kleinen Fenster, dass mir einen Fluchtweg darbieten könnte und versuchte es zu öffnen. Es klappte, aber leider nur einen Spalt breit, weil es danach auf eine Sperre traf. Scheiße! Ich rüttelte an er Sperre, die mir meine Freiheit verbaute, aber es half nicht.

Neela! Du musst nachdenken! Wenn du da wieder rausgehst, erwischen sie dich mit ziemlicher Sicherheit! Außerdem war dann der halbe Marathon gestern, den du hingelegt hast, völlig umsonst. Lass dir was einfallen, verdammt!

Dann fiel mein Blick auf eine Stahlschachtel, die neben dem Waschbecken stand und Trockentücher für die Hände beinhaltete. Ich griff danach und depperte wie eine Blöde gegen die Sperre, aber ich achtete darauf nicht so laut zu sein, denn sonst würden die Bediensteten hereinkommen oder diese zwei Typen würden meine Flucht erahnen. Klong, klong...klong. Langsam lockerte sich die Sperre etwas. Klong, klong...klong. Die Sperre wurde immer lockerer, denn der Putz von der Wand, an der sie befestigt war, fing an zu bröckeln. Klong, klong....und JAAAA! Geschafft! Die Sperre fiel auf den Boden und das Fenster ließ sich jetzt weiter öffnen. Schnell warf ich meine Sporttasche raus und kletterte hinterher. Ich zog mich nach oben, denn das Fenster war etwas höher in der Wand eingebaut. Als ich mit der Kraft meiner Arme auch meinen restlichen Körper hinausbefördern wollte, ergriffen zwei Hände meine Handgelenke und zogen mich mit Leichtigkeit raus. Mein Retter? Luis? War er mir zu Hilfe gekommen? Aber die Hände ließen nicht los, sondern der Griff um meine Gelenke wurde stärker. Irritiert blickte ich zu dem Besitzer der Hände auf.

Sofort versteifte ich mich und versuchte mich loszureißen, denn es war der Blonde von gerade eben. Woher wusste der Kerl, dass ich aus dem Fenster klettern würde? Ich versuchte meine Handgelenke von seinem Griff zu befreien, aber er hielt mich eisern fest. Ich musste hier weg! Ich trat mit meinen Beinen nach ihm und wand mich in seinem Griff. Mein rechtes Bein erwischte sein Schienbein, anscheinend härter als ich gedacht hatte, und der Blonde verzog das Gesicht und presste aus zusammengebissenen Zähnen hervor: „Du kleine Bitch!“ Nicht gleich so böse der Herr. Dann ließ er eines meiner Handgelenke los und holte aus, um mir eine zu scheuern, aber soweit kam es nicht, denn ich schlug ihm schnell mit der freien Faust ins Gesicht. Danke, meine lieben Reflexe. Anstatt mir mit seiner erhobenen Hand eine runterzuhauen, hielt der Kerl sich jetzt mit der Hand seine Nase. Ich hatte ihn hart erwischt. Härter als ich dachte. Aber er wollte mich schlagen. Ein Mädchen. Man schlug keine Mädchen. Das ging ja mal gar nicht.

Während er kurz abgelenkt von seinen Schmerzen war, ergriff ich die Gelegenheit und befreite mich ganz aus seinem Griff. Er wollte mich wieder packen, aber ich war schneller und sprang somit wieder durch das Fenster ins Damenklo. Ich landete einigermaßen elegant mit meinen Füßen auf dem Boden und stürmte zur Tür. Ich stieß die Tür auf und drehte mich nochmal um. Der Blonde kletterte auch gerade durch das Fenster. Jetzt mal lieber ganz schnell, Neela. Ich rannte los, oder eher gesagt, wollte anfangen loszurennen, aber nach einem Schritt prallte ich gegen Jemanden. Warum schaust du nicht auf den Weg vor dir, sondern zu dem blonden Holzkopf hinter dir, Neela? fragte ich mich in Gedanken, denn es war eine verdammt gute Frage. Ich war dem Schwarzhaarigen nämlich genau in die Arme gelaufen. Mit 'genau' meinte ich auch 'genau'. Denn mir wurde bewusst: Ich war in eine Falle gelaufen. Der Blonde hatte den Fluchtweg durch das Fenster blockiert und der Schwarzhaarige durch die Tür. Sie mussten wohl bemerkt haben, dass ich abhauen wollte und mein Handy mir herzlich egal war. Und wahrscheinlich hatten sie sich auch gedacht, dass ich keine Lust hatte, mich zu verabschieden. Womit sie vollkommen recht hatten.

Der Schwarzhaarige packte mich mit einem festen Griff um meine Taille. Ich schlug und trat aus, aber er drängte mich an eine Wand und stellte sich mit einem Bein zwischen meinen Beinen hin, damit ich ihn nicht treten konnte. Außerdem ließ er meine Taille los, dafür packte er aber meine Hände und drückte sie über meinem Kopf gegen die Wand, sodass ich mich fast nicht mehr rühren konnte. Ich probierte noch, mich irgendwie aus seinem Griff herauszuwinden, aber ich hatte keine Chance. Der Kerl war mindestens dreimal so stark wie ich und einen guten Kopf größer. Und auch wenn ich ihn umlegen könnte, rein theoretisch, wäre immernoch der Blonde da, der fast die gleiche Körperstatur wie der Schwarzhaarige hat, also Muskelbepackt und ungefähr die gleiche Größe. Auswegslos. Aber ganz so einfach würde ich es den Beiden nicht machen. Ein bisschen Widerstand konnte ich immer leisten. Also wand ich mich weiterhin, bis der Schwarzhaarige seinen Körper noch dichter gegen meinen drückte, dass ich wirklich fast keinen Bewegungsspielraum mehr zur Verfügung hatte.

„Dachtest du, wir sind so blöd und lassen dich einfach so abhauen, Prinzessin?“, fragte der Schwarzhaarige mit seinem verführerischen Lächeln. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Ich könnte ihm ne Kopfnuss geben, aber dann würde wohl eher ich K.O. gehen, als er.

Was sollte ich ihm denn antworten? Ja, ich dachte, dass ihr so blöd seid! Dann scheuerten sie mir sicherlich eine und das musste nicht unbedingt sein, wenn es sich vermeiden ließ. Nein, aber ich hab gehofft, trotzdem zu entkommen. Das klang schwach, also würde ich diese Worte auch nicht laut aussprechen. Mir fiel nichts anderes ein. Was machte ein Mädchen, wenn es von zwei Männern bedrängt wurde? Ganz klar, oder? Ich schrie. Ganz laut. So laut und schrill, dass die beiden Trottel zusammenzuckten und kurz völlig überrumpelt waren. Dann reagierte der Schwarzhaarige, indem er seine Hand unsanft auf meinen Mund legte und mein Schrei erstickt wurde. Ich wollte meine Angst, und wie sehr mir diese Situation zuwider war, nicht zeigen, also lächelte ich die Beiden triumphierend an, denn gleich würde hier jemand hereinkommen und mir helfen. Aber das Lächeln hatte mir eine Schelle eingehandelt. Der Schwarzhaarige holte mit seiner flachen Hand aus und zog voll durch. Meine Wange brannte. Wer ein Mädchen schlug, war ein richtiges Arschloch. Dann zischte er zur Krönung noch wütend: „Du kleines Miststück! Halt gefälligst deine Fresse!“

Jetzt verwandelte sich meine Angst in Wut. Sowas ließ ich mir nicht bieten! KEINER haute mir erst eine runter und beleidigte mich dann auch noch! Ich wollte gerade anfangen die beiden Arschlöcher bis aufs Grab zu beleidigen, aber dann geschah es ganz schnell. Der Blonde und der Schwarzhaarige wechselten einen vielsagenden Blick, der MIR allerdings nichts sagte, dann ging der Blonde schnell in eine Kabine und gerade als sich die Tür öffnete, drückte der Schwarzhaarige seine Lippen fest auf meine. Der Kerl küsste mich. Er KÜSSTE mich! Ich wollte mich wehren, aber er ließ mich nicht, er presste sich so hart gegen mich, dass ich mich kein Stück bewegen konnte und dass es schon wehtat. Ich wollte schreien, aber es kamen nur komische Laute aus meinem Mund, weil ich weder richtig Luft holen konnte noch meinen Mund zum Schreien öffnen konnte, denn der Kerl steckte mir seine Zunge in den Hals, damit kein Laut über meine Lippen kam, außer Laute, die man auch als Stöhnen oder Seufzen verstehen könnte. Er küsste mich nicht bloß, sondern er küsste mich MIT ZUNGE! Bäh! Ich war kurz vor einem Wutausbruch! Meine ganze Angst, meine Wut, mein Frust, meine Panik und meine Energie stauten sich in meinem Inneren gefährlich zusammen und drohten herauszuplatzen. Ich wollte nicht von diesem Typen geküsst werden! Ich hatte zwar auch schon andere Kerle geküsst, aber keiner von denen wollte mir etwas antun oder hatte mich geschlagen. Alles in mir sträubte sich. Ich musste hier weg.

Die Tür hatte sich doch gerade geöffnet oder? Ich hatte bei dem Kuss automatisch meine Augen geschlossen, die ich jetzt wieder öffnete und die Person ansah, die den Raum betreten hatte. Die junge Bedienung. Sie starrte uns geschockt an und stammelte dann: „Oh....äh...tut mir leid....ich.....ich wollte nicht....ich dachte jemand hätte....is auch egal....ich geh dann wieder......“ Mit diesen Worten verschwand sie aus der Tür und mein Plan wurde in zehntausend kleine Teile zersplittert. Die Bedienstete hatte sagen wollen 'Ich dachte jemand hätte geschrien' da war ich mir sicher. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Diese verdammten Mistkerle! So hinterhältige...gemeine.....widerliche......gewalttätige Trottel! Meine Chance, wegen denen war meine wunderbare Chance vorbei! Die hatten mir alles versaut!

Einen Moment länger als es nötig gewesen wäre, küsste mich der Schwarzhaarige, dann ließ er endlich von mir ab und sah mich triumphierend und mit leichtem Spott in den Augen an. Der Blonde kam auch aus seiner Klokabine raus und schaute mich genauso an. Ich biss die Zähne zusammen und blickte wütend zurück. Meine tiefe Verzweiflung und Hilflosigkeit wollte ich nicht zeigen, deswegen den wütenden Gesichtsausdruck. Ich war zwar auch wütend, aber wenn ich zeigen würde, was in meinem Inneren vorging, dann würde ich anfangen zu heulen, weil meine Lage so ausweglos war. Was hatte ich denn noch?! Mein Zuhause, meine beste Freundin, meinen Dad, meine Mutter (wie sie früher war), alles davon hatte ich verloren. Und jetzt auch noch meine Freiheit, wenn ich hier nich wegkam oder jetzt ein Wunder passierte.

Der Schwarzhaarige sprach das aus, was ich mir dachte: „Tja, dein Plan hat leider nicht geklappt, Kleine. Du kommst jetzt mit uns mit.“

„Was wollt ihr denn überhaupt von mir?“, fragte ich.

„Als ob du das nicht wüsstest!“, giftete der Schwarzhaarige mich an.

„Ich weiß es wirklich nicht!“, motzte ich zurück. Ich wusste es echt nicht! Es musste ja nicht wegen Luis und seinem verdammten Chip sein. Vielleicht hatten sie mich aus einem anderen Grund verfolgt. Wegen Jess? Hmm...könnte schon sein, aber eher unwahrscheinlich. Oder ich hatte irgendwas verbrochen, aber davon wüsste ich nichts, naja, also ich hatte nichts so Schlimmes getan, dass man mich deswegen jetzt einbuchten konnte. Diese kleinen Dinge, bei denen man sich halt nicht an die Regeln hielt. Ich hatte zum Beispiel Alkohol getrunken, obwohl ich erst 15 Jahre alt war, aber das machte so gut wie jeder in meinem Alter, oder einen Joint hatte ich auch schon geraucht, aber da dürfte nicht so ein Aufstand mit Verfolgung undso sein. Außerdem hätten diese zwei Kerle vor mir dann eine Polizeiuniform an, hätten mich nicht so gejagt und der eine hätte mich nicht küssen dürfen. Also Polizei war es wohl eher nicht. Es hatte vermutlich doch entweder etwas mit Luis und dem Chip oder Jess zu tun.

„Warum bist du dann vor uns weggelaufen? Schon das zweite Mal?“, fragte der Blonde mich. Ich wusste nicht, ob er eine Antwort haben wollte, aber er blickte mich abwartend an, also antwortete ich genervt: „Aus reiner Intuition. Das hätte jeder gemacht. Außerdem habt ihr doch mein Haus in die Luft gesprengt, oder?!“ Am Ende wurde ich ein bisschen zickig.

„Wer weiß?“, antwortete der Schwarzhaarige mir grinsend und zwinkerte mir zu. Also waren sie es. Ich hatte es schon geahnt, aber wahrhaben wollte ich es nicht.

Weil ich gerade Lust dazu hatte und er noch so dicht vor mir stand, klatschte ich ihm mit der flachen Hand eine. Das hatte er verdient. Aber so richtig. Es gab wahrscheinlich nicht viele Menschen, die es mehr verdient hätten, als er. Der Blonde hätte auch einen Schlag verdient, aber er stand nicht so passend nah bei mir und außerdem hatte er mich nicht gegen meinen Willen geküsst. Ich setzte noch ein schadenfrohes Grinsen auf, um ihn zu provozieren. Ich wusste nicht, wieso ich ihn provozieren wollte, wahrscheinlich weil ich gerade so wütend war und wie man weiß, machte Wut leichtsinnig und dumm. In diesem Moment war es mir aber egal...es machte mir sogar Spaß auf das Risiko einzugehen, dass er einen Wutausbruch bekam oder mich schlug, aber das würde mich dann wieder noch wütender machen...also eine ziemlich seltsamer Spaß, den ich mir erlaubte.

Der Schwarzhaarige verengte seine Augen zu Schlitzen und schaute mich wütend an. Er holte schon mit seiner Hand aus und presste aus zusammengebissenen Zähnen hervor „Du kleine...“, dann überlegte er es sich aber anders und ließ seine Hand wieder sinken. Wieso auch immer. Ich hatte mich schon voll darauf vorbereitet, einen Schlag zu kassieren, soweit man sich halt darauf vorbereiten konnte...ich hatte jedenfalls einen Schlag erwartet und hatte schon beschlossen, zurückzuschlagen und ihn aus der Fassung zu bringen...Warum hatte er mich nicht gehauen?! Hatte er bemerkt, dass das nur Provokation war? Oder hatte er sich gedacht, dass er es verdiente? Männer! Ich werde sie nie verstehen!

Er stand immer noch so dicht vor mir und starrte mich einfach wütend an. Ich erwiderte seinen Blick mit einem hämischen Lächeln. Irgendwann wandte er seinen Blick ab und packte mich grob am Arm. „Wir gehen jetzt“, sagte er mit befehlendem Unterton.

„Okay, tschüss!“, antwortete ich schulterzuckend und ließ mich an der Wand hinunter auf den Boden sinken.

Die Beiden verdrehten die Augen. „Du kommst mit, Zuckerpuppe!“, sagte der Schwarzhaarige. Zuckerpuppe?!? Hatte ich da gerade richtig gehört? Vorher hatten sie mich auch schon Prinzessin und Kleine genannt!

„Nennt mich nicht so! Weder 'Zuckerpuppe' noch 'Prinzessin' oder 'Kleine'! Mein Name ist Neela! N-E-E-L-A!“, giftete ich die beiden Hohlköpfe an.

„Neela...ein schöner Name. Ich bin Raphael“, entgegnete der Schwarzhaarige mir charmant. Mit seinem umwerfenden Lächeln. Wieso auf einmal wieder so nett?! Das ging mir gegen den Strich. Ich war stinksauer und der Trottel, der meinen Arm immernoch festhielt, spielte plötzlich den Charmeur!

„Und mein Name ist Mathias“, stellte sich der Blonde mit einem belustigten Blick vor, weil er wahrscheinlich meinen entgeisterten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Ja, Entgeistert! Weil die Beiden mich noch zum Verzweifeln brachten! Gerade wollten sie mich noch kidnappen und dann ließen sie sich ablenken und waren auf einmal überfreundlich. Das war natürlich alles nur gespielt. Mich würde interessieren, wie viele Mädchen sie mit ihrem gekünstelten Charme schon rumgekriegt hatten. Ich würde darauf wetten, dass die Beiden verdammte Weiberhelden waren.

„Apropos Namen...hattest du nicht vorher eine Tasche dabei, Neela? Ist da vielleicht ein Ausweis drinnen? Wir wollen doch nicht, dass irgendjemand deinen Ausweis klaut und deine Sachen mitnimmt, oder?“, sagte Mathias zu freundlich. Sie wollten bloß nicht, dass jemand meine Tasche fand und sie dann am Ende bei der Polizei landete, weil dieser jemand zu der Adresse, die auf meinem Personalausweis stand, ging und dann sah, dass das Haus in die Luft gesprengt worden ist, denn dann würde man bestimmt nach mir suchen...wenn man das nicht eh schon tat.

Mathias holte meine Tasche, die vor dem Fenster lag und dann sagte Raphael warnend zu mir: „Wir gehen jetzt mit dir durch die Vordertür raus und du machst keine Dummheiten, verstanden? Denn sonst passiert den Leuten, die im Cafe sitzen, was. Also versuch ja nichts!“, ich wollte etwas erwidern, aber er hielt eine Hand hoch und sprach weiter, „Wenn wir durch die Vordertür raus sind, steigst du brav in dem schwarzen BMW, verstanden?“

Ich hatte sehr wohl verstanden, aber ich überlegte fieberhaft nach einem Ausweg. Er hatte gerade gedroht, dass er den Menschen im Cafe wehtut, wenn ich irgendwie versuche wegzulaufen. Wenn ich das so richtig verstanden hatte. Aber so herzlos konnten doch nicht mal die Beiden sein...obwohl....ich kannte sie nicht. Ich wusste nichts über sie. Sie hatten mein Haus in die Luft gejagt und ich wäre fast mit draufgegangen. Also doch...so herzlos und gefährlich konnten sie sehr wohl sein.

„Alles klar“, sagte ich unbeschwert, aber das war ich ganz und gar nicht. Am Liebsten würde ich mich jetzt wimmernd und weinend in einer Ecke zusammenrollen und in Selbstmitleid versinken. Und ich hatte Angst. Angst davor, dass den Leuten in dem kleinen Cafe etwas passiert. Oder mir. Was sie mit mir machen werden. Ehrlich gesagt hatte ich soviel Angst, dass mir davon schlecht wurde. Aber so stur wie ich war, würde ich das nicht zeigen. Keinesfalls. Niemals. Ich war jetzt schon eine ganze Weile gut alleine klar gekommen.

Raphael blickte mich eindringlich an. Das war unangenehm. Mir kam es so vor, als würde er geradewegs in mich reinblicken, was aber absurd war, denn seit einem Jahr hatte es keiner mehr geschafft...seit Jessicas Verschwinden um genau zu sein. Ich hatte ein Jahr lang Übung meine Gefühle zu verstecken und das klappte jetzt auch ganz hervorragend, denn Raphael wandte sich irgendwann mit einem Seufzer ab und sagte: „Dann mal los.“

Wir verließen das Damenklo und da erst fiel mir auf, was für ein Glück ich hatte, dass niemand außer die Bedienung, die einen falschen Eindruch bekommen hat, auf die Toilette gegangen ist, denn was hätten die beiden Idioten dann mit der Person gemacht? Und das wäre meine Schuld gewesen. Ich hätte mir ewige Vorwürfe gemacht, wenn sie die Frau umgebracht hätten, aber die Frage ist ja, ob sie das überhaupt machen würden. Ich weiß, dass sie gefährlich sind, aber ich weiß nicht, wie gefährlich. Ob sie jemanden ermorden würden, nur weil derjenige zu falschen Zeit am falschen Ort ist? Würden sie Unschuldige umbringen? Würden sie überhaupt Leute töten?

Wir durchquerten das Cafe mit normalem Tempo. Ich wäre am Liebsten rausgelaufen, weil ich mich so beobachtet fühlte, aber das wäre noch viel auffälliger gewesen, als zwei Männer und eine Frau, die zu dritt aus dem Damenklo kommen und wasauchimmer gemacht haben. Ich schaute mich kurz um, aber ich achtete darauf, dass ich einen neutralen Gesichtsausdruck hatte, denn sonst würden sich die Leute im Cafe vielleicht Sorgen machen und die Polizei rufen. Es waren nicht viele Leute in dem kleinen Cafe. Und kaum einer beachtete uns überhaupt. Ignoranten. Aber das war besser so. Ein älterer Herr schaute uns an, wandte den Blick aber dann wieder ab, um in seiner Zeitung weiterzublättern. Eine Mutter, ungefähr 30 Jahre alt, kümmerte sich gerade um ihre zwei Kinder, von denen das eine wie am Spieß schrie und das andere die Mutter am Ärmel zog, um nach etwas Essbaren zu verlangen. Von denen schenkte uns keiner Beachtung. Die Einzige, die uns wirklich anschaute, war die junge Bedienung. Ich wusste nicht, was ich ihn ihrem Blick sah. War es Sorge? Verwunderung? Bewunderung? Einfache Freundlichkeit? Vielleicht ein bisschen von allem. Mathias folgte meinem Blick und als sein und der Blick von der Bedienung aufeinandertrafen, wandte sie sich sofort ab und war plötzlich ziemlich beschäftigt. Dann waren wir endlich draußen und etwas von meiner Anspannung fiel von mir ab und zwar der Teil, der darüber erleichtert ist, dass den Leuten da drinnen nichts passiert ist. Aber ich war immer noch bei Raphael und Mathias. Immer noch in Gefahr. Dann sah ich den schwarzen BMW mit abgedunkelten Scheiben. Hatte ich schonmal erwähnt, dass ich abgedunkelte Scheiben gruselig fand? „Steig ein!“, flüsterte mir Raphael ins Ohr. Einsteigen oder Fluchtversuch starten? Wenn ich jetzt weglief, könnten sie wieder in das Cafe gehen und den kleinen Kindern oder der freundlichen Bedienung was antun.

Ich stieg ein. Fehler. Großer Fehler. Aber wäre ein Fluchtversuch besser gewesen? Konnte man das jemals wissen?

Mein neues 'Zuhause'

Die Fahrt verlief ziemlich ruhig. Ich hatte nicht viel zu sagen und die Beiden ebenfalls nicht. Frustriert blickte ich aus dem Fenster. Ich hatte immer noch nicht herausgefunden, was sie von mir wollten, aber langsam beschlich mich das Gefühl, dass es etwas mit diesem blöden Chip zu tun hatte, den Luis mir in mein Medallion eingebaut hat. Mein Medallion. Wenn Mathias oder Raphael auf die Idee kamen, in mein Medallion zu schauen, dann war ich am Arsch. Erstens weil sie es mir dann sicher wegnehmen würden, was für mich aber einfach nur schrecklich war, denn ich hing an meiner Kette. Sie bedeutete mir sehr viel, sie gab mir das Gefühl, dass Jess und mein Dad doch noch da waren, also in meinem Herzen. Und in meinen Erinnerungen. Sie ließ mich auch daran glauben, dass Jess immer noch da draußen war und ich eine Verbindung zu ihr hatte. Und dank diesem Medallion würde ich meinen Vater nie vergessen. Wahrscheinlich könnte ich das gar nicht. Ihn vergessen. Meinen eigenen Vater. Nein, das würde sicherlich nicht passieren, aber das Bild in der Kette erinnerte mich immer wieder an ihn und daran, wie toll gewesen war.

Außerdem wäre es anscheinend sehr schlimm, wenn die Beiden den Chip in meinem Schmuckstück fanden, ich hatte zwar keine Ahnung Wieso oder Warum, aber Luis hatte das ziemlich deutlich gemacht. Das konnte mir ja eigentlich egal sein, aber...was hatte er gesagt? Es geht da um was Großes, dass alle haben wollen und es ist auf diesem Chip drauf. Die erste Frage war schonmal: Wer zum Teufel waren 'Alle'? Die Beiden Holzköpfe, die im vorderen Teil des Wagens saßen, gehörten wahrscheinlich dazu, aber 'Alle' müssten mehr Leute als zwei Typen sein. Wenn wirklich nur Mathias und Raphael diesen Chip haben wollten, dann hatte Luis eine ziemlich merkwürdige Vorstellung von der Anzahl an Menschen auf der Welt. Die zweite Frage war: Was war auf diesem verfluchten Chip? Das konnte so ziemlich alles sein. Informationen? Bilder? Vielleicht waren ja ein paar unschickliche Fotos von irgendeinem Präsidenten darauf. Hihi. Wohl eher nicht, denn sonst würde man nicht so ein großes Trara drum machen.

Dieser blöde Chip machte mir nur Schwierigkeiten! Ich sollte ihn wohl am Besten einfach wegwerfen. Dann war ich aus der Geschichte raus. Und die, die dieses Mistding haben wollten, konnten sich dann auf die Suche machen und mussten mich nicht damit nerven. Aber falls ich dieses Ding tatsächlich wegwarf, würde ich es machen, wenn ich alleine war, damit es für alle fair war...aber bis ich mal alleine war... das konnte ja erstmal dauern. Oder ich händigte Ratze und Matze (ja, ihr habt richtig gehört: Ratze und Matze! Meine neuen Spitznamen für die Beiden) den Chip einfach aus. Aber dann wusste ich nicht, ob sie mich auch einfach so wieder gehen ließen, möglicherweise brachten sie mich ja um! Ich hatte nämlich auch keinen blassen Schimmer, wie gefährlich die Kerle waren. SEUFTZ....

 

„Wo bringt ihr mich hin?“, unterbrach ich das anhaltende Schweigen.

„Lass dich überraschen“, sagte Ratze und grinste Matze verschwörerisch zu. Das war gar nicht gut. Dieser Blick bedeutete nichts Gutes. Um mir einen kleinen Vorteil zu verschaffen, schaute ich weiter auf die Straße und versuchte mir den Weg zu merken, den wir fuhren. Aber das konnte man mir anscheinend vom Gesicht ablesen, denn Matze sagte irgendwann: „Halt mal den Wagen an. Ich verbind der Kleinen die Augen, sonst verdirbt sie sich ja ihre Überraschung.“ Nach diesem Satz und einmal Anhalten hatte ich mein Augenlicht verloren. Nicht für immer natürlich. Aber Matze hatte mir ein altes muffeliges Stück Stoff aus dem Kofferraum um die Augen gebunden. Und jetzt konnte ich unseren Fahrtweg nicht mehr mitverfolgen. Außerdem muffelte dieser Stofffetzen echt übel. Das alles war echt zum Verzweifeln.

Wie hatten sie mich überhaupt gefunden? Ich war doch erfolgreich geflohen. In dem Wald hatten sie mich verloren, sonst hätten sie mich ja, als ich auf dem Waldboden geschlafen hatte, mitgenommen.

„Wie habt ihr mich in dem Cafe gefunden?“, fragte ich wieder in die Stille hinein.

Matze beantwortete mir meine Frage: „Mithilfe deines Handys.“

Hä? Was hatte mein Handy damit zu tun? Matze sah wohl meinen ratlosen Gesichtsausdruck, denn er erklärte: „Man kann Handys orten, wenn man ein Signal empfängt. Wir haben dich angerufen, um das Signal zu bekommen.“

Der Anruf, bei dem niemand in der Leitung etwas gesagt hatte! Jetzt wusste ich zumindest, wer es war. Wenn es mich auch nicht glücklich machte. Du bist so blöd, Neela! Du hättest da nicht rangehen dürfen! Ich hätte es mir doch eigentlich gleich denken können, dass da was dahintersteckt. Spätestens, als dann niemand geantwortet hat. Verdammt!

„Woher habt ihr meine Handynummer?“, fragte ich weiter. Wenn hier in dem Auto eh niemand etwas sagte, dann konnte ich ja Dinge fragen, auf die ich mir keinen Reim machen konnte.

Ratze seuftzte: „Du frägst zuviel, das solltest du dir abgewöhnen.“

Ich ignorierte diesen Kommentar und beharrte auf meiner Frage: „Woher habt ihr meine Nummer?“

„Wir waren in deiner Wohnung, schon vergessen?“, antwortete er mir, aber das reichte mir, um meine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Oh ja, stimmt. Sie hatten die Bombe gelegt. Mistkerle! Also hatten sie auch rumgeschnüffelt. Und meine Nummer gefunden, die man aber ziemlich leicht finden konnte. Sie war im Festnetztelefon eingespeichert und mein Handy lag auch in meinem Zimmer rum. Ich hatte sie auch für alle Fälle auf einen Zettel geschrieben, der am Kühlschrank hing, damit meine Mum mich, wenn sie etwas brauchte oder sich doch mal für alles entschuldigen wollte,  erreichen konnte.

Mehr hatten wir auf der Fahrt nicht gesagt. Ich hatte auch nichts mehr gefragt, denn es ging mir gegen den Strich, die Leute nicht zu sehen, mit denen ich redete. Das war mir unangenehm. Also hielt das Schweigen weiter an. Einmal hatte Matze sich meinen Personalausweis angeschaut und festgestellt, dass ich 15 war. Und er hatte gesagt, dass das Foto auf meinem Ausweis schrecklich aussah. Dann hatte er es, wie ich vermutete, Ratze gezeigt, weil dann beide gelacht hatten. Haha. Danke, wie charmant! Sarkasmus lässt grüßen! Diese Idioten! Man machte sich nicht über Fotos von Mädchen lustig. Naja, doch, aber das konnten sich nur Freunde erlauben und das waren die Beiden NICHT. Es hatte eh keinen Zweck, etwas zu erwidern, denn dann müsste ich mich bloß noch mehr aufregen. Also ging das Schweigen weiter. Bis wir irgendwann ankamen.

Ich hörte die zwei vorderen Autotüren auf- und wieder zugehen. Dann wurde die Tür links von mir geöffnet und ich wich schnell so weit zurück, bis ich die rechte Autotür in meinem Rücken spürte. Auf meine Reaktion folgte ein tiefer Seufzer, aber ich wusste nicht, ob von Matze oder Ratze. Vielleicht war mein Verhalten kindisch, aber ich wollte es den Beiden nicht leicht machen und meinen Widerstand würde ich auch nicht aufgeben. Ganz im Gegenteil, bei der erstbesten Gelegenheit würde ich hier verschwinden.

„Ist das jetzt wirklich nötig? Komm schon her, Prinzessin“, ertönte die Stimme von Ratze bei der linken Tür. Trotzig schüttelte ich den Kopf. Ja es war nötig! Und wenn er Prinzessin sagte, würde ich erst recht nicht kommen.

„Ich warne dich, Neela, reg mich jetzt nicht auf. Komm her!“, sagte er jetzt drohend. Er konnte ja auch 'Neela' sagen. Ein Wunder! Aber das war mir trotzdem egal. Ich würde nicht blind zu ihm hinkrabbeln.

Bevor Ratze einen Wutausbruch bekommen konnte, öffnete Matze die rechte Autotür, was bei mir ein kreischendes „Ahhhh!“ auslöste, und ich wäre kopfüber rausgefallen, wenn er mich nicht gefangen hätte. Damit war die Angelegenheit erledigt, aber ich hatte mich gerade gewaltig erschrocken. Nichts zu sehen war einfach scheiße! Matze stellte mich auf meine Beine und ich motzte: „Könnt ihr nicht diese Augenbinde wegmachen?“ Ich wollte gerade danach greifen und sie abreißen, aber dann ergriff jemand meine Hände und verschränkte sie mir hinter dem Rücken. Ich wehrte mich und versuchte meine Arme zu entreißen, aber derjenige drehte sie mir unsanft auf den Rücken, dass meine Schulter fast augekugelt wurde. Es tat höllisch weh. Der Griff ließ aber nicht locker, also versuchte ich mich so zu verrenken, dass ich meine Schulter etwas entlasten konnte. Das half aber nicht sehr viel. Ich fluchte und warf demjenigen wüste Beschimpfungen an den Kopf. Dann fing ich wieder an zu zappeln, weil ich den Schmerz nicht mehr aushielt.

„Hör auf dich gegen mich zu wehren und mich zu beleidigen“, zischte Ratze in mein Ohr.

Ich wimmerte bloß vor Schmerz, aber hielt still so gut es ging. Es sollte bloß noch aufhören. Dann lockerte er seinen Griff endlich und es hörte auf wehzutun. Dann rastete etwas ein. Und ich spürte etwas Kaltes an meinen Handgelenken. Etwas Glattes und Metallenes. Handschellen! Dieses Arschloch legte mich Handschellen an! Ich wehrte mich wieder dagegen, aber das führte bloß dazu, dass er sie noch enger machte. Dann ließ er mich los und ich stand hilflos da. Ich war blind und gefesselt. Er hatte die Fesseln viel zu eng gemacht. Sie schnürten mir das Blut ab und meine Gelenke schmerzten jetzt schon. Dann hörte ich seine Stimme dicht vor mir und ich konnte seinen warmen Atem spüren: „Ich hab gesagt, dass du dich nicht gegen mich wehren sollst.“

Ich erwiderte bloß: „Die Handschellen sind zu eng.“

„Ich mache sie erst lockerer, wenn du auf mich hörst!“, stellte Raphael klar. Dann würde ich mich wohl dran gewöhnen müssen, denn fügen werde ICH mich nicht! Noch war der Schmerz erträglich, aber ich hoffte inbrünstig, dass mir die Fesseln bald wieder abgemacht würden. Ich spürte noch seinen Blick auf mir und mir war deutlich bewusst, wie nah er vor mir stand. Ich hatte den plötzlichen Drang, zurückzuweichen, aber das würde ich nicht tun, denn ich würde ihm keine Genugtuung gönnen. Er, und auch kein anderer, sollte meine Angst zu sehen bekommen. Also blieb ich einfach starr stehen und schaute in das Schwarz von meiner Augenbinde.

Nach einiger Zeit, die mir zu lang vorkam, legte er seine Hand auf meinen unteren Rücken, meines Erachtens viel zu tief, und führte mich los. Der Kerl sollte seine verdammte Hand da wegtun. Sie war nur wenig über meinem Arsch und das behagte mir gar nicht, aber ich konnte seine Hand da auch nicht wegnehmen, weil ich ja gefesselt war. Außerdem musste ich mich eh auf den Weg vor mir konzentrieren. Ich sah gar nichts und stolperte tausendmal. Meistens konnte ich mich selbst noch halten, aber zwei-dreimal fing Raphael mich auf. Er war aber nicht gesprächig, manchmal brachte er so etwas raus wie "Links" "Vorsicht" "schneller" "Stufe". Das ging mir ebenfalls gegen den Strich. Mit "Links" kam ich ja noch klar, aber "Vorsicht"....was brachte mir das denn? Ich sah nicht, auf was ich achten sollte! "Stufe" verstand ich auch gut, aber das Schlimmste war "schneller"!!! Sollte Ratze doch mal mit verbundenen Augen einen ihm unbekannten Weg entlanggehen! Ich glaube, der will, dass ich stürze! Wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, dann trete ich ihm gewaltig in den Hintern!

Matze ging während unserem Marsch die ganze Zeit ein paar Meter vor mir. Das hörte ich, denn der Kies knirschte unter seinen Füßen. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir endlich da. Eine Tür wurde geöffnet und ich betrat glatten Boden.

„Nimm ihr die Augenbinde ab“, befahl Matze.

Ratze zögerte und ich wettete, er wollte mich noch weiter stolpern lassen, aber schließlich tat er wie ihm geheißen.

Mit meinem wieder errungenen Augenlicht schaute ich Ratze böse an. Bei Matze bedankte ich mich sogar mit einem kleinen „Danke“ aber das tat ich auch bloß, um Ratze zu provozieren. Dann sah ich mich in dem Raum, oder besser gesagt in der Halle, in der ich stand, um. Krass. Das war eine riesige Eingangshalle mit schwarzem Marmorfußboden, wie bei mir Zuhause, also nicht, dass wir eine Eingangshalle besaßen, aber wir hatten auch Marmorboden, den ich, wie ich schon mal erwähnt hatte, nicht mochte. Die Wände waren weiß und lange dunkle Vorhänge schmückten die Fenster. Hier war alles sehr modern und elegant eingerichtet. Vielleicht wurde dieses Haus, oder eher Villa, vom selben Innenausstatter wie unser Haus eingerichtet, nur das der Ausstatter für dieses Haus mehr Budget zur Verfügung gehabt hatte. Am anderen Ende der Halle gab es eine edle Treppe, die zu den oberen Räumen führte. Die Treppe konnte man sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite nach oben schreiten und dann führte sie in der Mitte zusammen mit einer weiteren Treppe nach ganz oben. Das Geländer war, wenn ich das richtig sah, aus Silber mit goldenen Verzierungen. Links und rechts in der Halle führte jeweils ein Gang zu, wie ich vermutete, noch mehr Räumen. Also um alles zusammenzufassen: Das ist eine protzige Villa. Es haute mich zwar um, aber dennoch gefiel es mir nicht. Niemals hätte ich mein Haus so eingerichtet. Meine Mum würde sich hier wie im Paradies fühlen, aber ich war nicht meine Mutter.

Mein Staunen wurde von einer schrillen Mädchenstimme unterbrochen: „Rapha! Du bist wieder da!“ Dann fiel ein zierliches schwarzhaariges Mädchen Raphael um den Hals. Sie war ungefähr in meinem Alter. War sie etwa...seine Freundin?! Hatte er mich geküsst, obwohl er EINE FREUNDIN hatte? Ich schaute 'Rapha' an. Das war nicht seine Freundin. Er erwiderte die Umarmung zwar, aber man sah ihm an, dass es ihm unbehaglich war. Außer er war in einer unglücklichen Beziehung, dann konnte es sehr wohl seine Freundin sein. Als sie sich von ihm löste, strahlte sie ihn an. Dann fiel ihr Blick auf Matze und zu ihm sagte sie strahlend: „Schön dich mal wiederzusehen, Mathi!“ Dann umarmte sie ihn auch kurz. Schließlich fiel ihr Blick auf mich. Gefesselt. Vorwurfsvoll fragte sie Ratze: „Was hat das Mädchen getan, dass du sie fesseln musst?“ Ratze fehlten die Worte. Er wusste nicht was er sagen sollte. Der Kerl konnte auch sprachlos sein, wer hätte das gedacht? Dann lächelte sie mich an: „Ich bin Vera. Raphaels kleine Schwester. Und du bist...?“ Aha. Seine kleine Schwester also. Anscheinend nervte sie ihn gerne und oft. Und sie ließ sich von ihm nicht herumkommandieren. Sie war mit sehr sympathisch.

„Ich heiße Neela“, antwortete ich schlicht. Sie lächelte mich noch kurz an, dann wandte sie sich wieder an Ratze: „Warum ist sie hier? Was habt ihr mit ihr vor?“ Sie wusste also, dass sie so etwas 'öfter' machten. Oder zumindest, dass sie etwas mit mir vorhaben könnten. Aber sie würde vermutlich zu Raphael halten, egal was er tat.

„Halt dich da raus, Vera!“, warnte er sie. Sie tauschten einen vielsagenden Blick, zuerst schaute Vera ihn trotzig an, Ratze blickte sie aber immer gefährlicher an bis sie aufseufzte und einen wütenden Abgang machte, ohne sich zu verabschieden. Sie stieg die Treppe herauf und wandte sich dann nach links. Ratze schaute ihr mit gerunzelter Stirn nach. Er schien sich Sorgen zu machen. Dann, ganz plötzlich, wandte er sich wieder mir zu und sagte: „Da lang!“ Er packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. Wir betraten den linken Gang unterhalb der Treppe. Es war ein langer Gang und er war ziemlich düster. Er ging nicht langsamer, bis wir an eine Tür kamen, dort blieb er stehen und ich prallte voll gegen ihn, aber darauf reagierte er nicht. Dann machte er die Tür auf, befahl „Da rein!“ und ohne das ich hätte reagieren können, schubste er mich halb rein. Arschloch! Ich fiel hin. Bevor er die Tür zumachen konnte, schrie ich ihn an: „Wenn du mich schon einsperren musst, mach zumindest noch diese scheiß-Fesseln ab!“ Er schaute mich ausdruckslos an, dann kam er in das Zimmer, stellte mich wieder auf die Füße und machte die Handschellen ab. Ich wollte noch etwas sagen, aber da schlug er schon die Tür hinter sich zu und sperrte mich ein. Was war das denn? Der hatte sich total merkwürdig verhalten. Seit...Vera uns begrüßt hat. Komisch...Sie ist zwar ein aufgedrehtes Mädchen, aber doch total lieb und er war so...abweisend zu ihr. Ich konnte diesen Kerl einfach nicht verstehen. Ich rieb meine schmerzenden und mittlerweile blauen Handgelenke.

Jetzt schaute ich mich in dem Raum um, in dessen Mitte ich stand. Ein schlichter und trostloser Raum. Das Zimmer selbst war ziemlich klein, aber deswegen hätte man den Raum...mit mehr Liebe einrichten können, nicht so herzlos. Ein einfacher, nicht sehr schöner, Holzfußboden und die Wände waren weiß. Nicht so ein schönes weiß, wie in der Eingangshalle, sondern ein...kahles weiß, ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, aber in der Halle hatte das weiß 'gestrahlt' und hier...machte es bloß depressiv. Dann stand da noch ein Bett, das grau bezogen wurde, und ein alter Kleiderschrank. Ich öffnete den Kleiderschrank, aber...da waren keine Kleider drin, sondern nur eine Decke. Toll. Der ganze Raum wurde durch ein relativ kleines Fenster erhellt, dass, noch dazu, vergittert war. So war das also. Das war eine Gefängniszelle, die dafür da war, die Leute depressiv zu machen. Ich war hier gefangen. Eingesperrt. Obwohl ich nichts verbrochen hatte. Ich rüttelte an dem Gitter, aber es bewegte sich kein Stück. Das war wohl das einzige in diesem Zimmer, bei dem sie sich Mühe gegeben haben, es gut zu machen. Es gab noch eine halb kaputte Tür. Ich öffnete sie und hatte Sicht auf ein echt...grausames Badezimmer. Die Toilette sah sehr unhygenisch aus und der Gedanke, dass ich hier länger sein könnte und es öfter benutzen müsste, verursachte Übelkeit in mir. Auch die Dusche war nicht viel besser, geschweige denn das Waschbecken. Alles war ungepflegt und rostig. Zwischen den Fliesen an der Wand waren dunkle, bzw. schwarze und eklige, Verfärbungen. Diesen Raum würde ich nur betreten, wenn es wirklich notwendig war! Mit verzogener Miene setzte ich mich auf das knarzende Bett und meine Hoffnung schwand langsam dahin. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich hatte alles verloren. Meinen Dad, Jess, meine Mutter auch in gewisser Weise, mein Zuhause und jetzt auch noch meine Freiheit. Die Tränen liefen über meine Wangen und wollten nicht mehr versiegen. Also ließ ich sie laufen. Ich saß mit angezogenen Knien auf meinem Bett und weinte.

Ich wusste nicht, wieviel Zeit verging, aber irgendwann hatte ich weder Tränen noch Kraft übrig. Mein Hals schmerzte, wie er es immer tat, wenn ich weinte. Ohne Hoffnung öffnete ich mein Medallion und sah mir die beiden Bilder an. Mein Dad würde nicht wollen, dass ich aufgebe, und ich konnte es nicht tun wegen Jess. Sie war irgendwo da draußen und brauchte vielleicht Hilfe. Wenn ich aufgeben würde, würde ich auch unsere Freundschaft aufgeben, aber das würde ich niemals machen. Nur über meine Leiche. Ich musste unbedingt hier raus. Dafür würde ich aber Kraft brauchen. Was mich daran erinnerte, dass ich schon länger nichts Richtiges mehr gegessen hatte. Was sich leider jetzt bemerkt machte. Mein Magen knurrte und meine Kehle war ausgetrocknet. Wenn ich schluckte fühlte es sich an wie Feuer, dass meinen Hals verbrannte. Ich brauchte unbedingt was zu essen und zu trinken!

Wie als hätte jemand meinen Magen knurren gehört, sperrte jemand die Tür auf. Es war Matze und er hatte...Essen und Trinken dabei. Danke!

„Was zu essen für dich. Ich glaub, du hast schon länger nichts gegessen“, sagte er gelangweilt. Er stellte es auf den Boden.

„Was habt ihr jetzt mit mir vor? Wollt ihr mich hier einsperren, wie einen Hund?“, fragte ich ihn. Er schaute mich an. Ich musste einen schrecklichen Anblick abgeben. Tränenverquollene Augen, verlaufene Schminke, schmutzige Kleidung und von meiner Frisur wollte ich gar nicht erst anfangen.

„Kommt drauf an, ob du gut mit uns kooperierst“, erwiderte er. 'Kooperieren' hörte sich total merkwürdig an.

„Ich weiß nichts!“, versuchte ich ihn zu überzeugen.

Doch er sagte nur: „Das glaube ich dir nicht.“ Dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Und ich war wieder alleine. Mit etwas zu futtern. Ich krabbelte zu dem Teller und dem Glas Wasser, als was es sich enttarnte. Auf dem Teller befand sich gottseidank nichts unbeschreiblich ekliges, sondern Reis mit, ok ich gebs zu, einer undefinierbaren Soße. Aber sie schmeckte, das wichtigste. Vielleicht schmeckte sie mir auch nur, weil ich so einen großen Hunger hatte. Ich schlang das Essen schnell herunter, was bestimmt nicht gesund war, aber es ging nicht anders. Danach kippte ich das Wasser runter, aber ich hatte immer noch Durst. Das Wasser aus dem Wasserhahn im Bad würde ich nur trinken, wenn es nicht anders ging, denn ich hatte keine Lust mir irgendeine Vergiftung zuzuziehen, weil da Rost- oder Bleiteilchen drin waren. Das war natürlich nur eine Vermutung, aber abwegig war es nicht.

Plötzlich überzog mich eine unbeschreibliche Müdigkeit. Ich hatte auch nicht viel geschlafen, um ehrlich zu sein. Aber das Gefühl war so stark, dass das keinesfalls normal war. Sie mussten mir was ins Essen gemischt haben! Ich saß auf dem Boden und wollte mich noch ins Bett legen, aber dafür war ich zu müde. Einfach zu müde. Meine Augenlider wurden immer schwerer und ich wollte nur noch schlafen. Ins Reich der Träume versinken. Und meine Augen fielen mir gleich zu.

 

Die Hölle

Mein Kopf tat weh. Wieso hatte ich so krasse Kopfschmerzen? Das war das erste, was mir auffiel, als ich aufwachte. Dann bemerkte ich, dass ich nicht lag, sondern auf einem Stuhl saß. Seit wann schlief ich im Sitzen? Das war noch nie so gewesen. Und das hatte viele Gründe. Einer war zum Beispiel, dass man danach total verspannt war. Wie ich jetzt. Meine Nackenmuskeln zogen und taten weh. Langsam drehte ich meinen Kopf, um meine Muskeln etwas zu entspannen und dann öffnete ich meine Augen. Ich blinzelte in ein grelles Licht, was meine Augen als Gift empfanden. Ich stöhnte auf. Ich wollte auch meine restlichen Körperteile strecken und bewegen, aber es ging nicht, denn ich war...gefesselt. An diesen blöden Stuhl. Was zum Teufel sollte das? Mein Gesamtbefinden war jetzt entgültig im Keller, ich fühlte mich total kaputt, mir tat alles weh und ich war gefesselt.

Dann fiel mir alles wieder ein. Die Explosion, meine Flucht, Raphael und Mathias, diese Villa, Vera und mein schäbiges Zimmer. Und ich dachte für einen kurzen Moment, alles wäre normal. Schön wärs. Ich würde einiges dafür geben, in meinem Bett zu schlafen, aber das gab es ja nicht mehr, weil es mit in die Luft gesprengt wurde. Das war alles so deprimierend.

Aber wo war ich jetzt? Ich war nicht in meinem kleinen schäbigen Zimmer. Da war das Licht nicht so grell gewesen. Langsam gewöhnten meine Augen sich an das Licht und ich sah mich um. Nein, ich war ganz sicher nicht in meinem Zimmer. Dieser Raum war steril, wenn man das so nennen konnte. Alles war weiß und an einer Wand stand eine Reihe Theken aus Metall. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich beim Tierarzt im Labor war, aber das bezweifelte ich doch sehr stark. Und was den Raum noch unbehaglicher machte, war die Größe, der Raum war nicht sehr groß. Ungefähr 15 Quadratmeter. Ich fühlte mich beengt, aber das lag zum größten Teil an meinen Psychen.

Was mir komischerweise zum Schluss auffiel, war, dass ich nur Unterwäsche anhatte. Irgendein Dreckskerl hatte mich ausgezogen! Meine Klamotten waren weg! Ich saß in Unterwäsche auf einem Stuhl und war gefesselt. Man konnte sich ja vorstellen, dass ich mich noch unwohler fühlte, als gerade eben. Am liebsten hätte ich mir eine Decke oder ein Tuch geschnappt und meinen Körper vor fremden Blicken verdeckt, aber das ging nicht, weil ich gefesselt war. Mir war zum Heulen zumute, aber ich fühlte mich zu ausgelaugt. Dann bekam ich einen Schock. Mein Medallion. War es noch da? Ja, zum Glück. Ich war ein bisschen erleichtert, aber dann fiel mir wieder ein, in was für einer Lage ich war und das Gefühl war verschwunden.

Ich musste nicht lange warten bis jemand den Raum betrat. Raphael kam herein. Er stellte sich vor mich und sagte mit herablassenden Ton. „Auch mal wieder wach.“ Dann ließ er seinen Blick über meinen halbnackten Körper streifen.

„Wenn ihr mich mit Drogen oder wasauchimmer zupumpt, kann man ja nichts anderes erwarten, oder?“, giftete ich ihn an. Ich hatte zwar Angst, was jetzt passieren würde, aber dieser Typ machte mich unendlich wütend. Er gab mir keine Antwort, sondern schaute mich nur prüfend an. Das gefiel mir gar nicht. Wütend hielt ich seinem Blick stand. Er versuchte mich zu lesen. In mich hineinzuschauen. Aber dann gab er auf und nachdem er geseufzt hatte, fragte er mich: „Wo ist er?“

„Wer?“, entgegnete ich unschuldig. Aber ich war mir wirklich nicht sicher, ob er wissen wollte, wo Luis war oder wo der Chip war. Vielleicht war es auch nur ein dummer Fehler und er wollte etwas anderes von mir, womit ich aber gar nichts zu tun hatte. Vielleicht hatten sie mich auch nur aus Versehen gefangen genommen. Ich bezweifelte es zwar immer mehr, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

„Stell dich nicht dumm!“, warnte Raphael mich.

„Ich weiß nicht, was du von mir willst!“, motzte ich zurück.

„Wo ist der Chip, Neela?“, fragte er mich eindringlich. Okay, also wollte er doch den Chip. Aber ich würde nicht mit der Sprache rausrücken, das konnte er vergessen. Ich würde es keiner Menschenseele sagen. Ich würde darauf beharren, dass ich nicht wüsste, wovon er redete.

„Welcher Chip?“, fragte ich so, als hätte ich keine Ahnung.

„Du weißt welcher Chip!“, entgegnete Raphael wütend.

„Nein! Ich weiß es nicht! Woher soll ich es denn wissen?!“, kreischte ich zurück.

„Lüg mich nicht an!“, jetzt wurde er noch wütender und er beugte sich gefährlich nah zu mir herunter, dass unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich könnte ihm jetzt ins Gesicht spucken. Aber das wäre wahrscheinlich nicht sehr ratsam, aber doch reizvoll.

„Ich lüg dich nicht an!“, betonte ich jedes Wort einzeln, um nicht zu hysterisch zu klingen. Ich konnte gut lügen, auch wenn das eigentlich keine gute Eigenschaft war, aber die letzten Jahre war das immer wieder nützlich gewesen. Bei Raphael bekam ich aber das Gefühl nicht los, dass er mich durchschaute, und langsam wurde ich nervös. Entweder wusste er wirklich, dass ich ihn anlog oder er hatte eine hinterhältige Strategie. Wenn er mich weiterhin so nervös machte, würde man mir meine Lügen vom Gesicht ablesen können.

„Doch, das tust du“, erwiderte er schlicht und beobachtete genau meine Reaktion. Er brachte mich aus der Fassung. Er war mir zu nah, ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich saß in Unterwäsche vor ihm auf dem Stuhl, da konnte man unmöglich ruhig bleiben.

„Woher willst du das wissen?“, sagte ich, aber es klang unsicherer als erhofft. Verdammt, Neela! Er will dich aus der Fassung bringen. Konzentrier dich!

„Das sehe ich dir an“, antwortete er.

„Du lügst! Das kann gar nicht sein!“, zickte ich ihn an. Den letzten Satz hätte ich nicht sagen sollen. Das klang so, als wäre es ein Naturgesetz.

Er lachte kurz auf und mit spöttischem Unterton erwiderte er: „Wieso sollte ich lügen? Ich hab ja kein Geheimnis. Und nur weil du glaubst, dass keiner dich durchschauen kann, heißt das noch lange nicht, dass es auch so ist. Vielleicht haben die Leute, die du angelogen hast, sich einfach nicht die Mühe gemacht, etwas anderes aus dir herauszubekommen.“ Jetzt war ich sprachlos. Vielleicht hatte Raphael recht. Die Fassade, die ich aufgebaut hatte, war anscheinend doch nicht so fest, wie ich dachte. Immer, wenn ich meine Mutter angelogen hatte, war es ihr vielleicht egal gewesen, obwohl sie es bemerkt hatte. Außerdem machte Raphael so etwas vielleicht öfter und hatte deswegen mehr Übung. Aber ich durfte die Wahrheit jetzt nicht sagen. Also würde ich jetzt den Gegenangriff starten. Er hatte schon ein triumphierendes Lächeln im Gesicht, das ich ihm jetzt gleich wegfegen würde.

„ICH sage die Wahrheit. Ich habe keine Ahnung von irgendeinem Chip. Vielleicht ist deine Fähigkeit, andere Leute zu lesen, doch nicht so gut, wie du dachtest. Es ist echt erbärmlich einem Mädchen Vorwürfe an den Kopf zu knallen, nur um sein eigenes Ego zu stärken und sich denken zu können, wie toll man doch andere Menschen durchschauen kann, obwohl man sie in Wahrheit nur verunsichert und unterdrückt!“, stellte ich klar. Und wie ich mir gedacht hatte, verschwand das Lächeln aus Raphaels Gesicht, dafür breitete es sich auf meinem aus. Ich wusste nicht, woher ich plötzlich das Selbstvertrauen hatte, aber ich fühlte mich gerade stark. Raphael klatschte mir eine und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Das tat weh. Autsch. Ich wusste schon, dass er ein Arschloch war, aber er machte sich bei mir immer unbeliebter. Aber trotzdem konnte sein Schlag meinen Mut nicht zügeln. Ich hatte das Wortgefecht gewonnen und das wussten wir Beide, aber er wollte es nicht warhaben. Aber das änderte nichts daran, dass ich die Gefesselte war.

Raphael packte einen Schopf von meinen Haaren und sagte mir drohend: „Ich weiß, dass du lügst, und du weißt es auch. Wenn du jetzt nicht die Wahrheit sagst, dann entlocke ich sie dir auf die harte Tour. Also noch ein letztes Mal die Frage: Wo ist der Chip?“ Die harte Tour? Das klang gar nicht gut. Aber ich würde dicht halten.

„Ich hab keine Ahnung! Was soll denn da überhaupt drauf sein?“, stellte ich jetzt unauffällig die Frage, die mich brennend interessiert. Aber Raphael war nicht so dumm, wie ich dachte.

„Ach, du willst wissen, was da drauf ist? Hat Luis dir das nicht gesagt? “, fragte er mit einem vergnügtem Funkeln in den Augen. War ja klar, dass sie wussten, dass Luis bei mir war. Wahrscheinlich hatten sie ihn die ganze Zeit verfolgt und dann, als er da war, hatten sie auch auf mich jemanden angesetzt. Und ja, ich wollte unbedingt wissen, was da drauf war, denn anscheinend war es mega wichtig.

Ich gab Raphael keine Antwort. Irgendwann sagte er: „Ich mache dir ein Angebot: Wenn du mir sagst, wo der Chip ist, dann erzähl ich dir, was da drauf ist.“ Ich biss die Zähne zusammen. Er hatte meine Neugier geweckt. Aber ich konnte ihm unmöglich den Chip geben, weil wenn da wirklich so etwas wichtiges drauf ist, dann würde ich mir ewig Vorwürfe machen. Außerdem konnte ich auch nicht wissen, was sie mit mir machen würden, wenn ich nichts mehr hätte, was sie brauchen. Vielleicht brachten sie mich dann um. Abwegig war es jedenfalls nicht mehr. Aber andererseits wäre ich dann aus der ganzen Geschichte draußen. Ich könnte es abhaken. Aber nein, ich würde es nicht sagen.

„Vergiss es“, lehnte ich das Angebot ab.

Er schnalzte mit der Zunge und presste hervor: „Na schön.“ Dann ging er zu einer der Theken und kramte etwas heraus. Ein Messer. Ich schluckte. Ein sehr scharfes und spitzes Messer. Mein vorheriges Selbstvertrauen war verschwunden. Jetzt hatte ich Angst. Man konnte mir meine Furcht vom Gesicht ablesen, denn Raphael schaute mich an und fing dann an böse zu grinsen: „Wenn du nicht mit der Sprache rausrücken willst, dann hab ich halt meinen Spaß!“ Ich hatte keinen Zweifel mehr, dass dieser Typ gefährlich war und eingesperrt gehört, wahrscheinlich alle Leute hier, Mathias und wer sonst noch hier lebte.

Raphael wandte sich mit dem Messer mir zu. Ich versuchte die Fesseln zu lösen, ich wand mich in ihnen, aber erfolglos. Er kam langsam näher. Ich bekam Panik. Verzweifelt drehte ich meine Hände und rieb mir meine Handgelenke auf, aber die Fesseln lockerten sich nicht. „Raphael, bitte nicht!“, flehte ich. Ich hatte panische Angst vor Messern. Als ich klein gewesen war, hatte ich mich ziemlich tief in die Seite geschnitten, als mir ein Messer aus der Hand gefallen war. Mein Dad hatte nicht gewollt, dass ich mit Messern hantierte, aber als das passiert war, war er gerade in seinem Büro. Als er dann in die Küche gekommen war und ich schwer blutend am Boden gelegen war, hatte er erste Hilfe geleistet und dann ins Krankenhaus gefahren. An die Schmerzen konnte ich mich noch sehr lebhaft erinnern. Seitdem hatte ich sowas wie eine Phobie gegen Messer. Ich benutzte sie schon, aber ich war immer sehr vorsichtig damit. Und jetzt mit sowas bedroht zu werden, war der blanke Horror für mich.

Raphael stand jetzt vor mir und legte das Messer an meinen Hals. Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte in mein Ohr: „Letzte Chance, wo ist der Chip?“

Mir liefen Tränen aus den Augen und ich unterdrückte einen tiefen Schluchzer, weil ich Angst hatte, dass das Messer mir dann in den Hals schnitt. Mit hysterischer und zitternder Stimme sagte ich: „Ich weiß es nicht!“

„Sag mir die Wahrheit, Neela!“, zischte er. Sein Gesicht war dicht vor meinem. Ich schwieg. Ich machte die Augen zu, in der Hoffnung, dass es dann nicht so schlimm werden würde, aber nichts passierte. „Schau mir in die Augen!“, verlangte Raphael.

„Nein“, flüsterte ich unter Tränen. Ich bekam fast keine Luft mehr. Der Druck auf meinen Hals erhöhte sich und ich spürte, wie die Klinge meine Haut durchschnitt. Es brannte. Ich öffnete meine Augen und schaute Raphael in die Augen, aber ich sah nur verschwommen. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, weil ich zu viel Angst vor dem Messer hatte. Er legte das Messer jetzt an meine Wange und fragte nochmal: „Wo ist der Chip?“

„Ich weiß es nicht!“, sagte ich mit zitternder Stimme. Jetzt hörten sich meine Worte nicht mal mehr in meinen Ohren glaubhaft an. Wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde, würde er mich in Ruhe lassen, oder? Aber das konnte ich einfach nicht.

Er zog das Messer quer über meine rechte Wange. Ich schrie laut auf, die Wunde brannte wie Feuer und ich spürte, wie eine warme Flüssigkeit meine Wange herunterlief. Mein Blut vermischte sich mit meinen Tränen und es brannte nur noch mehr.

„Neela, du machst es dir doch nur unnötig schwer. Sag mir einfach, wo der Chip ist“, sagte er mit ruhiger Stimme. Langsam bekam ich echt Hass auf diesen Kerl. Aus reiner Sturheit presste ich aus zusammengebissenen Zähnen hervor: „Leck mich!“

„Falsche Antwort, Prinzessin!“, entgegnete er bedrohlich und rammte mir das Messer in meinen Oberschenkel. Der Schmerz schoss durch mein Bein und mir blieb der Atem weg. Dann schrie ich laut, weil es so unerträglich wehtat. Ich spürte nur noch meinen Oberschenkel und sah, wie mein Blut aus der Verletzung herausquoll. Bei dem Anblick wurde mir schwindelig. Ich konnte kein Blut sehen, zumindest nicht mein eigenes. Ich fühlte, wie mir langsam schwarz vor Augen wurde und kämpfte verzweifelt gegen den Schleier an, der sich über meinen Verstand legen wollte. Es tat so weh. Ich wollte den Schmerz nicht mehr spüren.

„Willst du es mir immer noch nicht sagen?“, fragte er nocheinmal. Ich war so kurz davor, es ihm zu sagen. Nur der Schmerz sollte aufhören. Er sollte mich in Ruhe lassen. Aber irgendetwas hielt mich auf. Ich war mir sicher, dass Raphael mich nicht in Ruhe lassen würde, auch wenn ich ihm den Chip aushändigte. Er würde mich umbringen, das sah ich an dem Funkeln in seinen Augen. Dann platzte jemand in den Raum.

„Was soll das?“, schrie diese Person. Vera. Ich war noch nie so glücklich, jemanden zu sehen, wie in diesem Moment. Ich wimmerte.

„Halt dich da raus, Vera!“, brüllte Raphael sie an.

„NEIN! Bist du bescheuert??“, schrie sie zurück. Dann stürmte sie auf Raphael zu und nahm ihm das Messer ab. Er wehrte sich nicht dagegen, aber man sah ihm an, dass er stinksauer war.

„Du solltest nicht hier sein!“, sagte er aus zusammengebissenen Zähnen. Langsam wurde mir immer schwummriger. Und mir war übel. Meine Verletzungen schmerzten immer noch höllisch und das Blut hörte nicht auf zu fließen.

„Bin ich aber! Schau dir mal an, was du mit dem Mädchen gemacht hast! Sie ist kurz vor der Ohnmacht und total übel zugerichtet! Wie kannst du sowas nur tun!!“, zeigte sie ihm vor Augen.

Dann konnte ich nicht mehr gegen den Schleier ankämpfen und mir wurde schwarz vor Augen.

Es gibt doch noch nette Personen!

Es war dunkel, als ich aufwachte. Okay...dunkel war übertrieben. Das erste, was ich spürte, war der Schmerz in meinem Bein. Und je länger ich wach war, desto mehr fühlte ich auch meine anderen Verletzungen. Ich führte meine Hand zu meinem Oberschenkel, um die Wunde abzutasten, aber da war ein Verband. Wer hatte mir einen Verband angelegt? Jetzt öffnete ich meine Augen. Ich war in meinem schäbigen Zimmerchen. Irgendwie war ich über diese Tatsache sehr erleichtert, alles war besser als diese sterile Folterkammer. Mühsam setzte ich mich auf und seufzte unter der plötzlichen Schmerzwelle, die durch mein Bein zuckte, auf. Jemand hatte mich zugedeckt, aber ich hatte immernoch nur Unterwäsche an. Wie war ich wieder hierhergekommen? Das letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass Vera in den Raum geplatzt war und ihren Bruder zur Schnecke gemacht hatte. Aber das hatte er verdient. Er war an alledem Schuld. Er hatte mich so übel zugerichtet.

Es war Abenddämmerung. Ich schaute mich in meinem düsterem Zimmer um und zuckte merklich zusammen, denn da saß jemand. Dann entspannte ich mich wieder etwas. Es war Vera.

„Du bist wach, wie geht es dir?“, fragte sie mich aufrichtig besorgt.

„Mir tut alles weh“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Dann fasste ich an meinen Hals, wo auch ein Pflaster klebte, aber mein Medallion. Es war verschwunden. Oh nein. Ich tastete nochmal meinen Hals ab, um sicherzugehen. Vera beobachtete das und sagte dann: „Ich hab dein Medallion. Ich hab es dir abgemacht, um dich besser verarzten zu können.“ Sie öffnete ihre Hand und da lag mein Medallion drin.

„Du hast mich verarztet?“, fragte ich nochmal nach.

„Ja“, sagte sie mit einem aufrichtigem Lächeln im Gesicht.

„Warum machst du das?“, bohrte ich nach.

„Was meinst du?“

„Wieso hast du dich gegen deinen Bruder gestellt und mir geholfen?“, fragte ich jetzt diskreter.

„Ich finde nicht alles toll, was mein Bruder macht, Neela. Und er braucht jemanden, der ihn manchmal ausbremst. Er ist mit Gewalt und Grausamkeit aufgewachsen und manchmal vergisst er, was er da tut“, erklärte sie mir.

„Er hat mir ein Messer in mein Bein gerammt!“, sagte ich anklagend.

„Er musste es tun, es war ein Befehl. Sein Boss hat ihm gesagt, dass er die Information mit dem Chip unter allen Umständen aus dir herausbekommen soll. Wenn er andere Leute zu dir geschickt hätte, wärst du jetzt noch viel schlimmer dran.“

„Du willst damit sagen, dass ich ihm dankbar sein soll?“, fragte ich ungläubig.

„Nein! Ich sage nur, es hätte noch viel schlimmer kommen können. Ich verstehe, wenn du Rapha nicht verzeihen kannst, aber ich will dir zumindest erklären, warum er es gemacht hat. Er ist manchmal so auf die Befehle von seinem Boss gedrillt, dass er alles andere vergisst“, erläuterte sie mir.

„Vera, er hat so ausgesehen, als...hätte ihm das Spaß gemacht. So, als hätte er mich am liebsten umgebracht“, machte ich ihr klar.

„Er und auch Mathi müssen so etwas öfter machen. Da denken sie nicht darüber nach, was sie da genau machen. Ich weiß, was du meinst. Sie sind manchmal in einer Art Rausch, aber das nur, weil sie alle ihre Gedanken abstellen und einfach ihre Befehle ausführen.“ Das brachte mich zum Grübeln. Mich würde es kaputt machen, wenn ich andere Menschen foltern müsste, deswegen würde ich mich gar nicht in so eine Situation bringen. Aber wenn ich in so einer Lage wäre, würde ich das vielleicht auch so machen. Trotzdem...er hatte mich verletzt, das konnte ich ihm nicht verzeihen. Er hatte mein Zuhause zerstört und mich entführt.

„Aber wieso macht er sowas überhaupt? Wieso hängt er in der ganzen Sache mit drin?“, fragte ich Vera, denn das verstand ich nicht.

„Weil er für mich sorgen wollte. Meine Eltern sind tot. Als sie gestorben sind, war ich gerade mal 10. Rapha war 14. Er wollte sich um mich kümmern und er ist irgendwie in diese Verbrecherorganisation hineingeraten. Die Leute dort haben uns hier wohnen lassen und uns mit allem versorgt. Als Gegenleistung musste Rapha aber einige Dienste erledigen. Angefangen hat es mit Stehlen, dann kam irgendwann immer mehr dazu und irgenwann auch Folterungen. Das wollte er anfangs nicht machen, aber er konnte auch nicht mehr aussteigen, weil der Boss das nicht gestattet hat. Und dann hat er sich damit irgendwie abgefunden. Und ich versuche ihm zu helfen, indem ich ihn ausbremse und ihm zeige, dass er auch noch ein Mensch ist“, hielt sie mir den Vortrag. Jetzt war ich sprachlos. Und ich hatte Mitleid. Die Geschichte war echt schlimm, so konnte ich Raphael zumindest verstehen. Jetzt sah ich die ganze Situation aus einem anderen Licht. Aber konnte ich ihm vergeben? Er hatte mir wehgetan. Er hatte mich entführt. Und er hatte mich geschlagen. Konnte ich ihm das alles verzeihen? Er war immerhin der Böse in meiner Geschichte. Ich konnte es verstehen, aber ich glaubte nicht, ihm verzeihen zu können.

„okay“, antwortete ich einfach nur.

„Verstehst du es jetzt?“

„Ja“ Dann entstand eine Gesprächspause. Jeder hatte seine Vergangenheit, aber man konnte immer seine eigenen Entscheidungen treffen. Ich hatte meinen Vater verloren und meine beste Freundin war verschwunden, aber ich hatte immernoch eine Unterkunft und meine Mum, wenn sie auch keine gute Mutter war. Ich hatte niemals so schwere Entscheidungen treffen müssen. Raphael hatte sich dazu entschlossen für Vera zu sorgen, nachdem seine Eltern tot waren. Er hätte Vera auch einfach alleine lassen können und sich eine anständige Arbeit suchen können, aber er war dageblieben und hatte seine Schwester an erste Stelle gestellt. Er hatte nur das Beste für sie gewollt. Dafür hatte er auch Opfer bringen müssen. Er unterstand jetzt einem 'Boss', dessen Befehle er immer auszuführen hatte. Also hatte er auch seine Freiheit in gewisser Weise für seine Schwester aufgegeben. Ja, ich verstand Raphael.

Vera hatte meine Kette in der Hand und schaute sich gerade die Bilder an. Ich beobachtete sie.

„Wer ist das?“, fragte sie mich und zeigte auf das Foto von Jess.

„Meine beste Freundin, wieso?“, entgegnete ich.

„Ich kenne sie“, offenbarte Vera mir. Oh mein Gott!

„Was? Woher?“, ich war geschockt und überwältigt von dieser Neuigkeit. Wenn Vera sie im letzten Jahr gesehen hatte, dann war das ein neuer Hinweis für mich. Vielleicht brachte sie etwas Licht ins Dunkle.

„Vor ein paar Monaten war sie hier.“

„Waaaas? Oh mein Gott! Jess war hier?“, mir kamen die Tränen. Das war eindeutig eine neue Spur. Sie war hier gewesen! Vor ein paar Monaten. Meine beste Freundin war hier gewesen! Das bedeutete so viel für mich.

„Neela, du verstehst es falsch“, Vera schaute mir ernst ins Gesicht, „Sie war hier als Gefangene.“

Diese Worte musste ich erstmal verdauen. Als Gefangene? „Wie meinst du das?“

„Sie war mit zwei anderen Mädchen und ihrem Zuhälter da.“, sagte Vera langsam und beobachtete genau meine Rekation. Nein, das konnte nicht sein. Jess war doch keine Nutte.

„Wovon redest du eigentlich?“, fragte ich sie begriffsstutzig. Ich wollte es nicht wahrhaben.

„Vor ungefähr 10 Monaten ist ein Zuhälter in dieses Haus gekommen, um dort ein paar Tage zu schlafen und irgendwas zu erledigen. Seinen Namen weiß ich nicht, aber er ist ein Bekannter vom Boss. Jedenfalls hatte er drei Mädchen dabei und die haben mir furchtbar leidgetan. Also hab ich mich in einer Nacht zu ihnen geschlichen. Eins dieser Mädchen hieß Jessica und das ist das Mädchen auf deinem Foto“, erklärte Vera.

„Das kann doch gar nicht sein!“, entgegnete ich, aber als ich diese Worte aussprach, wurde mir klar, dass es sehr wohl sein konnte. Jess war irgendwie an einen Zuhälter geraten. Oh nein.

„Doch, Neela. Und ich glaube dich wird auch interessieren, dass sie von dir erzählt hat. Sie hat von ihrer besten Freundin geredet. Daran kann ich mich noch genau erinnern, weil ich noch nie eine aller beste Freundin hatte und ich eifersüchtig geworden bin.“

Unbeschreibliche Gefühle brachen über mich hinein. Ich war total durcheinander. Ich hatte eine Spur von Jess! Ich konnte sie wiederfinden. Sie hatte von mir erzählt. Sie hatte mich nicht vergessen, sie dachte an mich! Ich bekam einen riesigen Hoffnungsschimmer. Ich würde sie finden. Sie war bei einem Zuhälter. Vera konnte mir helfen, Jess zu retten. Ich konnte es kaum glauben. Dafür musste ich aber erstmal hier raus.

„Vera, du musst mir helfen hier rauszukommen“, sagte ich hoffnungsvoll.

„Nein, Neela, das kann ich nicht. Wenn ich dir helfe zu flüchten, bringe ich meinen Bruder in zu große Schwierigkeiten“, erwiderte sie traurig, aber bestimmt.

„Bitte!“, flehte ich. Aber sie hatte recht. Wer wusste schon, was 'der Boss' mit Vera und Raphael machen würde, wenn ich flüchten würde und dann auch noch ans Licht kam, dass Vera mir geholfen hatte. Bei Raphael ließ es mich kalt, aber Vera sollte nichts passieren. Sie war auch nur ein unschuldiges Mädchen, so wie ich.

„Ich kann nicht. Außerdem musst du dich erstmal um deine eigenen Probleme kümmern“, sagte Vera und reichte mir mein Medallion, das ich mir gleich wieder umlegte. Sie meinte sicher das mit dem Chip. Sie wusste also auch Bescheid. Vielleicht würde sie mir meine Frage beantworten.

„Was ist auf dem Chip drauf?“, fragte ich.

„Du hast ihn also?“, fragte sie neugierig. Ich wurde misstrauisch. Vielleicht hatte Raphael sie geschickt, damit sie mir diese Information entlockte, oder sie wollte ihrem Bruder helfen. Oder sie war einfach nur verdammt neugierig.

„Ich hab zuerst gefragt“, stellte ich klar, wobei mein Ton ein bisschen zu scharf war. Ich würde ihr so gerne vertrauen, aber ich wusste nicht, ob ich es konnte. Ich war auch nicht gerade eine Person, die Leuten einfach vertraute. Dafür hatte ich zu viele schlechte Seiten an Menschen gesehen.

„Na gut“, lachte sie und hob ihre Hände, „Auch wenn Rapha es dir nicht sagen will, finde ich, du solltest es wissen. Anscheinend ist auf dem Chip eine Liste gespeichert, auf der sämtliche Namen der Angestellten vom Geheimdienst aufgelistet sind.“ Ihre Augen funkelten aufgeregt, als sie mir den neusten Klatsch und Tratsch erzählte.

Das musste erstmal wirken. Das wollten also alle haben? Okay, irgendwie war es verständlich. Wenn dort wirklich alle Namen von Geheimdienstangestellten draufstanden, dann war das schon wertvoll für Verbrecher. Sie könnten jeden Angstellten nacheinander abschlachten und dann würde pures Chaos ausbrechen. Warum hatte Luis diese blöde Liste? Und warum hatte er mich da mit reingezogen? Dieser Chip durfte nicht in die flaschen Hände geraten. Wenn doch, dann würden viele Menschen sterben, soviel stand fest. Menschen mit Familie würden getötet werden. Die Frage war, wer alles hinter dem Chip her war. Die Verbrecherorganisation, wo Raphael mit drinhängt, ganz klar der Geheimdienst, dem diese Liste auch zustand, andere böse Organisationen, Mafia, vielleicht auch die Polizei. Auf jeden Fall zu viele Leute.

„Also jetzt bin ich dran. Hast du den Chip?“, man merkte ihr die Neugierde an. So ganz vertraute ich ihr noch nicht, aber ich musste unbedingt mit jemandem reden.

„Ich weiß zumindest, wo er ist“, wich ich aus. Die ganze Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen, weil wenn sie es jemandem verraten würde, hätte ich mich selbst der Schlachtbank ausgeliefert. Vera wartete auf weitere Informationen meinerseits, aber als sie dann bemerkte, dass ich nichts mehr sagen würde, huschte kurz Enttäuschung über ihr Gesicht. Aber diese war auch gleich wieder verschwunden. Entweder sie hatte auf mein Vertrauen gehofft, weil sie schon lange keine Freundin mehr hatte, der sie alles erzählen konnte, oder sie wollte mehr Infos für Raphael haben. Oder Beides. Sie lächelte mich liebevoll an. „Ich muss langsam wieder gehen. Ich hab dir frische Kleidung und neue Verbände in den Schrank gelegt. Eine Dusche würde dir bestimmt guttun, obwohl deine Verletzungen etwas brennen werden, aber es erfrischt dich bestimmt etwas.“ Sie ging zur Tür.

„Danke, Vera“, sagte ich aufrichtig, „keiner hat mir so sehr weitergeholfen, wie du.“

Traurig lächelte sie mich an: „Hab ich gerne gemacht.“ Dann verließ sie mein Zimmer. Sie hatte bestimmt auch kein leichtes Leben. Ihr Bruder war bestimmt oft nicht da und wenn, dann arbeitete er irgendwie immer. Ich frage mich, wann sie das letzte Mal richtig miteinander geredet hatten. Sie hatte auch keine Eltern mehr, denen sie erzählen konnte, was sie bedrückte. Und sie war hier gewissermaßen gefangen. Und einsam, denn sie hatte gesagt, dass sie keine beste Freundin hatte. Sie hatte also niemanden außer ihrem Bruder. Die Arme. Sie tat mir leid.

 

Ich hatte wirklich Lust auf eine Dusche. Ich fühlte mich total dreckig und ich wollte gar nicht erst wissen, wie ich aussah. Ich wollte von meinem Bett aufstehen, aber sofort durchzuckte ein Schmerz mein Bein. Laufen könnte sich als schwierig erweisen. Vorsichtig setzte ich mein verletztes Bein auf den Boden. Jede Bewegung tat weh. Ich versuchte mein Bein so gut es ging zu entlasten, aber schon als ich einen Schritt tat, dachte ich von dem Schmerz unmächtig zu werden. Aber ich biss die Zähne zusammen und machte mich auf den Weg in das schäbige Bad. Ich hatte mir das Bad zwar schon angeschaut, aber als ich es nochmal sah, verzog ich automatisch angewidert das Gesicht. Ich stützte mich auf dem Waschbecken ab und schaute mich in dem schmutzigen und milchigen Spiegel an. Kein schöner Anblick. Meine Schminke war total verschmiert und meine Augen waren müde. Ich war ungesund blass und meine Haare waren fettig und verfilzt. Auf meiner Wange klebte ein riesiges Pflaster, das ich jetzt vorsichtig ablöste. Darunter verbarg sich ein tiefer blutverkrusteter Schnitt, der aber zum Glück nicht eiterte. Schon alleine bei dem Anblick wurde mir schlecht. Ich wollte meinen Oberschenkel gar nicht sehen. Also würde ich zuerst noch das Pflaster an meinem Hals wegmachen. Dieser Schnitt war nicht tief und auch nicht sehr schlimm. Es war nur ein Schnitt in die Haut. So...jetzt zum Oberschenkel. Langsam wickelte ich den Verband ab. Mir wurde schwummrig. Die Wunde war tief und sah auch ziemlich übel aus. Aber ich glaube, Raphael hatte keine Muskeln oder etwas wichtiges getroffen. Hoffentlich. Also eine Fleischwunde, so sah es auch aus. So genau wollte ich das jetzt nicht beschreiben. Ich wandte den Blick ab, zog meine Unterwäsche aus, machte mein Medallion ab und stellte mich unter die widerliche Dusche. Vera hatte mir Shampoo und Duschgel bereitgestellt. Ich schuldete ihr echt was. Das Wasser, was leider entweder zu kalt oder zu heiß war, prasselte über meinen Körper. Es brannte höllisch, als es über meine Verletzungen floss. Besonders bei meinem Oberschenkel. Aber Augen zu und durch. Unter der Dusche konnte ich am besten nachdenken.

Vera hatte mir so viele Fragen, wie sonst keiner, beantwortet. Jetzt wusste ich, was auf diesem Chip drauf war und konnte ihn jetzt unmöglich aushändigen, denn ich befürchtete stark, dass das zu viele Menschenleben kosten würde. Aber was mir persönlich noch viel wichtiger war: Ich hatte etwas über Jess herausgefunden. Vor zehn Monaten war sie hier gewesen. Das hieß, vor zehn Monaten hatte sie auf jeden Fall noch gelebt und ich hatte große Hoffnungen, dass das jetzt immer noch so war. Sie war mit zwei anderen Mädchen bei einem Zuhälter gewesen. Dort könnte sie immernoch sein. Vielleicht war sie in so einem schäbigen Rattenloch wie ich, nur dass ich verletzt wurde und sie sich prostituieren musste. Daran wollte ich gar nicht denken, also schob ich diesen Gedanken beiseite.

Mit den ganzen Antworten kamen aber auch viele Fragen auf. Warum und woher hatte Luis eine Liste von allen Leuten, die beim Geheimdienst arbeiteten? Warum hatte Luis mich da reingezogen? Und die erstrangige Frage: Wie kam ich hier raus? Ich musste hier weg, soviel stand fest, aber ich konnte unmöglich schnell laufen. Ich brauchte Hilfe. Und wenn ich erst mal hier weg war, würde ich diesen Zuhälter finden müssen. Aber wie sollte ich ihn finden. Ich brauchte unbedingt einen Namen. Vera wusste den Namen nicht, hatte sie gesagt. Aber wer dann? Mathias? Raphael? Das waren aber die letzten Menschen, die ich fragen wollte.

Ich stieg aus der Dusche und trocknete mich vorsichtig mit einem Handtuch ab, das Vera mir glücklicherweise auch ins Bad gelegt hatte. Dann band ich es um meinen Körper, machte meine Kette wieder um meinen Hals und schaute mich nochmal im Spiegel an. Ich sah fertig aus. Die verlaufene Schminke war jetzt weg, aber jetzt kamen dunkle Augenringe zum Vorschein. Ich griff nach einer Haarbürste, die auch plötzlich im Bad lag (Ich danke dir tausendmal, Vera!), und kämpfte mich durch meine nassen Haare. Als ich fertig war, verließ ich das Bad und legte mir die neuen Verbände um, zwar lang nicht so sorgfältig, wie Vera es getan hatte, aber trotzdem so gut es ging. Dann zog ich die Klamotten an, die sie mir in den Schrank gelegt hatte. Frische Unterwäsche, eine schwarze bequeme Jogginghose, ein schlichtes dunkelrotes Top und eine Stoffjacke. Es war angenehm, frische Kleidung zu tragen, obwohl der Akt, sie anzuziehen, lang nicht so angenehm war. Sogar sehr schmerzhaft.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich legte mich auf mein Bett und wartete. Ich wartete auf einen Geistesblitz oder einen Plan, der mir helfen würde, hier rauszukommen.

Wem kann ich trauen?

Da lag ich also auf meinem Bett. Versunken in Trübsal. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich hier wegkommen sollte. Ich starrte an die nicht mehr weiße Zimmerdecke. Das war kein schönes weiß mehr, sondern schmutziges und unreines weiß. Außerdem war da ein Fleck auf der Zimmerdecke. Das schlimmste war, dass er dunkelrot war und aussah wie...naja ihr wisst schon. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was in diesem Raum schon alles geschehen ist. Ich meine, wie bekam man einen Blutfleck so weit hoch an die Decke? Okay, okay, schieben wir diesen Gedanken beiseite. Das willst du wahrscheinlich gar nicht wissen, Neela. Und außerdem deprimiert dich der Gedanke noch mehr.

Ich musste mich aber gar nicht mehr ablenken, denn die Tür wurde aufgeschlossen und geöffnet. Es war doch mitten in der Nacht, wieso mussten sie mich auch jetzt noch nerven? Mühsam hob ich meinen Kopf und schaute meine Besucher an. Es waren Raphael und Mathias. Damit hatte ich nicht gerechnet. Auf mich stürmten verschiedenste Gefühle ein. Wut, Hass, Mitleid, Traurigkeit, Erregung...was Erregung, nein, das war falsch. Keine Erregung, bloß Wut, Hass Mitleid und Traurigkeit. Sie traten in mein Zimmer und schlossen die Tür. Ich ließ meinen Kopf genervt wieder auf das Bett fallen, machte die Augen zu und fragte ausdrucklos: „Was wollt ihr?“

„Wir helfen dir hier raus“, erwiderte Raphael. Was hatte er gerade gesagt? Raushelfen? Mir? Ich riss meine Augen auf, setzte mich auf und starrte die Beiden fassunglos an.

„Was?“, fragte ich verständnislos.

„Wir helfen dir bei der Flucht“, antwortete Mathias mir unruhig.

„Wieso solltet ihr das tun?“, fragte ich sie misstrauisch. Es gab keinen Grund, warum sie mir helfen sollten. Bei der Sache musste es einen Haken geben.

„Das hast du meiner kleinen Schwester zu verdanken“, sagte Raphael, aber trotzdem verstand ich nicht, wieso sie mir halfen. Ich wartete auf weitere Erklärung und schaute ihn abwartend an.

Raphael seufzte: „Sie hat mir ein schlechtes Gewissen eingeredet und mir das mit deiner besten Freundin erzählt. Und sie hat mich und Mathias überredet, dass wir ihr helfen, dich zu befreien.“ Das sollte ich ihm glauben?! Sie hatten mich doch erst entführt und jetzt...wollten sie mir HELFEN?

Zweifelnd fragte ich sie: „Und wo ist Vera dann?“ Sie hatte gesagt, dass sie mir nicht helfen konnte. Wenn sie sich jetzt wirklich umentschieden hatte, müsste sie doch hier sein, oder?

„Wir treffen sie gleich“, sagte Mathias. Ich wusste nicht, ob ich ihnen glauben sollte. Sie hatten mich immerhin entführt und dann hatte Raphael mich gefoltert, um den Aufenthaltsort von dem Chip herauszufinden. Andererseits hatte Vera erzählt, dass es ein Befehl vom „Boss“ war, und das Raphael gar nicht so ein übler Kerl war. Aber was hatte ich denn für eine Wahl? Das war jetzt vielleicht meine letzte Fluchtmöglichkeit! Ich musste Raphael und Mathias wohl oder übel vertrauen...

„Und was ist mit dem Chip?“, fragte ich und bereute es sofort wieder. Wieso hatte ich das gesagt? Sie hatten vielleicht gerade nicht daran gedacht und ich erinnerte sie aus reiner Dummheit wieder! Ich würde meinen Kopf jetzt am Liebsten gegen die Wand schlagen.

Raphael schaute mich lang und fragend an, wie als würde er sich auch fragen, wieso ich so blöd war, diese Frage jetzt zu stellen. Dann antwortete er aber mit hochgezogenen Augenbrauen: „Willst du mir sagen, wo der Chip ist?“

„Nein“, erwiderte ich hastig und erwartete, dass sie mich jetzt wieder ausquetschen würden und genau das Gleiche ablaufen würde wie in der Folterkammer. Diese Schmerzen. Mir wurde übel. Warum war ich so dumm und hab diese Frage gestellt? Aber die Beiden taten nichts dergleichen. Raphael stand vor mir und erwiderte schulterzuckend: „Eben“ Mehr nicht. Nur 'eben'. Wer hätte das gedacht. Es war ihnen anscheinend egal, wo sich der Chip befand. Das war doch unmöglich. Mein Misstrauen wurde wieder geweckt. Wenn es ihnen so gleichgültig war, wieso hatten sie mich dann so übel zugerichtet, um diese Information zu bekommen?

„Bekommt ihr nicht mega Schwierigkeiten, wenn ihr mir helft?“, fragte ich nochmal dümmlich. Warum sagte ich heute so blödes Zeug? Neela, du solltest einfach die Klappe halten! Was war bloß mit meinem Gehirn los? Es hatte sich anscheinend ausgeschalten. Oder es war der Meinung, dass ich gar nicht hier weg wollte und weiter gequält werden wollte. Wenn ich hier abhauen wollte, dann sollte ich eindeutig meinen Mund halten. Ich hatte den Beiden doch ernsthaft zwei Gründe gegeben, mich hierzubehalten und meine Flucht abzublasen! Neela, du bist so dumm!

Ich biss mir auf die Lippe und Raphael und Mathias sahen mich an, als wäre ich verrückt. Sie dachten sich wahrscheinlich auch 'Wieso war sie so dämlich und versucht und ihre Rettung auszureden?'. Dann rang Mathias sich eine Antwort ab: „Lass das mal unsere Sorge sein und jetzt halt besser den Mund, sonst überlegen wir es uns vielleicht doch noch anders.“ Er grinste mich amüsiert an und auch Raphael lächelte. Vielleicht waren so doch nicht so böse, wie ich dachte. Darauf legte ich mich jetzt aber noch nicht fest, denn es könnte auch nur eine Falle sein. Vielleicht wollten sie mich ja vergewaltigen, aber warum taten sie es dann nicht hier und jetzt? Diese Gedanken verscheuchte ich sofort wieder. Ich hatte eh keine andere Wahl.

Raphael riss mich aus meinen Gedanken. „Wir sollten uns beeilen. Kannst du laufen?“

„Seh ich so aus, als könnte ich laufen?“, erwiderte ich säuerlich. Er musste ja wohl am besten wissen, ob ich laufen konnte, weil er mich immerhin so zugerichtet hat. Nichts auf der Welt würde mich davon abhalten, ihm das bei jeder Gelegenheit vorzuhalten. Er schaute mich mit zusammengebissenen Zähnen und schuldbewusstem Blick an, entschuldigte sich aber nicht, sondern sagte stattdessen: „Dann trag ich dich“ Und bevor ich lautstark protestieren konnte, hatte er mich schon hochgehoben und ich lag in seinen Armen. Wieso konnte nicht Matze mich tragen? Wenn Raphael mich trug, konnte ich mich nicht sehr gut konzentrieren. Okay, ich gebs zu, er brachte mich irgendwie aus der Fassung. Ich wusste einfach nicht, wie ich ihn einschätzen sollte. Er hatte mich verfolgt, geschlagen, gegen meinen Willen geküsst und gefoltert, jetzt aber rettete er mich und ich wusste auch, dass er alles zu Veras Bestem tat. Was sollte man von so einem Typen halten?

Ich betrachtete ihn, ich hatte ja nichts besseres zu tun als unnütz in seinen Armen zu liegen. Seine schwarzen Haare waren verwuschelt, aber es sah ziemlich...gut aus. Seine Miene war konzentriert, was ihn durch sein markantes Gesicht, noch ernster wirken ließ. Ich schaute in seine grauen Augen. Sie waren irgendwie kalt, aber intensiv und umwerfend. Er lächelte zwar gerade nicht, aber wenn er lächelte, dann sah es immer total sexy aus. Neela, hör auf zu sabbern! Du kannst gerne jemanden anschmachten, wenn du nicht gerade auf der Flucht bist. Außerdem dieser Typ...NEIN, niemals. Du solltest gar nicht mal in seinen Armen liegen. Er hat dich verletzt und geschlagen. Er ist gefährlich und jetzt reiß dich zusammen! Was für ein Psycho-Mädchen musst du sein, um diesen Typen gut zu finden? Also NEIN!

Wir, Mathias voraus, betraten einen dunklen Gang und gingen ihn entlang. Ich persönlich sah nur schwarz, denn es war stockfinster. Meine Orientierung war eh schon flöten gegangen, aber Matze und Ratze (ich weiß, ich habe wieder angefangen, sie so zu nennen!) schienen sich hier bestens zurechtzufinden. Ich war echt froh, nicht gehen zu müssen, denn das würde mein Bein nicht aushalten und ich wäre spätestens nach zwanzig Metern unter Schmerzen zusammengebrochen. Und ich war auch erleichtert, diesen Weg nicht alleine bewältigen zu müssen, denn wie gesagt, ich war völlig orientierungslos.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, obwohl es wahrscheinlich nur ein paar Minuten (wenn überhaupt) waren, kamen wir in der Halle an, die ich bei meiner Ankunft betreten hatte. Nur jetzt durchschritten wir die Halle und gingen in einen anderen Gang. Ich hatte keine Ahnung von diesem Haus, also wusste ich auch nicht, wo wir hingingen. Aber ich wurde langsam unruhig. Hier war alles so still. Kein Mucks war zu hören außer Mathias' und Raphael's Schritte, die mir unendlich laut vorkamen. Ich überlegte, ob es nicht doch ein Fehler war, mich von ihnen verschleppen zu lassen.

Dann kamen wir bei einer Tür an. Mathias öffnete die knarzende Tür und ich sah den Ansatz einer nach unten führenden Treppe, die ins Dunkel verschwand. Ich schluckte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Wir stiegen die Treppen hinunter. Ich bekam Panik. Es war ein Fehler, ganz sicher, es war ein riesen Fehler! Wir stiegen immer weiter runter und ich wurde mit jedem Schritt von Ratze unruhiger. Ich fühlte mich so schutzlos. Ich vertraute den Beiden nicht und die Dunkelheit machte mir Angst. Sie schien mich zu erdrücken. Normalerweise fürchtete ich mich nicht vor der Dunkelheit, aber bei meinem jetzigen Angstzustand machte die Finsternis mein Wohlbefinden nicht besser. Sogar eher schlechter. Viel schlechter. „Wo bringt ihr mir hin?“, fragte ich leise und meine Stimme war angsterfüllt. Dafür könnte ich mich trotz meiner Angst schlagen. Ich wollte nicht wie ein kleines verängstigtes Mädchen klingen. Keiner sollte wissen, dass ich mich am liebsten wimmernd in eine Ecke verkrümeln wollte. Ich sollte eigentlich stark sein! Nichts sollte mich erschüttern können! Und jetzt war ich hier im Finsteren mit zwei Kerlen, von denen ich nicht wusste, ob ich ihnen trauen konnte, und bekam fast eine Panikattacke. Naja, okey, es war schon irgendwie ein Grund Angst zu haben, aber....ach keine Ahnung.

„Vertrau uns einfach“, flüsterte mir Raphael zu. Leichter gesagt als getan! Ich könnte ihm schonwieder eine reinhauen, weil er mir mit seiner Antwort so auswich. Warum konnte er mir nicht einfach sagen, wohin sie mich brachten?

Wir kamen irgendwann an einer Tür an. Mathias machte sie auf und wir traten durch. Ich sah...nichts. Es war zu dunkel. Das war ziemlich beunruhigend. Ich wagte es nicht auch nur einen Mucks zu sagen. Dann erschien ein rundes Licht. Eine Taschenlampe? Das Licht leuchtete uns an und blendete uns. Ich kniff die Augen zusammen, weil es zu hell war. Jetzt ist es aus! Fluchtversuch gescheitert! Ich bin weiterhin gefangen, Vera und die beiden Jungs bekommen riesige Schwierigkeiten. Vielleicht werden sie ja umgebracht für ihren Verrat! Und mich töten sie gleich noch dazu. Ich war manchmal ein bisschen melodramatisch, aber das waren nunmal meine Gedanken. Schritte kamen näher und das Licht blendete uns weiter bis Ratze zischte: „Vera, hör auf uns ins Gesicht zu leuchten!“

„Uuups, tut mir leid!“, flüsterte Veras angenehme Stimme. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich bemerkte, dass auch Ratzes Anspannung nachließ, also war er sich auch nicht sicher gewesen, dass es Vera war. Sie lenkte den Lichtstrahl von ihrer Taschenlampe ab und überwindete die restlichten Meter, die zwischen uns lagen. Jetzt stand sie lächelnd vor uns und sagte grinsend zu mir: „Ich habs mir doch anders überlegt.“ Ich musste zurückgrinsen, obwohl ich noch nicht aus der Gefahrenzone raus war. Sie half mir wirklich!

Ich sah mich um. Das Licht von Veras Taschenlampe erhellte den Raum etwas. Wir waren in einer Garage, wo mindestens 20 ziemlich teuer aussehende Autos herumstanden. Wow! Sie wollten mich echt hier wegfahren. Mit einem coolen Schlitten! Wer hätte gedacht, dass sie mich auch noch wohin fahren würden.

„Kommt mit!“, befahl Vera grinsend. Sie führte uns zu einem unauffälligen BMW, der aber trotzdem nicht billig aussah und klopfte sacht auf die Motorhaube: „Das ist das unscheinbarste Auto, das wir zur Verfügung haben.“ So unscheinbar war das aber nicht. Es war schon ein edles Gefährt. Wir standen um den Wagen herum und keiner wusste, was man sagen konnte. Also machte ich den Anfang.

„Danke, Vera! Danke für alles“, sagte ich aufrichtig zu ihr und umarmte sie fest. Sie war mir irgendwie ans Herz gewachsen, vielleicht auch nur, weil sie eine der wenigen netten Personen in meinem Leben war. Trotzdem hatte ich ihr viel zu verdanken. Soviel wie wahrscheinlich keinem anderen. Mathias und Raphael stand ich etwas unbeholfen gegenüber. Ich hatte immer noch gemischte Gefühle bei den Beiden. Umarmen wollte ich sie nicht.

„Danke“, sagte ich schlicht zu den Beiden und lächelte sie freundlich an. Sie hatten ein charmantes Lächeln aufgesetzt und geantwortet: „Gerne.“

Ich öffnete die Beifahrertür und wollte einsteigen, aber Vera sagte vorsichtig: „Ähm...Neela?“

„Ja?“, ich drehte mich zu ihr und schaute sie fragend an.

„Du musst fahren“, sagte sie lächelnd und hielt mir den Autoschlüssel vor die Nase. Wie jetzt? Ich soll fahren? Ich schaute sie verdattert an und realisierte erst einen Moment später ihre Worte. Sie begleiteten mich nicht, sondern würden hierbleiben. Ich sollte am Steuer sitzen und alleine wegfahren. Oh mein Gott!

Ich nahm den Schlüssel zögernd und machte mich langsam auf den Weg zur Fahrertür. Ich fühlte mich total hilflos. Wie sollte ich diesen BMW steuern? Ratze unterbrach meine Gedanken: „Du kannst doch fahren, oder?“ Ich schaute ihn an, er hatte eine Augenbraue hochgezogen...das sah verdammt gut aus. Ich vertrieb den Gedanken und überlegte. Konnte ich Auto fahren? Ich war vor drei Jahren auf einem privaten Parkplatz kurz mit einem Auto gefahren. Da war ich zwölf gewesen und hatte Jess besucht. Ein älterer Freund von Luis hatte uns mal ans Steuer gelassen. Total bescheuert und leichtsinnig von ihm, ich weiß. Ich hatte es aber eigentlich ganz gut hinbekommen, abgesehen davon, dass ich kaum übers Lenkrad schauen konnte. Trotzdem war das schon DREI Jahre her und Fahrpraxis konnte man das sicher nicht nennen.

„Keine Ahnung...vielleicht...“, stotterte ich. Ich fühlte mich plötzlich ziemlich klein.

„Vielleicht?!?!?!“, wiederholte Raphael ungläubig. Er stand jetzt einen halben Meter vor mir, was mich noch unsicherer machte. Ich sollte diesen Typen doch eigentlich hassen! Wieso konnte ich das nicht? Wieso machte er mich so nervös?

„Naja...ich bin einmal vor ein paar Jahren hinterm Steuer gesessen“, stotterte ich weiter. Verdammt, ich würde am liebsten im Boden versinken. Ich wollte nicht so unsicher und wie ein kleines Mädchen sein, hatte ich das schonmal erwähnt? Aber manchmal rang sich das doch irgendwie durch.

Raphael tauschte einen Blick mit Mathias und seufzte dann: „Das muss reichen. Mehr können wir nicht riskieren, das fliegt sonst auf.“ Er öffnete mir die Fahrertür und zeigte mir mit einer Geste, dass ich einsteigen sollte. Ich tat wie geheißen, aber langsam, ich musste immerhin auf mein schmerzendes Bein achten. Rapha schloss die Tür und klopfte dann gegen mein Fenster. Ich drückte auf einen Knopf und die Fensterscheibe glitt nach unten. Er lehnte sich zu mir rein und gab mir noch eine kurze Instruktion. Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss und der Motor fing an leise zu surren. Bevor ich losfuhr, sagte Raphael noch zu mir: „Wenn du deine kleine Freundin retten willst, hab ich noch eine Info für dich. Der Zuhälter, mit dem sie hier war, heißt Jackson Bramhoff. Das is der Kerl, nach dem du suchen musst.“ Er schaute mir tief und eindringlich in die Augen und jetzt meine ich es ernst, als ich es aussprach: „Danke.“ Ich erwiderte seinen Blick. Ich wollte so viel sagen, aber ich konnte die Worte nicht aussprechen. Und mein Gehirn schaltete auf Pause. Ich wollte sagen: Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Ich werde versuchen auch euch zu helfen. Es tut mir leid, dass du hier gefangen bist. Kommt doch alle mit. Lasst das alles einfach zurück und kommt mit mir mit. Ihr seid mir ans Herz gewachsen, auch du Raphael, obwohl du mir soviel Schmerz bereitet hast und ich euch eigentlich nicht kenne. Kommt mit mir. Aber ich konnte keinen dieser Sätze aussprechen. Alles entfiel mir. Mir schwirrte nur ein Gedanke durch den Kopf: Du wirst diese Leute nie wieder sehen. Das hielt mich davon ab, irgendwas zu sagen. Dieser Satz war das einzige, an das ich denken konnte.

Raphael ging ein Schritt zurück, ohne den Blick abzuwenden. Ich aber brach den Blickkontakt ab und trat aufs Gaspedal. Das Auto reagierte sofort und fuhr los. Ich fühlte mich ziemlich unsicher, es war mir nicht wohl dabei, so etwas Kraftvolles zu steuern. Aber ich schlug mich einigermaßen gut, fand ich. Ich krallte meine Finger in das Lenkrad und brauste in meine Freiheit. Raphael, Mathias und Vera schauten mir hinterher. Nie wieder würde ich sie sehen. Jetzt musste ich einen Zuhälter namens Jackson Bramhoff suchen.

Impressum

Texte: Die Geschichte ist meinem kleinen Köpfchen entsprungen. Also seid bitte so fair und gebt sie nicht als eure aus.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2013

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