Dinge, die ich niemals vergessen werden:
-man hat mich ausgelacht
-man hat mir Beleidigungen hinterher gebrüllt
-man hat mich ausgeschlossen
-man hat mich eingetauscht
-man hat mich fallen gelassen
-man hat mir nie geholfen
Und alles nur, weil ich fett und hässlich bin...
Die Fremde trägt meinen Lieblingspulli. Einen langen, untaillierten Sweater in schwarz, auf dem vorne zwei Katzenöhrchen angedeutet sind. Das Kleidungsstück umspielt die feine Figur des Mädchens wie ein weites Kleid und reicht ihm knapp bis zur Mitte der Oberschenkel. Ich finde das merkwürdig, drehe mich nach links, drehe mich nach rechts und schaue dem Körper im Glas dabei zu, meinen Bewegungen haargenau zu folgen.
Die Fremde bin ich.
Ich stehe vor dem Spiegel meines neuen Kleiderschranks, in einem Zimmer, das mir gehört und in dem ich bisher nur wenige Nächte geschlafen habe. All das macht keinen Sinn, aber all das ist jetzt mein Leben. Die rechte Tür meines Kleiderschranks steht offen und gibt freie Sicht auf die an Bügeln baumelnden Pullover, Shirts und zwei Jacken. Die linke Tür habe ich wieder geschlossen; der Großteil der Dinge, die dort untergebracht waren, befindet sich in einem blauen Müllsack. Viel zu groß. Ich ertrinke regelrecht in den Klamotten, in denen ich mich jahrelang versteckt habe. Versteckt, weil es mir peinlich war, wie fett ich bin.
Wie fett ich war.
Es kommt mir wie ein merkwürdiger Traum vor. Der Umzug, der Krankenhausaufenthalt und dieses neue Ich, was da im Spiegel zu sehen ist und so tut, als sei es schon immer da gewesen. Als habe es meine täglichen Gebete endlich erhört und sich im Laufe der letzten Wochen aus seinem Fettpanzer geschält. Bei dem Gedanken läuft mir ein Frösteln den Rücken hinunter und in meinem Brustkorb flammt ein Brennen auf. Ich beginne zu husten. Röte schießt mir dabei ins Gesicht und ich spüre, wie sich die Anstrengung des Tages bemerkbar macht. Erschöpft falle ich auf meinen Schreibtischstuhl und atmete tief ein und aus. Ein und aus...
Eigentlich sollte ich mich freuen. Geschätzte 15 Kilo sind runter, einfach weg. Aber ich bin so ausgelaugt, dass ich kaum noch Freude empfinde. Die Lungenentzündung, die mich in den vergangenen Wochen fest in ihrer Gewalt hatte, steckt mir noch in jedem Knochen. Ich hätte mir nie träumen lassen, wie anstrengend es ist, ein paar Treppen zu steigen. Zeitweise war ich so schwach, ich konnte nicht alleine gehen und wurde im Rollstuhl hin und her geschoben. Husten, Fieber, Schmerzen, Schüttelfrost, blutiger Auswurf, mein ganzer Körper hatte sich in eine Verspannung verwandelt, die mit aggressiven Medikamenten behandelt wurde. Was zuerst noch wie eine harmlose Erkältung erschien, hatte sich binnen kürzester Zeit in einen wahren Albtraum verwandelt! Zu Beginn der Sommerferien sind meine Ma und ich umgezogen, weil sie mit ihrem langjährigen Freund zusammen ein Häuschen gekauft hat. Ich hatte mein Zimmer kaum eingerichtet, da bin ich krank geworden. Und danach war mein Sommer nur noch eine Aneinanderreihung trister Tage, die ich im Bett verbracht habe. Erst hier, dann im Krankenhaus. Meine Lungenentzündung ist spät erkannt worden. Ich weiß nur noch, dass meine Ma eines abends besorgt den Krankenwagen gerufen hat, weil ich so hohes Fieber hatte. Die darauf folgenden Tage sind schwammige Erinnerungsbilder. Das sterile Krankenzimmer, die vielen Infusionen und Untersuchungen, Schweiß, Husten und Müdigkeit. Ich habe noch nie im Leben so viel geschlafen und gejammert, weil ich nach Hause wollte. Ich hasse Krankenhäuser! Der Ernst der Lage ist mir gar nicht bewusst geworden - aber es hätte alles anders ausgehen können! Mittlerweile weiß ich das, doch vorher war mir überhaupt nicht klar, wie gefährlich so eine Lungenentzündung sein kann. Für mich war eine Lungenentzündung so was Ähnliches wie eine starke Erkältung. Na von wegen. Die „starke Erkältung“ hat meinen Körper an seine Grenzen getrieben, mich den Sommer gekostet und die Eingewöhnungszeit, die ich in dieser neuen Stadt gebraucht hätte...
Seufzend streiche ich mir die Haare zurück und begutachte meine splissigen Spitzen. Ich muss dringend zum Frisör. Man sieht mir an, dass mein Körper wirklich komplett am Ende ist, obwohl ich jetzt wieder gesund bin. Meine Nägel sind brüchig, mein Teint ist noch bleicher als sonst und meine Haare wirken kraft- und glanzlos. Schön bin ich wirklich nicht, aber das war ich vorher auch nicht. Im Gegenteil... Es hat seine Gründe, warum ich seit Jahren kaum Freunde habe. Wer will schon mit jemandem wie mir gesehen werden? Das Mädchen, was sich in XL Klamotten verkriecht und nie die Zähne auseinander bekommt. Leider bin ich extrem schüchtern, vor allem gegenüber fremden Leuten. Deswegen fällt es mir auch so schwer, neue Freunde zu finden. Ich wüsste auch nicht, wo. Allein geh ich nicht weg und auf Partys bin ich auch nie. Ich hab nicht mal Klamotten, die ich auf einer Party tragen könnte! Meine einzigen Freunde sind Überbleibsel aus der Grundschule, aber weil sie im Gegensatz zu mir nicht wegen ihres Äußeren ausgegrenzt werden, haben sie auch viele andere Freunde, mit denen ich nichts zu tun habe und die mich auch nie bei irgendwas dabei haben wollten. Andere Freunde habe ich sonst nicht, nicht mal im Internet.
Das ist traurig...
Selbst jetzt kommen mir fast die Tränen, weil mir plötzlich wieder bewusst wird, mutterseelenallein zu sein. Neue Stadt, neue Schule, neue Stufe. Ich muss mich komplett neu orientieren und wenn ich so hässlich bleibe wie ich jetzt bin, werde ich in der neuen Klasse wieder keine Freunde haben. Bei der Aussicht überfällt mich blanke Panik. Panik und Angst, um genau zu sein. Wie paralysiert starre ich durch mein Zimmer, auf den blauen Sack voller Klamotten, die mir nicht mehr passen.
Jahrelang habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als eine normale Figur. Abnehmen, das wollte ich eigentlich immer, aber geklappt hat es nie. Und jetzt bin ich 15 verdammte Kilos los und-
Ich stehe wieder auf und betrachte mich im Spiegel. Hebe meinen Pullover hoch und begutachte meinen nackten Bauch. XL war gestern. Mein Bauch ist flach. Untrainiert, aber flach. Ich streiche hinüber, kann es nicht fassen, wage es nicht zu glauben. Was, wenn ich mir das nur einbilde? Ich wende mich zur Seite und finde mich immer noch viel zu dick. Verflucht, wie kann man nur so fett sein? Wie kann man nach 15 Kilo Gewichtsverlust immer noch so scheiße fett und hässlich sein? Und wenn ich in diesen uralten, schlabberigen Klamotten in der Schule aufkreuze, bin ich auch direkt wieder unten durch, jede Wette! Gut, dass meine Mama eh vorhat, am Wochenende mit mir in die Stadt zu fahren. Ob ich eine richtige Shoppingtour schon schaffe, bezweifle ich allerdings stark. Dazu fehlt mir noch die körperliche Kraft. Trotzdem, ich brauch was Vernünftiges zum Anziehen und meine Ma hat schon „angedroht“, dass wir uns darum kümmern werden. Auch ihr ist natürlich nicht entgangen, dass ich jetzt ganz anders aussehe als vorher. Ich glaub, sie weiß auch, dass ich früher ziemlich unzufrieden mit mir selbst war, aber nun ja, was hätte sie tun sollen? Wenn ich Diätversuche gemacht hab, hat sie mich insofern unterstützt, als dass sie nicht noch Süßkram oder so gekauft hat. Aber ich bin trotzdem jedes Mal wieder eingeknickt. Ich hab jedes verdammte Mal versagt! Aber jetzt darf ich es nicht wieder vermasseln. Ich bin auf einem guten Weg und egal was ist, ich werde nie wieder so fett werden wie früher!
Die Autos stauen sich bereits an der Kreuzung die gesamte Straße hinauf, und ich ahne, dass das kein Zufall ist, denn auf dem Bürgersteig marschieren unzählige Schüler. Die Schule muss also gleich dort vorne sein. Mit einer Mischung aus Aufregung und Angst sitze ich auf dem Beifahrersitz und versuche, nach einer fast schlaflosen Nacht nicht die Nerven zu verlieren. Neben mir verzieht meine Ma einen Mundwinkel, ehe sie mir ein kurzes, aufmunterndes Lächeln zuwirft.
Wird schon schief gehen.
Na ich will's hoffen. Heute ist mein erster Schultag. 11. Klasse. Abitur, ahoi! Wahrscheinlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass ich gestern Abend beinahe durchgedreht wäre, indessen mir meine persönliche To-Do-Liste durchs Hirn gespukt ist:
-gute Noten schreiben (am besten nirgendwo schlechter stehen als 2!)
-mindestens in einem Fach die Beste sein
-neue Freunde finden
-von keinem gehasst werden
-immer auf mein Äußeres achten (lass dich bloß nicht wieder gehen, Louisa!)
-auf keinen Fall zunehmen!!! Besser noch: 10 Kilo abnehmen!
-ein Freund
Alle Punkte scheinen mir total unerreichbar. Trotzdem, ich hab keinen Bock mehr auf mein altes Leben und mein altes Ich! Rein optisch habe ich die alte Louisa längst hinter mir gelassen. Zwischen meinen verkrampften Fingern liegt der Riemen meiner neuen Umhängetasche. Ein reichlich Platz bietendes Lederimitat mit Fransen und bunten Tribalmustern. Die Tasche ist nicht das einzige Neue an mir. Der Wochenendeinkauf war ein voller Erfolg. Jeans, Röcke, Schuhe, Unterwäsche, etwas Make-up und ein paar hübsche Oberteile sowie eine neue Jacke füllen jetzt meinen Kleiderschrank und meine Regale. Beim Shoppen hab ich mir immer jedes Teil ganz genau angeguckt und befürchtet, darin niemals gut auszusehen. Vor meinem inneren Auge sehe ich irgendwie immer noch so aus wie früher und mit der Figur konnte ich es mir echt nicht erlauben, etwas eng Anliegendes oder ein kurz geschnittenes Oberteil zu tragen. Auch elegante Blusen und Pullover waren ein absolutes No-Go. Das ist jetzt anders. Wenn ich an mir herunterschaue, wage ich echt zu bezweifeln, dass ich das bin. Klar mochte ich meinen alten Schlabberlook; er war bequem und ich bin nicht großartig negativ aufgefallen. Besonders innovativ oder gar chic sah ich darin jedoch nicht aus. Eher wie ein Elefant, der sich unter einem Bettlaken zu verstecken versucht. Insgeheim hab ich die schlanken Mädchen immer darum beneidet, dass sie irgendwie in allem toll aussehen und sich so grazil bewegen können. Das wollte ich auch. Irgendwie war das immer alles, was ich wollte: gut aussehen und gemocht werden. Ich hoffe, ich versau's mir jetzt nicht... Bei meinem heutigen Make-up und Outfit hab ich mir zumindest riesige Mühe gegeben.
„So, ich lass dich hier raus“, höre ich meine Mutter plötzlich sagen, als sie den Blinker setzt. Vor uns stauen sich immer noch Autos, aus denen Schüler klettern. Die meisten Eltern scheinen eingesehen zu haben, dass man den Nachwuchs nicht direkt bis vor die Tür kutschieren muss.
„Okay.“ Ich schnalle mich ab und öffne nach einem kontrollierenden Blick die Türe.
„Und denk dran, die 17 fährt direkt bis zu unserer Straßenecke. Marienweg heißt die Haltestelle.“
„Ja, ich hab's mir extra eingespeichert“, erinnere ich meine Ma, die gestern Abend meinte, sie möchte mich an meinem ersten Schultag bringen und fort an könne ich den Bus nehmen. Die Haltestelle, an der ich einsteigen soll, hat sie mir eben beim Vorbeifahren gezeigt. Sie ist keine drei Minuten Fußweg von der Schule entfernt. Dort fährt regelmäßig der Bus mit der Nummer 17, mit dem ich dann etwa 25 Minuten unterwegs bin. Meine Ma hat es gestern so oft wiederholt, dass ich irgendwann mein Handy zur Hand genommen und mir eine Notiz mit ihren Instruktionen angelegt habe. Erst dann war sie zufrieden. Irgendwie kann ich sie ja auch verstehen. Immerhin kenne ich die Stadt noch nicht und bin auch nicht scharf darauf, in die falsche Richtung zu fahren.
„Gut. Dann bis heute Abend.“
„Ja, bis dann“, verabschiede ich mich von meiner Ma und werfe die Autotür wieder zu. Sie tuckelt weiter im Schritttempo über die stark befahrene Straße. Ich reihe mich in den Schülerstrom auf dem Bürgersteig ein. Meine neue Schule kann ich bereits sehen. Die Gebäude sind recht schlicht gehaltene Neubauten mit weiten Glasfronten, das Eingangstor führt auf den Schulhof und geradewegs auf eine große Türe zu. Der Haupteingang des Sophie-Scholl-Gymnasiums. Ich muss schlucken und werde automatisch langsamer. Der Lärm der Schüler umhüllt mich wie eine giftige Wolke, die all meine Ängste verstärkt. Was, wenn alles so wird wie früher? Die Befürchtung legt ihre eiskalten Hände auf meine Schultern und drückt mir die Luft aus den Lungen. Ich muss mich richtig dazu zwingen, sie abzuschütteln und schnell weiterzugehen. Für die vielen neuen Gesichter habe ich in dieser Situation keinen Blick übrig. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich ins Innere des Hauptgebäudes vorzukämpfen und dort einen Hinweis zu sichten, wo sich die Aula befindet. Denn dort wird die Begrüßungsveranstaltung für die neuen Schüler stattfinden. Das Gute ist, ich werde nicht die einzige Neue sein. Ob mich das beruhigt oder gar tröstet? Eher nicht. Zumindest ist die Aula ausgeschildert und keine fünf Minuten später dränge ich in den weitläufigen Raum. In den vielen Stuhlreihen sind bereits etliche Plätze besetzt und ich suche mir schnell einen unscheinbaren Seitenplatz in einer der mittleren Reihen.
Das hier sind also meine neuen Mitschüler...
Gespannt beobachte ich das rege Treiben und fühle mich wie eine einsame Insel im Meer. Auch wenn das lächerlich ist. Viele dieser Leute waren vorher auf einer anderen Schule. Aber sie erwecken alle den Eindruck, total relaxt zu sein. Mir steht bestimmt ins Gesicht geschrieben, wie schlecht ich früher in der Klasse behandelt wurde. Immer die Letzte, die man beim Sport wählte. Immer die, die nie richtig dazu gehörte. Immer die, neben der keiner sitzen wollte (außer Jana und Rabea).
„Ist da noch frei?“
Aus dem Augenwinkel sehe ich jemanden neben mir stehen. Aber erst als ich das Kinn hebe, wird mir bewusst, dass die Frage an mich gerichtet war.
„Äh klar“, haspel ich schnell und lasse das andere Mädchen an mir vorbei, woraufhin es sich direkt neben mich setzt. Ich bin ein wenig überfahren davon; erst recht, als es mich unter seinen Sommersprossen angrinst.
„Ich bin Freya, und du?“
Ich erwarte einen abwertenden Ausdruck auf ihrem Gesicht. Dass ihr Blick mich mustert, dass sie angewidert den Mund verzieht. Doch nichts dergleichen.
„Louisa.“ Mein Mund ist ganz trocken und mein Name klingt seltsam fremd in meinen Ohren. Freya nickt mir zu und schiebt mit den Füßen ihre Schultasche unter den Sitz. Freya ist zierlich und sehr hübsch mit ihrem lebendigen Gesicht, dem kurzen, frechen Bob und den großen Ohrringen, die ihr fast bis auf die Schultern reichen. Auf ihrem Shirt ist ein Printmotiv von New Yorks Skyline und ihre Fingernägel sind korallrot lackiert.
„Von welcher Schule kommst du?“
„Oh, ich hab vorher nicht hier gewohnt. Wir sind hergezogen.“ Das Interesse an meiner Person ist mir beinahe unangenehm. Normalerweise stellt mir niemand fragen. Normalerweise reden fremde Leute nicht mit mir. Die gucken nur aburteilend und tun dann so, als wäre ich Luft. Diese Situation überfordert mich deswegen ein bisschen. Trotzdem kommt ein Gespräch in Gang. Ich erzähle Freya, dass ich erst vor den Sommerferien zugezogen bin und woher ich komme. Dass dort nicht viel los war und man in unserem Alter echt aufpassen muss, sich nicht zu Tode zu langweilen. Dass das in erster Linie an meiner Isolation lag, verheimliche ich selbstverständlich.
„Dafür gibt’s hier 'ne Menge cooler Locations, trust me!“ Sie zwinkert mich an.
„Naja“, bin ich versucht, ihr zu beichten, dass ich eigentlich nicht der Typ Mensch bin, der abends oft weggeht. Doch in just dem Moment entdeckt Freya jemanden und hebt winkend eine Hand.
„Hey, hier bin ich!“
Ich folge ihrem Blick und sehe eine Traube von vier Leuten auf uns zusteuern. Einer erinnert mich spontan an den Fernsehmoderator Joko Winterscheidt. Der Typ neben ihm könnte von der Größe her und von der Frisur sogar als Klaas durchgehen, aber seine Haare sind pumuckelrot. Einen Schritt hinter ihnen läuft ein Mädchen Arm in Arm mit einem Jungen. Die beiden sind wie Tag und Nacht. Seine Haut ist kalkweiß, ihre pechschwarz. Alle vier drängen sich nun an mir vorbei in die Reihe. Jetzt ist mir auch klar, warum Freya so scharf auf den Platz neben mir war, denn daneben sind noch weitere freie Plätze, die sie wohl für ihre Clique brauchte.
„Hey, Süße“, beugt sich das fremde Mädchen im Vorbeigehen zu Freya herab und die beiden umarmen sich flugs. Ich weiß nicht, was ich sagen oder machen soll. Irgendwie will ich nur weg, aber warum eigentlich? Niemand ist unfreundlich zu mir und niemand gibt mir das Gefühl, unwillkommen zu sein. Was ist nur los mit mir? Bin ich denn Feindseligkeit und Ablehnung so sehr gewöhnt?
„Das ist Louisa“, stellt Freya mich vor, als alle Platz genommen haben. Danach macht sie mich mit ihren Freunden bekannt. „Louisa, das sind Marcella, Franz“, das ungleiche Paar, „Timo“, der Joko Winterscheidt Verschnitt, „und Daniel.“ Den Namen des Rotschopfs spricht sie Englisch aus. Von allen kommt ein vergnügtes Hi oder Hallo. Freya übernimmt das Reden für mich und ergänzt, dass ich neu in der Stadt bin. Vor lauter Nervosität fällt mir rein gar nichts zu sagen ein. Außerdem sind Daniels Augen wirklich bestechend blau und ich merke genau, wie er und Timo mich scannen. Scheiße, die zwei testen meine Optik! Ich ziehe instinktiv den Bauch ein und lächele bemüht nett. Wenn sie mich hässlich finden, werde ich's spätestens gleich merken. Jungs haben nämlich so eine Art, mich das spüren zu lassen, indem sie mich ignorieren und mir aus dem Weg gehen, weil sie nicht mit mir in Verbindung gebracht werden wollen. Ich kenn das alles längst in- und auswendig...
Missmutig fällt mein Blick auf die Spitzen meiner Ballerinapumps, die teurer aussehen als sie waren und bequemer sind, als ich jemals gedacht hätte. Früher hab ich immer nur irgendwelche Turnschuhe oder so getragen, aber das ist vorbei! Ich werde nicht mehr das Mädchen sein, das sich versteckt und so tut, als würde sie Mode nicht interessieren, nur weil sie in sämtlichen Anziehsachen wie eine Kartoffel aussieht! Ich habe mich am Samstag bewusst für einen anderen Kleidungsstil entschieden und so schnell kriegt mich auch keiner mehr in Schlabberpullis zurück! Entschlossen hebe ich den Blick und treffe auf wohl gesinnte Gesichter.
„Welche LKs hast du denn gewählt?“, fragt mich Timo. Seine langen Wimpern bringen mich einen Moment lang aus der Fassung.
„Deutsch und..Englisch.“ Fast hätte ich's vergessen.
„Yes!“, freut sich Timo daraufhin und bildet eine Siegerfaust. „Willkommen in meiner Welt, schöne Frau!“
Mir schießt das Blut ins Gesicht. Binnen von drei Sekunden werde ich knallrot, was Timo nicht auffällt, denn Daniel verpasst ihm einen spielerischen Hieb gegen den Oberarm. „Komm du erstmal mit Emmy wieder klar, bevor du die schöne neue Welt entdeckst! Sonst setzt es was!“
„Emmy?“ Die Frage springt mir ganz unerwartet von der Zunge.
„Emily ist Daniels Sis. Sie und Timo haben so 'ne on-off-Sache laufen“, klärt mich Freya rasch auf.
„Das ist keine on-off-Sache. Das ist Liebe und Leidenschaft mit all ihren Höhen und Tiefen!“, korrigiert Timo sogleich mit stolz erhobenem Zeigefinger. Ich kann mir lebhaft vorstellen, warum er Deutsch als LK gewählt hat...
In der Reihe vor uns bricht Unruhe aus. Ein neuer Schwall Schüler quetscht sich an den drei Leuten vorbei, die ganz außen in der Reihe sitzen, und wirft nebenbei Grüße in unsere Runde. Daniel und Timo schlagen mit den Jungs ganz sportlich ein, während Franz und Marcella ein Augenrollen zu unterdrücken scheinen. Ich kann's irgendwie nachvollziehen. Die Ausstrahlung dieser Typen sagt: uns gehört die Welt! Solche Kerle hatte ich früher auch in der Klasse. Meistens haben sie irgendwelche Machosprüche gerissen, mich als fette Sau beschimpft und sich permanent selbst gefeiert. Verhalten studiere ich die fünf Neulinge und werde prompt von einem dabei erwischt. Sein Grinsen hängt ihm selbstgefällig im Mundwinkel. Seine dunkelbraunen Haare sind zu einem Man-Bun gebunden, um den Hals trägt er eine Kette aus kleinen Holzperlen und sein Oberkörper steckt in einem weißen T-Shirt, über dem er eine legere Lederjacke trägt.
Da das Blut in meinen Wangen erneut zu kochen beginnt, guck ich schnell weg. Am liebsten würde ich Reißaus nehmen und mich auf dem Klo einschließen, bis all das hier vorüber ist. Was mach ich nur zwischen diesen ganzen attraktiven Leuten?! Ich gehör hier einfach nicht hin...
Während die Jungs in der Reihe vor uns ein Gespräch mit Daniel und Timo anfangen, unterhalten sich Marcella, Franz und Freya über ihren Sommerurlaub. Ich höre diskret zu und lasse den Blick durch die mittlerweile echt ziemlich volle Aula schweifen. Vier Reihen hinter uns sitzt ein Mädchen in einem verwaschenen Band T-Shirt. Ihr Haar ist zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden. Ihr stämmiger Körper wirkt, als wolle er sich auf dem Stuhl zusammenkauern. Instinktiv fühle ich mich mit ihr verbunden, kenne ihre Situation und ihre Gefühle nur zu gut. Prüfend rutscht eine Hand von meiner Tasche und trifft auf leere Sitzfläche. Meine Oberschenkel sind nicht mehr so fett, dass sie die gesamte Sitzfläche einnehmen. Das ist vorbei. Unglaublich, aber wahr.
Da ich mich beobachtet fühle, gleitet mein Blick zu den nicht grade leise redenden Jungs zu meiner linken zurück. Es scheint, als hätten sie mich alle angestarrt. Jetzt lachen sie sogar und Timo grinst mich an wie ein Honigkuchenpferd.
„Hab dich gerade vorgestellt“, informiert er mich. So als sei es beschlossene Sache, dass ich jetzt zu diesen Menschen hier gehöre.
Mit etwa 20 anderen Schülern zusammen verlasse ich die Aula. Vornweg läuft Herr Meis, mein Deutsch-LK Lehrer, der für mich und den Rest des Kurses zukünftig der Hauptansprechpartner sein wird. An dieser Schule ist es so geregelt, dass wichtige formelle Angelegenheiten jeweils mit dem Hauptansprechpartner geklärt werden. Herr Meis wirkt auch eigentlich recht nett. Ich schätze ihn auf Ende 40, er hat dichte Haare, die mehr grau als schwarz sind, und trägt ein Sakko zu seiner Jeans und dem weißen Hemd.
Meine Beine freuen sich richtig über die Bewegung, denn bis eben hat der Schuldirektor eine ausufernde Begrüßungsrede gehalten, in der er uns Schüler über die Tradition der Schule aufgeklärt und gleich mehrmals betont hat, wie sehr sich das ganze Kollegium freut, uns junge Menschen einige Jahre auf dem Weg ins Erwachsenenleben begleiten zu dürfen. Irgendwie war mir das echt ein bisschen zu viel des Guten, auch wenn der Rektor an der einen oder anderen Stelle einen auflockernden Witz gerissen hat. Trotzdem bin ich bestimmt nicht die einzige, die froh war, als die Rede endlich ihr Ende fand und die Stundenpläne ausgeteilt wurden. Bei der großen Schülerschar hat letzteres auch wieder seine Zeit gedauert. Aber heute steht, abgesehen von ein bisschen Gerede und einer Führung durch die Schule für alle Neuankömmlinge, eh nichts mehr auf dem Programm. Da Freya und die anderen die Schule schon kennen, heißt das, sie haben sogar einen noch kürzeren Schultag vor sich als ich.
Als es dann eben daran ging, sich den entsprechenden Lehrern zuzuordnen, wurde es wieder rummelig in der Aula. Freya hat sich flötend von mir verabschiedet und bevor ich so recht wusste, wie mir geschah, hatte Timo mich schon mit einem zielgerichteten „Hier geht’s lang“ unter seine Fittiche genommen und mir seine Hand an den Oberarm gelegt. Ehe ich irgendwelche Einwände erheben konnte, standen wir bereits inmitten einer kleinen Gruppe um Herrn Meis herum. Dieser hat mit Hilfe seiner Kursliste kurz unsere Anwesenheit überprüft und uns dann gebeten, ihm zu folgen. Und genau das tun wir nun. Das Treppenhaus ist sonnengeflutet und Timo läuft immer noch neben mir her. Seine Hand hat ihren Platz an meinem Oberarm verlassen und sich leger um meine Schultern gelegt. Die Geste erdrückt mich regelrecht, ist angenehm und unangenehm zugleich, weil sie mir Herzrasen bereitet und mich an der Realität zweifeln lässt.
„..und ich hatte vorletztes Jahr schon mal bei ihm Deutsch. Ziemlich cool drauf, ich sag's dir. Wir haben sogar 'ne Exkursion gemacht; der Museumsbesuch war nach nicht mal zwei Stunden durch und danach durften wir tun und lassen, was wir wollten“, quasselt Timo mich hemmungslos voll. Ich indes versuche, meine Situation zu verstehen. Heute früh waren Timo und ich uns noch vollkommen fremd und jetzt tut er so, als würden wir uns schon eine halbe Ewigkeit kennen. Als sei nichts weiter dabei, mir einen Arm umzulegen. Als würde das keine Blicke provozieren. Automatisch wandert mein Sichtfeld nach links und rechts, weil ich annehme, dass die anderen Schüler über uns tuscheln oder lachen. Doch sie scheinen gerade alle mit sich selbst beziehungsweise mit ihren neuen/alten Mitschülern beschäftigt zu sein. Niemand flüstert „Ey, was will der denn von der fetten Kuh?“ und keiner brüllt quer über den Flur: „Timo steht auf Hüpfburgen!“
Nur mir steckt plötzlich ein gigantischer Kloß im Hals: Was, wenn Timo mich nur verarscht? Wenn er die anderen Leute größtenteils schon kennt und ihnen gesagt hat, sie sollen sich zurückhalten?
Nein, Louisa, das ist unmöglich! Denk doch mal nach! Er hat vorhin die ganze Zeit in der gleichen Reihe wie du gesessen und danach ist er schnurstracks mit dir zu Herrn Meis rüber. Wann hätte er sich mit irgendwem absprechen sollen? Und vor dem heutigen Tag hat er ja auch gar nicht wissen können, dass du hier zur Schule gehen wirst. Also hätte er die Aktion wohl schlecht im Vorfeld einfädeln können!
Scheiße, ich bin echt total daneben...
Zu meiner Erleichterung kann Timo mir meine absurden Verschwörungstheorien aber nicht an der Nasenspitze ablesen, sondern grinst mich lediglich frech an.
„Und seien wir mal ehrlich: Deutsch is' einfach mal total easy, oder?“
„J-ja“, kommt es mir irritiert über die Lippen und er lacht heiser auf. „Oh Mann, du bist echt nicht sehr gesprächig, kann das sein?“
Glücklicherweise biegen wir jetzt in den Kursraum ein und müssen uns einen Sitzplatz suchen.
„Wie wär's hier?“, frage ich schnell zur Ablenkung und stehe an einem Tisch nahe der Türe, im hinteren Drittel des Raumes.
„Jo“, zieht Timo auch gleich einen Stuhl hervor. Dass mich die Wärme seines Armes verlässt, entgeht mir selbstverständlich nicht. Die Haut unter meinem dünnen Oberteil kommt mir kühl vor, zurückgelassen. Vereinsamt. So als würde etwas fehlen. Mir hat noch nie ein Junge den Arm umgelegt... Nicht mal meine Freundinnen haben mich oft umarmt, außer zu Geburtstagen und wenn wir uns lange nicht gesehen haben, weil eine von uns im Urlaub war oder so was...
Um uns herum kratzen Stühle über den Boden. Herr Meis hat sich längst am Pult eingefunden und eine Mappe mit Unterlagen aus seiner Aktentasche hervorgeholt. Unbeeindruckt verschränkt er leicht die Arme und schaut sich an, wie alle Leute miteinander schnattern oder noch immer den perfekten Platz suchen. Vorne debattieren zwei Mädels, wer von ihnen denn nun zuerst den Stuhl ganz außen in der Tischreihe zu fassen bekommen hat.
„Herrschaften, es sind genug Plätze für alle da. Ich wäre euch also sehr verbunden, wenn ihr's hinkriegt, euch innerhalb der nächsten 30 Sekunden hinzusetzen und den Schnabel zu halten.“ Herr Meis klingt strengt, aber seine Worte zeugen von Humor. Timo hat wohl Recht behalten und uns steht eine gute Zeit im Deutsch-LK bevor.
„Sag mal, biste auf FB?“ Die Frage lässt mich wieder zu Timo schauen, der zwischenzeitlich sein Smartphone zur Hand genommen hat und mich gespannt anguckt. Auf dem Bildschirm sehe ich die Startseite eines mir wohl bekannten sozialen Netzwerks. Shit!
„Nein“, lüge ich wie aus der Pistole geschossen.
„Du verarschst mich doch!“
„Nee, ehrlich.“ Aber ich kann seinem Blick nicht standhalten. Mein altes Facebookprofil darf nie und nimmer jemand aus meiner neuen Stufe zu Gesicht bekommen, sonst bin ich geliefert! Zwar hab ich nur wenige Fotos von mir hochgeladen, aber darauf seh ich noch aus wie ein gestrandeter Wal! Es ist wohl mein Glück im Unglück, dass ich auf Facebook nur einen Nickname und nicht meinen echten Namen verwende. Andernfalls könnte jeder mein Profil aufspüren, der meinen vollen Namen kennt, und im Laufe der nächsten Tage werden das wahrscheinlich alle Leute in meiner neuen Stufe sein.
Von rechts erreicht mich ein Stapel Zettel, die Herr Meis rumgegeben hat. Ich nehme mir einen Zettel und reiche den Stapel an Timo weiter. Dieser hat seinen Rucksack geschickt auf seinem Schoß platziert, um weiterhin unbemerkt an seinem Smartphone hängen zu können.
„Meld dich an! Ich bin auch dein erster Freund!“, raunt er mir mit glänzenden Augen zu. Er hat echt tolle Augen: braun, tief und verschwörerisch. Ich sollte nicht zu lange hinein schauen, sonst hält er mich noch für verrückt.
„Ich weiß nich'...“ Ich müsste mir ein ganz neues Profil besorgen. Und was mach ich dann mit dem Alten? Andererseits, ich hab da eh kaum Leute geadded. Also wen würde es stören?
„Tu's für mich“, bettelt Timo und macht mich ganz verlegen.
„Herr Talmann und Frau-?“, ertönt plötzlich Herrn Meis' Stimme und ich zucke sogleich zusammen. Die Aufmerksamkeit des gesamten Kurses liegt nun auf mir. Die Blicke bohren sich wie glühendheiße Nadeln in meine Haut. Herrn Meis' hochgezogene Augenbrauen verraten mir zudem, dass er auf eine Antwort wartet. Er will wissen, wer ich bin. Beim schnellen Durchgehen der Teilnehmerliste hat er sich meinen Namen verständlicherweise noch nicht merken können. Er sieht mich und viele andere Schüler heute schließlich zum ersten Mal.
„Bernstein“, bringe ich mit viel Mühe und Not heraus, woraufhin Herr Meis mir zunickt.
„Schön, also Frau Bernstein, für Sie und Herrn Talmann gilt, dass Sie bitte außerhalb meines Unterrichts weiterflirten. Verstanden?“
Irgendjemand kichert und ich werde sicher so rot wie eine Tomate.
„Verstanden“, nimmt's Timo ganz gelassen. Ich hingegen möchte am liebsten im Erdboden versinken, weil ich in meiner gesamten Schullaufbahn noch nie ermahnt worden bin. Noch nie! Und auf der neuen Schule direkt am ersten Tag! Was sollen denn jetzt bloß die anderen von mir denken? In meinem Bauch tut sich ein schwarzes Loch auf, da ich die Blicke noch immer auf mir spüre. Mir wird ganz übel vor Scham. Es ist doch nicht meine Schuld, dass Timo mich die ganze Zeit volltextet!
Mit hochrotem Kopf stiere ich auf das Blatt hinab, was ich eben dem Stapel entnommen habe. Herr Meis fährt jetzt auch in seinem Monolog fort und erklärt uns das Kursblatt, auf dem nicht nur die zu beschaffenden Materialien (=Reklamheftchen!) stehen, sondern auch die Termine für die anstehenden Klausuren, für den Wandertag und noch ein paar andere Dinge. Mit der Kurssprecherwahl möchte er gerne 14 Tage warten und so weiter und so fort. Ich mache mir dann und wann eine kleine Notiz, wenn ich eine Anmerkung wichtig finde. Ich bin ganz in meinem Element.
Louisa, die brave Stille.
Louisa, die Unauffällige.
Louisa, die ewig gleiche Verliererin, die entweder unsichtbar oder ob ihrer Hässlichkeit für alle unübersehbar ist.
Über meine eigene Beobachtung entsetzt, muss ich schlucken. Hatte ich mir nicht vorgenommen, anders zu sein? Wieso macht es mir dann trotzdem so viel aus, wenn ich eine Ermahnung kassiere? Ich sollte so reagieren wie Timo, so locker.
Instinktiv wandert mein Blick zu ihm, was er schnell bemerkt und mich anlächelt. Seine dunkelblonden Haare fallen ihm in die Stirn und er schiebt sie routiniert beiseite, fixiert mich aber weiterhin. Das kann nicht gut gehen!
Rasch breche ich unseren Blickkontakt ab und konzentriere mich wieder auf Herrn Meis, der die Auswahl der diesjährigen Lektüren näher erläutert und sich dabei in zügelloser Begeisterung verliert. Das kommt mir gerade recht. Alte Louisa, sieh her, was ich mich jetzt traue! Heimlich schnappe ich mir mein Handy aus der Tasche und bin keine Minute später dabei, meine Registrierung auf Facebook abzuschließen. Wieder nicht unter meinem echten Namen. Ein Mädchen mit dem Vornamen Lou und mit dem Nachnamen Isa erblickt das Licht der virtuellen Welt.
Ich hab noch kein Profilbild und auch sonst keine weiteren Einstellungen vorgenommen; meine erste Amtshandlung ist, Timo Talmann in die Suche einzugeben. Treffer. Sein Foto ist ein Selfie, den Timo an irgendeinem Strand oder Badesee gemacht haben muss. Vermutlich hat er einen tollen Sommerurlaub hinter sich, wie so viele andere auch. Nur gut, dass mich bisher keiner nach meinem Sommerurlaub gefragt hat.
Timo, dem meine Handyaktivität nicht entgangen ist, flüstert mir ein „astrein“ zu, während er auf seinem Handy meine Freundschaftsanfrage annimmt. Ich gönne mir einen tiefen Atemzug und kann's nicht fassen: Mein erster neuer Freund auf meinem neuen Profil ist ein Junge. Nein, nicht nur ein Junge. Ein attraktiver Junge! Wenn die Leute aus meiner alten Stufe das wüssten...!
Mein Gesicht ist garantiert noch immer tomatenrot, als Herr Meis nun unsere Einführungsstunde für beendet erklärt und den Teil der Schüler entlässt, die dem Rundgang nicht beiwohnen müssen. Timo verabschiedet sich von mir, indem er mich herzlich umarmt und an sich drückt.
„Bis morgen dann, Sweetie. Oder bis nachher im Facebook. Schreib mich einfach an, wenn du Bock hast.“
„Mach ich“, versichere ich ihm und hege dabei den unguten Verdacht, wie ein seltendämlich grinsender Wackeldackel auszusehen. Immerhin hab ich's hingekriegt, die Umarmung angemessen zu erwidern, statt wie ein Roboter tatenlos in der Gegend rumzustehen.
Zwei Minuten später ist Timo längst weg, doch die unbändige Freude über sein aufgeschlossenes Verhalten mir gegenüber lässt mich hochmotiviert die Führung durch die Schule antreten.
Der Rundgang hat länger gedauert, als erwartet.
Mir brennt die Mittagssonne auf den Kopf, als ich zur Bushaltestelle schlendere und mich leicht fühle. Unbeschwert, frei und irgendwie komplett anders, als sonst immer nach der Schule. Früher bin ich regelrecht nach Hause geeilt und war froh, mich in meinem Zimmer verschanzen zu können und niemanden mehr sehen oder hören zu müssen. Oft hatte ich in den letzten Stunden Sport. Das war immer eine besonders große Demütigung, denn ich war noch nie die Fitteste und in keiner Sportart auch nur annähernd so etwas wie begabt – im Gegenteil. Beim Fußball hab ich jeden Pass verschossen und beim Ausdauerlauf war ich dermaßen langsam, dass ich vom Rest der Klasse überrundet worden bin. Wenn mein Lehrer mal nicht aufgepasst hat, hat man mir häufig einen fiesen Spruch gedrückt:
„Laufen, nicht schlafen!“ „Mach mal die Bahn frei, Fetti!“ „Bist schneller, wenn du rollst!“
Die Sprüche kamen in erster Linie von den Jungs. Die Mädels hatten immer diese gehässigen Blicke und das dazugehörende Kichern drauf, das sich entladen hat, sobald sie mich überholt hatten. Schrecklich war das. Jedes Mal wieder. Dieses jahrelange Gefühl der Erniedrigung strotzt jedweder Beschreibung...
Jana und Rabea haben meine Gefühle auch nie richtig nachvollziehen können. Trainier doch, ignorier's einfach oder dann nimm halt ab haben sie mir geraten. Leider haben die zwei nicht verstanden, dass ich nicht trainieren oder abnehmen konnte. Dass ich's schlicht und ergreifend nicht geschafft habe, eine Diät durchzuhalten oder mich täglich zum Sport aufzuraffen. Ich hab vor ihnen auch lieber so getan, als würde ich halt gerne essen und mir nicht wirklich Mühe geben mit dem Abnehmen, statt einzugestehen, mal wieder versagt zu haben. Offenbar haben sie mir die Masche abgekauft. Ob es sie je interessiert hat, dass ich unter meiner Figur gelitten habe und mich jede Beleidigung tief getroffen hat? Vielleicht. Vielleicht auch nicht...
Heute jedenfalls geht’s mir, trotz der verhältnismäßig kurzen Nacht, erstaunlich gut. Ich fühle mich etwas müde, aber immer noch voller Tatendrang, als ich an der Bushaltestelle eintreffe und die Fahrpläne studiere. Die nächste 17 kommt in etwa sechs Minuten. Das ist super. Dann muss ich gar nicht mehr all zu lang warten. Andere Schüler sind im Moment nicht hier, weil es noch viel zu früh für die regulären Klassen ist, um Schluss zu haben. Ich genieße die wohltuende Wärme und atme tief ein. Die Sonne hab ich lang nicht mehr richtig auf mich wirken lassen. Das Wetter lädt dazu ein, sich auf die Terrasse zu legen und ein Buch zu lesen oder entspannt vor sich hinzudösen.
Da meine Beine zugegebenermaßen etwas schwer sind, setze ich mich auf einen der Plastiksitze und werfe einen Blick auf mein Handydisplay, um mein Spiegelbild zu checken. Mein lässiger Dutt sitzt noch und auch bei meinem Make-up ist alles paletti. Ich hab's also geschafft: mein erster Schultag war ein voller Erfolg. Leute mögen mich. Als mir dieser Gedanke so recht bewusst wird, beginne ich übers ganze Gesicht zu strahlen. Unglaublich. Leute mögen mich!
„Da freut sich aber jemand. Nette Nachricht von deinem Freund bekommen?“
Vor Schreck fällt mir beinahe das Handy aus der Hand. Die relaxte Stimme hat ihren Ursprung direkt neben mir. Mein Blick wetzt eine Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Lederjacke hinauf, und kommt dann bei dem Jungen mit dem Man-Bun an. Er scheint bestens amüsiert.
„W-was machst du denn hier?“, wundere ich mich. Er rollt mit den Augen. „Was wohl? Auf den Bus warten!“
„...Oh, klar.“ Was auch sonst. Mann, Louisa, du bist ja so was von smart! Dass er dir jetzt einen grandiosen Captain Obvious Gesichtsausdruck schenkt, hast du dir echt selbst zuzuschreiben! Hach, scheiße! Am liebsten würde ich mich für meine Dummheit ohrfeigen.
„Und, was schreibt er?“ Mit einem Arm lehnt sich der Kerl ans Bushäuschen und sieht auf mich hinunter wie auf ein kleines Kind. Dass ich mich dadurch nur noch unwohler fühle, muss ich wohl nicht erwähnen...
Mit einem „Nichts“ stopfe ich mein Handy zurück in meine Tasche. Als ich wieder aufschaue, entdecke ich den Bus Nr. 17 und springe auf. „Ich muss dann auch mal los.“
„Mhm“, macht mein Mitschüler, doch als der Bus vor uns zum Stehen kommt, bin ich nicht die Einzige, die einsteigt. Oh nein! Dahin ist meine Hoffnung, dass Mr. Man-Bun einen anderen Bus nehmen muss. Wenn ich gerade nicht so blöd gewesen wäre, wäre es mir auch nicht so peinlich, mich mit diesem Typen zu unterhalten oder überhaupt in seiner Nähe zu sein. Allerdings kann ich mir lebhaft vorstellen, für wie dämlich er mich halten muss... Mit gesenktem Haupt suche ich mir schnell einen Platz.
„Timo hat übrigens 'ne Freundin“, informiert mich Mr. Man-Bun, als er sich uneingeladen auf einen Sitz in der Reihe vor mir fallen lässt und sich zu mir herumdreht. „Nur fall's es dir noch keiner gesagt haben sollte. Hab ja mitgekriegt, wie er dich vorhin abgeschleppt hat.“
Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie ich auf diese Bemerkung reagieren soll. Immerhin ist mir bekannt, dass Timo mit Daniels Schwester zusammen ist. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings dazu sagen, dass ich vorhin echt überhaupt keinen Einfluss auf Timos Rangezecke nehmen konnte! Er hat mich einfach überrumpelt!
„Ich will sowieso nichts von Timo“, fühle ich mich genötigt klarzustellen. Wäre ja auch absurd. Einer wie Timo würde sich eh nie mit einer wie mir einlassen. Dem bin ich doch gar nicht hübsch genug. Ich bin für niemanden jemals hübsch genug...
„Mhm“, macht mein Gegenüber wieder. Er hat so eine ruhige, unaufdringliche Art, obwohl er mich vorhin so tierisch erschreckt hat und obwohl er die ganze Zeit derjenige ist, der unser Gespräch aufrecht erhält. Warum hält er's überhaupt für nötig, mich auf Timos Beziehungsstatus hinzuweisen?
„Geht mich ja im Grunde auch nichts an. Hab ihm eh gesagt, dass eine wie du hundert pro schon vergeben ist.“
Ach richtig: Timo und Daniel haben sich in der Aula mit Mr. Man-Bun und den anderen Jungs unterhalten und dabei auch über mich geredet. Timo hat ihnen sogar meinen Namen verraten, was er gar nicht hätte tun sollen, denn jetzt fühl ich mich nur wieder verarscht. Die haben doch garantiert über mich gelästert! Und was soll der Scheiß von wegen „hundert pro schon vergeben“? Finden Mr. Man-Bun und die anderen Jungs das witzig? Ich weiß, ich bin weder eine Sexbombe noch eine von den Niedlichen. Die anderen Mädchen stecken mich locker in die Tasche mit ihrem Aussehen, aber wieso muss ich mich immer und immer wieder demütigen lassen? Denken die Typen eigentlich, ich wüsste nicht, wie hässlich ich bin? Auch ich hab einen Spiegel Zuhause!
Mit großen Augen starre ich Mr. Man-Bun mitten ins Gesicht und spüre haargenau, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht. Schließlich weiß ich, was der Spiegel sagt:
Du bist fett und hässlich, Louisa!
Das sagt er...
„Alles ok?“ Etwas an Mr. Man-Buns Tonlage hat sich grundlegend verändert. Er wirkt so ernst. Seine Besorgnis spiegelt sich auch in seinen dezent zusammen gekniffenen Augen wider. Nur langsam dämmert mir, was der Grund für diesen Sinneswandel sein könnte: Ich habe leicht tränende Augen bekommen. Zwar weine ich nicht, aber ich merke, dass meine Sehschärfe von Feuchtigkeit getrübt wird.
Nein, Louisa, das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um loszuheulen!
Hastig hole ich meine Wasserflasche aus meiner Tasche, ringe mir ein „Ja, klar!“ ab und nehme einen tiefen Schluck. Befehle den Tränen, sich zurückzuziehen und mich in Frieden zu lassen. Es funktioniert sogar. Außerordentlich besser fühle ich mich trotzdem nicht. Zu allem Überfluss ist mir jetzt auch noch leicht schwindelig zumute, was daran liegen könnte, dass ich heute Morgen vor lauter Aufregung kaum was runterbekommen habe.
Mr. Man-Bun sagt vorerst nichts mehr, aber dass ich gerade keine schauspielerische Bestleistung abgeliefert habe, weiß ich selbst. Ich muss echt runterfahren. Das war heute einfach alles zu viel für mich. Früher wusste ich, was mich im Alltag erwartet, aber jetzt ist alles anders und neu und ich bin unfähig, den Unterschied zwischen Freundschaft und Feindschaft zu erkennen. Warum um alles in der Welt bin ich nur so dumm? Nicht nur fett und hässlich, sondern auch noch strohdoof!
Der Bus hält an, drei Leute steigen aus und eine alte Frau mit ihrer Enkeltochter steigt ein. Gemeinschaftlich betrachten wir die anderen Fahrgäste und schweigen. Ich bin ganz froh drum. Ich weiß eh nicht, wo mir gerade der Kopf steht. Neben den Tiraden voller Selbsthass, die munter durch mein Hirn rasseln, hält es meine Auffassungsgabe für nötig, mich an Mr. Man-Buns Attraktivität zu erinnern. Im Vergleich zu Timo hat er viel breitere Schultern und ein markanteres, reiferes Gesicht, in dem die Brauen schützend über den offenherzigen Augen thronen. Außerdem ist er selbst sitzend noch auffällig groß. Seine Blicke sind aufmerksam, aber nicht stechend und trotz der stickigen Busluft kann ich Mr. Man-Bun riechen. Er ist nicht so stark parfümiert wie Timo. Der Duft ist dezent überwältigend.
„Trinkst du Kaffee?“, reißt mich seine Stimme aus meinen Tagträumen.
„Manchmal. Wieso?“
Mr. Man-Buns Gesichtszüge entgleisen - genau wie eben, als ich ihn gefragt habe, was er an der Bushaltestelle macht. In mir macht es klick! und auf einmal begreife ich, warum er mich das gefragt hat.
„Forget it“, winkt er jedoch in diesem Augenblick ab und hievt sich aus dem Sitz hoch. „Muss eh hier raus. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“
Alles geht plötzlich Schlag auf Schlag. Mr. Man-Bun hebt zum Abschied die Hand und winkt mir lässig zu, dann steht er auch schon bei den Türen, die sich gleich darauf zischend öffnen. Ich presse ein reichlich verspätetes „Ja, bestimmt!“ hervor und frage mich, ob ich ihn jetzt vergrault habe, weil ich nicht sofort geschnallt habe, dass er einen Kaffee mit mir trinken gehen möchte? Aber warum sollte er das wollen?! Er hat doch eben schon angedeutet, dass ich 'hundert pro' einen Freund habe?!
Die Welt nicht mehr verstehend, sitze ich niedergeschlagen im Bus und schaue auf die Straße hinaus. Wahrscheinlich hat mich Mr. Man-Bun auch nur verarscht. Ja, das muss es sein. Alles andere macht keinen Sinn...
Angespannt knete ich den Griff meiner Umhängetasche durch und merke hinter meiner Stirn einen dumpfen Kopfschmerz aufziehen. Bis eben hab ich mich noch über den erfolgreichen Tag gefreut, doch nun? Nun hab ich eher den Verdacht, dass sich alle nur auf meine Kosten amüsieren.
Warum ist Timo so freundlich zu mir, wenn er doch eine Freundin hat?
Warum sagt mir Mr. Man-Bun, dass Timo eine Freundin hat? Und was sollte das mit dem Kaffee und dieser Unterstellung, eine wie ich hätte garantiert einen Freund?
Haben attraktive Menschen eigentlich das Recht gepachtet, sich über hässliche Menschen lustig zu machen?
„Nächste Haltestelle: Marienweg“, ertönt die automatische Ansage und ich komme mühsam auf die Füße. Meine Beine sind wackelig. Hilfe, ich merke genau, wie viel Energie mich der kurze Schultag gekostet hat. Ich mach mir da nichts vor: mein Körper ist immer noch von der Lungenentzündung geschwächt.
Wenigstens bekomme ich besser Luft, als ich aus dem Bus steige und kurz darauf Zuhause ankomme. Mein Magen knurrt mittlerweile, obwohl ich mich nicht hungrig fühle. Noch so eine Sache, die sich im Laufe meiner Lungenentzündung geändert hat: mein Hungergefühl. Früher hab ich wirklich viel essen können und hatte kein Problem damit, abends eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade zu leeren. Nicht ein mal in der Woche, sondern jeden Abend. Und auch zwischen den Mahlzeiten hab ich immer gern genascht. Aber als ich krank geworden bin, war mein Appetit wie weggeblasen. Essen war mit einem male ein Kraftakt, den ich nicht mehr auf mich nehmen wollte und selbst meine geliebten Erdnüsse im Knuspermantel, die meine Mutter mir sogar ins Krankenhaus mitgebracht hat, konnten mich eine halbe Ewigkeit nicht reizen. Das Essen im Krankenhaus hat selbstverständlich auch seinen Teil dazu beigetragen, dass ich meine Lust am Essen verloren habe. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeiten dann wieder Zuhause war, hatte ich's mir irgendwie angewöhnt, deutlich weniger zu essen.
„Seien wir ehrlich, du hast früher eh viel zu viel gegessen. So viel Hunger hattest du doch meistens gar nicht“, hat meine Mutter das Ganze mal kommentiert. In dem Moment ist auch mir bewusst geworden, dass sie vollkommen Recht hat. Dass ich mich früher immer bis zum Anschlag vollgefressen habe. Egal warum, ich hab grundsätzlich zu viel gefuttert. Kaum war das Abendessen durch, hab ich mir einen Pudding oder ein Eis reingezogen. Kaum war meine Ma nachmittags vom Einkaufen zurück, musste ich die Schokolade aufreißen, die sie mitgebracht hat. Ich war total süchtig nach dem Zeug. Klar hab ich nach dem Krankenhaus auch wieder was genascht. Oder besser gesagt: ich hab's versucht. Meine Mama hatte eine Packung Mars gekauft, ich hab in Erwartung auf die altbekannte Geschmacksexplosion hinein gebissen und wäre fast aus den Latschen gekippt. Es war so süß! Widerlich süß, um genau zu sein. Ich hab an dem Tag in der Küche gestanden und nur gedacht: Louisa, das Zeug magst du nicht mehr! Tu dir einfach einen Gefallen und pack's weg. Und genau das hab ich dann auch getan. Meine Mama hat sich nicht mal gewundert. Sie isst prinzipiell nicht viel Süßes und meinte, sie kennt das Phänomen. Aber ich bin bis heute fassungslos darüber. Seither sind Süßigkeiten in meinem Speiseplan ganz weit nach unten gerutscht.
Mit fettigem Zeug hab ich ebenfalls so meine Schwierigkeiten. Ich krieg davon einfach nicht mehr so viel runter wie früher; es ekelt mich regelrecht an. Im Krankenhaus gab es ständig Suppen und tot gekochtes Gemüse. Nach all den Wochen wieder eine Portion Pommes zu essen, war für mich fast schmerzhaft! Ich hab mich so überfüllt und schwer gefühlt mit dem ganzen Fett in mir, das kann ich niemandem beschreiben. Dafür hab ich mich im Krankenhaus an dunkles Brot gewöhnt, weil es das meistens morgens gab. Als Kind hab ich nur Weißbrot gemocht, am liebsten mit Butter und Nutella. Aber jetzt frage ich mich auch: Wieso hab ich das ständig in mich reingestopft, wenn's doch so ungesund ist? Auf diesen Figurtöter verzichte ich mittlerweile gut und gerne.
Dennoch, ich brauch jetzt was zu essen... Mit dem Gedanken schließe ich die Haustür auf und marschiere geradewegs in die Küche, ziehe den Kühlschrank auf und weiß nicht weiter. Wir haben ein paar Joghurts und in der Schüssel auf der Anrichte liegen drei reife Bananen, zwei Orangen und zwei Äpfel. In letzter Zeit hab ich, wenn ich denn zwischen den Hauptmahlzeiten gegessen habe, meistens zu Obst gegriffen und war jedes Mal erstaunt, wie gut es mir doch schmeckt. Früher konnte so ein Apfel bei mir echt nichts reißen. Jetzt hingegen klatsche ich die Kühlschranktüre wieder zu und schnapp mir einen der Äpfel. Reicht schon. Ich hatte zwar kein üppiges Frühstück und eine richtige Mahlzeit gibt’s erst heute Abend, aber wenn ich den Apfel gegessen hab, bin ich bestimmt satt. Ich wollte ja eh noch weiter abnehmen und von nichts kommt nichts.
Motiviert gehe ich die Treppe hinauf und sitze kurze Zeit später an meinem Laptop. Den Apfel kauend, überlege ich, was ich mit meinem alten Facebookaccount anstellen soll. Neue Nachrichten habe ich dort keine. Weder Jana noch Rabea haben nachgehakt, wie mein erster Schultag gelaufen ist. Tja, wie heißt es so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn. Womöglich sind die beiden sogar froh, mich los zu sein? Der Apfel zwischen meinen Zähnen schmeckt plötzlich bitter. Was, wenn die zwei wirklich froh sind, dass ich nicht mehr da bin? War ich ihnen lästig? Genug coole Freunde haben sie ja. Da brauchen sie mich nicht. Eventuell haben sie's nur nicht übers Herz gebracht, mir eher die Freundschaft zu kündigen, weil wir uns schon so lange kennen? Geistesabwesend lege ich den angebissenen Apfel auf meinen Schreibtisch und weigere mich, diese Version der Realität zu akzeptieren. Jana und Rabea werden sich schon noch melden, ganz sicher. Ich könnte ja auch zuerst-
Nein, ich bin doch immer diejenige, die ihnen zuerst schreibt. Dieses Mal werde ich's nicht tun...
Etwas in mir wird taub und lässt mich marionettenhaft meinen alten Account deaktivieren. Da war doch eh nichts los. Dass fremde Leute mich auf Fotos verlinken können oder mein Profil einsehen können, ist eh ausgeschaltet. Mir reicht der Spott, der in den Kommentaren zu einem zufälligen Schnappschuss von Rabea und mir aufgetaucht ist, den sie auf ihrem Profil gepostet hat. Eigentlich wollte ich das gar nicht, aber sie fand das Bild schön. Blöderweise kam prompt ein Kommentar der Marke „Cooles pic. Würd nur die rechte Hälfte abschneiden!! ;-)“
Auf der rechten Bildhälfte bin - oh Wunder! - ich zu sehen. Mit fransigen Haaren, weil es ein stürmischer Herbsttag war und ich auf dem Weg zu Rabea in einen Regenschauer geraten bin. Ich hab echt schwere Ähnlichkeit mit einer Vogelscheuche. Rabea hingegen sieht aus wie frisch aus dem Ei gepellt und hat mir das neue Kleid vorgeführt, was sie am Vortag zum Geburtstag bekommen hat. Fotos wie dieses dürfen Timo und Co. nie zu Gesicht bekommen. Solange ich Jana und Rabea nicht mit meinem neuen Account adde, laufe ich auch keine Gefahr, von meiner Vergangenheit eingeholt zu werden.
Nachdem ich meinen alten Account ins Nirvana geschickt habe, logge ich mich mit meiner anderen Mailadresse ein und falle fast vom Stuhl. Oben prangen rote Benachrichtigungen. Neue Freunde, neue Mitteilungen. Wie konnte sich das mit meinem Account so schnell rumsprechen?! Es wusste doch nur Timo davon! Doch unter den Freundschaftsanfragen sehe ich auch Freya, Marcella, Daniel und ein paar andere Namen. Zwei kommen mir von der Verlesung der Teilnehmerliste des Deutsch-LKs bekannt vor. Mein Hunger ist wie weggeblasen, als ich eifrig neue Freunde bestätige und die fremden Profile auskundschafte.
Fortsetzung folgt...
Seit ich meinen Stundenplan kenne, habe ich vor einem Wochentag ganz besonders Panik: vor Donnerstag. Denn am Donnerstag hab ich Sport. Am liebsten würde ich zwei Jahre lang meine Sportsachen Zuhause vergessen, aber ich befürchte, das würde üble Konsequenzen nach sich ziehen. Also hab ich gestern Abend notgedrungen meine Sportklamotten zusammen gesucht und heute früh pflichtbewusst mitgenommen. Trotzdem stehe ich jetzt hier mit Freya und einem Haufen anderer Schüler vorm Eingang der Turnhalle und fühle mich wie kurz vor meiner Hinrichtung.
Bei der Anmeldung an dieser Schule musste ich nicht nur meine Leistungskurse wählen, sondern auch einen Schwerpunkt für den Sportunterricht. Neben Fußball, Schwimmen, Leichtathletik und Volleyball wurde auch noch Badminton angeboten. Ich hab mich für letzteres entschieden, da ich in den übrigen Sportarten noch mieser bin. Den Federball krieg ich meistens noch irgendwie übers Netz. Doch ich vermute mal stark, dass trotz Schwerpunktsportart auch noch etliche andere Sportarten auf dem Plan stehen werden. Das ist wahrlich keine gute Aussicht...
Nervös schabe ich mit den Füßen über den Boden und höre Freya nur mit halben Ohr zu. Sport ist, wie so oft in meiner Schullaufbahn, das Letzte, was ich an einem Schultag erlebe und ich habe bis gestern Abend sämtliche Gedanken an dieses Fach verdrängt. Es gibt einige Fächer, denen ich nichts abgewinnen kann, doch kein Fach hat mir je so viel Angst und Schande beschert wie Sport. Dass Freya ebenfalls Badminton als Schwerpunkt gewählt hat, ist da wenig hilfreich. Ich wette, sie ist ein richtiges Ass im Sport. Irgendwie wirkt sie so dynamisch und durchtrainiert. Beiläufig hat sie auch mal erwähnt, dass sie regelmäßig joggen geht. Ich will gar nicht wissen, wie sich ihr Bild von mir verändert, wenn sie nachher sieht, wie wenig ich auf dem Kasten hab...
„Guten Tag, alle miteinander. Darf ich mal durch?“, höre ich in diesem Augenblick eine erwachsene Frauenstimme durch die wartende Meute dringen. Bisher kannte ich Frau Schönefeld nur vom Namen her, doch nun kann ich ihrem Namen auch ein Gesicht zuordnen und der Spruch nomen est omen bestätigt sich prompt wieder. Zwar kann ich das Alter meiner Lehrerin schwer schätzen – sie sieht trotz einiger grauer Haarsträhnen und Falten erstaunlich jung aus –, doch sie scheint topfit zu sein und strahlt eine ungeheure Motivation aus. Mit dem Schlüssel öffnet sie uns die Türe zur Sporthalle und weist uns in die richtigen Kabinen: Die Mädels links, die Jungs rechts. Dabei hab ich kaum Jungen vor der Halle warten sehen; die haben wahrscheinlich größtenteils Fußball gewählt. An und für sich bin ich ganz glücklich darüber. Falls ich mich nachher blamiere, wird es wohl weniger Sprüche hageln.
Verhalten schließe ich mich dem Strom meiner Mitschülerinnen an und spüre, wie mir das Herz heftig gegen die Rippen pocht, mir abwechselnd heiß und kalt wird und ich mich der Situation in keiner Weise gewachsen fühle. Schon allein das Umkleiden ist ein Desaster für mich! Ängstlich quetsche ich mich in eine Ecke und versuche, mich vor den Blicken der anderen abzuschotten. Selbstverständlich steht Freya sofort neben mir und beschlagnahmt den Spint neben meinem. Ich bemühe mich, möglichst schnell in mein weites Sportshirt und die leichte Trainingshose zu schlüpfen. Früher ging das nie, ohne dass ich dabei beobachtet wurde und irgendjemand amüsiert gegrunzt hat. Heute komm ich mir seltsamerweise gar nicht so penetrant angestarrt vor. Selbst Freya verzieht keine Miene, während sie sich entkleidet. Ihr BH ist nachtblau mit weißen Punkten und ihr Bauch sieht spitze aus, ebenso wie der Rest ihres Körpers. Der Sport hält sie gut in Form. Dass sie eine super Figur hat, war mir schon vorher klar, aber wenn man sie so aus nächster Nähe betrachtet, denkt man nur: wow! Sport lohnt sich echt. Ich bin schwer beeindruckt und schäme mich gleich noch mehr für mein eigenes Aussehen. An mir hängt und wabbelt ausnahmslos alles, und meine Brüste kommen mir wie zwei gigantische Fleischklöpse vor.
In der Kabine ist es laut, weil sich jeder ungezwungen mit jedem unterhält. Ich fühle mich wie ferngesteuert, als ich mit Freya, Irina und Sabrina als eine der ersten in die Halle schlendere. Die vier Jungs aus dem Kurs sind längst da und helfen Frau Schönefeld dabei, die Netze zu spannen. Es riecht nach Gummi, getrocknetem Schweiß und Leistungsdruck. Ich schaue zur hohen Decke hinauf und kneife die Augen zusammen, als die grellen Strahler mich blenden. Wie oft wollte ich in so einer Halle weinen? Wie oft hab ich mir gewünscht, jemand würde die Sporthalle meiner Schule niederbrennen, nur damit ich von dieser Tortur verschont bleibe? Und doch ist nichts von all dem je geschehen...
„Übrigens hab ich heute Morgen gesehen, dass sie im Spencer's jetzt jeden Freitag und Samstag Abend Happy Hour haben. Da gibt’s dann alle Cocktails zum halben Preis. Wie wär's? Hast du Freitag oder Samstag Zeit?“ Freya strahlt mich munter aus ihren großen Augen an, die durch einen fein gezogenen Eyelinerstrich hervorragend zur Geltung kommen.
„Naja...“, lecke mir nervös über die Lippen. Am besten wäre es, meine Mama zu fragen, doch sie wird garantiert nichts dagegen haben. Sie ist niemand, der mich auf Schritt und Tritt bewacht. Sie würde es viel lieber sehen, wenn ich häufiger rausgehe und mehr Zeit mit meinen Freunden verbringe. Auch vor dem Umzug hat sie mich oft gefragt, ob ich nicht am Wochenende mal wieder mit einer Freundin ins Kino oder shoppen gehen würde. Meine Antwort lautete meistens Nein, woraufhin meine Mama immer ein seltsam betroffenes Gesicht machte, aber freundlicherweise schwieg.
Als ich ihr Montagabend verkündet habe, mich bisher echt gut mit meinen neuen Mitschülern zu verstehen, hat sie sich richtig gefreut und mich kurz gedrückt. In dem Moment ist mir klar geworden, dass mein bisheriger „Lebensstil“ nicht nur mich selbst, sondern auch meine Mama belastet hat. Aber keine Sorge, Mama: Ich werde nicht mehr so fett und unbeliebt sein wie früher. Ich werde jetzt ein normales Leben führen. Ich werde richtig schlank werden und mich mit allen Leuten gut verstehen, wie auch schon mein neues Facebookprofil beweist.
Allem Anschein nach sind geschätzte 95% meiner Stufe auf Facebook angemeldet. Nachdem ich Montag angefangen habe, die Freundschaftsanfragen anzunehmen, ist eine richtige Lawine ins Rollen geraten. Kaum hab ich eine Person bestätigt, hab ich wieder jemanden vorgeschlagen bekommen, der auch in unserer Stufe ist. Den anderen Leuten muss es genau so ergangen sein, denn auch bei mir sind weiterhin Anfragen eingetrudelt. Echt krass! Dass ich kein Profilbild hatte – zumindest dachte ich das, bis am Dienstag das „Problem“ zur Sprache kam:
„Schönheit, du brauchst ein Foto!“, hatte Timo nämlich irgendwann verlauten lassen, als wir in der Cafeteria saßen. Die Atmosphäre vereinte die stickige Hitze des Sommers mit dem Gestank von fettigem Kantinenfraß, für den ich natürlich keinen Cent ausgegeben hatte. Ich hatte stattdessen behauptet, grundsätzlich abends mit meiner Familie die Hauptmahlzeit des Tages einzunehmen und deswegen mittags nur kleine Snacks zu essen. Offenbar fand das niemand ungewöhnlich. Ich hatte mir eine Fruchtschnitte und einen Apfel von Zuhause mitgebracht; von letzterem biss ich langsam ab und ließ die saftigen Stücke lange zwischen meinen Zähnen hin und her wandern. Eigentlich hatten sich nur Timo und Daniel ein richtiges Mittagessen gekauft. Es gab paniertes Schnitzel mit Pommes und einer hellbraunen Rahmsoße. Marcella und ein paar andere Mädels hatten sich entweder belegte Brötchen oder Salat geholt. Freya hatte eine selbst gepackte Lunchbox voller Rohkost von Zuhause mitgebracht. Vermutlich widert das Schulessen sie genau so an wie mich...
„Ich mach schon noch ein Foto“, versuchte ich jedenfalls das Thema rasch abzuwenden, weil ich mich schon wieder vor dem Spiegel verzweifeln sah. Selbst Selfies waren eine Herausforderung sondergleichen für mich. Egal, wie ich mein Handy hielt, die Perspektive wirkte jedes Mal ungünstig und machte meine Nase zu lang oder meine Augen zu klein oder mein Gesicht zu füllig. Keine Ahnung, wie diese ganzen youtuber und instagram Leute das hinkriegen, ständig perfekte Bilder von sich zu schießen. Mir fehlt wohl einfach die nötige Schönheit dafür.
„Ich mach schon noch - so wie irgendwann einmal“, schloss Marcella vollkommen richtig aus meinem Kommentar und grinste mich an. Nicht boshaft, sondern wie jemand, der mit mir fühlte. Da ich ihr Facebookprofil kannte, wusste ich, dass auch sie keine Selfies machte. Zwar war sie auf massenhaft Fotos verlinkt, aber davon hatte sie keines selbst geknipst. Auf den meisten Bildern stand sie nämlich mit ihrer kleinen Band auf der Bühne und räkelte sich wie Taylor Momsen zur Musik.
„Nicht irgendwann, Louisa, sondern jetzt! It's always now or never!“, predigte Timo und ich spürte, wie ich zu schwitzen begann. Freya seufzte daraufhin theatralisch.
„Wir sollten das mit dem Foto besser gleich regeln. Sonst wird Timo das zu seiner neuen Lebensaufgabe erklären und dir nebenbei einen Vortrag über die Vorteile von carpe diem halten.“ Noch während sie redete, holte Freya ihr Smartphone aus ihrer Schultasche und nahm mich mit der Kamera ins Visier. Mir kam beinahe der halbe Apfel wieder hoch, den ich gegessen hatte, doch anstatt wie ein verängstigtes Tier die Flucht zu ergreifen, versuchte ich, möglichst cool zu bleiben und ein halbwegs akzeptables Lächeln hinzubekommen. Normale Menschen pissen sich ja auch nicht wegen einem Foto in die Hose...
Von der gegenüberliegenden Tischseite aus hörte ich es zwei Mal klick machen, Freya nickte zufrieden und informierte mich darüber, dass sie mir die beiden Fotos via FB-Chat rüberschickte und ich mir eines für mein Profilfoto aussuchen konnte. Selbstverständlich hatte auch das keine Zeit. Timo drängelte und Daniel streute ihm heimlich Salz ins Essen, weil er der Ansicht war, Timo solle sich lieber rund um die Uhr um Emily kümmern, als anderen Mädchen nachzustellen. Dass Timo und ich schon ein wenig auf Facebook gechattet hatten, behielt ich in Anbetracht der Umstände verständlicherweise für mich. Nicht, dass Daniel auch noch auf mich sauer werden würde...
Beim Begutachten der beiden Schnappschüsse hatte ich nicht den Eindruck gehabt, als hätte ich etwas mit diesem Mädchen zu tun. Es war mir so fremd wie mein Spiegelbild. Die mittelblonden Haare fielen ihm offen über die Schultern und sein Lächeln hatte etwas Natürliches, ja geradewegs Sympathisches an sich.
Eigenartig.
Seltsam.
Nicht ich und dann wiederum schon. In meinen Ohren baumelten große goldene Hänger mit bunten Perlchen und Federn. Derweil ich eines der Fotos als Profilbild anlegte, machte ich innerlich regelrechte Luftsprünge. Das da, das war wirklich ich! Nicht mal mein Gesicht wirkte mehr so rund und pfannkuchenartig wie früher. Selbst wenn das wahrscheinlich nur an dem gut gewählten Konturpuder und etwas Rouge lag, so war ich doch beruhigt und konnte mich mit diesem Bild anfreunden. Heimlich linste ich auf meine dezent hervortretenden Schlüsselbeine. Sie waren nur eine sanfte Andeutung unter meiner Haut und trotzdem musste ich instinktiv die Hand heben und hinüberstreichen. Ein zauberhaftes Gefühl. All die idealen Mädchen um mich herum und in meinem Kopf hatten deutlich sichtbare Schlüsselbeine. Je mehr Gewicht ich verlor, desto näher kam auch ich diesem Ideal. Und je mehr Likes und Komplimente ich für mein Foto erntete, desto hübscher und leichter fühlte ich mich. Vor meinem Umzug hätte ich mir eine derart positive Resonanz auf mein Äußeres nie träumen lassen.
Doch nun, wo ich in der Turnhalle stehe und mir meiner körperlichen Ausmaße wieder so richtig bewusst werde, bröckelt mein Wohlbefinden dahin wie morscher Putz. Zu allem Überfluss wartet Freya immer noch auf meine Antwort. Mir ist jedoch ganz und gar nicht wohl dabei, abends irgendwo hin zu gehen. Ich war noch nie so richtig feiern. Hilfe!
„Dann lass uns Samstag nehmen“, wähle ich den späteren „Termin“, um mehr Vorbereitungszeit zu haben.
„Okay! Weißt du, wo das Spencer's ist oder sollen wir uns irgendwo treffen?“
Da meine Ortskenntnisse nach wie vor nonexistent sind, lasse ich mir von Freya beschreiben, wie ich am besten zum Spencer's komme. Kaum ist sie damit fertig, klatscht Frau Schönefeld in die Hände und bittet den Kurs, Platz zu nehmen. Da es sich um unsere erste Sportstunde handelt, begrüßt sie uns, stellt sich kurz vor und geht die Anwesenheitsliste durch, wobei sie jeden von uns nach seinen Leistungskursen und seiner Lieblingssportart fragt. Ich schwitze schon in diesen paar Minuten so viel, als sei ich einen Marathon gelaufen. Die ganze Atmosphäre zermalmt mich und als ich an der Reihe bin, behaupte ich, Badminton sei mein Lieblingssport. Nicht, dass ich schleimen will, doch etwas Besseres fällt mir partout nicht ein...
Als wir dann durch sind mit der Begrüßung, sollen wir ein paar Runden zum Aufwärmen laufen, einige Dehnübungen machen und uns anschließend aus dem Materialschrank Schläger und Bälle holen. Ich verstehe all das, aber habe arge Schwierigkeiten, aufzustehen und die Anweisungen in die Tat umzusetzen. Es ist, als hätte mich die Angst am Boden festgenagelt. Nur mühsam kann ich mich aufraffen und zu laufen beginnen. Zuletzt hab ich vor den Sommerferien Sport gemacht. Folglich bin ich im Nu außer Atem, bemühe mich allerdings, dass es niemandem auffällt. Freya und Sabrina scherzen neben mir als würden sie gemütlich einen Kaffee trinken. Nach der ersten Runde bin ich echt geschafft, aber auf eine andere Art und Weise als früher. Ich spüre, dass ich weniger Gewicht mit mir herumschleppe. Aber ich spüre auch, dass ich null Kondition habe. Die zweite Runde ist entsprechend anstrengend und ich beginne zu keuchen. Mit glühendem Gesicht und tonnenschweren Beinen zwinge ich mich weiter und wage nicht, mit irgendeinem meiner Mitschüler einen Blick auszutauschen. Als wir fünf Runden überstanden haben, ist mir so schlecht, dass ich mich beinahe übergeben muss. In mein Sichtfeld schieben sich schwarze Wolken und mein Brustkorb droht zu bersten. Irgendwie scheint nicht genug Sauerstoff in der Turnhalle zu sein. Jedenfalls bin ich fix und alle, während alle anderen noch wohl auf sind.
„Lange nicht trainiert?“, scherzt Freya, aber ihr Gesicht bleibt ernst. Für sie waren die paar Runden ein Klacks. Ich schüttele den Kopf und hab keine Puste für ein Gespräch übrig. Stattdessen versuche ich, irgendwie die Dehnübungen hinzukriegen.
„Wenn du willst, können wir zusammen joggen gehen?“ Die Frage klingt für mich wie eine Drohung. Ich muss schief grinsen und den Kopf erneut schütteln.
„Joggen ist nicht so meins, weißt du?“
„Ach komm schon. Wird sicher lustig! Allein ist mir immer so langweilig.“
„Okay, ich überleg's mir...“
„Mach das. Joggen ist echt gut, um sich fit zu halten.“ Und das hast du bitter nötig, Louisa. Freya sagt es nicht, aber ich schätze mal, dass sie mir das zu verstehen geben möchte. Nickend dehnen wir uns weiter und beginnen wenig später damit, Badminton zu spielen. Ich bin ungelenk, langsam und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Selbst in meinem weiten T-Shirt komme ich mir so breit und ungeschickt vor wie ein Elefant im Porzellanladen. Derweil alle anderen anmutig und mit vollem Körpereinsatz die Bälle übers Netz pfeffern, pfeife ich aus dem letzten Loch. Wie kann man nur so erbärmlich sein? Freya weiß jetzt auch, was für eine Niete ich bin. Ob sie's den anderen erzählen wird? Bestimmt. Ich mein, wieso sollte sie nicht...
Kurzweilig ziehe ich ernsthaft in Erwägung, Freyas Angebot mit dem Joggen anzunehmen. Aber es ist mir einfach zu peinlich. Ich bin doch schon nach wenigen Metern außer Atem und die Vorstellung, dass sie gechillt neben mir her joggt, ist einfach nur furchtbar erniedrigend! Ich muss alleine fit werden. Fit und schlank. Wenn ich das geschafft habe, kann ich ja mal eine Runde mit ihr joggen. Dann wird sie sicher schwer beeindruckt sein!
Als ich etwa zwei Stunden später endlich Zuhause bin, gehe ich direkt ins Badezimmer und spare mir den Umweg in die Küche. Ich brauche kein Essen. Mein lahmer Körper kann erst mal von seinen Fettreserven zehren. Angewidert schäle ich mich aus meinen Klamotten und stelle die Dusche an. Mit den anderen Mädchen wollte ich unter gar keinen Umständen zusammen duschen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was die nach meiner Fitnesspleite von mir denken... Und meinen dicken, schwabbeligen Körper möchte ich ihnen in Hundert Jahren nicht präsentieren! Frustriert schäume ich mich ein und wasche lieblos meine Haare. Dass ich dabei mein Fett unter meinen Fingern spüre, ist Strafe und Anreiz genug für mich, auch heute auf meine Ernährung zu achten.
Gedanklich rechne ich zusammen: Heute früh eine halbe Schnitte Mehrkornbrot mit Käse, in der Schule einen Apfel und eine Fruchtschnitte, jetzt nichts und heute Abend wollte meine Mutter Fisch, Salat und Kartoffeln machen. Früher hätte ich ja für Fisch in Panade sterben können, aber das steht seit neuestem auch auf dem Index. Meine Mutter hat Filets ohne Panade gekauft, die sie leicht würzen und braten wird. Wenn ich mehr Salat als Kartoffeln esse, dürfte das in Ordnung gehen. Oder? Offen gestanden kenn ich mich ziemlich schlecht mit Nahrungsmitteln, Nährwerten und Kalorien aus. Das sollte ich wohl mal ändern.
Tropfend ziehe ich den Duschvorhang beiseite und wickele mich in ein Handtuch. Meine Finger zittern schon wieder und mir ist ein wenig schwindelig. Vielleicht sollte ich doch etwas essen? Noch während ich überlege, ob ich mir einen Snack gestatten darf, entdecke ich die Waage unterm Badezimmerregal. Sie gehört nicht meiner Ma; wir hatten früher nie eine Waage daheim. Wofür auch? Ich hab keine Waage gebraucht, um zu wissen, dass ich zu fett bin. Die Waage ist von Jakob, dem Freund meiner Mutter. Schon in seiner alten Wohnung stand sie immer im Bad, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Jakob sich jemals da drauf gestellt hat. Er ist normal gebaut und muss nicht auf sein Gewicht achten. Meine Ma hat in der Hinsicht auch keine Probleme. Ich wünschte, sie hätte mir ihre guten Gene vererbt...
Ohne weiter darüber nachzudenken, ziehe ich die Waage unterm Regal hervor, atme tief durch und stelle mich todesmutig hinauf. Der Zahlen schießen in die Höhe und der Zeiger bleibt ziemlich genau bei 62 stehen. Sprachlos starre ich auf die kleine Anzeige hinunter und versuche mich zu entsinnen, wann ich mich zuletzt gewogen habe. Das muss Anfang des Jahres gewesen sein und damals hab ich 78 Kilo auf die Waage gebracht. Eigentlich wollte ich mich damals gar nicht wiegen, aber wir haben Silvester bei Jana gefeiert und als ich mich im Bad schlaffertig gemacht habe, hab ich die Waage gesehen und mich plötzlich darauf wiedergefunden.
Fast 80 Kilo für ein Mädchen von 1,70m Körpergröße sind allerdings deutlich zu viel! Bei meiner Einlieferung ins Krankenhaus wurde wegen der Medikamentendosierung nach meinem Gewicht gefragt. In dem Moment hat meine Ma mich kurz angeschaut und „Sie wiegt etwa 75 Kilo“ gesagt. Ich hab nicht widersprochen, sondern die drei Kilo unterschlagen. Schon die 75 fand ich peinlich ohne Ende. Ein 16-jähriges Mädchen hat keine 75 Kilo zu wiegen. Auch keine 80! Und keine 62! Ich sollte zusehen, dass ich unter die 60 komme. Jana wiegt ungefähr 53. Zugegeben, sie ist ein Stückchen kleiner als ich, aber das ist kaum der Rede wert. Und Freya wiegt definitiv auch nicht über 60 Kilo. Ich muss also dringend noch weiter abnehmen, sonst schaff ich die paar Runden zum Aufwärmen nie!
Ich bin alleine. Der Gedanke hat etwas Ironisches an sich, denn vor wenigen Tagen kannte ich noch keine Menschenseele auf dieser Schule. Heute ist Freitag und ich habe soeben festgestellt, dass niemand aus meiner neuen Clique in dem Kunstkurs ist, in den ich gesteckt worden bin. Nicht, dass mir das Angst machen würde, aber es ist seltsam, wenn da keine Freya ist, mit der man über dämliche Castingshows lästern kann und auch kein Timo, der mich im Unterricht ständig mit seinen lustigen Kommentaren zum Lachen bringt.
Freya und Timo sind in dem Kunstkurs, der montags stattfindet. Marcella und Franz haben alternativ zu Kunst Musik gewählt und Daniel Theater. Ich hab mir damals beim Ausfüllen meiner Anmeldung für die neue Schule nicht groß was dabei gedacht, als ich Kunst angekreuzt habe. Kunst, Musik und Theater – mindestens eines dieser drei Fächer ist für jeden Schüler Pflicht. Auf freiwilliger Basis kann man sogar noch mehr belegen, aber ich wollte mir keine unnötige Arbeit aufladen. Auch Jakob hat damals gemeint, man soll so viel machen wie nötig und das so gut wie möglich. Ich stimme ihm da zu.
Resultat dessen ist, dass ich jetzt durch einen langen Flur wandere und mich in Richtung Kunstsaal bewege. Timo hat mir selbstverständlich erklärt, wie ich dahin komme; dabei hat er wie ein getretener Hund ausgesehen, weil er dachte, wir könnten die gechillte Atmosphäre des Kunstunterrichts gemeinsam genießen. Tja, falsch gedacht. Ich fühle mich glatt ein bisschen verloren, als ich um die Ecke biege und die offen stehende Türe des weitläufigen Saals entdecke. Ein paar meiner Mitschüler sind schon da. Klingeln wird’s aber erst in vier oder fünf Minuten.
Auf der Suche nach einem guten Platz, lasse ich den Blick schweifen. Es gibt mehrere lange Tischformationen. Die hier vorne an der Türe finde ich allerdings eher lästig. Jeder Depp, der vorbei kommt, kann dir sofort aufs Bild glotzen. Das möchte ich nicht. Der andere Tisch wird von der langen Fensterfront in gleißendes Licht getaucht. Beim Malen geblendet zu werden, stell ich mir allerdings auch nicht gerade prickelnd vor. Also steuere ich den letzten verbleibenden Tisch an und wähle den Platz ganz außen, nahe der Wand. Es gibt keinen Grund für Leute, sich hier entlang zu quetschen, also wird mir sicher auch keiner beim Malen penetrant über die Schulter schauen.
Gerade als ich mich hingesetzt habe, flutet eine ganze Horde Schüler durch die Türe. Viele kenne ich mittlerweile schon ein bisschen aus meinen Kursen und von Facebook. Aber wirklich unterhalten habe ich mich mit kaum jemandem und nach meiner gestrigen Sportpleite bin ich auch nicht sonderlich scharf drauf. Bestimmt werde ich insgeheim schon wieder als die Loser-Louisa gehandelt oder so...
Derweil der Krach im Raum steigt, hole ich mein Handy heraus und tippe eine App an, die ich mir gestern Abend runtergeladen habe. Diese App ist wirklich ziemlich nützlich für mich. Einerseits kann ich mein Gewicht und meine Essensmengen dokumentieren, andererseits gibt mir die App auch Tipps für gesunde Mahlzeiten und Workouts. Mit flinken Fingern gebe ich ein, was ich bislang zu mir genommen habe:
Frühstück: /
Mittagessen: 150g fettarmer Joghurt, eine Banane
Jetzt genehmige ich mir noch einen Streifen Kaugummi, denn wenn ich unter die 60 Kilo will, muss ich einfach irgendwo einsparen. Das ist auch der Grund, wieso ich das Frühstück hab sausen lassen. Dass mir dann vorhin in der Mittagspause tatsächlich der Magen geknurrt hat, ist leider ein blöder Nebeneffekt davon. Mir ist sogar kurzweilig der Gedanke gekommen, mir ein belegtes Brötchen zu kaufen. Ich weiß gar nicht, wie ich da drauf gekommen bin! So ein blödes Brötchen ist doch immer mit Butter oder Remoulade oder sogar beidem beschmiert! Und dazu noch Ei, Schinken oder Thunfisch? Das ist bestimmt nicht das Richtige zum Abnehmen. Dennoch zieht sich mein Magen beinahe sehnsüchtig zusammen, als ich jetzt wieder drüber nachdenke. Lediglich die Tatsache, Gesellschaft zu bekommen, rettet mich vor den aufdringlichen Gedanken ans Essen.
Dass ich es nicht mit einer Rettung zu tun habe, wird mir bewusst, als ich das dicke Mädchen entdecke, das mir bereits bei der Einführungsveranstaltung ins Auge gefallen ist. Auch zwischendurch hab ich sie ab und an auf dem Flur gesehen und wenn ich mich nicht täusche, ist sie auch in meinem Geschichts- und Biokurs. Allerdings hab ich sie da nicht im Sichtfeld. Dass sie sich mir nun schräg gegenüber an den Tisch setzt, erschreckt mich. Zumal sie mich dabei kurz anlächelt.
Was will die von mir?
Lächele ich etwa zurück?
Denkt die, nur weil ich auch ein paar Kilo zu viel wiege, sollten wir BFF werden?!
Nervös schaue ich mich um und vermeide weiteren Blickkontakt mit der Dicken. Am liebsten würde ich mich umsetzen, damit niemand falsche Schlüsse zieht. Ich will auf gar keinen Fall in die gleiche Schublade gesteckt werden wie dieses Mädchen! Die macht ja wirklich gar nichts aus sich! Ihre Haare sind zu einem schlaffen Pferdeschwanz gebunden und ihr weites dunkles Shirt trägt mehr auf als es kaschiert! Anscheinend kennt sie auch niemanden, denn sie wirkt ziemlich verlassen. Im Gegensatz zu mir hat sie wohl bisher keinen Anschluss gefunden. Wenig verwunderlich. Wer scheiße aussieht, darf sich doch heutzutage über gar nichts mehr wundern! Nicht, dass ich das gut finden würde, aber ich will diesen Abschnitt meines Lebens ein für alle mal hinter mir lassen und von niemanden zurück in diese Hölle gezerrt werden.
Ein neuer Schülerschwall kommt durch die Türe. Auch diese Gesichter kenne ich. Es ist die sportliche Jungstruppe, die am Montag in der Reihe vor mir saß und natürlich ist Mr. Man-Bun auch dabei. Sein Anblick macht mich augenblicklich noch nervöser und ich streiche mir schnell den Pony zurecht. Der Kerl hat mir gerade noch gefehlt! Seine Gruppe beschlagnahmt ausgerechnet das andere Ende des Tisches, an dem ich sitze. Damit wäre der lange Tisch schon zur Hälfte belegt. Einer der Kerle knallt seinen Rucksack mit dermaßen viel Schwung auf den Tisch, dass er zu dem dicken Mädchen hinüber schlittert und fast ihre Federmappe runter fegt. Sie zuckt deutlich zusammen und gibt dem Rucksack dann einen Schubs zurück. Den Besitzer des Rucksacks kümmert das einen Scheiß, aber ich kann genau sehen, dass das Mädchen sich erschreckt hat und sicherheitshalber mit seinem Kram einen Platz weiter rückt. Oh nein!, schallt es mir durch die Sinne, denn nun sitzt es mir wirklich haargenau gegenüber...
Zwischen uns und dem Männerpulk sind auf jeder Tischseite noch drei freie Plätze übrig. Ob die noch jemand freiwillig belegt? Ich wage es zu bezweifeln und starre stumm auf die Platte, auf der im Laufe der letzten Jahre etliche Kunstschüler Kritzeleien, Beleidigungen und blöde Witze hinterlassen haben.
Mr. Man-Bun gehört übrigens zu den wenigen Leuten, die ich bislang noch nicht auf Facebook gefunden habe. Er wurde mir nicht vorgeschlagen und ohne seinen Namen zu kennen, kann ich nicht nach ihm suchen. Nicht, dass ich das ernsthaft tun würde. Was sollte ich ihm auch schreiben? Ich kann ihn jawohl schlecht fragen, ob seine Einladung noch steht. Dann kriegt der sicher den Lachflash des Jahrhunderts, weil er mich eh nur verarschen wollte. Insofern ist's wohl Glück im Unglück, dass unsere Stundenpläne offenbar sehr unterschiedlich ausfallen. Die ganze Woche über habe ich ihn weder morgens noch nachmittags im Bus getroffen. Am Mittwoch hatten wir Sowi zusammen, aber er saß weit hinten in der Klasse mit seinen Leuten, während ich mit Marcella und Franz in der zweiten Reihe saß. Viel besprochen haben wir nicht in der Stunde, aber Mr. Man-Bun scheint das Fach zu mögen und sich gerne am Unterricht zu beteiligen. Mich interessiert Sowi ja nicht wirklich, muss ich gestehen. Entsprechend anstrengend finde ich den Unterricht und bin froh, wenn ich zumindest ein paar Meldungen hinkriege. Früher hat's immer für eine gute drei oder eine schwache zwei gereicht, je nach Thema eben. Meine Lehrerin hat auch gern mal einen unangekündigten Test geschrieben. Ich hoffe, das bleibt mir auf dieser Schule erspart.
Mit dem Klingeln kommen weitere Schüler in den Saal. Wohl die typischen Auf-den-letzten-Drücker-Kandidaten. Zwei der Jungs kenne ich aus meinem Mathe- und Sportkurs, die drei Mädels erfreuen sich bester Laune und sind mir eher fremd. Die eine hat auch deutlich zu viel auf den Rippen, aber im Gegensatz zu dem Mädchen, das mir gegenüber sitzt, trägt sie ein lebendiges Make-up und ein total peppiges Kleid. Trotzdem, ihre Brüste sehen darin überdimensional aus und wozu braucht jemand wie sie einen Taillengürtel? Ihre Taille ist breiter als die Hüfte von den meisten anderen Mädels! Ich hätte mich früher nie getraut, so was anzuziehen. Überhaupt, so aufgedonnert wie die ist, scheint sie sich ja sonst was auf ihren Style einzubilden.
Zu meinem Bedauern kommen sie und ihre Freundinnen auf meinen Tisch zu – und mir bleibt fast die Spucke weg, als der Typ, der eben seinen Rucksack durch die Gegend gepfeffert hat, jedes der Mädels begeistert umarmt. Sogar die Fette. Natürlich geht das alles nicht ohne lautes Gelächter und Geschrei. Hätte ich mich doch bloß weggesetzt! Jetzt bin ich mit den protzigen Jungs, Mr. Man-Bun, den drei Tussen und der Dicken an diesem Tisch gefangen! Andere Plätze sind jetzt nicht mehr zu kriegen. Okay, der Platz direkt an der Türe ist immer noch frei, aber abgesehen davon scheinen alle Stühle besetzt oder Leute haben einfach zwei Plätze mit all ihrem Plunder beschlagnahmt. Hingehen und fragen, ob ich dort vielleicht sitzen kann, will ich nicht. Nachher halten die für jemanden frei und überhaupt, wie kommt das denn rüber? Also muss ich mich wohl oder übel mit meinem Platz abfinden. Ist ja nur für ein Halbjahr. Danach dürfen wir bestimmt die Sitzordnung ändern.
Mit einem zwitscherndem „Hi!“ lässt sich die Fette direkt auf den Stuhl neben dem dicken Mädel plumpsen. Ich mache irgendwas, das wie lächeln aussieht und sich kein bisschen danach anfühlt. Die Fette stellt sich als Denise vor und die Dicke als Marina. Dann schauen sie mich plötzlich an und ich nenne notgedrungen auch meinen Namen.
„Hübscher Name! Und oh Gott! Du hast's garantiert schon tausend mal gehört, aber du hast echt coole Ohrringe!“, zeigt sich Denise über meine traumfängerartigen Ohrringe begeistert. Ich bedanke mich höflich und werde sofort ausgefragt, wo ich die her habe und was die gekostet haben. Will die sich die Ohrringe jetzt etwa nachkaufen?! Weil ich auf so was keinen Bock habe, behaupte ich, dass die Ohrringe ein Geschenk meiner Ma waren und ich deswegen leider nicht weiß, wo man sie bekommt. Denise nickt verständnisvoll und wendet sich dann an Marina, um herauszufinden, ob diese keine Ohrringe mag oder aus welchem Grund sie keine Ohrlöcher hat. Während Marina peinlich berührt beichtet, Angst vorm Ohrlochstechen zu haben, marschiert unsere Kunstlehrerin durch die Türe. Sie schaut aus, als wäre sie gerade von einem Motorrad geklettert: Lederjacke, Jeans, Stiefel, schwarz gefärbte Kurzhaarfrisur und passend dazu dunkel geschminkte Augen. Ihre Figur ist eher drahtig und sie hat eine Laptoptasche dabei. Ich bin gespannt, was wir in ihrem Unterricht machen werden.
Als es nach zwei Kunststunden endlich klingelt, ist ein Großteil der Schüler noch dabei, seine Sachen einzupacken und sich mit seinen Tischnachbarn zu unterhalten. Ich ringe mir lediglich ein „Bye!“ ab und rausche dann ab. Zwar ist das Projekt, das wir in Kunst bearbeiten sollen, an und für sich ganz cool, aber ich hab keine Lust darauf, dass sich jemand auf dem Weg zur Bushaltestelle an mich dran heftet. Schnellen Schrittes eile ich also über den langen Schulflur, steige ein paar Stufen hinauf, durchquere den Haupteingang und bete, dass Mr. Man-Bun mich nicht einholt. Wenn ich schnell genug bin und er noch mit seinen Kumpels rumtrödelt, dann kriegt er vielleicht nicht mal mehr den gleichen Bus wie ich! Es sollte mir ja eigentlich egal sein, aber jedes verdammte Mal, wenn ich im Unterricht in seine Richtung geguckt habe, hat er meinen Blick undeutbar erwidert. Nicht, dass ich ihn überhaupt angucken wollte! Das hat sich einfach so ergeben. Ich konnte nichts dagegen tun. Immerhin muss ich zwangsläufig in seine Richtung schauen, wenn ich zum Lehrerpult gucke. Bestimmt bildet sich Mr. Man-Bun jetzt Gott weiß was darauf ein! Dabei hab ich so was von keine Lust auf irgendwelche dummen Spielchen oder Sprüche. Mir hat schon Denise' Dauer-Sonnenschein-Laune gelangt! Wenn man das Mädchen reden hört, glaubt man echt, es würde in einer glitzernden Barbiewelt residieren, in der sich alles um Spaß haben, Mode und noch mehr Spaß haben dreht.
Als ich an der Bushaltestelle eintreffe, bin ich außer Atem. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigt, dass ich eine neue Bestzeit hingelegt habe. Blöderweise hilft mir das nicht, denn der Bus kommt trotzdem erst in zwei Minuten. Unruhig werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe – natürlich! – Mr. Man-Bun in der Ferne um die Ecke kommen. Um zu suggerieren, dass ich beschäftigt bin, hole ich mein Handy wieder aus der Tasche und klicke im FB-Messanger Timos Namen an.
„Mein Kunstkurs ist total scheiße! :-(“, ätze ich und sehe, wie der Status meiner Nachricht auf gelesen umspringt. Keine Minute später trudelt Timos Antwort bei mir ein:
Mach dir nix draus, Schönheit. Jetzt is erstmal WE!! :-) also entspann dich!
Einerseits hat er ja Recht: Jetzt ist Wochenende und ich muss erst nächsten Freitag wieder zwei Stunden in dieser misslichen Kursgesellschaft ausharren. Andererseits kann ich Timo aber auch schlecht erklären, wie das ist, wenn da so ein Kerl ein paar Meter von dir entfernt sitzt, der ständig deine Blicke einfängt und vor dem ich mich so richtig zum Hornochsen gemacht hab... Ich weiß auch nicht, ob ich Timo erzählen soll, was Mr. Man-Bun bei unserer letzten Zusammenkunft vom Stapel gelassen hat. Eigentlich gibt es keinen Grund dazu. Ich weiß doch, dass alle Zwinkersmileys und Nettigkeiten von Timo nur harmloses Geflirte sind. Er hat eine Freundin, mit der er glücklich ist. Sonst wäre er wohl kaum mit ihr zusammen.
Zu meiner Überraschung ist der Bus heute überpünktlich und hält nun zischend vor mir an der Haltestelle. Flugs steige ich ein und fühle mich ungeheuer erleichtert, als ich bei einem provisorischen Kontrollblick feststelle, dass Mr. Man-Bun noch viel zu weit weg ist, um einen Sprint hinzulegen und den Bus noch zu erwischen.
Vielleicht will er ja auch gar nicht im gleichen Bus mit dir sitzen, Louisa!
Der unerwartete Gedanke überfällt mich arglistig und öffnet mir die Augen. Geschockt wende ich mich halb im Sitz herum, aber da der Bus soeben abgebogen ist, ist Mr. Man-Bun aus meinem Sichtfeld verschwunden. Trotzdem bin ich mir mit einem mal vollkommen sicher, dass es ihm nur recht war, dass ich vor ihm weggelaufen bin. Garantiert hatte er keine Lust auf ein weiteres Gespräch mit einem Mädchen, das nichts checkt. Wie konnte ich nur jemals annehmen, er würde sich um mich bemühen? Mich noch mal ansprechen? Für wen halte ich mich eigentlich?
Zutiefst getroffen stopfe ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und höre den Rest der Fahrt über Musik. Die Welt rauscht wie im Zeitraffer an mir vorbei und hat den Charme eines überaus realistisch animierten Computerspiels. Nach fünf Tagen kann ich bereits einige Straßennamen und sämtliche Haltestellen auswendig. Aber die interessieren mich gerade kein bisschen. Was ist nur los mit mir, dass ich mir wahrhaftig eingebildet habe, ein so cooler Typ wie Mr. Man-Bun hätte es nötig, einem Mädchen wie mir eine zweite Chance einzuräumen?
Mit schmerzendem Herzen und einen gigantischen Hungerloch im Bauch steige ich schließlich aus und schleppe mich nach Hause. Die ganze Sache mit Mr. Man-Bun ist mir unbeschreiblich peinlich. Ich hoffe nur, dass er nicht Timo und den anderen Jungs davon berichtet...
Zuhause koche ich mir eine große Tasse Kaffee, kippe einen Schuss fettarme Milch hinein und liebäugele mit dem Brot, was in unserem Schrank liegt. Wir haben sowohl Toast als auch Graubrot; natürlich würde ich letzteres nehmen, aber ich wollte doch durchhalten! Ich muss sogar durchhalten! Sonst wird mich nie jemand ernst nehmen und ich werde für immer die scheußliche Louisa bleiben, mit der niemand im gleichen Bus sitzen möchte. Verletzt knalle ich die Schranktüre wieder zu und probiere, meinen Hunger zunächst mit Mineralwasser und dann mit meinem Kaffee zu betäuben. Nebenbei surfe ich durchs Internet, schaue ein paar lustige youtube-Videos und kommentiere die neuen Statusmeldungen meiner Facebookfreunde. Als es knapp zweieinhalb Stunden später an meiner Türe klopft, puhle ich meine Kopfhörer aus den Ohren und verliere ein müdes „Ja?“.
„Wir haben was vom Chinesen mitgebracht. Kommst du?“ Meine Ma wartet schon gar nicht mehr auf eine Antwort von mir, sondern macht sich wieder auf den Weg nach unten. Verblüfft gucke ich auf die Uhr und stelle fest, dass es tatsächlich schon früher Abend ist. Mein Magen knurrt leider noch immer und die Worte 'was vom Chinesen mitgebracht' stacheln ihn geradezu an. Eigentlich ess ich echt gerne Chinesisch, aber ist das nicht auch mega fettig?
Als ich in die Küche tapste, stehen bereits etliche weiße Boxen mit roten Schriftzeichen und Drachenmustern auf dem Tisch. Der Duft ist unsagbar köstlich und ich lasse mich überwältigt auf meinen Stuhl fallen. Jakob packt gerade drei Frühlingsrollen aus und legt jedem von uns eine auf den Teller.
„Gegenüber von meinem neuen Büro gibt’s einen Chinesen. Meine Kollegen meinten, der sei wirklich sehr gut. Also dachte ich mir, wir probieren ihn heute mal aus“, erläutert meine Ma die Wahl des Abendessens. Die Gerichte sehen in der Tat verflucht lecker aus. Wir haben gebratene Nudeln mit Gemüse, Nasi Goreng, knusprige Ente mit brauner Soße und Schweinefleischbällchen süß-sauer. Von der Menge können wir glatt zwei Tage zehren! In mir breitet sich blanke Panik aus und lässt meinen Blick gehetzt von einer Essensbox zur nächsten springen.
„Ich..ich hab eigentlich schon in der Schule gegessen“, höre ich mich lügen, weil ich spontan nicht weiß, was ich von all dem Zeug essen kann ohne zuzunehmen.
„Ich dachte, du wolltest kein Mittagessen in der Schule kaufen?!“, wundert sich meine Ma, weil ich ihr Anfang der Woche einen Vortrag darüber gehalten habe, dass sie mir kein Essensgeld mitgeben braucht. Ich würde lieber abends daheim essen, als mir mittags irgendeinen Kantinenfraß reinzustopfen.
„Das war spontan“, lüge ich gezwungenermaßen weiter. „Sie hatten heute Gemüselasagne. Die sah so lecker aus, da konnte ich einfach nicht widerstehen!“
„Ach so.“
„Aber für so ein bisschen Ente hast du sicher noch Platz, oder?“, ermuntert mich Jakob und schiebt mir die Box mit der Ente zu. Knusprige Ente gehört zu meinen absoluten Lieblingsgerichten beim Chinesen! Das weiß in dieser Familie jeder.
„Ja, klar.“
„Und die Reste essen wir einfach morgen. Das sind ja wirklich riesige Portionen!“, freut sich meine Ma. Chinesisch steht auch bei ihr hoch im Kurs.
Ich komme mir verloren vor. Essen ist zu kompliziert für mich geworden, zu komplex. Ich lade ein paar Stücke der Ente auf meinen Teller und bin hin und weg, als der Geschmack in meinem Mund explodiert. So gut hatte ich knusprige Ente nicht in Erinnerung. Im Nu hab ich die paar Stückchen Ente, zwei Löffel gebratene Nudeln und meine Frühlingsrolle verputzt. Als meine Hand gerade wieder zu der Box mit der Ente greifen möchte, höre ich meine Ma sagen „Doch noch ganz schön Hunger gehabt, wie?“. Jakob teilt ihr Lachen und erst da realisiere ich, was ich getan habe: Ich habe viel zu viel gefressen! Klirrend lege ich meine Gabel ab und täusche vor, pappsatt zu sein.
„Ja, aber jetzt kann ich echt nicht mehr!“
„Kein Wunder, wenn du heute schon warm gegessen hast. Aber wir heben dir was von der Ente für morgen auf.“ Jakob meint es nur gut, keine Frage. Dennoch wäre es besser für mich, wenn er und meine Ma mich bei meiner Diät unterstützen würden.
„Ihr braucht mir nichts aufheben. Morgen bin ich mit Freya verabredet. Ich werde mit ihr was essen gehen, wenn das okay ist?“ Meine Augen leuchten meine Ma erwartungsvoll an. Diese ist ganz entzückt, dass ich schon nach der ersten Schulwoche mit neuen Freunden verabredet bin. Den Namen Freya hört sie heute nicht zum ersten Mal.
„Natürlich, Schatz“, nickt sie höchst zufrieden und mir fällt ein Stein vom Herzen. Dass Freya und ich nur Cocktails trinken werden, muss ja niemand wissen. Idealerweise faste ich morgen oder esse wirklich nur ganz, ganz wenig. Irgendwie muss ich schließlich diesen Berg knusprige Ente, den ich in mich reingeschaufelt habe, wieder ungeschehen machen...
Selbst der einkehrende Abend bringt heute keine Abkühlung mit sich. Die schwüle Hitze knallt auch gegen 17 Uhr noch heftig vom grellen Sommerhimmel. Klar, dass ich bei diesen lebensunfreundlichen Temperaturen von einem leichten Schwindelgefühl und Kopfschmerzen geplagt werde. Langsam stehe ich auf und halte mich dabei an den Sitzen im Bus fest, bis ich die Haltestange an der Hintertüre erreiche. Kaiserplatz hat die elektronische Ansage vorhin durchgegeben. Freya hat mir empfohlen, bis zu dieser Haltestelle zu fahren, nachdem ich ihr im Sportunterricht schnell erklärt hatte, wo ich wohne bzw. wie die Bushaltestelle an meiner Straßenecke heißt. Freya wird mit der Straßenbahn herkommen; die Gleise verlaufen parallel zur Straße, sodass wir uns problemlos auf dem großen Kaiserplatz treffen können, der am einen Ende der weitläufigen Fußgängerzone liegt. Von hier aus werden wir dann gemeinsam ins Spencer's gehen.
Als sich die Bustüren öffnen, sauge ich gierig frischen Sauerstoff ein. Die gewünschte Erfrischung bleibt jedoch aus. Die Luft hier draußen ist genauso stickig wie im Bus. Mein corallfarbenes Sommerkleid klebt regelrecht an meiner verschwitzten Haut, dabei ist es eines der luftigsten Kleidungsstücke, die ich besitze. Die Frage, was ich anziehen soll, hat mich so ziemlich den halben Tag beschäftigt. Zwar war ich erst letztes Wochenende mit meiner Mama shoppen, aber da hab ich ja nicht ahnen können, dass ich Freunde finden und mit diesen Freunden auch tatsächlich mal weggehen würde. Entsprechend schien mir nichts in meinem Kleiderschrank wirklich geeignet für heute Abend. Ich weiß ja nicht mal, was das Spencer's für ein Laden ist. Ob man sich da richtig auftackeln muss oder auch im schlichten T-Shirt und Jeans da aufkreuzen kann. Das Sommerkleid ist nicht besonders spektakulär, aber in Kombination mit einer auffälligen Imagekette, farblich passenden Ohrringen und den Sandalen mit Keilabsatz ist es dennoch ein chicker Hingucker.
Um mich herum löst sich die Traube aus ein- und aussteigenden Fahrgästen allmählich auf. Ich stehe an dem großen Bussteig und lehne mich vorsichtshalber an einem der Häuschen an. Mein Magen gurgelt, als bekäme er es bezahlt! Aber ich hab mir geschworen, heute nichts zu essen und bisher habe ich mich auch eisern daran gehalten. Das einzige, was ich mir erlaubt habe, waren zwei zuckerfreie Bonbons, Kaffee mit einem Schuss Magermilch und das Kaugummi, auf dem ich gerade herumkaue.
Drüben fährt eine Straßenbahn ein und gleich darauf entdecke ich auch Freya, die den Blick schweifen lässt, mich sichtet und dann winkend die Hand hebt. Dabei steuert sie bereits die Ampel an und steht keine Minute später vor mir. Ich nutze unbewusst die Zeit, um Freya von unten bis oben zu scannen. Sie hat sich für ein cremefarbenes, eng anliegendes Crop Top und eine Jeanshorts mit eingearbeiteten Goldfäden entschieden. Ihre Sandaletten sind zwar flach, aber durch die goldene Verzierung eine passende Ergänzung für ihr edles Outfit. Im Grunde ist es aber egal, was Freya anhat; ihr steht einfach alles. Neben ihrem durchtrainierten Körper kommen meine wabbeligen Arme und Beine noch mal so richtig zur Geltung. Hätte ich doch bloß was Anderes angezogen! Irgendwas mit längeren Ärmeln oder so...
Mit einem „Hey“ umarmen wir uns kurz und Freya haut sogleich ein „Geiles Kleid!“ raus.
„Ach, das hatte ich noch im Schrank“, versuche ich die Aufmerksamkeit von meiner Erscheinung wegzulotsen, aber meiner Mitschülerin scheint das Kleid tatsächlich zu gefallen
„Die Farbe ist so toll! Neulich war ich beim Strawberry und da hatten sie ein total schönes Top, auch in der Farbe, aber leider nicht mehr in XS. Und in S hätte ich da zwei Mal reingepasst!“ Während Freya mir von ihrem erfolglosen Shoppingtripp erzählt und ich sie zutiefst um ihre Kleidergröße beneide, schlendern wir die Fußgängerzone ein Stück hinauf. Die meisten Geschäfte haben samstags ab 16 Uhr geschlossen, doch sämtliche Cafés, Eisdielen und Restaurants sind noch offen. Das Spencer's ist ein unübersehbarer Rundbau mit neonfarbenem Schriftzug über der Türe. Draußen sind einige Tische zwischen hohen Palmen, die in Töpfen stehen, drapiert, Sonnenschirme spenden Schatten und wir haben unverschämtes Glück, dass gerade ein Tisch frei wird. Die meisten Gäste haben gleich mehrere Einkaufstüten neben ihren Tischen stehen und lassen sich Cocktails, Eisgetränke oder Kaffee schmecken. Viele haben auch etwas zu Essen bestellt. Ich sehe diverse Leute Salat oder Burger essen. Ein Blick auf die Speisekarte auf unserem Tisch klärt mich über die diversen Vorspeisen, Salate und die warmen Gerichte auf. Für die Cocktails gibt’s eine separate Karte.
„Ich weiß eh schon, was ich nehme“, lässt Freya verlauten und in mir kocht die Unsicherheit immer weiter auf. Der Geruch von frischen Pommes und Hähnchenspießen bringt mich schier um den Verstand!
„Eigentlich komm ich gerade vom Essen“, bleibe ich tapfer und stecke die Essenskarte zurück in den Ständer. Eine Bedienung kommt an unseren Tisch gehuscht und räumt die beiden Gläser der ehemaligen Gäste weg.
„Möchtet ihr schon bestellen?“, fragt die junge Frau mit der perfekten Urlaubsbräune und dem Pferdeschwanz. In ihrem weißen T-Shirt erinnert sie mich mehr an eine Fitnesstrainerin als an eine Kellnerin. Freya bestellt sich einen alkoholfreien Caipirinha und ich hab weder eine Ahnung, was da drin ist, noch was ich selbst nehmen soll.
„Das gleiche, bitte“, entscheide ich also aus der Not heraus und lächele.
„Gute Wahl!“, grinst Freya sofort zurück. Die Bedienung schwirrt wieder ab und ich lehne mich entspannt zurück. Wenn ich das Gleiche nehme wie Freya, laufe ich sicher keine Gefahr, übermäßig fett zu werden. Andererseits, vielleicht ist Freya heute auch schon eine halbe Ewigkeit joggen gewesen...
„Timo meinte, du findest deinen Kunstkurs so scheiße?“ Freya grinst immer noch und ich muss mit den Augen rollen.
„Hör bloß auf! Was da für Leute drin sind... Und dann hab ich auch noch so einen dämlichen Platz abbekommen. Am liebsten würde ich den Kurs wechseln!“
„Aber das passt wahrscheinlich nicht?“
„Nee, leider nicht.“ Zu der Zeit, in der der andere Kunstkurs stattfindet, hab ich Französisch. Und den Kurs kann ich auch nicht wechseln, ohne wieder etwas anderes wechseln zu müssen. Also kein Entkommen in Sicht! Wieso musste ich auch Französisch behalten? Klar, die Sprache gefällt mir, aber die anderen in meiner Clique haben entweder Französisch Leistungskurs oder Spanisch oder stecken zu der Zeit in einem Englisch Grundkurs.
„Wer ist denn in deinem Kunstkurs alles drin?“
Ich nenne ein paar Namen und beschreibe diejenigen, die ich nicht mit Namen kenne. Doch spätestens als ich Freya meine Sitzsituation erläutere, hat sie vollstes Verständnis für meine miese Laune.
„..und diese eingebildete Denise nervt auch nur rum und fragt ständig, wo ich was gekauft hab. Will die sich den Inhalt meines Kleiderschranks nachkaufen, oder was?!“
„Bestimmt! Und dann stellt sie's auf ihrem youtube-Kanal vor!“, lacht Freya und ich bekomme plötzlich große Augen.
„Die macht youtube?“
„Ja, so ein fashion Kanal für Plus Size Mode und Make-up, so weit ich weiß. Hab's mir nicht angeguckt, weil...!“, bedeutungsschwanger deutet Freya auf sich. Dass sie bei ihrer Figur keine Plus Size Mode braucht, versteht sich von selbst. Aber ich bin echt fassungslos!
„Die setzt sich so vor eine Kamera?!“ So fett wie sie ist? Ich hab ja früher alles getan, um meinen Speck zu verstecken. Wie kann man nur hingehen und sich mit solchen Ausmaßen der ganzen Welt auf dem Silbertablett präsentieren? Findet Denise ihr Übergewicht etwa auch noch gut?
„Nun ja, muss sie ja selbst wissen, ne?“ Freya nippt an ihrem Cocktail, der zwischendurch serviert worden ist.
„Aber was soll denn das? Ich mein, Übergewicht ist doch total ungesund! Die ist doch kein gutes Vorbild. Mode hin oder her, ich finde, die sollte lieber eine Diät machen.“ So wie ich's auch ständig versucht habe! Ja, ich hab es wenigstens versucht. Ich hab nicht einfach irgendwelchen Leuten erzählt, wie sie sich anziehen sollen. Ich hab was geändert in meinem Leben! Oder eher die Lungenentzündung hat was geändert in meinem Leben. Jedenfalls, ich find Denise mega verantwortungslos. Bestimmt hat sie auch jüngere Zuschauer, die jetzt alle denken, fett zu sein ist gar nicht so schlimm. Haben die eine Ahnung! Fett zu sein ist die Hölle!
„Sie müsste aber ganz schön lange Diät halten“, kichert Freya fies. „Aber wenn man sich mal anguckt, was die meisten Leute in der Schule so in sich rein fressen... Du isst das Zeug ja auch nicht, was sie bei uns in der Cafeteria verkaufen.“
Freya ist das also aufgefallen. Ich nicke stolz und möchte gerade etwas sagen, als sich jemand hinter Freya stellt.
„Du isst ja sowieso nur, was gerade Trend ist. Bist du eigentlich noch Veganerin?“
Verschreckt wirbelt Freya halb in ihrem Stuhl herum und schaut in ein uns beiden bekanntes Gesicht. Es ist der Kerl aus meinem Kunstkurs, der seinen Rucksack über den halben Tisch geschmissen hat.
„Was geht’s dich an, Mika?!“, blitzt Freya ihn feindselig an. Ihre gesamte Mimik hat sich in ein steinhartes Schild verwandelt.
Mika indes schiebt die Hände in die Taschen seiner legeren Shorts. Dadurch, dass er eine Pilotenbrille trägt, kann ich seine Augen nicht sehen, aber ihn scheint Freyas Hass ziemlich kalt zu lassen.
„Seit wann darf Mann kein Interesse mehr an seiner Ex haben?“
„Seit diese Ex dir gesagt hat, dass du sie in Ruhe lassen sollst!“
„Ach ja, weil ich dich beim Erbsenzählen gestört hab. Oder waren's Karotten?“
Mit einem genervten Stöhnen wendet sich Freya von Mika ab. Was für ein blöder Fatzke! Kein Wunder, dass Freya ihn in den Wind geschossen hat. Der nimmt ja nie Rücksicht auf seine Umwelt. Das hat die Aktion mit dem geschmissenen Rucksack ja schon gezeigt. Freya hatte also garantiert beste Gründe, Schluss zu machen!
„Freya“, versucht es Mika erneut und klingt jetzt gar nicht mehr amüsiert. Flink schnappt er sich einen unbesetzten Stuhl vom Nachbartisch und sitzt plötzlich genau zwischen uns.
„Komm mit rüber. Lass uns was trinken und noch mal red-“
„Nein.“
Mika seufzt und schaut mich an: „Sie könnte bei meinem Dad im Café alles umsonst bekommen, Eis, Crepes, Kuchen. Aber nein, sie sitzt hier...“
„Ja, ich sitze hier, weil ich dir nicht begegnen will! Und jetzt zisch ab!“ Mit verschränkten Armen starrt Freya nach wie vor bitterböse vor sich hin. Mika macht aber auch einen auf spendabel. Wahrscheinlich frisst sich sein ganzer Freundeskreis immer umsonst bei seinem Vater durch, der deswegen horrende Verluste macht.
„Du bist doch bei mir in Kunst, ne?“, wendet sich Mika ein weiteres Mal an mich. „Siehst du da vorn das Café, wo 'Eis vom Konditormeister' dran steht? Sag bei deiner Bestellung einfach, dass du mich kennst. Dann ist's gratis.“
„Ähm-“
„Hör auf, Louisa zuzutexten.“
„Just saying!“, hebt Mika unschuldig die Hände. „Ein Eis könnte euch beiden nicht schaden. Vor allem dir nicht, Freya.“
Bevor Freya noch mal unhöflich werden kann, entscheidet Mika, dass es allerhöchste Zeit für ihn ist, zu gehen.
„Blöder Wichser“, zischt es mir von der gegenüberliegenden Tischseite entgegen, kaum dass Mika außer Hörweite ist. Die beiden Studentinnen am Nebentisch flüstern sich etwas zu und können nur mühsam ihr Kichern unterdrücken.
„Mit dem warst du zusammen?“ Optisch kann ich mir die beiden zwar miteinander vorstellen, aber sonst?
„Die Betonung liegt hier auf war!“
Nickend erinnere ich mich, dass Freya am Montag auch nicht gerade begeistert aussah, als Mika und die anderen Jungs sich in der Aula in die Reihe vor uns gesetzt haben. Das ist wohl der Nachteil, wenn man mit jemandem aus der gleichen Schule zusammen war: man begegnet sich dort beinahe täglich wieder.
„Hast du zufällig auch so einen blöden Ex?“ Interessiert hebt Freya eine Braue. Mir bereitet die Frage sogleich einen trockenen Mund. Als ob ich je einen Freund gehabt hätte! Kein Junge der Welt hat sich für Louisa das Walross interessiert. Und auch jetzt sieht die Lage nicht anders aus. Aber zugeben, dass ich eine ungeküsste Jungfrau bin, möchte ich auch nicht...
„Ja, wir waren aber nur ganz kurz zusammen, dann hab ich Schluss gemacht. Er war echt nicht zu ertragen!“ Bei dem 'nur ganz kurz zusammen' weiß Freya ja gar nicht, ob ich mit dem Kerl (den es gar nicht gibt) tatsächlich bis zum Äußersten gegangen bin und ich werde auch nichts dazu sagen!
„Tja, da denkt man, die Kerle mögen einen und sobald man mit ihnen zusammen ist, wollen sie, dass alles so läuft, wie sie's gerne hätten. Mika hat mir in alles reingeredet! Er wollte mir sogar das Joggen verbieten!“
„Wie bitte?“
„Ja, der hat sie einfach nicht mehr alle!“ Anscheinend hat Mika Freyas ganzes Leben kontrollieren wollen. Was für ein Freak! So kann man doch nicht mit einem Menschen umgehen!
Freyas rechte Hand mit den lackierten Nägeln angelt sich die Speisekarte aus dem Ständer, während ich mir weitere Horrorgeschichten über Mikas Kontrollwahn anhören muss. Als die Kellnerin das nächste Mal in Reichweite ist, bestellt Freya einen weiteren Cocktail und ein Sandwich. Mir hängt der Magen mittlerweile in den Kniekehlen, aber ich bleibe auch weiterhin stark. Ich muss einfach! Mit der Hand stütze ich meinen schweren Kopf ab, derweil Freya das überaus köstlich aussehende Sandwich mit Käse isst. Sie ist also keine Veganerin. Hoffentlich quatscht mich dieser Mika nie wieder so blöde von der Seite an. Der will doch nur über mich wieder an Freya rankommen...
Etwa eine Stunde später ist es immer noch brennend heiß und die Stimmung an unserem Tisch ist gänzlich im Keller. Seit Mika aufgekreuzt ist, scheint Freya gar keine rechte Lust mehr auf einen schönen Abend zu haben. Wir lachen und reden zwar über dieses und jenes, aber sie scheint in Gedanken ganz woanders zu sein... Es wundert mich dann auch nicht, als sie irgendwann den Mundwinkel verzieht und mir mitteilt, dass sie sich nicht wohl fühlt und lieber nach Hause gehen würde. Das Wetter eben.
Ich verstehe das. Immerhin flirren mir auch die Sinne und ich muss mich permanent umschauen, weil ich mich beobachtet fühle. Mikas Auftritt hat mir schmerzlich bewusst gemacht, immer zu fett für Jungs gewesen zu sein. Dass ich Freya belüge, war auch nicht geplant. Aber ich wollte nicht eingestehen, dass ich nicht liebenswert bin... Trotzdem sehen das die meisten Leute sicher auf Anhieb. Sie sehen meine wabbeligen Arme und meine speckigen Oberschenkel und die Wulst an meinem Bauch, die ich krampfhaft hinter meiner Handtasche zu verstecken versuche.
Nachdem Freya und ich uns verabschiedet haben, gehen wir in entgegen gesetzte Richtungen. Freya möchte im nahe gelegenen Supermarkt, der auch am Wochenende bis spät abends geöffnet hat, noch etwas besorgen. Ich gehe einfach den gleichen Weg zurück, den wir eben auch gekommen sind. Doch als ich an dem Eiscafé vorbei komme, werde ich automatisch langsamer. Auch hier sind die meisten Tische besetzt und die Selbstabholer am langen Eistresen stehen Schlange.
Wann hab ich eigentlich zuletzt ein Eis gegessen?
Das ist schon ein Weilchen her, obwohl wir Sommer haben. In meiner alten Heimatstadt war direkt zwei Straßen weiter eine Eisdiele und entsprechend häufig hab ich mir dort an heißen Tagen ein Eis mitgenommen. Meistens drei Kugeln mit Sahne, die ich aufhatte, bevor ich Zuhause war. Die Erinnerung an diese süße Erfrischung lotst mich näher an den Verkaufstresen. Ich kann die kleinen Schildchen mit den Namen der Eissorten lesen. Neben den Standardsorten wie Vanille, Schokolade und Erdbeere, gibt es auch ein paar hauseigene Kreationen wie zum Beispiel das knatschgelbe Brause-Eis mit den bunten Perlchen oder das Marzipan-Pistazien-Pralinen-Eis. Bei einem der Schildchen gerate ich jedoch ins Stocken und muss noch einen Schritt näher herantreten. Da steht doch nicht wirklich...?
Doch!
Auf einem der Schildchen steht Freya. Ich kann's echt nicht fassen! Heißt das etwa, Mika hat eine Eissorte für Freya kreiert?!
„Hey, Schönheit!“, reißt mich ein lauter Begeisterungsruf aus meinem tranceähnlichen Zustand. Die Stimme erkenne ich auf Anhieb: Timo! Er winkt mir auffällig von einem der Tische im Eingangsbereich zu. Timo ist selbstverständlich nicht alleine, Daniel ist auch da. Bevor ich mich versehen kann, falle ich erschöpft auf einen Stuhl an ihrem Tisch. Die Sonne macht mich heute echt fertig!
„Was 'n Zufall!“ Hocherfreut beugt sich Timo über den Tisch, um mich zu umarmen. „Ich hab noch überlegt, ob ich dich fragen soll, ob du dich mit uns treffen willst!“
„Ja, das hat er sich dann aber so lange überlegt, bis wir hier saßen und du vorbei gelaufen bist“, merkt Daniel undeutbar an. Mir ist das gerade reichlich schnuppe. Ich bin froh, sitzen zu können. Dass man mir eine Eiskarte unter die Nase schiebt, nehme ich nur am Rande wahr. Die Jungs haben auch noch nichts bestellt, aber das ändert sich, als der Kellner neben uns tritt. Timo nimmt ein großes Spaghettieis, Daniel einen Krokantbecher und ich weiß nicht, was meiner Zunge einfällt, aber sie bestellt ohne mein Einverständnis einen Yogurettebecher.
Eigentlich sollte ich nicht mal hier sitzen, oder? Nachdem ich weiß, was Mika für ein Mistkerl ist, kann ich doch nicht einfach mit Timo und Daniel Eis im Café seines Vaters schlemmen. Wenn Freya das wüsste...! Aber die Eisbecher sehen nicht nur phantastisch aus, sondern schmecken auch noch vorzüglich. Ich versuche, die Sahne zu umschiffen und nehme mir felsenfest vor, nur ein paar Löffel Eis zu essen, doch der Plan geht wieder nicht auf. Es ist wie gestern Abend. In mir haust eine Bestie und die hat Blut geleckt. Dass Timo und Daniel mich mit ihren Erzählungen ständig zum Lachen bringen, ist wenigstens ein Pluspunkt. Doch als ich den letzten Rest Eis aus meinem Becher kratze, holt mein schlechtes Gewissen mich wieder ein.
Louisa, du bist so ein fetter Versager! Kannst du dich nicht wenigstens an einem einzigen Tag zusammen reißen?
Innerlich bin ich den Tränen nahe. Wieso nur? Wieso bin ich diesen leckeren Dingen so hilflos ausgeliefert? Wieso hab ich nicht das geringste Bisschen Selbstbeherrschung? Ich will kein Slave des Essens sein!
„..wir könnten ja nächstes Wochenende mal ins Freibad?“
Plötzlich kleben zwei Augenpaare erwartungsvoll an mir. Den Kopf hebend, realisiere ich allmählich, was Timo da vorgeschlagen hat. Freibad. Schwimmen. Badeanzug.
Oh Gott! Mein unförmiger Körper in einem hautengen Badeanzug? Nie und nimmer!
„Sorry, ich komm nicht mit. Ich hab eine Chlorallergie!“
„Oh, shit. Dann kannst du ja nie schwimmen gehen?“ Timo ist echt entsetzt. „Wie scheiße ist das denn bitte?! Vor allem bei dem Wetter!“
„Ja, kann man halt nichts machen“, zucke ich mit den Schultern.
„Emily kommt aber auf jeden Fall mit! Sie ist doch so eine Wasserratte“, erinnert Daniel an die Existenz seiner Schwester, aka Timos feste Freundin. Timo scheint gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, sie einzuplanen...
In meinem Bauch rumort das Eis als kühler Brocken, mit dem mein Körper nicht umzugehen weiß. Unbehaglich rücke ich auf meinem Stuhl hin und her, aber ich hab ein sehr schlechtes Gefühl in der Magengegend. Also greife ich in meine Tasche und schaue auf mein Handy.
„Sorry, Jungs. Ich muss los. Bei uns wird heute Abend gegrillt und ich hab meiner Ma versprochen, ihr bei der Vorbereitung der Salate zu helfen.“ Erstunken und erlogen, doch weder Daniel noch Timo ahnen das. Stattdessen beneiden sie mich um das Grillgut. Ich sehe zu, dass ich schleunigst die Verabschiedung hinter mir bringe. Mein Bauch krampft so arg, dass ich kaum mehr ein Lächeln zustande bringe. Die Rückfahrt mit dem Bus wird so zur reinsten Qual und als ich Zuhause ankomme, rase ich die Treppe hoch und schaff's gerade noch rechtzeitig auf die Toilette. Die Hitze in Kombination mit den süßen Cocktails, der fettigen Sahne und dem süßen Eis haben bei mir für Durchfall gesorgt.
Die nächste Woche fliegt wie im Flug an mir vorbei. Sonntag hab ich mich nur von ein bisschen Zwieback und Tee ernährt, was meine Ma anstandslos toleriert hat, nachdem ich ihr von meinen Magenproblemen erzählt habe.
„Hoffentlich wird’s keine Magen-Darm-Grippe“, meinte sie noch besorgt und hat mich in meinem Schonkostessverhalten nach allen Regeln der Kunst unterstützt. Meinem Bauch ging's dann tatsächlich auch etwas besser, aber Vorsicht ist ja bekanntlich besser als Nachsicht. Also hab ich auch zu Anfang der Woche noch so ziemlich alles Essbare weitläufig umschifft. Meine Ma hatte mir eine einfache Brühe gemacht, in der nicht mal Nudeln schwammen. Die erschien mir akzeptabel, trotzdem hab ich's bei einer kleinen Portion am Tag belassen.
Die fettige Soße, die's dann am Mittwoch bei uns zur Pasta gab, hab ich auch noch vorsichtshalber weggelassen und langsam meine Penne gepickt. Es ist echt nicht leicht, sich köstliche Kräuter-Käsesoße zu verkneifen, wenn man darin am liebsten baden würde. Und selbstverständlich weiß ich, dass ich keine Magen-Darm-Grippe habe, sondern mein Körper einfach nicht mit all dem Fett und Zucker am Samstag zurecht kam. Aber ein Positives hatte die Sache: Die Waage hat mich mit knapp 700 Gramm weniger belohnt! Ich hoffe, das geht so easy weiter. Nur in der Schule muss ich echt aufpassen, denn ich hab leider nach wie vor keine genaue Ahnung, was ich bedenkenlos essen kann. Die warmen Gerichte sind prinzipiell ein Tabu. Keine zehn Pferde kriegen mich dazu, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu essen. Nachdem ich zu Beginn meiner Schulzeit so übers Kantinenessen hergezogen bin, wird meine Ma mir auch kaum glauben, dass ich plötzlich liebendgern fünf Mal die Woche in der Schule esse. Deswegen kann ich mich abends nicht einfach mit einem „Ich hab schon gegessen“ vom Tisch entschuldigen. Ab und zu kann ich das abziehen, so wie letzte Woche mit der Gemüselasagne. Da wird meine Ma sicher keinen Verdacht schöpfen. Am besten, ich erhöhe die Anzahl der auswärtigen Essen, indem ich ihr vorlüge, ich würde mit meinen Freunden auch schon mal mittags was an der Dönerbude oder bei dem Chinaimbiss in der Nähe futtern. So als Oberstufenschüler dürfen wir das Schulgelände ja verlassen.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hab ich katastrophal geschlafen. Der Grund? Der Sportunterricht! Nach der totalen Pleite letzte Woche sitzt mir die Angst in allen Knochen. Ich kann irgendwie gar nichts dagegen unternehmen. Okay, im Grunde mache ich ja was dagegen, indem ich weniger esse, abnehme und dann hoffentlich automatisch sportlicher werde, aber das braucht eben seine Zeit. Blöderweise hab ich aber keine Zeit, sondern jede verdammte Woche zwei Stunden Schulsport. Schon beim bloßen Gedanken ans Umziehen und meine Unfähigkeit fange ich fast an zu heulen...
„Schlecht geschlafen?“, fragt mich Timo auch, als ich in der 4. Stunde schon das keine Ahnung wie vielte mal gähne und mir die Augen reibe. Wir haben Biologie und ich hab sogar den Text gelesen und die beiden Aufgaben stichpunktartig beantwortet, die wir zu heute machen sollten, aber ich kann mich überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ich kann das Gelesene nicht wiedergeben und ich schreibe deshalb nur still mit, was unser Lehrer an der Tafel notiert. Er stellt Fragen, Leute melden sich, er nimmt jemanden dran, redet rum und fügt dann einen weiteren Punkt zur Liste hinzu.
„Geht so“, murmele ich schließlich eine reichlich verspätete Antwort und hoffe, ich seh nicht so schlecht aus wie ich mich fühle. Timo scheint das Ganze ohnehin eher komisch zu finden.
„Was hast'n noch so lang gemacht gestern Abend?“
„Nichts.“ Mir ist überhaupt nicht nach Quatschen zumute, und dass ich leichte Unterleibsschmerzen hab, macht es nur noch unerträglicher. Mist aber auch, ich krieg bestimmt meine Tage. Würde genau hinkommen, wie mir gerade so einfällt.
„Machst du abends nie was? Außer mit meiner Wenigkeit chatten, natürlich.“
„Nee, also doch, klar. Wieso?“ Verwirrt blicke ich von dem Buchstabensalat auf meinem Block auf und treffe zwei funkelnde, braune Augen an. Timo sieht aus, als würde er gleich den ewigen Weltfrieden verkünden. Zumindest hat er irgendwas vor, das erkenne ich an seinem verschmitzten Lächeln und an seiner Aura. Die platzt beinahe vor Aufregung.
„Aber morgen Abend hast du noch Zeit, oder?“
„Ja, warum?“
„Dachte, wir könnten vielleicht ins Kino gehen.“
Mir ist nicht bewusst, ob das eine Frage ist oder schon beschlossene Sache. Aber selbst wenn's eine Frage wäre, ablehnen könnte ich nicht, weil ich kein Wort rauskriege und Timo stattdessen einfach nur überwältigt anstarre.
Er will mit mir ins Kino gehen.
ER WILL MIT MIR INS KINO GEHEN!
Eine Hitzewelle schlägt über mir zusammen und raubt mir die Luft zum Atmen, obwohl ich genau am Fenster sitze und heute sogar eine leichte Brise weht. Mein übermüdetes Herz rast plötzlich wie verrückt und droht mir durch die Rippen zu brechen. Dass Timo sich ein Stückchen weiter in meine Richtung beugt und mir zuflüstert, welche Filme neu angelaufen sind, macht's nicht besser. Sein Atem ist eine warme Ohrfeige, die ich nicht verdauen kann.
Hilfe...
Wir sind doch nur Freunde!? Also, für ihn bin ich definitiv nur irgendeine Freundin, aber ich bin mir gerade gar nicht mehr so sicher, wohin all das noch führen soll. Schon von Anfang an war ich seine viele Aufmerksamkeit nicht gewöhnt; einfach weil ich positive Aufmerksamkeit von Jungs generell nicht gewöhnt bin. Ich muss aufpassen, sonst–
Nein.
Es wird gar nichts passieren. Louisa, bleib realistisch. Der Typ steht nicht auf dich. Der sucht sicher nur jemanden, der sich mit ihm einen dieser Streifen anguckt, weil keiner seiner Freunde Bock drauf hat. Aber wenn's so einfach ist, wieso hab ich dann trotzdem Herzklopfen? Wieso fühle ich mich so furchtbar befangen? Wahrscheinlich nur Hormone oder die Hitze oder beides zusammen. Rasch ziehe ich meine Wasserflasche aus meiner Tasche und nicke alles ab, was Timo sagt. Uhrzeit, Treffpunkt, Film. Ist mir alles recht. Eine Verabredung am Abend bedeutet, ein Abendessen weniger mit meiner family. Ich muss es so sehen. Timo tut mir einen unglaublichen Gefallen, auch wenn er's nicht ahnt.
„..Vielleicht möchte ja jemand aus der dritten Reihe Frage zwei beantworten?“ kratzt sich die heisere Stimme unseres Fossils von Biologielehrer in meine Wahrnehmung. Timo wendet sich überrascht von mir ab und tut so, als würde er ganz beschäftigt durch seine Unterlagen gehen.
Herrn Försters Blick beginnt uns zu sezieren, woraufhin ich mich räuspere und einfach vorlese, was ich Zuhause fabriziert habe. Offenbar war das mehr, als er erwartet hat, denn als ich fertig bin, nickt er überaus zufrieden.
„Sehr gut, Louisa. Warum meldest du dich nicht einfach direkt?“
Darauf weiß ich natürlich keine Antwort. Vielleicht war's auch gar keine Frage, sondern bloß eine Aufforderung, mein künftiges Verhalten zu ändern. Das Bizarre ist, dass ich offen gestanden noch immer keine Ahnung habe, worum es in der heutigen Stunde geht. Ich habe Worte vorgelesen, deren Sinn mir verschlossen geblieben ist.
„Danke für die super Rettung“, wispert Freya vom anderen Ende der Tischreihe. Offenbar war sie eben auch etwas abgelenkt. Ich nicke wieder nur freundlich und kapiere bestimmt nicht mal, dass alles, was ich in dieser Stunde mitgeschrieben habe, genau das gleiche ist, was ich schon Zuhause notiert habe. Ich bin so dumm. Ich kann nicht klar denken. In meiner Tasche lauert mein Frühstück auf mich, ein hinterhältiger Proteinriegel, den ich mir gestern in der Drogerie gekauft hat. Protein ist gesund, also dachte ich mir, ich probier das mal. Und die Kalorienangabe hat mich schlussendlich überzeugt, den Riegel in meinen Einkaufskorb zu legen. Die Zahl muss immer klein sein. Alles unter 100 Kalorien ist super für die Schule. Etwas, das die 100 übersteigt, nehm ich aus Prinzip schon nicht mit.
Ich wünschte, ich wüsste, wie Freyas Ernährungsplan aussieht. Sie hat oft geschnipseltes Obst oder Gemüse dabei, manchmal auch ein kleines Reisbällchen, eine Reiswaffel oder einen gemischten Salat. Niemals irgendwelche Zuckerbomben oder ein normales Butterbrot. Und ihr Salat hat auch nie ein Mayodressing. Das ist mir auch aufgefallen. Macht ja auch Sinn, aber früher hab ich darüber nie nachgedacht. Für mich war es total selbstverständlich, dass es Kartoffel-, Nudel- oder Krabbensalat immer nur mit so einem fettigen Mayodressing gibt. Schmeckt ja auch super, aber gerade kommt mir fast die Galle hoch, wenn ich nur dran denke.
Meine schlechte Form hält an, obwohl ich mir den recht eigenwillig schmeckenden Proteinriegel genehmige. Wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn am liebsten in die Tonne kloppen, aber der lange Tag macht mich total fertig. Im Sport hetze ich dem Federball hinterher wie ein Lahmer einem Sprinter, der die Goldmedaille gewonnen hat. Freya sagt nichts zu meiner schlechten Leistung, aber am anderen Ende der Halle höre ich es einmal kichern. Das galt doch garantiert mir. Mit dem Federball in der Hand stehe ich da, muss Aufschlag machen und kann mich nicht überwinden. Habe die Hoffnung, dass wenn ich mich nicht bewege, nichts tue, ich verschwinde. Ich nicht mehr relevant fürs Geschehen bin. Aber das funktioniert nicht. Es hat nie funktioniert...
Ich denke an Nudeln, die in Mayo schwimmen, an die Schokocroissants, die Daniel und Timo heute in der Pause gefuttert haben, und betrachte all die anderen Mädels in meinem Sportkurs. Die vielen wohl geformten Beine, die vielen filigranen Gestalten, Freyas durchtrainierter Bauch, den ich mir sogar mit geschlossenen Augen vorstellen kann.
Du musst unter die 60 Kilo kommen, du fettes Stück!
Ja. Ja, das werde ich. Kein wenn und aber!
Entschlossen schlage ich den Ball auf.
Freitag launt mich kaum besser als Donnerstag. Zwar bin ich einigermaßen ausgeschlafen, aber die Schmach verfolgt mich. Die Waage hat aus mir unerfindlichen Gründen sogar fast 200 Gramm mehr angezeigt heute früh, obwohl ich gestern wie ein Luchs auf meine Ernährung geachtet und sogar Sport gemacht habe. Wie kann das nur sein? Die Gewichtszunahme hat mein Gesicht verdunkelt und mich mit mieser Laune zur Schule fahren lassen. Die verfluchten 200 Gramm mehr kleben wie heißes Pech an mir, sind für jeden Menschen auch aus zig Metern Entfernung sofort erkennbar. Ich fühle mich rundum unwohl und das stete Ziehen in meinem Unterleib ist auch noch da. Super, so kenn ich's ja.
Timo hat nicht mehr von unserem Kinoabend gesprochen. Ich hoffe, ich hab mir alles richtig gemerkt. Heute Abend um 19h am Kaiserplatz, das Kino ist direkt um die Ecke. Ich erinnere mich auch an den großen Komplex. Ich hab ihn gesehen, als ich am Wochenende zu meiner Verabredung mit Freya gefahren bin. Nur welchen Film wir jetzt anschauen, weiß ich nicht. Timo hatte mehrere erwähnt, aber hat er einen für uns ausgesucht? Hat er Karten bestellt? Alles in mir möchte ihm am liebsten Absagen. Sorry, ich kann heute nicht. Siehst ja, dass ich aufgedunsen bin wie eine Wasserleiche. Aber ich trau mich nicht, ihm abzusagen. Nachher fragt er nie wieder nach einer Verabredung und das wäre...traurig.
Ja, traurig. Mittlerweile sitze ich im Kunstsaal und denke über das verdammte Dilemma nach. Es würde mich tatsächlich traurig machen, wenn heute Abend irgendwas schief läuft und wir danach nicht mehr befreundet wären. Ich muss echt aufpassen, dass ich's nicht versaue. Nur ein Mal im Leben muss ich soziale Kompetenzen beweisen, sonst kann ich mir Timos Freundschaft abschminken.
Apropos Schminke, ich verzweifle an dem Gedanken, was ich anziehen soll und wie ich mich stylen soll. Haare auf? Ist praktischer, wenn man sich im Sitz zurücklehnt. Ich hasse es, wenn man die Haare zusammen gebunden hat und einem das Haargummi immer in den Hinterkopf sticht. Aber es ist so warm draußen. Andererseits wird das Kino ja klimatisiert sein.
Und was esse ich, wenn ich meiner Ma sage, dass ich mit Timo esse, und wenn ich Timo sage, dass ich schon Zuhause gegessen habe?
Gar nichts wirst du essen! Wie willst du denn sonst abnehmen?!
Ein Blick auf meine App verrät mir, dass ich auch heute wieder super diszipliniert war. Bisher hab ich nur eine Kiwi und eine Reiswaffel gegessen, aber blöderweise einen Cappuccino getrunken. Keine Ahnung, wie viele Kalorien der hatte. War ja Milch drin, aber irgendwie war mein Kreislauf so down, dass ich dringend was Koffeinhaltiges brauchte. Ich wollte ja schwarzen Kaffee nehmen, aber als ich dann am Automaten stand, hat mein Finger den anderen Knopf gedrückt. Einfach so... Ich wünschte, ich könnte meinen Körper besser kontrollieren...
Am Lärm aus dem Flur erkenne ich haargenau schon, wer hier gleich zur Tür reinspaziert. Ich staune jedoch nicht schlecht, als ich neben dem eingebildeten Jungentrupp und den drei Tussen auch noch Marina sehe. Ihr Haar hängt mal nicht wie ein totes Tier in einem Pferdeschwanz, sondern scheint frisch geschnitten, und in ihren Ohren glänzen kleine Silberstecker. Während Denise mal wieder über irgendwas palavert, trabt Marina artig neben ihr her und nickt wie ein Wackeldackel. Das kann doch echt nicht wahr sein!
„Hi!“, lässt sich Denise flötend am Tisch nieder und ich packe mein bestes Fake Smile aus.
„Hey, ihr!“
Marina grüßt mich ebenfalls und sogar Mika wagt es, mir zuzuwinken. Mein Lächeln bleibt eisern. Diesem Freak wink ich in hundert Jahren nicht zurück. Aber meine Feindseligkeit interessiert ihn einen feuchten Kehricht. Er plappert eh mit einem seiner Kumpels, und Mr. Man-Bun fehlt. Ist er spät dran oder etwa krank? Heute hatte ich noch gar keinen Kurs mit ihm, also weiß ich nicht, ob er überhaupt in der Schule aufgetaucht ist.
„Hast du schon gesehen, Louisa? Marina hat sich überwunden!“ Stolz zeigt Denise auf die Ohrstecker, und Marina errötet ganz verlegen.
„Ohne dich hätt' ich mich doch nie getraut“, säuselt sie Denise zu. Mir wird postwendend schlecht. Marina hat doch wohl nicht vor, Denise2 zu werden? Aber dafür hat die doch gar nicht das Selbstbewusstsein! Von der großen Fresse ganz abgesehen.
„Super! Find ich klasse, dass du jetzt auch Ohrringe hast. Pass aber auf, dass sie nicht einwachsen. Gerade wenn man frisch gestochene Ohrlöcher hat, passiert das ja leider super schnell. Und das tut dann echt übelst weh.“ Mein Kommentar trifft genau ins Schwarze. Marinas Röte wird von einer ängstlichen Blässe gefressen.
„Ich hab's extra bei einem Juwelier machen lassen! Da wird sich nichts entzünden oder so. Hoffe ich zumindest.“
„Keine Sorge, wird schon schief gehen. Ich hab in jedem Ohr mehrere Löcher und da ist noch nie was eingewachsen“, verteilt Denise direkt eine verbale Beruhigungsspritze und Marinas angespannter Körper sackt wieder in seine gewohnte Haltung.
Denise und Marina driften ab in ein Gespräch über Ohrringe, dann Piercings und schließlich landen sie bei Tattoos. Zwischendurch klingelt es und ein völlig abgehetzter Mr. Man-Bun schafft es gerade noch rechtzeitig zum Unterricht. Er überholt unsere Lehrerin quasi, als diese den Kunstsaal betritt.
„Auf den letzten Drücker!“, kommentiert diese absolut passend.
Ich frag mich automatisch, was denn los ist und komme nicht umher, Mr. Man-Bun dabei zu beobachten, wie er Platz nimmt. Wenn ich mit ihm ins Kino gehen würde, welchen Film würde er wohl für uns aussuchen? Einen Horrorstreifen? Ein Actionfilm? Na bestimmt keine romantische Komödie. Aber ich kann mir trotzdem nur all zu gut ausmalen, wie es wäre, im dunklen Vorstellungsraum neben ihm zu sitzen, den Geruch seiner Lederjacke und seines Aftershaves zu inhalieren und hoffentlich viel zu lachen. Er ist sicher mehr der Nacho-Typ als der Popcorn-Esser. Weiß der Himmel, wie ich so drauf komme, aber ich seh die Schale Nachos mit Salsa-Soße quasi in seinen Händen. Und dann würde er mir natürlich auch Nachos anbieten und ich würde ablehnen.
„Wirklich nicht?“
„Danke, aber ich bin noch pappsatt vom Essen vorhin.“
Sein Schulterzucken geht in meinen Körper über, dann höre ich ihn die Nachos zercrunchen, während ich an meiner Cola light nippe.
„Letzte Chance!“, hält er mir noch einmal die Nachoschale hin, als sie fast leer ist. Und ich bin wahrhaftig versucht, zuzugreifen. Nur ein Nacho, nur ein einziger. Ich liebe Nachos, vor allem mit Käsesoße, auch wenn ich sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gegessen habe. Wie viele Kalorien hat ein Nacho eigentlich? Ist doch sicher mit einem Chip vergleichbar und Chips sind in fett frittierte Kartoffelscheiben, also ein totales NoGo! Trotzdem möchte ich, dass meine Hand zugreift. Dass ich essen kann, genießen kann. Und Mr. Man-Buns Augen treffen mich, von der anderen Seite des Raums, und bleiben offenherzig an mir hängen – weil ich ihn anstarre, hier im Kunstsaal! Mitten im Unterricht!
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Brett am Kopf und knipst meinen Verstand komplett aus. Panik fährt in mir hoch. Ich weiß nicht, was ich tun soll und hasche deswegen nervös nach meiner Mappe, packe Stifte aus, die ich nicht brauche, öffne meine Kunsttasche und stiere die Skizze auf dem weißen Blatt an.
Warum starrt er mich an?
Nein. Die Frage ist falsch gestellt: Warum starre ich ihn an?
Na weil er nicht pünktlich war! Nur deswegen!
Aber wieso muss ich mir dann gleich zusammenspinnen, wie es wäre, mit ihm ins Kino zu gehen? Er mag mich nicht, ich mag ihn nicht und überhaupt, ich bin mit Timo verabredet! Das muss mir doch genügen. Damit muss ein Mädchen wie ich zufrieden sein. Ich kann nicht erwarten, dass sich der Kerl für mich interessiert, den ich attraktiv finde.
Mein Bleistift bricht ab, so fest drücke ich ihn bei dem letzten Gedanken aufs Blatt.
Attraktiv.
Ja, ja ich geb's doch zu, Mr. Man-Bun ist attraktiv, aber es gibt viele attraktive Kerle an dieser Schule. Trotzdem lauf ich nicht jedem mit ausgestreckter Zunge hinterher und mach mich zum Affen. Vor Mr. Man-Bun hab ich mich sogar schon zu einem solchen gemacht, also werde ich tunlichst jede Situation meiden, die mich erneut entblößen könnte.
Fahrig lese ich die abgebrochene Bleistiftmine auf und linse über den Tisch, wo Marina bereits eine zweite Skizze anfertigt. Die von letzter Woche gefällt ihr aus mir unerfindlichen Gründen nicht mehr. Leise stehe ich auf und werfe beim Gang zum Mülleimer einen genaueren Blick auf Marinas Arbeit. Das Mädchen kann echt gut zeichnen, das muss man ihm lassen. Unsere Aufgabe ist im Grunde auch ziemlich cool. Wir sollen ein berühmtes Kunstwerk auswählen und es dann in eine andere Epoche versetzen. Die Figuren und Gebäude bleiben natürlich in ihrer Grundformation erhalten, aber ihr Stil verändert sich. Reine Stillleben von Landschaften oder irgendwelchem Obst dürfen wir nicht benutzen. Marina hat irgendein kitschiges Gemälde mit halbnackten Frauen an einer römischen Quelle ausgesucht, aber an ihrer Skizze erkenne ich, dass sie die Frauen komplett umstylt und die Quelle offenbar in eine protzige Poollandschaft verwandelt. Sieht aus wie die amerikanischen 60er. Das wird definitiv 'ne eins, wenn's fertig ist. Jede Wette, Marina kann nicht nur super skizzieren, sondern auch mit Farbe umgehen? Ich fühl mich richtig unkreativ, als ich zu meinem Bild zurückkehre. Eigentlich wollte ich doch wieder eine der Besten in Kunst sein, aber mir ist plötzlich bewusst geworden, wie groß die Konkurrenz hier ist. Marina hat vielleicht keine bessere Figur als ich, aber womöglich sie so eine Streberin ist, die früher überall nur einsen kassiert hat. Nachher sticht die mich noch aus, obwohl sie so fett ist. Das darf echt nicht sein! Los, Louisa, streng dich an!
Die Aussicht auf starke Konkurrenz hat mich arbeitswütig gemacht. Folglich hab ich die Uhr nicht im Blick behalten und es versäumt, rechtzeitig einzupacken, damit ich noch den früheren Bus erwische. Als ich nun das Klingeln höre, läuft's mir eiskalt den Rücken runter, weil wir alle am Tisch gleichzeitig anfangen, einzupacken. Scheiße! Ich muss mich beeilen. Ich will auf gar keinen Fall mit Mr. Man-Bun gemeinsam auf den Bus warten. Weitere Blicke in seine Richtung hab ich mir zwar erfolgreich verkniffen, aber der Typ muss doch schon denken, dass ich ihn anhimmel. Anders interpretieren solche Kerle es doch sicher nicht, wenn ein Mädel sie anschaut.
Schnellstmöglich werfe ich meine Stifte und mein Radiergummi in mein Federmäppchen, packe meinen Block in meine Kunsttasche und verfrachte meine Wasserflasche in meiner Umhängetasche. Reisverschlüsse ratschen überall, Stühle scharren über den Boden, das Gewirr von Stimmen kommt mir abartig laut vor. Denise quatscht irgendwas von den weltbesten Pommes und erntet dafür kollegiale Begeisterung von einigen der Jungs. Aus allen Ecken wetzen Verabschiedungen durch den Raum, und ich stehle mich mit einem „Bye!“ davon.
„Willst du nicht auch mitkommen?“, hält mich Marinas leise Stimme plötzlich fest.
„...mitkommen?“, wiederhole ich perplex und Marina nickt.
„Ja, wir gehen noch 'ne Kleinigkeit essen. Denise meinte, sie kennt eine Frittenbude, wo sie original belgische Pommes verkaufen.“
Original belgische Pommes? Mit dem ganzen Haufen an grölenden Jungs, der hässlichen Marina, der aufgetackelten Denise und ihren zwei Busenfreundinnen? Niemals! Die können sich schön ohne mich den Wanst vollschlagen!
„Geht leider nicht, ich bin noch verabredet und muss jetzt echt los.“
„Oh.. na dann, nächstes Mal vielleicht?“
Schnell nicke ich mit einem möglichst authentischen Lächeln: „Bestimmt. Schönes Wochenende euch allen!“
Denise, die bis eben mit Mika gesprochen hat, scheint meine Verabschiedung gehört zu haben. Sie reißt sich aus dem Gespräch los und zwitschert mir noch ein „Ja, dir auch!“ hinterher, bei dem mir fast die Ohren platzen. Die Frau schreit, als wären wir schwerhörig. Gott, wie mich das alles nervt! Mein Lächeln erlischt, noch bevor ich mich gänzlich umgedreht habe. Diese blöde Marina hat mir kostbare Zeit geraubt! Der halbe Kurs ist bereits gegangen bzw. trottet jetzt vor mir den Flur entlang und lässt kein Durchkommen. Drängelnd versuche ich, mich an der linken Seite vorbei zu quetschen, aber die Mädchenclique vor mir bemerkt offenbar nicht, dass ich's eilig habe. Stattdessen spielt die eine irgendwas auf ihrem Handy ab und die anderen bilden eine ergebene Wand aus Zuschauern. Ich könnte echt ausrasten!
Als wir endlich durch den Haupteingang sind, eröffnet sich mir die Chance, die Tratschtanten zu überholen. Sofort wetze ich an ihnen vorbei und haste die Straße hinunter. Den frühen Bus kann ich mir von der Backe kratzen! Und als ich um die Ecke biege, trifft mich fast der Schlag: Mr. Man-Bun steht völlig relaxt an der vollen Haltestelle und guckt in die Luft. Wie hat der's denn bitte so schnell hier hin geschafft? Offenbar hat mich das Schwätzchen mit Marina doch länger aufgehalten, als gedacht. Na okay, wenn ich jetzt ganz langsam gehe, dann... Nein, es wird nicht klappen. Der nächste Bus kommt erst in etwa acht Minuten und in der Zeit hab ich diese Straße drei Mal abgelaufen, weil ich immer noch so voller Ärger bin, dass ich wie ein Stier voran presche.
„Hi“, ist jedoch alles, was ich mir abringe, als ich an der Haltestelle ankomme. Mr. Man-Bun grüßt mich natürlich zurück; das Lächeln guck ich mir aber nicht an. Ich tue einfach wieder so, als sei ich total mit meinem Handy beschäftigt und ich habe mich auch extra nicht direkt neben ihn gestellt, damit kein Gespräch aufkommt. Ich kann das alles nicht ertragen. Mich selbst und das Wissen, dass er mich hasst und hässlich findet.
Ich möchte gemocht werden.
Wenn ich erst richtig dünn bin, dann werden sich alle nach mir umdrehen. Dann werden sie mich alle mögen, und keiner wird mehr sagen „Igitt, was will die fette Kuh denn von mir?“.
Angespannt begradige ich die Schultern. Die drei Schüler, die zwischen uns stehen, unterhalten sich über das neuste Video von Lefloid, und ich scrolle durch meine Kontaktliste. Ob ich Timo anchatten soll?
„Endlich!“, meint plötzlich einer der Jungen zu meiner linken und ich höre den Bus vorfahren. Das waren doch niemals sieben Minuten!
„Ist der Bus zu früh?“, wundere ich mich laut und kassiere natürlich sofort eine besserwisserische Antwort von meinem Mitschüler.
„Nein, zu spät.“
„Wie jetzt?“, steige ich fragend hinter Mr. Man-Bun ein und wühle gestresst nach meinem Ticket. Mr. Man-Bun bleibt neben mir stehen und schaut mir dabei zu, wie ich mein Portemonnaie hervorkrame und dann endlich das Ticket zeige. Normalerweise hol ich's immer schon früher raus, aber dieses Mal hab ich ja gar nicht so früh mit dem Bus gerechnet! Der Busfahrer rollt nur mit den Augen, als wäre ihm mein Ticket scheißegal, und ich denk mir, ich hätte wahrscheinlich einfach so in den Bus stiefeln können.
Schlingernd fährt der Bus bereits an, während ich meine Sachen wieder einpacke und dann aufschaue, nur um zu sehen, dass Mr. Man-Bun uns einen Zweiersitz reserviert hat. Direkt vorne, eine Reihe hinter dem Busfahrer.
Ich stehe da wie angewurzelt, die rechte Hand am Reißverschluss meiner Schultasche und meine Kunstmappe unter den linken Arm geklemmt. Das meint er jetzt nicht ernst, oder? Nur mühevoll kann ich den Drang unterjochen, mich umzublicken und zu überprüfen, ob er wirklich mich meint. Aber da ich die einzige bin, die hier vorne noch rumsteht, gibt’s wohl keinen Zweifel. Außerdem kapier ich das mit dem Bus immer noch nicht. Wieso zu früh und dann doch zu spät?
Oh.
Nein, ich will wirklich nicht über meine Intelligenz nachdenken. Ich will auch nicht darüber nachdenken, dass ich, steif wie ein Breit, zögerlich neben Mr. Man-Bun Platz nehme. Es ist mir einfach nur mega unangenehm. Aber es wäre mir genauso unangenehm, ihn zu ignorieren, weil... keine Ahnung. Wenn ich mich selbst verstehen würde, wäre alles so viel einfacher.
„Lang nich' mit dem gleichen Bus gefahren“, meint er sachlich und ich nicke, den Blick auf meine Tasche gerichtet, die ich akribisch auf meinem Schoß drapiere.
„Haben wohl ziemlich unterschiedliche Stundenpläne.“
„Mhm.“
Ich kann das Leder seiner Jacke riechen. Ich kann ihn riechen. Aber das ist nicht das, was mich am meisten durcheinander bringt. Es ist seine Wärme, die mein Herz antreibt. Das ist es auch, was mich bei Timo immer den Halt verlieren lässt. Die Nähe, die Wärme eines anderen, eines männlichen Körpers. Bestimmt wär ich nicht so anfällig dafür, wenn ich schon mal einen Freund gehabt hätte. Dann wüsste ich sicher, wie man mit dieser hitzigen Beklemmung umgeht, die mein Blut aufkocht. Das ist doch nicht normal...!
„Hab gehört, du hast heute Abend 'ne Verabredung.“
Die Hitze beißt mir ins Gesicht wie eine Schar Flöhe. „Was für 'ne Verabredung?“ Alarmiert reiße ich das Kinn hoch und starre Mr. Man-Bun an, der diese Reaktion anscheinend gar nicht erwartet hat, sondern überrascht eine Augenbraue hebt.
„Na Kino.“
Er und ich im Kino? Mein Mund klappt auf und geht nur langsam wieder zu, als Mr. Man-Bun bestens informiert weiterspricht.
„Mit Timo.“
Achso, mit Timo. Natürlich. Was spinnt mein Kopf schon wieder?
„Ja“, nicke ich, „wir sind Freunde und schauen uns 'nen Film an. Ist doch wohl nicht verboten!“
„Right“, bestätigt er in seiner undeutbaren Art. „Was guckt ihr euch denn an?“
Wenn ich das mal wüsste... Aber weil ich ihm wohl schlecht sagen kann, dass ich keinen Plan habe, verliere ich ein „Ist doch wohl unsere Sache!“. Stimmt ja auch. Allerdings klang ich wohl ein bisschen sehr zickig, wie mir das unterdrückte Augenrollen meines Mitschülers verrät. Ich weiß echt nicht, warum wir überhaupt diese Unterhaltung führen. Insgeheim macht er sich doch nur über mich lustig, und egal, was ich tue oder sage, es wird nicht besser.
„Kommt Emmy auch mit?“
„Du meinst seine Freundin?“
„Ja.“
Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen! Bis jetzt war ich der felsenfesten Überzeugung, es handele sich um eine Verabredung zu zweit, weil er sonst niemanden für einen bestimmten Film hat gewinnen können. Doch was, wenn's gar nicht so ist? Wenn Timo seine Freundin und womöglich noch mehr Leute anschleppt?
Typisch ich. War ja klar, dass ich wieder davon ausgeh, dass die Sache was Besonderes ist. Dass es dabei wirklich um mich gehen könnte. Dass ein Kerl sich allen Ernstes mal mit mir alleine treffen würde. Du bist eben scheiße naiv!
„Kann schon sein“, flüstere ich mit dünner Stimme und fühle mich fett und verloren. So als würde ich wie ein Stück Butter zerschmelzen und einen widerlichen gelben See hinterlassen. Reines, stinkendes Fett. Denn ich bin nur Fett, Fett, Fett.
Vielleicht sollte ich Timo doch absagen? Die Option scheint mir von Minute zu Minute optimaler. Eine kurze Nachricht, eine kleine Lüge. Spontan krank geworden, Probleme mit dem Wetter, irgend so was eben. Aber dem gegenüber steht die Angst, dass er sich nie wieder mit mir verabreden möchte. Selbst wenn er mich heute nur 'vorführt'.
Oder hat er die Verabredung arrangiert, um mir seine Freundin vorzustellen? Aber davon war nie die Rede. Andererseits, mir ging's nicht gerade blendend gestern in Bio. Was, wenn ich's einfach überhört habe?
„Emmy und Timo sind nicht nur ein Paar. Die sind quasi auch beste Freunde.“
Dazu weiß ich nichts zu sagen, sondern nicke nur wieder. Nicht nur ein Paar, auch beste Freunde. Das bedeutet also, sie gehen durch dick und dünn und es gibt wohl nichts auf der Welt, was sie jemals trennen könnte. Aber als Timo vom Freibad gesprochen hat, hat er Emmy vergessen. Oder hat er sie gar nicht vergessen? War es für ihn dermaßen selbstverständlich, dass sie dabei sein wird, dass er sie gar nicht mehr extra erwähnt hat? Ist sein Denken schon so weit fortgeschritten, dass er seine Anwesenheit mit der ihren gleichsetzt?
Das könnte wirklich der Fall sein und würde nur bestätigen, dass das ganze Geflirte mit mir bloß ein total harmloses Spiel für ihn ist. Er weiß genau, wen er liebt. Er hat keine Angst, auch nur jemals abzurutschen. Und ich bin gewiss keine Konkurrenz zu Emmy. Ob sie auch rote Haare und Sommersprossen hat, so wie ihr Bruder? Vor meinem inneren Auge formiert sich das Bild einer blassen Schönheit, mit schlanker Taille und karottenrotem Haar. Eine Stupsnase, grün leuchtende Augen, hübsche Brüste. Ein schlichter Kleidungsstil; Jeans, Tank-Top, nur ein bisschen Wimperntusche. Wie ein Model, das einer irischen Reklame entsprungen ist. Klein, aber nicht auf den Mund gefallen. Ein Mädchen, das weiß, wie man anpackt und Spaß hat. Das abends mit Timo im Bett liegt, Chips oder Gummibärchen nascht und am morgen nur in seinem T-Shirt bekleidet herumläuft. Sie braucht kein großartiges Styling, sie ist eine Naturschönheit.
Ich bin verloren, denn ich bin gar nichts.
„Wie lang kennst du die beiden denn schon?“, lenke ich das Thema vom Kinoabend weg, obwohl es mich nicht interessiert.
„Den Timo seit der 5. Klasse. Mit Emmy ist er ja jetzt auch schon zwei Jahre zusammen. Also die ist auch immer dabei, wenn was steigt. Dann bringt er sie jedes Mal mit.“
„Ah“, nehme ich das zur Kenntnis. Merkwürdigerweise hängen Timo und Mr. Man-Bun aber nicht sehr viel miteinander rum in der Schule. Timo ist immer mit Daniel, Franz und dem Rest unserer Clique unterwegs. Mit den Jungs aus Mr. Man-Buns Clique redet er auch, sehr unbefangen sogar. Irgendwie scheint Timo eine Art an sich zu haben, die ihn überall dazu gehören lässt und keiner nimmt es ihm übel oder wertet ihn als einen weniger guten Freund, nur weil er nicht in jeder Pause neben einem steht.
„Was hast du dir eigentlich für Kunst überlegt?“ Ich will nicht mehr über Timo, Emmy oder Liebespärchen reden. Deswegen schwinge ich auf ein harmloses Schulthema um. Irgendwas muss ich ja sagen, sonst endet diese Busfahrt in bedrückendem Schweigen oder mir werden weiterhin unbequeme Fragen gestellt.
„Ich mal 'Das Frühstück der Ruderer' von Renoir um.“ Das Thema scheint Mr. Man-Bun echt zu gefallen, denn er geht sogleich weiter ins Detail und erzählt mir lang und breit seine Umgestaltungspläne, die tatsächlich ziemlich cool klingen. Auf das Endergebnis bin ich dann mal gespannt. Er könnte Marina glatt Konkurrenz machen. Gerade als ich vermute, Mr. Man-Bun würde jetzt nach meiner Idee für Kunst fragen, wirft er einen Blick auf die Anzeigetafel.
„Du kannst mir ja dann nächste Woche erzählen, was du dir ausgedacht hast. Ich muss hier raus.“
„Oh, klar, mach ich“, sage ich schnell und stehe auf, um ihn aus der Sitzreihe zu lassen. Mit Rucksack und Kunstmappe zwängt sich mein Mitschüler an mir vorbei, nicht ohne mir ein „Bis dann“ zuzuwerfen.
Als ich mich wieder auf den Sitz fallen lasse, fällt mir auf, wie sehr mich das kurze Gespräch gestresst hat. Ich bin total erschöpft, obwohl zum Ende hin alles glimpflich verlief. Nichtsdestotrotz weiß ich nicht so recht, was ich von dem Kerl halten soll? Er überschwemmt einen nicht gerade mit Enthusiasmus oder so. Sein Lächeln ist wohl gewählt, aber sein lächelloses Gesicht auch nicht unfreundlich, eher neutral. Wieso hat er sich jetzt überhaupt wieder mit mir unterhalten? Vielleicht wollte er nur noch mal nachprüfen, ob ich wirklich so hohl bin, wie zuletzt demonstriert?
Die Ungewissheit lässt mich tief seufzen und hält mein Herzklopfen am Leben. Dank meiner verschwitzten Hände ist der Riemen meiner Tasche schon ganz klamm. Ich sollte mir mal lieber Gedanken um heute Abend machen, statt mir ständig über Mr. Man-Bun den Kopf zu zerbrechen...
Texte: Meins! :)
Bildmaterialien: http://momentegehen.tumblr.com/
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2015
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