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1 Der endlose Zug

 

...während der Jagd


Der endlose Zug

 

Ja, so ein, so ein, oh nein, das darf nicht sein, NICHT SCHON WIEDER. Donner und Blitz sollen diese Schei ... Römer treffen. Diese stinkenden Lumpen fressen Eselswurst und stinken nach Pisse. Mist und Gülle soll es auf sie regnen. Helmut ist außer sich vor Wut. Zornbebend und schnaubend brüllt er die herumstehenden Männer an.

 

„He ihr feigen Kerle, steht hier nicht so dämlich herum, holt lieber Taue und Äxte, damit wir die Wagen hier wieder aus den Löchern bekommen“.

 

Die Römer hatten auf Ihrem Zug nach Westen mal wieder Erdfallen gebaut und wir waren selbstverständlich herein gerasselt – war doch klar. Helmbot holt weit mit den Armen aus, um die nachfolgenden Wagen vorbeizuwinken. Der Zug, der an ihm und den anderen Männern vorüberzieht, bewegt sich nur langsam, mit schlurfenden, müden Bewegungen durch das feuchtkalte Oktoberwetter. Über ihnen schwebt eine Wolke von Schweiß, Urin, Eiter, Blut und Kot. Es riecht nach Entbehrung und Not.

 

Das ganze, Elend, warum sie die Kundschafter immer wieder vergebens aussenden und schon seit Jahren unterwegs sind, ist irgendeine vermaledeite Prophezeiung, an die sich nur noch wenige erinnerten. Aber wir laufen und laufen und laufen … jeden Abend ein neues Lager, jeden Morgen eine neue Hoffnung und jeden Winter neue Gräber. Im Herbst gibt es mindestens um die einhundert „Frischlinge“. Die Kerle bocken den Winter über jedes Weib auf, was ihnen über den Weg läuft. Ständig haben wir Sorge um gute Lagerplätze, um genügend Essen und Trinken, um ausreichenden Schutz vor Angreifern jeglicher Art. Ob wilde Tiere oder streunende Gaunertruppen – wir mussten ständig auf der Hut sein. So kommt aber auch keine Langeweile auf.

 

Isbert, Marbod, Lindrad und Nithard sitzen rund ums abendliche Lagerfeuer, als plötzlich Rembert laut schreiend auf sie zugeritten kommt.

„Bringt Euch in Sicherheit, die Wölfe sind hinter mir her. Holt Euch Feuerfackeln und Äxte zur Verteidigung. Los, seid nicht so träge, oder wollt Ihr zerfleischt werden, Ihr blöden Trottel“.

Oh, man – und dann kommen sie tatsächlich – ein Rudel von circa zwölf Wölfen. Nindrad versucht sich von hinten, an einen Wolf anzuschleichen, der, mit gebleckten Zähnen, vor dem schlotternden Isbert steht. Isbert steht mit dem Rücken vor einem Wagen, der Schweiß läuft ihm in Rinnsalen vom Gesicht. Seine Augen sind angstweit aufgerissen und er hat die Hände schützend vor seinem Gesicht und dem Oberkörper überkreuzt.

„Geh weg, Du Bestie, weg mit Dir“, beschwörend wiederholt Isbert diese Worte.

 Nindrad ist es inzwischen tatsächlich gelungen, sich bis auf einige Meter zu nähern. Sein Herz rast wie verrückt und seine Hände sind nass vom Schweiß. Doch nur ein Gedanke beherrscht ihn:

Verdammt, ich MUSS meinen Freund Isbert retten, ich muss den Wölfen töten. Ich MUSS. Mit diesem Gedanken springt er ab und schlägt dem Wolf mit aller Kraft die Axt in den Schädel. Ein lautes wütendes und schmerzliches aufjaulen, ein herumfahren und sich aufbäumen, ein zorniger Abwehrsprung, in die nun von Nindrad bereitgehaltene zweite Streitaxt.

Da kommen ihm plötzlich noch einige kräftige junge Burschen zu Hilfe geeilt. Mit erhobenen Äxten laufen sie laut schreiend auf das Wolfs-Menschknäuel zu und geben Ihre ganze Kraft um Ninrad und Isbert vor den Wölfen zu retten. Doch auch Ihre ganze Kraft und die vielen Schläge, die die Wölfe treffen, scheinen keinerlei Wirkung bei ihnen zu haben. Und es kann die Wölfe auch nicht davon abhalten, sich in Isberts linken Oberarm zu verbeißen. Die lauten Schmerzensschreie Isberts und seine wütenden Abwehrschläge, mit der Faust in die Augen eines Tieres, was dieses nur noch wütender werden lässt, führen dazu, dass der Wolf, rasend vor Schmerz, trotz der schweren Verletzungen, unter Aufbäumen und Fauchen sein heftiges Gerangel fortführt. Erst an seinem leiser werdendem Brüllen merken die Männer, dass ihn dann doch wohl endlich die Kraft verlässt und der Wolf von Isbert ablässt. Mit letzten gezielten, kräftigen Hieben und den Feuerfackeln gelingt es allen zusammen, die wütenden Wölfe zu vertreiben, wobei sie auch noch einige töten.

 

„Danke Jungs“, sagte Isbert mit schwacher Stimme zu Nindrad, Ingwin und Wodan „eure zusätzlichen Streitäxte haben ihm den Rest gegeben und ihn schwer getroffen.“

„Ingwin komm, die können den Rest jetzt allein erledigen. Wir sollten versuchen, den anderen zu helfen.“ Rief Wodan seinem Freund Ingwin zu.
Ingwin schaute sich kurz um, machte sich ein Bild von der Situation und rief dann:

"Los Wodan, worauf warten wir noch."

 

Da kommen Salgard und Rutgard, um Isberts schwere Wunden zu versorgen.

„Salgard flicke mir meinen Freund ja wieder gut zusammen, das sieht nicht gut aus. Ich warne Euch, bemüht Euch, sonst werde ich richtig böse.“ Sagt Nindrad.

Die beiden schauen sich betroffen an und machen sich an die Arbeit. Da haben sie aber eine wirklich schwere Aufgabe, der Wolf hat ganze Arbeit geleistet. Besonders der rechte Arm ist vollkommen zerfetzt.

„Ich habe Angst, dass wir den Arm nicht mehr retten können“, murmelt Rutgard. Sie ist die Ältere und Erfahrenere der Zwei und ihr Urteil zählt. Salgard zuckt erschrocken zusammen und kann nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen laufen. Isbert ist noch ein junger Mann und bei allen sehr beliebt. Wenn ihm der rechte Arm amputiert werden muss, wird er nicht mehr als vollwertiges Mitglied des Stammes angesehen.

„Bitte, Rutgard kannst Du nicht irgendetwas machen, können wir nicht erst einmal alles ausprobieren, bevor wir den Arm amputieren. Das kann man immer noch als allerletzte Möglichkeit sehen“ fleht Salgard eindringlich!

"Das ist ein großes Risiko, denn wenn es zu Entzündungen kommt, kann rasch eine Blutvergiftung entstehen und die vergiftet zügig den ganzen Körper und dann stirbt der Mensch. Dann kann ich besser ohne Arm leben, oder meinst Du nicht auch"?

„Ich verspreche Dir, dass ich jede Stunde nach Isbert sehe, seine Wunden säubere, neue Verbände anlege und darauf achte, dass er kein Fieber hat. Bitte Rutgard sag nicht nein – lass mich für ihn sorgen“ sagt Salgard.

„Du willst wirklich die Verantwortung für Isberts Leben oder Tod auf Dich nehmen“? Fragte Rutgard ein wenig spöttisch.

„Ja, und zwar für sein Leben als kompletter Mann mit rechtem Arm“, sagt Salgard Tiefernst. Nach einer kurzen Pause dreht sich Rutgard zu ihr um und sagt mit brummiger Stimme:

Ich bin normalerweise nicht für irgendwelche Experimente geeignet und kann nicht sagen, ob ich Nindrad damit einen Gefallen tue. Von mir aus kannst Du jedoch versuchen, den Arm und auch Nindrad zu retten. Aber bei der kleinsten Entzündung amputiere ich den Arm. Ist das klar?

 Jubelnd bedankt sich Salgard und beginnt sofort mit der Reinigung der Wunden. Rutgard hilft dabei tatkräftig mit.

 

 


 

2 Ingwin und Wodan

 

Ingwin und Wodan - das sind die heißblütigen „Nachkömmlinge“.

 

Ingwin, als Sohn des Landgrafen und Wodan, der Jägersohn, sind beide erst vierzehn, aber fühlen sich natürlich schon als vollwertige Kämpfer. Sie sind im Alter von drei Jahren aufeinandergestoßen, und seit diesem Tag nicht mehr auseinanderzubringen. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel – und das weiß ein jeder im Stamm. Sowohl Ingwin als auch Wodan haben ihre unterschiedlichen Fertigkeiten und ergänzen sich hervorragend. Was aber nicht heißt, dass sie wirklich immer nur „normale“ Dinge machen – nein, sie sind eher darauf bedacht, den ganzen Tag über irgendwelche Streiche auszuhecken. Aber das ist wohl dem jugendlichen Alter zuzurechnen.

Und wir, na ja, wir sind alle froh, dass der Wolfsangriff so einigermaßen glimpflich abgelaufen ist. Damit es nicht zu langweilig wird, werden wir dann auch gelegentlich von irgendwelchen marodierenden Wegelagerern und Dieben angegriffen – aber – „lächerlich“ – die schütteln wir mit unserer Masse an Kerlen ab wie „lästige Fliegen.“ Tag für Tag schicken wir weiter die Kundschafter raus – Tag für Tag – Tag für Tag – Tag für Tag – Tag für Tag …

Bei den Familienmitgliedern im Zug geht das fast normale Leben weiter. Die Jäger gehen los und besorgen neues Wildbret – Wodan darf natürlich auch schon mit seinem Vater mitreiten. Eines Tages, auf dem Rückweg zum Stamm, treibt er sein Pferd neben dem Pferd seines Vaters und spricht diesen an:

 

„Vater, mein Freund Ingwin ist der beste Schütze unter den Jungmännern. Er lässt Dich bitten und fragen, ob es möglich wäre, dass Du als Anführer der Jäger ihn in die Kunst der Jagd einweist. Ich wäre darüber natürlich auch sehr glücklich“ fügte er noch grinsend hinzu.
Schmunzelnd sah sein Vater zu ihm und sprach dann:

 

„Darauf habe ich, offen gesagt, schon länger gewartet. Ich werde Deinen lieben Freund Ingwin sehr gerne in die Kunst des Jagens, der Wildhege und -pflege einweihen – genauso wie Dich, mein Sohn.“

 

„Hurra, das ist ja toll Vater, ich danke Dir. Darf ich voraus reiten und Ingwin die gute Nachricht überbringen?“

 

„Los mit Dir und viel Spaß für Euch“, sagte sein Vater lachend.

 

Er ritt, wie der Teufel los und man konnte nur noch eine Staubwolke sehen … Wodan findet seinen Freund bei seiner Urgroßmutter, die ihm mal wieder die alten Geheimnisse seiner Familienmitglieder und Vorfahren anvertraut. Das machte sie mit schöner Regelmäßigkeit, solange Ingwin denken konnte. Sein Wissen war schon riesengroß, aber er durfte es an niemanden weitergeben. Es waren zum Teil auch für ihn verwirrende und mystische Weisheiten und Regeln, er merkte sie sich widerspruchslos. Jedes Mal, wenn er mit seiner Urgroßmutter zusammensaß, überkam ihn ein seltsames Gefühl von Schwerelosigkeit. Er fühlte seinen Körper kaum und er wusste nie, wie viel Zeit er bei ihr verbracht hatte. Sofort als Wodan im Anritt war, hatte seine Urgroßmutter ihm gesagt, dass er nach draußen gehen muss, weil sein Freund gleich kommt.

Ingwin ist dieser Aufforderung, nach dem Abschiedskuss, sofort gefolgt. Nach wenigen Minuten kommt tatsächlich Wodan und bringt die tolle Nachricht seines Vaters.

„Mensch Wodan, das ist ja wirklich fantastisch und tausendmal besser als die Warterei, bis die Kundschafter endlich unsere neue Heimat gefunden h. …“
Plötzlich hören sie den Schrei des Kundschafters.

 

„WIR HABEN ES GEFUNDEN“

Mit diesem Freudenschrei reitet einer unserer Kundschafter – der verwegene Kjeld – auf uns zu.

 

Was ist los? Was haben wir?

Ingwin und Wodan laufen zu einigen anderen, die aufgeregt zusammen stehen und sich hilflos fragend anschauen. Wieder andere liegen sich lachend und gleichzeitig weinend in den Armen und alle beginnen plötzlich laut zu jubeln.

Wir haben’s tatsächlich geschafft!

Wir sind am Ziel!

Bis die Nachricht das Ende unseres Zuges erreicht hat, sind es für die letzten Stammesbrüder und -schwestern noch zwanzig Tage. Nach dieser jahrelangen Wanderung, von der Codanus Bucht unterhalb des mächtigen Berges Saevo kommend, sind wir nunmehr,

E N D L I C H   A N G E K O M M E N!

 

3 Endlich angekommen

 

Immer wieder aufs Neue hatten wir die Kundschafter ausgeschickt, nach dem Land der Prophezeiung Ausschau zu halten.

Doch erst jetzt, nach dieser langen, kräfte- und Ressourcen zehrenden Wanderung, haben wir es endlich geschafft. Unsere Kleidung bestand nach dieser langen Zeit nur noch aus braun-grau-schwarzen Fetzen. Mit hängenden Köpfen, müde schlurfend, mit herabhängenden Schultern, langen, zotteligen, fettigen Haaren, ausgemergelten Körpern, mit lederartiger Haut, die Augen in tiefen Höhlen liegend, machen wir die letzten Schritte.

Doch so müde und so erschöpft wir auch sind, so lassen wir uns aber nicht davon abhalten, uns in die Fluten der kühlen See zu stürzen. Wir jubeln wie die kleinen Kinder, klatschen uns auf die Schenkel und werfen die Köpfe glücklich in die Luft. Die Erleichterung darüber, dass der große Zug nun endlich sein Ende gefunden hat, lässt eine riesengroße Last von uns abfallen.

 

Wir sind nur noch glücklich...

 

Alle sind so froh und zufrieden und ein jeder der Angekommenen holt sich für diesen besonderen Tag der Ankunft eine saubere Garnitur Kleider zum Anziehen heraus, die dann, wie in einem Ritual, angelegt wird. Anschließend stellen wir uns nach und nach um das große Feuer, das die allerersten Ankömmlinge bereits entfacht haben, um sich zu wärmen.

 

Sie waren angekommen – Sie hatten wieder ein Land, in dem sie leben konnten – eine HEIMAT!

Als unser Stamm, nach fast zwanzig Wochen, endlich wieder vereint ist, feiern wir ein großes Fest. Zwei Monde feiern wir die alten Gesänge an den Feuern zu Tuisto, um ihm zu danken.
Denn Feste feiern wir immer wieder gern!

 

Die Erkundung unserer neuen Heimat,
die Gegend, die später einmal Nordfriesland heißen sollte, bestand aus einem sehr fruchtbaren Küstenstreifen. Flusstäler, höher gelegene Geestbereiche, einem großen Anteil an Mooren und Sümpfen und einigen vorgelagerten Inseln unterschiedlicher Größe, die alle noch unbewohnt waren. Neben dem Fischreichtum war auch das umliegende Land sehr fruchtbar. Die Späher hatten einen wirklich guten Flecken Erde für unsere neue Niederlassung gefunden.

 

Die nächsten sechs Jahre ...

Es stellt sich heraus, dass sich der lange, entbehrungsvolle Marsch, für uns wirklich gelohnt hat. Das Wetter in den Wintermonaten ist zwar sehr kalt und rau und von häufigen Regentagen, oder sogar Schneetagen durchsetzt, aber na ja, wir müssen eben lernen uns über den Winter zu „beschäftigen“. Und wenn dann der Frühling kommt, bricht dann überall ein so helles Sonnenlicht durch, wie wir es nie zuvor gesehen haben. Bei den Frauen zeigte sich nach dem ersten Winter eine besonders hohe „Fruchtbarkeitsrate“. Selbst das Vieh schien sich auf eine Vermehrung während der Wintermonate eingestellt zu haben. Und auch die Bäume und Sträucher zeigen zarte, grüne Knospen. Wir bauen uns Hütten und Ställe, beginnen damit Äcker zu bestellen und Boote für den Fischfang zu bauen. Die Ernährung besteht hauptsächlich aus Fischen und der reichen Ernte von den Feldern.

 

In den Küstenwäldern jagen wir das Wild, schlagen das Holz und sammeln Kräuter und Beeren. Diese werden von uns komplett verarbeitet. Überschüsse lagern wir im Sommer für die Winterzeit ein. Unsere Behausungen und das Vieh müssen wir durch Erdhügel vor Überflutungen schützen. Nach und nach lernen wir das Für und Wider unserer neuen Heimat kennen.

 

 

Alles hat sich zum Guten gegeben. Ein jeder hat seine Schlafstätte, keiner muss mehr hungern oder dursten. Die Kinder spielen und wir sind zufrieden mit unserem Leben.

4 Unser Leben in der neuen Siedlung

Unser Leben in der neuen Siedlung

 

Im Laufe der Jahre richten wir uns richtig gut ein. Ja, jetzt, es geht uns super – und da hat man dann wieder Zeit für andere Gedanken, die nicht nur mit Hausbau, Feld bestellen, ernten, arbeiten, arbeiten, arbeiten … Zu tun haben!

Ingwin und Wodan haben sich zu prächtigen Kerlen entwickelt. Überall, tja WIRKLICH, überall sind sie behilflich. Am liebsten jedoch, sind sie den Weibern des Stammes behilflich – sei es beim Tragen der schweren Wäsche, beim Entzünden der Feuerstelle oder aber beim Warmhalten der Bettstelle für ihren Gatten … Wodan, mit seinen braunen schulterlangen Haaren, grau-grünen Augen, ca. 1,90 m groß, breite Schultern, schmale Hüften und natürlich der Liebling der Frauen Ingwin schulterlanges goldblondes Haar, kristallklare blaue Augen – tief wie die See – etwas größer noch wie Wodan und einer guten muskulösen Figur. Da läuft den Weibern schon der Sabber runter, wenn sie ihm nur nachschauen. Die zwei sind wirklich sehr beliebt und die beiden sind immer gut gelaunt.

Einzige Ausnahme war vor acht Monden gewesen. Da war Ingwin vom Vater zu seiner Urgroßmutter gerufen worden. Bevor er jedoch zu ihr ins Zimmer gehen konnte, sagte sein Vater zu ihm:

 

„Ingwin mein Sohn, ich befürchte, dass die Urgroßmutter sich auf dem Weg zu den Urahnen macht, und bald sterben wird. Bitte geh sehr vorsichtig mit ihr um, es wird dein letzter Besuch bei ihr sein.“

„NEIN“, schrie ich gellend laut und entsetzt auf. Das war undenkbar für mich, die Uri war für mich unsterblich. Sie durfte nicht gehen, sie gehörte doch zu MIR. Was sollte ich nur ohne die Uri machen? Gerade in den letzten Wochen hatte sie mich täglich mit sehr, sehr viel hochwichtigen Informationen und Regeln bekannt gemacht und jetzt sollte ich mich von ihr verabschieden? Das konnte nicht sein! Alles in mir sträubte sich dagegen, doch mein Vater drängte mich.

"Komm, es wird Zeit, solange hat die Urgroßmutter nicht mehr. Sie hat gesagt, sie muss dir noch was ganz Wichtiges sagen – also komm schnell, bevor es zu spät ist."

 

Blass und mit riesigen Augen betrat ich das Zimmer der Uri. Sie winkte mich mit schwacher Hand zu sich ans Bett. Dort begann sie dann mit leiser Stimme zu sprechen:

 

„Ingwin mein Junge hör mir gut zu, das, was ich dir jetzt sage, ist meine letzte und wichtigste Information an dich. Du wirst diese Welt verlassen und eine neue Welt gründen. Ein mächtiger Fürst wirst du werden, und über ein riesiges Reich, das viel größer als die Erde ist, herrschen. Du wirst eine kurze, aber glückliche Ehe führen und früh sterben. Das wichtigste ist jedoch: Du wirst eine Tochter hinterlassen. Dieses Mädchen wird die Herrin der Welt sein! Sie wird über alle magischen Kräfte verfügen, die es zwischen Gott und dem All gibt. Niemand wird sie besiegen können, sie wird unsterblich sein. Taufe sie auf den Namen Regina Ikonia. Ihre Kräfte werden mit ihrem 21. Geburtstag wirksam. Pass gut auf sie auf – man wird sie vor ihrem 21. Geburtstag vernichten wollen. Alles, was ich dir hier als Letztes gesagt habe, wird dir erst zehn Tage vor der Geburt deiner Tochter wieder in Erinnerung gebracht. Und nun mein Junge wünsche ich dir für dein kurzes Leben nur Glück und Segen. Bedenke: Alles ist Bestimmung, du kannst es nicht ändern. Und jetzt mache ich mich auf den Weg. Sei nicht traurig, wir sehen uns wieder.“

 

Wie immer verließ ich Uri ohne Erinnerung an das Gesagte. Meine Urgroßmutter starb direkt, nachdem ich ihr Zimmer verlassen habe – dachte ich. Mein Vater behauptet, nachdem er sie hat untersuchen lassen, sie wäre schon seit einem Tag tot gewesen. Ich werde sie bestimmt im Reich der Toten wieder sehen, dort kann ich sie fragen.

 

Beinahe der gesamte Stamm nahm an der Beerdigung meiner Urgroßmutter teil. Sie war eine hoch angesehene Frau. Die Trauerfeier dauerte fast einen Mond lang.

Mir ging es danach lange Zeit nicht gut, doch schließlich gelang es meinem Freund Wodan, mich wieder aus meiner Trauer zu lösen.

Unser Dorf besteht nun aus fünfhundert Langhäusern, einhundert Bauernhöfen, fünf Gasthäusern, Schiffsbauern, Tischlern, Steinmetzen, Brauern … und was man alles so braucht. Wir werden von den anderen Stämmen und Nachbarn geachtet. Alles nimmt seinen gewohnten Lauf. Was noch fehlt, wird gebaut oder erstellt und was zu viel ist, wird eingelagert.

 

5 Das Leben muss weiter gehen

Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Geburten, das Leben und der Tod. Wieder einmal, wie jedes Jahr zur Winterzeitwende im Frühjahr, feiern wir das Fest der Vermählung des kommenden Jahres- und die Vereinigung des Himmelsgottes mit der Erdgöttin, das große Höhufest.

Endlich gibts mal wieder ein zünftiges Fressen und Saufen. Und wenn man Glück hat, ergibt sich noch eine kleine Vögelei. Es wird Wild am Spieß gebraten, und wir tanzen und singen zum Lautenspiel um ein riesiges Feuer herum. Es wird gefressen, gesoffen, getanzt, gelacht und gehurt so lange und so viel wir nur können. Die Frauen flechten riesige Kränze und wir Männer tragen einen scheunengroßen Holzhaufen für das Feuer zusammen; denn es soll mindestens für einen Mond Tag und Nacht brennen. Die Jäger gehen einige Tage auf die Jagd, damit wir alle genügend Wildbret für die großen Feuerspieße vorrätig haben. Weiber brauen Met, backen Brote und Kuchen, damit alle froh und satt werden. Rund um das Feuer werden lange Tische und Bänke aufgestellt, die darauf warten, besetzt zu werden. Und wenn doch noch Platz fehlen sollte, setzt man sich einfach ins Gras. Wir schmücken unser Dorf noch mit Birkenzweigen und Heideblüten. Die Frauen haben noch bunte Bänder in die Äste gehängt und überall sind noch Laternen verteilt. Das ganze Dorf glänzt vor Sauberkeit. Alle wissen, Feste sind zur Erlangung des Heils und guter Ernte am besten. Deshalb bereiten wir das Feste auch über zwei Wochen vor. Jetzt kann es eigentlich losgehen – eigentlich! Doch in diesem Jahr ist unser König Egmond auf die Idee gekommen, unsere „Nachbarstämme“ einzuladen.

 

Die ausgesendeten Boten kommen mit den unterschiedlichen Antworten zurück. Zwei Boten haben eine Absage bekommen, aber ausgerechnet der Bote, der beim Großen Radbod war, kommt mit einer unerwartet guten Nachricht zurück.

 

„Der große Radbod hat zugesagt, mit seinen Mannen an unserem Fest teilzunehmen.“ Überbringt er die Nachricht an unseren König Egmond. Damit haben wir niemals gerechnet. Radbod ist ein sehr mächtiger Stammesfürst. Sein Stamm ist mindestens einhundertmal so groß wie der unsrige. Zudem verfügt er über ein sehr großes und mächtiges Heer, welches schon manchen Kreuzzug geführt und gewonnen hat. Auch führt er einen gut ausgebauten Handel bis in den Fernen Osten und besitzt Ländereien in fernen Ländern. 

Nach dieser Ankündigung, dass wir den „Großen Radbod“ zu Gast haben werden, ändert sich die Planung für unser Fest erheblich. Die Mengen an Met, Bier und Wildbret für das Fest werden vervielfacht, ausgesuchte Spezialitäten und feine Speisen werden auf den Speiseplan für das Empfangsessen am ersten Tag gesetzt. Die Kochfrauen laufen bereits hektisch und mit hochroten Köpfen durch das große Küchenzelt. Einig sind sie sich nur in einem, dem weithin bekannten, guten Appetit und großen Durst des Stammes von König Radbod.

 

„Wir brauchen mehr Wild, das ist viel zu wenig Wild für die Pasteten und die Braten und …“, jammern die Kochfrauen. Alle wuseln fast bei Tag und Nacht herum. Sie sind so sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt, dass sie in ihrer Hektik unsere Besucher erst bemerken, als sie bereits ins Dorf einreiten.

 

Der große Friesenkönig Radbod kommt mit einem enormen Gefolge. Seinen Reichtum erkennt man direkt an seiner wertvollen goldbestickten Kleidung, den kunstvollen, mit Brokat und Samt bezogenen Sätteln und dem goldenen Zaumzeug seiner Gäule. Zu unserem großen Erstaunen führt er eine edle Reiterin im Damensattel an seiner Seite und weiter hinten einen Wagen mit zwei Dienerinnen. Sie sind in reiche und prunkvolle Gewänden gekleidet, was ihren Stand sofort hervorhebt. Hat er sich eine neue Königin gesucht nach dem Tod seiner Frau? Neugierig und erstaunt starren wir alle die unbekannte Frau an.

Doch dann kommt auch schon das offizielle Begrüßungskomitee für König Radbod herbeigeeilt und die allgemeine Lobhudelei geht los. Wir hören, wie König Radbod zu unserem König Egmond sagt:

 

"Lieber Egmond, wir haben Eurer Einladung gerne Folge geleistet, wollte ich doch meiner Tochter Aletta einmal die Gelegenheit geben, meine Verbündeten zu besuchen und".

 

„Ich bin überrascht und beglückt, Radbod, und es ist eine große Ehre, für mein Volk und mich, dass Ihr Eure Tochter zu diesem Fest mitgebracht habt. Wir werden Euch und Ihr einen unvergesslichen Aufenthalt bei uns bereiten. Kein Wunsch soll Ihr unerfüllt bleiben. Wir waren jedoch nicht auf Damenbesuch vorbereitet. Ihr müsst mir bitte ein wenig, Zeit geben, damit meine Frauen angemessene Unterkünfte für Eure Tochter einrichten können“ antwortete Egmond.

Aaah, also seine Tochter, na klar, die ist ja auch viel zu jung für den alten Bock.

 

„Das sei Dir gewährt. Die Zeit wird uns nicht lang werden, wir werden in die nahen Wälder reiten und jagen“ lautete die Antwort König Radbods.

 

Froh über diese Antwort beginnt Egmond sofort mit den Vorbereitungen der Gemächer, für die Prinzessinnen und Ihre Begleitung. Er scheucht die Dienerinnen mit lauten Befehlen, wie einen Hühnerhaufen, durch die Gegend. Doch zum Glück kommt sein Weib Bothilde und übernimmt die weiteren notwendigen Befehle, zur Bereitstellung der Kammern, für die Prinzessin und deren Dienerinnen.

Ingwin und Wodan lungern derweil in der Nähe des Kochzeltes herum. Sie hoffen, dass vielleicht noch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: I.E. KONO
Bildmaterialien: I.E. KONO / Google freie Bilder
Cover: I.E. KONO
Satz: I.E. KONO
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3742-1

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