Cover

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Ich muss es tun...

 

 

 

gepostet am 10.03.2014 von LittleM

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Träge schiebt sich die Regenwolkenfront über den Himmel und stülpt dem März ein graues Kostüm über. Ab und zu spucken die Wolken einen dicken Tropfen aus, der auf dem grauen Asphalt zerschellt oder in einer der vielen Pfützen landet, die sich im Laufe der letzten Nacht gebildet haben. Nichts erinnert an Frühling oder erwachendes Leben. Es ist erbärmlich kalt, wie Marinja findet und den Kopf instinktiv tiefer zwischen die Schultern zieht. Ihre Beine sind schwer wie Blei und hinter ihrer Stirn thront Müdigkeit, die nie zu vergehen scheint. Eigentlich sollte sie jetzt in der Schule sitzen, aber sie schwänzt, fühlt sich krank. Wie so oft. Und doch so anders...

 

Langsam peilt sie den großen Drogeriemarkt an, der soeben geöffnet hat. Zu dieser frühen Stunde ist die Fußgängerzone beinahe menschenleer. Lediglich die Bäckereien und Kioske haben schon gut Verdienst gemacht an all den Leuten, die sich einen Snack oder einen Coffee2go geholt haben.

 

Marinja verspürt keinen Hunger und wenn sie an belegte Brötchen mit Remoulade und Käse denkt, wird ihr schlecht. Schnurstracks durchquert sie den Eingangsbereich des Drogeriemarkts und zügelt dann ihr Tempo. Im Grunde weiß sie genau, was sie kaufen muss, aber sie hat Angst. Schwitzt und friert und möchte nicht, dass irgendjemand ihr ins Gesicht sieht und es weiß. Niemand soll die Wahrheit kennen. Niemand soll irgendwas Falsches von ihr denken. Sie ist nicht so ein Mädchen. Sie ist eigentlich ganz anders. Das weiß nur niemand. Keiner kennt sie.

 

Sie wählt eine Wimperntusche aus, ein pfirsichfarbenes Rouge und dann noch eine Bodylotion. Erst danach biegt sie in den nächsten Gang ein und tut so, als habe sie sich verlaufen. Ihre Hand agiert schnell und zielsicher. Keine Minute später steht das 16-jährige Mädchen an der Kasse. Die Kassiererin zieht einen Artikel nach dem anderen über den Scanner. Piepsend summiert sich der Gesamtpreis auf. Den 20 Euro-Schein zum Bezahlen hält Marinja bereits parat. Die Frau an der Kasse hält beim letzten Artikel kurz inne und hebt zwangsläufig den Blick. Marinja erwidert ihn allerdings nicht. Sie hat zu all dem hier nichts zu sagen.

 

Als man ihr den Endpreis nennt, gibt sie den Schein ab und erhält daraufhin das Wechselgeld. Schnell stopft sie die paar Artikel in ihre Umhängetasche und marschiert dann wieder aus dem Geschäft. Als der kalte Wind sie trifft, bemerkt sie, dass ihr Herz rast. Dass sie scheinbar vergessen hat, zu atmen. Völlig außer Puste drosselt sie ihr Tempo und muss kurz anhalten, als ein niederträchtiges Schwindelgefühl sie zu übermannen droht. Die Wolken sind vom Himmel herabgestiegen und durchqueren ihr Gehirn. Sie sollte etwas essen, aber sie kann nicht. Mit Hilfe von tiefen Atemzügen versucht sie, sich zusammen zu reißen und zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen. Während sie das tut, wirft sie immer wieder panische Blicke über die Schulter.

Ob sie jemand gesehen hat? Ob ihr jemand gefolgt ist?

Bitte nicht! Bitte nicht!, betet sie im Stillen und möchte in ihren Anziehsachen verschwinden. Sich einigeln und in Winterschlaf fallen. Wenn sie doch nur schlafen könnte. Wenn sie das alles hier doch nur wegschlafen könnte...


 

Das Schließen der Haustüre hallt unnatürlich laut durch die leere Wohnung. Mit fahlen Schritten durchquert Marinja den kurzen Flur, schlüpft aus ihren Boots und hängt ihren Mantel auf. Ihre Finger sind wie Eiszapfen, ihre Tasche wiegt gefühlte 100 Kilo.

 

Es riecht noch nach dem starken Kaffee, den ihr Vater heute früh gemacht hat und dessen Rest in der Kanne auf der Küchenanrichte steht. Der Frühstückstisch ist nur zur Hälfte abgeräumt. Die dreckigen Teller, Tassen und Messer liegen noch dort; die verderblichen Waren befinden sich wieder im Kühlschrank. Marinja ist absichtlich zu spät aufgestanden, damit sie das gemeinsame Frühstück mit ihren Eltern umgehen konnte. Ihr ist nicht nach Essen zumute. Ihr ist nach Weinen zumute.

 

In ihrem Zimmer zieht sie sich eine dunkle Strickjacke über und setzt sich auf ihre Bettkante, um einen Schluck Wasser aus der Flasche vom Nachttisch zu trinken. Die Flüssigkeit tut ihr gut und rückt die Wolkenfront in ihrem Kopf ein Stück beiseite. Macht sie empfänglicher für den Vormittag, dessen Stille etwas betäubend Lautes an sich hat.

Mit gemischten Gefühlen öffnet Marinja ihre Umhängetasche. Sieht die Wimperntusche, sieht das Rouge, sieht die Bodylotion und sieht den Schwangerschaftstest. Vorsichtig, als würde sie ihn mit einer falschen Berührung kaputt machen, nimmt sie die Packung mit dem Test aus der Tasche und kann nicht fassen, wie diese ach so unschuldig wirkende Schachtel mit ihren Pastellfarben so viel verändern kann im Leben einer Frau. Oder, wie in Marinjas Fall, im Leben eines Mädchens. Sie ist keine Frau. Sie ist noch nicht mal volljährig.

 

Behutsam macht sie die Schachtel auf und fördert die Gebrauchsanweisung zutage. Die Instruktionen sind nicht schwierig, sondern so einfach erklärt, dass man alles auf Anhieb versteht. Trotzdem zögert Marinja. Sie möchte das nicht tun müssen. Sie möchte die Zeit zurückdrehen. Ganz, ganz weit zurück. Bis sie wieder glücklich ist. Wann war das noch gleich?

 

Als Marinja sich schließlich erhebt, fällt ihr ihr Kreislauf in den Rücken. Sich an der Wand abstützend, schleppt sie sich ins Badezimmer hinüber und nimmt gleich darauf auf der Toilette Platz. Der Raum scheint abwechselnd auf sie zuzukommen und sich von ihr zu entfernen, in ihre Ohren dringt ein Plätschern. Den vorgeschriebenen Bereich auf dem schmalen Teststreifen hat sie getroffen. Jetzt gilt es zu warten. Magensäure stößt dem Mädchen auf. Das Sodbrennen ist beinahe unerträglich geworden in den letzten Tagen. Es ist wie mit der Übelkeit, die Marinja permanent im Nacken sitzt und ihr den Appetit verdirbt. Sie in die Knie zwingt und ihr den Magen so lange zerquetscht, bis Marinja sich übergeben muss. All das ist kein Wunder. Wirklich nicht. Denn sie ist schwanger, wie ihr die Verfärbung des Teststreifens verrät.

iii

 

Es ist genau so wie ich befürchtet hab...

 

gepostet am 10.03.2014 von LittleM

iv

 

Traurig lässt Marinja die Hand mit ihrem Smartphone sinken. Auf dem Rücken liegend, ruht sie auf ihrer Matratze und weiß nicht, was sie tun, sagen oder machen soll. Die Uhr tickt den Vormittag hinweg und Marinja muss sich vorstellen, wie gerade jetzt, in diesem Moment, etwas in ihr wächst. Wie sich Zellen teilen, Gestalt annehmen und ein neues Lebewesen formen.

Wie absurd das doch ist...

Sie kann es nach wie vor nicht glauben, doch die Anzeichen waren eindeutig und der Test hat all dem einen bestätigenden Stempel aufgedrückt. Träge fischt Marinja einen Zwieback aus der Packung, die sie sich eben aus dem Küchenschrank geholt hat. Irgendwas muss sie schließlich essen und mit Zwieback, trockenem Brot und Crackern hat sie in den letzten Tagen recht gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem, so kann das doch nicht weitergehen! Sie kann doch nicht ewig in ihrem Zimmer sitzen und darauf warten, dass sich das Problem von selber löst. Das wird nicht passieren. Nie und nimmer.

 

Geistesabwesend horcht Marinja in sich hinein, aber sie spürt nicht großartig etwas. Sie kommt sich gar nicht wie eine werdende Mutter vor. Da ist keinerlei Vorfreude oder Gefühl für das Baby. Abgesehen von den körperlich auszehrenden Symptomen, empfindet Marinja überhaupt nichts. Die Vorstellung, demnächst mit einem Kinderwagen durch die Straßen zu laufen, bringt ihre Phantasie nicht zustande. Sie sieht sich einfach nicht mit einem Baby. Sie sieht sich keine Windeln wechseln, keine Schlaflieder singen, keine Spaziergänge machen und keine Babyfläschchen füllen.

 

Es ist nicht so, als würde sie Kinder hassen. Eigentlich hat sie sich schon irgendwie vorgestellt, irgendwann mal Mutter zu werden. Wenn sie erwachsen und verheiratet ist, wenn sie eigenes Geld verdient und eine Wohnung hat. Dann spricht nichts gegen Nachwuchs. Doch in ihrer momentane Lage? Babysachen sind niedlich, keine Frage. Aber selber ein Kind haben? Jetzt schon? Ohne Abitur, ohne Beruf, ohne finanzielle Absicherung?

 

Sie könnte es wegmachen lassen.

 

Der Gedanke kommt ihr nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen. Heutzutage wird zwar immer noch verhalten über Abtreibungen gesprochen, aber es ist nicht verboten. Es wäre vielleicht nicht mal wirklich schlimm, immerhin empfindet Marinja doch eh nichts für das Baby. Für ihr Baby. Oder?

Wäre das schon Mord? Aber es ist doch legal! Und viele Frauen lassen das machen. Bestimmt auch viele Mädchen in ihrem Alter, die gar nicht schwanger werden wollten. Dafür sind solche Eingriffe doch da, damit Mädchen wie Marinja geholfen werden kann. Damit ihre Zukunft gerettet wird.

 

Nur, wie genau lässt man ein Baby abtreiben? Man kann doch nicht einfach zum Arzt gehen und sagen, dass man das machen möchte? Außerdem ahnt Marinja schon, dass sie als Minderjährige garantiert die Einwilligung ihrer Eltern braucht. Oder etwa nicht? Sie möchte gar nicht ausgiebig darüber nachdenken. Ihr ist das alles zu kompliziert und zu peinlich. Beim Frauenarzt ist sie im ganzen Leben noch nicht gewesen und dann soll sie dort vor einem fremden Menschen die Beine breit machen und nebenbei berichten, dass sie das Baby nicht will?

Der Arzt hält sie dann sicher für ein billiges Flittchen. Wird sie fragen, was ihr Freund von der Sache hält. Wird sie rügen, weil sie angeblich nicht verhütet hat. Marinja hört die anklagenden Worte quasi schon vor sich.

Billiges Flittchen! Dummes Mädchen! Kaputte Zukunft oder Mörderin? – Entscheide dich!

Den Kopf gequält schüttelnd, versucht Marinja, die Bilder und Vorwürfe loszuwerden. Alles soll weggehen! Weit, weit weg! Sie ist 16 und sie kann das hier nicht entscheiden. Sie weiß nichts und sie hat Angst, riesig große Angst. Ist es überhaupt gesund, so jung schwanger zu werden? Was, wenn das Baby krank oder behindert auf die Welt kommt? Was, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheidet und dabei etwas schief geht? Was, wenn irgendjemand aus der Schule davon erfährt?

 

Vor etwa zwei Jahren gab es auf Marinjas Schule mal ein Mädchen in der Oberstufe, das kurz vor dem Abitur stand und sich mit stetig dicker werdender Kugel noch in den Unterricht und zu den Abschlussprüfungen geschleppt hat. Marinja hat keine Ahnung, was aus dem Mädchen und dem Baby geworden ist. Aber sie erinnert sich gut, wie immer alle getuschelt haben, wenn das Mädchen in der Pause an ihnen vorbei lief.

„Schlampe!“

„Schon mal was von Gummies gehört?“

„Kleiner Tipp: Nächstes Mal besser die Beine zusammen halten!“

„Ey, wie kann man nur so blöde sein und sich sein Leben so kaputt machen?!“

Alle hatten hinter hervorgehaltener Hand über das Mädchen geurteilt. Für Marinja war dieser Zustand einer Schwangerschaft etwas Unheimliches gewesen, das aus einer ganz anderen Welt zu stammen schien und an der Schule, unter so jungen Menschen, nichts verloren hatte. Es passte dort nicht hin – und die meisten aus ihrer Klasse schienen das genau so zu sehen. Einige der Jungs hatten per Geste angedeutet, sich eine Waffe an den Kopf zu halten und abzudrücken; das wäre immer noch besser, als auf einen Hosenscheißer aufzupassen, hatten sie gemeint. Keiner wollte schon Verantwortung übernehmen, Unterhalt zahlen und ein Kind erziehen müssen.

 

Marinja hatte sich gewundert, ob das Mädchen einen festen Freund hatte? Aber darüber war nichts bekannt in ihrer Klasse.

„Die weiß sicher nich’ mal, wer ihr den Braten in die Röhre geschoben hat!“, hatte ein Junge grinsend spekuliert und eine neue Welle aus Gelächter ausgelöst.

 

Wenn Marinja es rückblickend überdenkt, hatte das Mädchen eigentlich ganz normal ausgesehen mit seinen mittelbraunen, schulterlangen Haaren, der Umstandsjeans und den Turnschuhen. Sie war bequem eingekleidet gewesen, hatte ein paar unscheinbare Ohrringe getragen und nie auffälliges Make-up. Sie hatte hübsch ausgesehen, wenn sie nicht gerade ihr Gesicht versteckt und auf den Boden geguckt hatte, weil sie wusste, dass das Grunzen ihrer Mitschüler ihr galt. Für das Mädchen muss es sehr schwer gewesen sein.

 

Marinja will nicht dieses Mädchen werden...

v

 

Es hat angefangen zu regnen. Die Tropfen klopfen leise und beständig gegen die Fensterscheibe und singen Marinja ein tristes Schlaflied. Von der Küche aus ist das Klappern von Geschirr zu hören. Marinjas Mutter ist in der Mittagspause kurz nach Hause gekommen und bereitet flugs eine Suppe fürs heutige Abendessen vor. Als sie vorhin gemerkt hat, dass ihre Tochter daheim ist, hat sie natürlich Fragen gestellt. Und Marinja hat natürlich gelogen. Behauptet, sie habe wohl etwas Falsches gegessen oder sich gar eine Magen-Darm-Grippe eingefangen. Da sie recht blass im Gesicht ist, hat ihre Mutter ihr die Notlüge auf Anhieb abgekauft. Marinja sollte sich schämen, so dreist zu lügen, doch vorerst ist sie beruhigt, obwohl das schlechte Gewissen wie ein Schatten auf ihrem Gemüt liegt.

 

Zum unzähligsten Mal an diesem Tag greift Marinja nach ihrem Smartphone, doch eine neue Nachricht von Linus ist nicht eingetroffen. Er hat schon seit einer halben Ewigkeit nichts mehr von sich hören lassen. Marinja ahnt, was das bedeutet: Er hat es nicht getan. Er hat nicht, wie versprochen, mit Jackie Schluss gemacht.

 

Als wäre es Gedankenübertragung, plingt in diesem Moment Jackies Name in der Kontaktliste auf.

 

Hey, Süße! Heute nicht in der Schule? Alles ok bei dir? ;-)

 

Magensäure flammt in Marinjas Hals auf. Jackie ist eine ihrer besten Freundinnen und Marinjas schlechter Gewissensschatten wird pechschwarz, als sie betroffen die kurze Textnachricht studiert. In den letzten Wochen hat sie versucht, sich unauffällig von Jackie zu distanzieren. Aber so etwas ist leichter gesagt als getan. Immerhin kennen sie sich schon seit der Grundschule und Jackie ist seit über einem Jahr mit Linus zusammen. Anfangs war Marinja das vollkommen egal. Linus war einfach nur ein Bekannter, den sie über Jackie kennen gelernt hat. Doch dann kam die Vorweihnachtszeit und alles ist plötzlich so kompliziert geworden. Wenn sie gewusst hätte, dass sie sich in Linus verlieben würde, hätte sie nie unbedarft angefangen, mit ihm zu chatten und zu reden. Als sie sich dann zufällig eines abends im Einkaufszentrum begegnet sind, beide auf den letzten Drücker auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken, sind die Dinge außer Kontrolle geraten...

 

Hi! :-) Ja, bin zuhause und lieg im Bett. Hab mir den Magen verdorben :-(, tippt Marinja nun eine Antwort und schickt sie ab. Sie hat schon einmal darüber nachgedacht, sich mit ihrem Problem an Jackie oder Alina zu wenden, aber keine von beiden scheint der richtige Ansprechpartner zu sein.

Jackie nicht, weil ihr Freund der Vater von Marinjas Baby ist.

Und Alina nicht, weil... Marinja kann es nicht genau sagen. Alina ist so ambitioniert und ehrgeizig und will „nie Kinder haben“, auch wenn ihr so ziemlich jeder Mensch auf der Welt erzählt, dass sie noch jahrelang Zeit hat, ihre Meinung zu ändern. „Werde ich aber nicht!“, lautet ihre Antwort dann stets. So wie jedes Mal, wenn jemand sie von etwas zu überzeugen versucht, was sie nicht möchte. Marinja bewundert normalerweise das selbstbewusste Auftreten ihrer Freundin, doch in diesem Fall ist es ihr keine Hilfe. Alina wäre sicher völlig entsetzt, wenn Marinja ihr von dem Baby erzählt und würde ihr umgehend raten, es so schnell wie möglich los zu werden.

 

Abgesehen von Alina und Jackie hat Marinja keine engeren Freunde. Bekannte zwar, aber bei denen kann sie noch weniger einschätzen, wie sie auf so eine Hiobsbotschaft reagieren würden. Und ihre Eltern? Ohje, daran möchte Marinja gar nicht erst denken...

 

Das Vibrieren ihres Smartphones zieht Marinjas Aufmerksamkeit wieder auf das Chatgesprach. Auf dem Display leuchtet Jackies neue Nachricht auf:

Gute Besserung! Ich schreib dir später was wir alles auf haben. Ist wieder irre viel, vor allem in Mathe :-(

 

Danke! Aber von Hausaufgabenbergen werde ich nicht gesünder!

 

Sorry, ich fühl mich ja auch schon ganz krank, wenn ich nur dran denke... ;-P Außerdem hab ich keine Zeit! Am WE ist doch Linus bday und ich muss noch voll viel vorbereiten!

 

Stimmt, da war ja noch was. Marinja hat Linus’ Geburtstag selbstverständlich auch nicht vergessen. Alles, was mit Linus zu tun hat, jede noch so kleine Information über ihn, ist in ihrem Gehirn eingebrannt und scheint sich nie mehr löschen zu lassen. Die Enttäuschung hält jedes seiner Worte und jede seiner Gesten am Leben. Marinja kann regelrecht fühlen, wie er ihre Haare zur Seite streicht und dann mit sanften, trockenen Lippen beginnt, ihre empfindsame Haut am Hals zu küssen. Ihre Nackenhärchen stellen sich auf und eine Gänsehaut überzieht ihren gesamten Körper, während ihr Herz zu rasen anfängt. Sie unsicher lächelt und genießt.

 

„Das mit mir und Jackie, das..ach, da ist schon lang die Luft raus“, hatte er ihr Ende des Jahres zerknirscht gestanden und dabei wie ein getretener Hund ausgesehen. Die braunen Augen groß und nur auf sie konzentriert.

Nie zuvor hatte sich Marinja so wertgeschätzt gefühlt. Nie zuvor war sie der Mittelpunkt im Leben eines anderen Menschen gewesen. Sie hatte nicht großartig rebelliert, als Linus ihr offenbart hatte, sich demnächst von Jackie zu trennen, wenngleich eine Stimme in ihrem Hinterkopf Alarm geschlagen hatte: Jackie ist doch deine Freundin und diese Trennung wird sie kaputt machen! Aber Marinja hatte nicht klar denken können. Auch jetzt noch hat sie den Eindruck, ihre Gedanken sind gewissermaßen blockiert von all den Sorgen und all der Geheimniskrämerei.

 

Schaffst du schon ;-), sichert Marinja Jackie im Chat zu und kommt sich dabei unsagbar mies und verlogen vor. Jackie hat sich schon eine halbe Ewigkeit überlegt, was für einen Kuchen sie backen wird und über welche Geschenke Linus sich wohl am meisten freut. Überhaupt hat sich Jackie sehr verändert, seit sie einen festen Freund hat. Früher hatte sie immer so ein wenig entrückt gewirkt, zwar mit ihren Freunden gelacht und Dinge unternommen, aber ein echtes Strahlen war eher selten in ihren Augen anzutreffen. Seit sie Linus kennt, hat sich das komplett geändert. Sie sprüht nur so vor Energie und Tatendrang und Marinja war damals total überrascht, dass ausgerechnet Jackie schon zu denjenigen in der Klasse gehört, die in einer festen Beziehung ist. Die Jungs in der Klasse haben ihr eher selten Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie mit ihren langen, schwarzen Haaren und den mandelförmigen Augen sehr hübsch aussieht. Sie ist klein, filigran und erst wenn sie jemanden besser kennt, öffnet sie ihr Herz. Dann kommt auch ihre flippige Art zum Vorschein.

Was wird wohl mit dieser Jackie passieren, wenn sie erfährt, was hinter ihrem Rücken geschehen ist? Sie wird Marinja die Freundschaft kündigen. Das wird passieren. Plötzlich ist sich Marinja da absolut sicher. Es ist eine Wahrheit, die sie in den letzten Monaten mit Leibeskräften ignoriert hat, aber jetzt, wo sie hier liegt und die Geschehnisse auf sie einstürzen, kann sie sie nicht mehr ausblenden.

 

Jackie wird sie hassen – und Marinja ist selbst schuld!

vi

 

Bin heute auch wieder zuhause geblieben. Meine Eltern glauben, ich hätte mir den Magen verdorben. Eigentlich will ich sie gar nicht belügen, aber ich kann ihnen doch nicht einfach so sagen, dass ich schwanger bin :-(

 

gepostet am 11.03.2014 von LittleM

 

 

Marinjas Sicht verschwimmt, als sie die Worte anstarrt, die sie soeben auf ihrem geheimen Blog gepostet hat. Niemand weiß, dass sie diese Art Tagebuch führt und nichts auf dem Blog weist auf ihre wahre Identität hin. Sie mag diese Anonymität, die ihr das Bloggernetzwerk bietet. Marinja kann auf dieser Webseite nicht nur ihren eigenen Blog führen, sie kann auch die Blogs anderer User lesen, ihre Beiträge rebloggen, liken oder kommentieren.

 

Draußen regnet es wieder. Marinja vergisst die Zeit, während sie tatenlos Löcher in die Luft starrt und sich schrecklich müde fühlt. Ihre Nacht war alles, nur nicht erholsam. Ihre Angstversionen sind im Dunkeln zu voller Größe heran gewachsen und haben Marinja bei lebendigem Leibe verspeist. Sie hat sich von einer Seite auf die andere gewälzt, geschwitzt, geweint, unter Herzrasen gelitten und sich verdammt. Sich und ihre Dummheit. Wie konnte sie nur–?

Sie schreckt zusammen, als ihr Handy laut zu bimmeln beginnt. Noch während Marinja nach ihrem Telefon hascht, sticht ihr der Name auf dem Display ins Auge.

 

Linus

 

„Ja, hi“, klingt sie verwirrter als sie möchte.

„Hey, Süße!“ Er hingegen erfreut sich bester Laune. „Hab gehört, du bist krank?“

„Äh...ja.“ Offenbar hat Jackie etwas erwähnt. Oder er hat bemerkt, dass Marinja nicht in der Schule ist. Zwar ist Linus eine Klassenstufe über ihr, aber eigentlich sehen sie sich fast immer morgens, wenn sie durch den Haupteingang die Schule betreten. Ob Linus Marinja jedoch anguckt, ist eine andere Sache. Oft ist er so in die Gespräche mit seinen Kumpels vertieft, dass er sie gar nicht bemerkt.

 

„Was Ernstes?“

„Nee!“ Die Lüge platzt regelrecht aus Marinja hinaus. Wie erwartet, erntet sie dafür ein heiseres Auflachen. „Also nur kein Bock. Versteh schon.“ Und er lacht wieder. Jedes Wort aus seinem Mund ist wie zusätzlicher Brennstoff, mit dem Marinjas Herz angeheizt wird. Die unerträgliche Hitze ist ihr längst das Gesicht hinaufgeklettert. Mit puterroten Wangen sitzt sie auf dem Bett, atmet durch den offenen Mund und hat Tränen in den Augen stehen. Warum meldet sich Linus ausgerechnet heute? Sie weiß überhaupt nicht, wie sie reagieren soll. Hat keinen Schlachtplan und nicht die geringste Ahnung, wie sie ihm die Wahrheit beichten soll. Ob sie es überhaupt tun soll.

 

„Weißte, ich hab gleich nur noch ’ne Doppelstunde Kunst. Die spar ich mir heute. Bis gleich.“

„Was?!“ Marinjas Entsetzen prallt an dem Tuten ab, was nun in ihr Ohr dringt. Hat sie das gerade richtig verstanden? Linus schwänzt seine letzten beiden Stunden, um Zeit mit ihr zu verbringen?! Aber er kann doch nicht einfach herkommen! Nicht, dass Marinja solche Spontaneitäten nicht von ihm gewohnt wäre, aber heute ist ihr das definitiv zu viel! Mit einem Satz ist sie aus dem Bett und reißt panisch den Kleiderschrank auf. Sucht etwas zum Anziehen, sucht einen Ausweg. Findet aber stattdessen nur eine neue Woge Übelkeit. Um Himmels Willen! Sie schafft es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer...

vii

 

Als es an der Türe klingelt, ist Marinja gerade damit beschäftigt, ihre Haare mit einem dieser Haargummis, die wie Telefonkabel aussehen, zu einem schnellen Dutt hochzustecken. Fürs Duschen hatte sie keine Zeit mehr, aber letzte Nacht hat sie dermaßen geschwitzt, dass sie ihr Haar nicht offen tragen möchte. Sie fühlt sich hässlich und ungepflegt. Auf Besuch war sie wahrlich nicht vorbereitet. Erst recht nicht auf Linus' Besuch.

Marinja flucht, als sie in ihrem legeren Outfit, bestehend aus einer Jeans-Leggings und einem cremefarbenen Pullover mit Schmucksteinen am Kragen, aus dem Bad eilt. Das Gesicht nur mit einem Tupfen Tagescreme geschminkt, zieht sie die Haustüre auf. Hast und Eile strafen sie mit Schwindelgefühlen. Alles, was Marinja tun möchte, ist sich hinzulegen. Nicht mal der Anblick von Linus, der ihr sonst immer wohlige Schauer bereitet, hat unter diesen Umständen eine positive Wirkung auf Marinja.

 

Linus indes grinst von einem Ohr zum anderen, sein Rucksack baumelt lässig über seiner Schulter. Noch bevor Marinja etwas tun oder sagen kann, steht Linus direkt vor ihr und drückt ihr einen Kuss auf den Mund.

„Hey“, haucht er ihr die Begrüßung mit seinem heißen Atem auf die Lippen. Marinjas Knie werden dadurch nur noch weicher und ihre Hand schlingt sich fester um die Türklinke.

„Hi, komm doch rein“, bietet sie ihm an und er stolziert gut gelaunt an ihr vorbei, schaut sich neugierig um. Zwar weiß er, wo Marinja wohnt, weil er mal gemeinsam mit Jackie etwas bei Marinja Zuhause abgeholt hat, aber er ist noch nie weiter ins Haus vorgedrungen.

 

„Hast du Hunger? Oder willst du vielleicht was trinken?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schließt Marinja die Haustüre und geht voraus in die Küche.

„Da sag ich nich' nein!“

Den Blickkontakt meidend, klappt Marinja den Kühlschrank auf. Etwa fünf Minuten später hat sie für Linus ein Brötchen geschmiert und ihm ein Glas Cola eingeschenkt. Gemeinsam gehen sie in Marinjas Zimmer hinüber und setzen sich aufs notdürftig gemachte Bett. Linus verströmt den Geruch von Deo und kühlem Regen. Die Tropfen, die vom Himmel fallen, sind mittlerweile nur noch feuchte Tupfen, die im warmen Haus schnell trocknen.

 

Wie ein ausgehungerter Löwe beißt Linus in das Schinkenbrötchen und strahlt vollkommene Zufriedenheit aus.

„Schmeckt super!“

„Ist doch nur ein Brötchen“, tut Marinja die Sache ab, obwohl sie es sehr schätzt, dass ihr Freund sie sogar wegen solchen Kleinigkeiten lobt. Es macht sie verlegen und glücklich.

„Willst du mal abbeißen?“ Auffordernd wird Marinja das Brötchen unter die Nase gehalten. Sie weicht zurück, als sei es vergiftet.

„Ne, danke. Ich..ich hab eben erst gefrühstückt, kurz bevor du angerufen hast.“ Wieder eine Lüge, die funktioniert. Linus zuckt mit den Achseln und isst genüsslich weiter. Marinja indes lässt den Blick wandern. Hat Angst, dass wenn sie Linus zu lange anschaut, er es sofort weiß...

 

„So“, stellt Linus den leeren Teller auf den Nachttisch, nimmt sein Glas und leert es in einem Zug. „Und was machen wir jetzt?“

Geräuschvoll stellt er das Glas ebenfalls zurück. Noch bevor Marinja etwas erwidern kann, erkennt sie das Glänzen in Linus' Augen. Es trifft sie wie ein Blitz, während sein Arm sich geschickt um ihre Schultern legt und er ein Stück näher an sie heran rückt. Seine Präsenz ist warm, duftend und erschlagend für Marinja, die heute nun wirklich gar keine Lust auf irgendwelche körperlichen Annäherungen hat. Am liebsten würde sie ihr gesamtes Körperempfinden ausschalten.

„Wir könnten 'n Film gucken?“, schlägt sie mit schwacher Stimme vor.

„Könnten wir“, beugt sich Linus zu ihr herab und tippt mit den Lippen gegen ihre. Die Berührung fängt Marinja so geschickt wie die Spinne ihre Beute im Netz. Ehe sich Marinja versieht, ist sie eingewickelt. In einen tiefen Kuss verstrickt. Normalerweise würde ihr das Blut in den Ohren rauschen und das Herz vor freudiger Erwartung pochen, doch Linus schmeckt noch nach dem verdammten Schinkenbrötchen und Marinja kann das nicht ignorieren. Der Geschmack widert sie heute unbeschreiblich an und lässt sie eine Grimasse schneiden. Indem sie den Kopf zur Seite dreht, bricht sie den Kuss.

„Was..ist eigentlich mit Jackie?“, erkundigt sie sich, um von sich abzulenken. Die Frage lässt das Lausbubenleuchten aus Linus' Augen verschwinden. Mit einer Hand streicht er sich die Haare aus der Stirn, dann lässt er sie in seinen Nacken wandern, als sei er verspannt.

„Nichts, ich konnt's ihr noch nicht sagen. Weißt du doch...“

 Ja, das weiß Marinja. Betrübt schaut sie an sich hinab, auf ihren Bauch, in dem das Ergebnis von ihrer und Linus' Leidenschaft schlummert.

 

„Ich mein“, setzt Linus erneut an, weil Marinjas Enttäuschung unübersehbar ist, „du als ihre Freundin weißt doch, wie schnell sie sich in Dinge hinein steigert. Ich will einfach nicht, dass sie irgendwas Dummes tut.“

„Etwas Dummes?“ Hellhörig schaut Marinja auf. Linus kaut an seiner Unterlippe. Ja, sie wissen beide, wie emotional Jackie ist. Dass Linus der Mittelpunkt ihrer Welt ist.

„Aber wenn du sie nicht mehr liebst, dann musst du so fair sein, es ihr endlich zu sagen und dann muss sie es halt akzeptieren“, wagt Marinja, ihre Meinung zu äußern. Für gewöhnlich hat sie Linus nie widersprochen, ihn immer als Sieger aus diesen Gesprächen hervorgehen lassen. Früher hatte sie ja auch alle Zeit der Welt. Doch nun ist das anders. Die Zeit arbeitet gegen sie...

 

Tief seufzend wendet Linus sich dem Fenster zu. So als sei auf dem nassen Glas die Antwort geschrieben, mit der er sowohl Marinja als auch sich selbst zufrieden stellen kann. Doch dort sind nur abertausende kleine Tröpfchen vom Sprühregen ausfindig zu machen. Sonst nichts.

 

„Ich mach's ja, aber nicht an diesem Wochenende. Wir wissen doch beide ganz genau, dass sie jede Menge für meinen Geburtstag geplant hat. Da kann ich ihr das doch wohl schlecht sagen.“

 Auch wieder wahr. Schweigend nestelt Marinja am unteren Rand ihres Pullis herum und denkt sich, dass Linus ja gar nicht so lange hätte warten müssen. Er hätte schon vor Wochen mit Jackie Schluss machen können.

„Es muss aber endlich passieren. Ich möchte richtig mit dir zusammen sein dürfen“, flüstert Marinja schließlich, die Tränen unterdrückend und das Wort Familie im Hinterkopf habend.

 

„Rini“, nennt Linus Marinja beim Kosenamen, „selbst wenn ich jetzt mit Jackie Schluss mache, müssten wir doch eh noch 'ne Weile warten, bevor wir offiziell zusammen kommen. Sonst würde Jackie echt ausrasten.“

„Wie lange sollen wir denn deiner Meinung nach warten?“

„Keine Ahnung! Was sollen all die Fragen?“ Linus lässt es klingen, als würde Marinja es kompliziert machen. Als würde sie ihm absichtlich das Leben schwer machen. Dabei würde sie das nie tun. Sie liebt Linus doch! Sie versteht ihn nur nicht.

 

Stumm zuckt Marinja die Schultern, in ihr ein wundes Herz, das schon zu lange wartet und schon zu oft vertröstet wurde. Ihr Blick gleitet hinüber zu ihrer Kommode. Wenn sie es ihm sagt, dann muss er reagieren! Dann muss er Jackie verlassen und mit Marinja gemeinsam eine Entscheidung treffen. Dann hätte sie diese Bürde nicht mehr alleine zu tragen.

 Die Aussicht auf Gemeinsamkeit lässt Marinja vom Bett rutschen und zu ihrer Kommode hinüber gehen. Sie zieht die mittlere Schublade hervor, schiebt ein paar Sachen zur Seite und holt den versteckten Schwangerschaftstest heraus. Ihn wegzuwerfen, hat sie nicht gewagt. Im Hausmüll könnte ihn jemand finden.

 

„Was hast du..da?“ Linus bleibt das letzte Wort im Halse stecken, als Marinja sich mit dem Test zu ihm umdreht und er auf Anhieb erkennt, worum es sich dabei handelt. Wie von der Tarantel gestochen, springt er auf und reißt ihn ihr aus der Hand, um das Ergebnis zu überprüfen.

„Ich bin schw-“

„Scheiße, nicht ernsthaft!?“ Aufgebracht schaut er zwischen Marinja und dem positiven Test hin und her. Dann schüttelt er den Kopf und reicht ihn ihr zurück. „Aber es ist nicht von mir! Es kann gar nicht von mir sein! Wir haben immer Kondome benutzt!“

„Da muss was verrutscht sein oder so...“

„Wer's glaubt! Von wem ist das Baby?“

Marinja fühlt sich wie geohrfeigt. Linus steht knapp eine Armlänge von ihr entfernt und unterstellt ihr allen Ernstes, sie habe mit einem anderen Jungen geschlafen. Dabei weiß er doch, wie sehr sie ihn liebt und dass sie ihn niemals betrügen würde. Die Ungerechtigkeit lässt Marinjas Lippen und Hände beben.

„Von dir.“

 

Linus drückt ihr barsch den Test in die Hand, weil sie ihn nicht eigenständig an sich nimmt. Sein Gesicht ist verzerrt von Wut und von noch etwas Anderem, das Marinja spontan nicht identifizieren kann. Ihre Sicht verschwimmt und Tränen laufen haltlos über ihre Wangen. So hatte sie sich Linus' Reaktion wahrlich nicht vorgestellt. Klar, dass er geschockt sein würde, damit hatte sie gerechnet. Aber damit, dass er ihr Untreue unterstellt, kann sie in keiner Weise umgehen. Es ist unfair und bezeugt nur, wie schlecht er sie tatsächlich kennt.

 

„Als ob! Das ist doch nicht wahr...“, hört sie Linus schnaufen. Es wirkt resigniert. So als täte es ihm leid, dass Marinja jetzt weint. Aber sie tut es. Sie steht da und hat beide Hände an den kleinen weißen Plastikstreifen geklammert, weil ihr sonst nichts und niemand Halt spendet.

 

„Ich würde nie-“, beteuert sie und verschluckt sich an ihrem Schluchzen.

„Wir haben verhütet. Jedes Mal! Sorry, Marinja, aber wenn du mit jemand anderem Mist baust, dann versuch nicht, mir das in die Schuhe zu schieben.“ Seine Worte sind hart, aber seine Tonlage ist unsicher. Linus dreht sich herum, schüttelt den Kopf, weiß nicht, wo er sich lassen soll. Dann angelt er eine Packung Taschentücher vom Schreibtisch und drückt sie Marinja so barsch in die Hände wie den Test. Marinja nimmt die Tempos mechanisch an sich, aber packt sich keines aus. Alles in ihr zersplittert gerade, jede Hoffnung und jede Aussicht auf eine Besserung ihrer misslichen Lage.

 

„Du bist doch noch viel zu jung. Am besten, du...“ Linus spricht nicht weiter. Sein Ratschlag ist unbeholfen und mündet in einem verzagenden Seufzen. „Du weißt schon, was ich meine.“ 

Ja, sie weiß, was er meint: Sie ist zu jung für ein Baby und es wäre das Beste, es abtreiben zu lassen. Linus will kein Kind. Er glaubt Marinja ja nicht mal, dass es sein Baby ist. Zwar schaut er sie hadernd an, aber er streitet alles ab. Er will an all dem nicht beteiligt sein.

 

„Deine Eltern werden dir bestimmt helfen.“

 

Es ist der letzte Satz, den Linus an Marinja richtet. Danach schleicht er davon wie ein getretener Hund, der seine Wunden zu verbergen versucht. Marinja kann ihn nicht aufhalten. Nichts sagen, nichts tun. Nur da stehen und merken, wie sie viel zu geschockt ist, um einen lauten Heulkrampf zu bekommen. Ihre Tränen sind leise und beständig. Versiegen nur langsam. Irgendwann lässt Marinja das Taschentuchpäckchen los und taumelt mit dem Schwangerschaftstest zu ihrem Bett hinüber. Die Enttäuschung bereitet ihr physische Schmerzen, zermalmt Marinjas Lungen und straft sie mit Herzstichen. Das alles hier, das darf einfach nicht wahr sein...

viii

 

Jetzt war ich die ganze Woche nicht in der Schule...

Meine Eltern haben mir das mit der Magen-Darm-Grippe voll abgekauft. Aber langsam muss ich so tun, als würde es mir besser gehen. Ab Montag muss ich mich normal verhalten. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll...

Ich versteh immer noch nicht, warum L. mir nicht glaubt. Mit J. hat er auch nicht geredet, sonst hätte sie mir bestimmt geschrieben. Ich glaube, das Baby und ich sind L. völlig egal. Er will keinen von uns beiden...

 

gepostet am 15.03.2014 von LittleM

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Lange schaut Marinja den letzten Satz ihres Blogeintrags an. Tagelang hatte sie Zeit, um sich mit dieser Wahrheit zu arrangieren, aber so recht gelingen mag es ihr nicht. Wie geht man damit um, dem Menschen egal zu sein, den man liebt? Und wie geht man damit um, dass dieser Mensch möchte, dass man das gemeinsame Baby loswird? Marinja hat darauf keine Antworten parat. Sie horcht ins leere Haus und klappt seufzend ihren Laptop zu. Ihr Lügenmärchen daheim funktioniert nach wie vor tadellos. Doch viel länger als eine Woche konnte sie die Krankheitslüge nicht ausreizen. Sonst hätten ihre Eltern definitiv Verdacht geschöpft. Dummerweise ist die Übelkeit kaum besser geworden. Marinja hat google zu Rate gezogen und nach Tipps gegen Schwangerschaftsübelkeit gesucht. Seitdem zwingt sie sich dazu, regelmäßig etwas Kleines zu essen. Auch ohne Appetit.

 

Vor dem Fenster steht eine kesse Frühlingssonne, die den Tag wärmer erscheinen lässt, als er eigentlich ist. Marinjas Eltern sind im Laden und Marinja fühlt sich mit sich und ihren Nöten eingekerkert. Einerseits hilft es ihr, sich in ihrem Zimmer zu verstecken. Andererseits vermisst sie die frische Luft. Wie gerne würde sie jetzt in die Altstadt fahren und ein wenig durch die Läden bummeln. Es ist erst kurz nach 10 Uhr und sie beschließt, sich fertig zu machen. Tag ein, Tag aus liegt sie im Bett und kann ihren Gedanken, die um Linus und das Baby kreisen, nicht entkommen. Es ist, als wäre man gezwungen, eine Fahrt nach der nächsten auf der Achterbahn anzutreten. Egal, wie oft Marinja beteuert, dass ihr schlecht ist und dass sie nicht mehr will, es gibt kein Erbarmen. Niemand stoppt sie. Keiner hilft ihr.

 

Absichtlich zieht sie ein Sweaterkleid mit Kapuze an, welche sie sich über den Kopf stülpt, kaum dass sie aus dem Haus tritt. Sie will niemanden treffen und von keinem aus ihrer Klasse gesehen werden. Da die Stadt recht groß ist, ist die Wahrscheinlich, auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen, erfahrungsgemäß gering. Marinja schultert ihre Umhängetasche, in die sie ein paar Cracker und genügend Wasser gepackt hat, und sitzt bald darauf in der Straßenbahn. Die Welt kommt ihr wie eine Filmkulisse vor. Jeder Statist ist bereits in seine Rolle geschlüpft. Ist perfekt geschminkt und trägt das richtige Kostüm. Nur Marinja fühlt sich deplatziert. Wie ein Fremdkörper, der seine Unzugehörigkeit ausstrahlt.

Jackie wird heute mit Linus Geburtstag feiern. Die beiden werden sicher jede Menge Spaß zusammen haben. Es ist nicht fair. Überhaupt nicht. Marinja sollte diejenige sein, die mit Linus feiert und die von Linus umarmt und geküsst wird. So war doch der Plan...Bekümmert fühlt sich Marinja gezwungen, die Frau mit dem Kinderwagen anzustarren, die an der letzten Haltestelle zugestiegen ist. Aus dem Wagen dringen gurgelnde Laute. Die eine Hand am Griff des Kinderwagens, um diesen ein wenig zu schaukeln, die andere Hand samt Handy am Ohr, wirkt die Frau nicht sonderlich mit ihrem Nachwuchs beschäftigt. Das Kind scheint eher eine Pflicht als eine Bereicherung. Vielleicht hat die Frau das Baby ja gar nicht gewollt? Marinja kommt nicht um diese Vermutung herum, während sie die Frau mit der braunen Übergangsjacke und der gefälschten Louis Vuitton-Handtasche anguckt. Aufgrund ihrer schlanken Figur erweckt die Frau gar nicht den Eindruck, als hätte sie erst vor kurzem entbunden. Aber das Baby kann nicht älter als drei oder vier Monate sein. Es ist noch so klein... Marinja kann in den Kinderwagen linsen, wenn sie das Kinn hebt. Der Wagen ist dunkelblau, das Baby ist blau-grau gekleidet, das Innenleben des Kinderwagens ist weiß-grau. Alles wirkt kühl und steril. Das Baby wird leiser, schläft wohl ein. Marinjas Phantasie malt sie selbst mit einem Kinderwagen, wieder und wieder. Es passt einfach nicht. Egal, welche Farben sie dem Kinderwagen verleiht und egal, wie sie sich selbst in ihrer Vorstellung anzieht. Das Bild von sich selbst und einem Kinderwagen ist für Marinja nicht in einer realistischen Weise produzierbar.

 

Sie sollte kein Baby haben. 

Es muss weg – und zwar schnell!

 

Marinja merkt, wie sie von einer unerwarteten Welle der Eile überrollt wird. Sie hat keine Zeit mehr, muss sofort etwas unternehmen, darf nicht länger zögern – sonst ist es zu spät! Hastig steht sie auf, steigt an der nächsten Haltestelle aus und überquert die Straße, nur um an der gegenüberliegenden Haltestelle auf die nächste Bahn in Richtung Heimat zu warten. In ihren Ohren rauscht es, in ihren Fingern prickelt es. Wie konnte sie nur so lange warten? Mit jedem Tag, den sie verstreichen lässt, wächst ihr Baby ein Stück mehr heran. Sie hat keine Ahnung, wie groß es mittlerweile schon ist, aber es darf unter keinen Umständen noch größer werden. Sonst wird etwas Furchtbares passieren!

 

Etwa 25 Minuten später ist Marinja wieder Zuhause und fährt sogleich ihren Laptop hoch. Wie kann sie eine Abtreibung vornehmen lassen? Die Frage brennt ihr unter den Nägeln und lässt sie die Suchmaschine füttern. Die Trefferzahl ist enorm. Marinja klickt die Seite von Wikipedia an und beginnt Dinge zu lesen, mit denen sie bis eben nichts zu tun haben wollte, weil sie sie so schrecklich findet. Je mehr sie liest, desto weniger möchte sie eine Abtreibung. Doch genauso wenig möchte sie ein Baby, das nicht in ihr Leben passt. Am liebsten würde sie gar nichts tun oder entscheiden müssen. Aber wenn sie nicht bald aktiv wird, ist es ein für alle mal zu spät für eine Abtreibung, denn eine solche ist in Deutschland nur bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche legal. Danach können nur noch in Ausnahmefällen Abbrüche vorgenommen werden, beispielsweise wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Auf der Wikipedia-Seite steht all das schwarz auf weiß.

 

Marinja versucht auszurechnen, in der wievielten Schwangerschaftswoche sie ist. Wann war ihre letzte Menstruation? Schnell guckt sie auf ihr Handy. Eigentlich hätte sie vor zwölf Tagen ihre Periode bekommen sollen. Stattdessen wurde ihr aber von Tag zu Tag flauer. Aber in der wievielten Schwangerschaftswoche ist sie denn nun? Doch nicht erst in der 2., nur weil sie bald 14 Tage überfällig ist?!

Marinja versucht es wieder mit der Hilfe des Internets. Tatsächlich bietet eine Vielzahl an Seiten den Service an, die aktuelle Schwangerschaftswoche und den Geburtstermin zu berechnen, wenn man das Anfangsdatum der zuletzt stattgefundenen Periode eingibt. Daraus ergibt sich, dass Marinja derzeit in der 7. Schwangerschaftswoche ist. Bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche ist also noch etwas Zeit. Allerdings muss Marinja auch bedenken, dass – wie sie eben gelesen hat – ein Beratungsschein für die Abtreibung nötig ist. Den kriegt sie nur, wenn sie an einem Beratungsgespräch teilgenommen hat. Vorher muss sie außerdem zum Frauenarzt und die Schwangerschaft bestätigen lassen. Dann muss sie auch noch einen Arzt finden, der Abtreibungen durchführt und einen Termin für den Eingriff bekommen. Es klingt alles so ungeheuer kompliziert! Marinja ist sich nicht mal sicher, ob sie die ganzen Informationen richtig verstanden hat. Fakt ist aber: als Minderjährige darf sie nicht alleine abtreiben. Ihre Eltern müssen dem zustimmen.

Marinjas Herz schlägt schnell und schmerzhaft, und die Internetseite mit dem Geburtsterminrechner lädt sie auf viele andere Unterseiten rund ums Thema Schwangerschaft ein. Bisher hat Marinja es immer gemieden, sich näher mit ihrer Schwangerschaft zu befassen. Sie hat zwar den Test gekauft und die Tipps gegen Übelkeit gegoogelt, doch das war's dann auch. Für mehr war sie nie bereit. Doch jetzt berührt ihr Zeigefinger ganz von selbst das Touchpad und ihre Augen saugen jede Information, die sie finden können, wie ein Schwamm auf.

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Montag fühlt sich an wie eine schwere schwarze Decke, die Marinja nicht von sich runter wälzen kann. Sie kommt kaum aus dem Bett, verspürt Übelkeit anstatt Appetit und von Jackie hat sie den ganzen Sonntag über nichts gehört. Vielleicht braucht diese einfach ein bisschen Zeit für sich. Trotzdem wird Marinja ihr überdimensionales Schuldbewusstsein nicht los.

Blass trudelt sie in der Schule ein und hofft auf einen Blick oder ein Zeichen von Linus. Er steht schon im Foyer mit ein paar Leuten aus seiner Klasse, redet offenbar über einen bevorstehenden Wandertag. Marinja stellt sich an die große Treppe, in der Hoffnung, dass Linus sie hier entdeckt. Tatsächlich hebt er das Kinn und erkennt sie, aber in seinem Gesicht geschieht nichts. Er guckt bloß wieder weg, so als sei Marinja niemand. Als würde sie nicht sein Baby unterm Herzen tragen.

 

Die Enttäuschung reißt an Marinjas Befinden und lässt ihr Schwindelgefühl zu voller Größe heranwachsen. Affektiv krallt sie sich mit einer Hand ans Geländer, holt tief Luft und tritt dann träge den Weg in ihre Klasse an. Es hat eh keinen Sinn. Linus hat offenbar nicht vor, heute in irgendeiner Weise zu zeigen, dass er etwas für Marinja empfindet. Wenn er es denn tut. Aber wenn er es nicht tut, warum hat er dann mit Jackie Schluss gemacht?

 

All das nicht begreifend, setzt sich Marinja im Klassenzimmer auf ihren Platz. Sie ist eine der ersten an diesem Morgen, grüßt die anderen Leute und weiß nichts zu tun, außer zu warten. Je mehr Minuten verstreichen, desto mehr Schüler finden sich ein. Jackies Stuhl bleibt allerdings leer.

„Hey, da bist du ja wieder!“, grüßt Alina, als sie sich neben Marinja niederlässt. Auch von ihr hat Marinja im Laufe der letzten Woche ein paar Nachrichten erhalten. Nichts Weltbewegendes, nur ein bisschen Gerede unter Freundinnen, für das Marinja keinen Kopf hatte.

„Siehst aber noch ganz schön mitgenommen aus. Sorry, wenn ich das so sage.“

Marinja weiß, was Alina meint und schiebt es auf die Magen-Darm-Grippe. Im Klassenraum herrscht mittlerweile Unruhe. Aus einem Handy grölt nerviger HipHop und Marinja fühlt sich überanstrengt. Frühes Aufstehen ist generell schon nicht ihr Ding, aber die Schwangerschaft macht es zu einer Zerreißprobe. Jede Faser von Marinjas Körper schreit nach Erholung und plädiert dafür, den ganzen Tag im Bett oder auf der Couch zu liegen. Aber so geht das doch nicht...

 

„Hm“, macht Alina nachdenklich, „hat's Jackie jetzt etwa auch erwischt?“

Die Frage ist berechtigt, denn ihr Stuhl ist immer noch leer.

„Sie ist bestimmt traurig“, hört sich Marinja sagen.

„Wieso? Ist was passiert?“

Marinjas Mund steht für ein paar Sekunden offen. Sie kann nicht fassen, dass Jackie es Alina noch nicht erzählt hat! Normalerweise wissen die beiden doch so ziemlich alles übereinander.

„Linus hat Schluss gemacht“, flüstert Marinja verhalten, weil in genau diesem Augenblick Frau Gerke, die Englischlehrerin, durch die Türe kommt.

Alina entgleisten sämtliche Gesichtszüge.

„Aber... wieso weißt du das? Wieso sagt mir keiner was?“

Marinja kann nur hilflos mit den Schultern zucken. Sie möchte aufstehen und gehen. Das Schulgebäude, die gesamte Atmosphäre, Marinja fühlt sich hier vollkommen fehl am Platz. Um sie herum sitzen Jungen und Mädchen in ihrem Alter, haben alle ihre eigenen Sorgen und Leben, aber keiner von ihnen hat das gleiche Problem wie Marinja. Sie ist anders als die anderen. Sie wird in einigen Monaten Mutter werden, wenn sie nichts dagegen unternimmt, und diese Mutterschaft wird sie ein für alle mal vom Rest der Klasse und vom Jugendalter abschneiden.

 

„Wann hat er Schluss gemacht? Der hat doch garnatiert 'ne Neue, dieser Scheißkerl! Ich hab's irgendwie schon immer gewusst. Der-!“

„Ladies and gentlemen, please be quiet!“, schneidet die Ermahnung der Lehrerin Alina das Wort ab. Ihre Silben sind gedämpft und wütend, wie das böse Schnaufen eines Drachens. Marinja ist glatt ein wenig erschrocken. Eigentlich dachte sie immer, Alina hätte kein Problem mit der Beziehung zwischen Linus und Jackie. Anscheinend ist die Lage aber doch etwas anders. Nur wieso? Und warum tippt sie sofort darauf, dass Linus eine andere hat? 

Ziellos blättert Marinja durch ihr Englischbuch und schluckt gleich mehrmals hintereinander. Alina versprüht den Charme eines durchdrehenden Stiers und fummelt heimlich an ihrem Handy herum. Vermutlich schreibt sie Jackie. Doch eine Antwort scheint sie nicht zu bekommen. Als Frau Gerke bei der Überprüfung der Anwesenheit nachfragt, ob Jackie heute krank ist, weiß niemand etwas.

 

 

„Hat sie dir schon zurückgeschrieben?“, erkundigt sich Marinja, als es zur großen Pause läutet. Alina schüttelt jedoch nur den Kopf und saugt die Unterlippe zwischen die Zähne. Sie sieht aus, als würde sie über etwas sehr Wichtiges nachdenken. Überhaupt war sie in den ersten beiden Schulstunden mindestens so gedankenverloren wie Marinja. Wenn Jackie krank wäre, hätte ihre Mutter im Sekretariat angerufen und Frau Gerke wäre informiert gewesen. So ist das übliche Prozedere. Doch da das nicht passiert ist, kam der Anruf entweder erst nach acht Uhr früh oder Jackie schwänzt. Eine andere Erklärung gibt es nicht.

 

„Wann hat sie dir denn geschrieben?“

Seite an Seite durchqueren Alina und Marinja das Treppenhaus, um auf den Schulhof zu gelangen. Marinja ist es unangenehm, dass sie von Linus und Jackie weiß, während Alina bis eben im Dunkeln getappt ist.

„Sonntag früh. Also sie hat wohl mit Linus in seinen Geburtstag reingefeiert und da hat er ihr gesagt, was Sache ist.“

„Was ist denn Sache?“ Alina klingt steinhart und Marinja kommt sich vor wie beim Verhör.

„Naja, also dass er wohl eine Auszeit will. Ich weiß auch nicht so genau...“

„Auszeit? Na von wegen! Der hat nicht mal die Eier in der Hose, um Klartext zu reden.“

In Marinjas Kehle brennt Magensäure. Nur zu gerne würde sie widersprechen und Alina beschwören, dass Linus toll und zuverlässig ist. Dass er gut riecht und Marinja sonst immer wie eine Prinzessin behandelt hat, wenn sie alleine waren. Nur beim letzten Mal nicht... und all die Male vorher, da hat er sich stets vor schwierigen Gesprächsthemen gedrückt. Marinjas Herz scheint ein weiteres Stück einzureißen, als sie Alina innerlich Recht geben muss: Linus klärt die wichtigen Dinge nicht. Er redet sich nur permanent raus...

 

Schützend schlingt Marinja die Arme um ihren Oberkörper, als sie an die frische Luft hinaus treten und sich eine abgelegene Ecke auf dem Pausenhof suchen. Natürlich versucht Alina, Jackie anzurufen. Natürlich nimmt Jackie den Anruf nicht entgegen und Alina wird immer hibbeliger.

„Scheiße, jetzt geh doch endlich dran!“ Doch auch ihr dritter Anruf bleibt unbeantwortet. Frustriert stopft sie ihr Handy wieder in die Jackentasche.

„Ich geh zu ihr. Kommst du mit?“

Das überwältigt Marinja. „Jetzt? Aber wir haben Schu-!“

„Ich weiß, dass wir Schule haben. Aber...“, Alina macht eine verzweifelte Handbewegung, „Der Scheißkerl ist ihr Leben.“

Der Satz zieht Marinja den Teppich unter den Füßen weg. Unterbewusst weiß sie schon lange, was Alina meint, doch es hier und heute an diesem Frühlingsmorgen zu hören, macht die Dinge noch schlimmer, als sie ohnehin schon sind. Es lässt Marinja begreifen, dass Jackie für jemanden lebt, der sie verlassen hat – und dass Alina Angst hat, dass diese Trennung nicht nur eine Beziehung beenden könnte, sondern auch ein Leben.

 

„Ich weiß, ich-“, Marinja kommt nicht dazu, auszusprechen. Die knallharte Realität boxt ihr in den Magen. Sie schafft es gerade noch, sich von Alina wegzudrehen, bevor sie in die Büsche erbricht. Die beißende Woge schüttelt ihren Körper durch und presst ihr die Tränen aus den Augen. Wenn Jackie etwas geschieht, ist es Marinjas Schuld. Nicht die von Linus oder die von Alina, sondern die von Marinja. Weil sie von Anfang an wusste, wie es um Jackie gestellt ist und weil sie sich trotzdem auf Linus eingelassen hat. Sie hätte ihn vergessen sollen, als sie gemerkt hat, dass es in ihrem Bauch kribbelt, wenn er lacht und dass ihr vor Aufregung ganz anders wird, wenn er sie berührt. Sie hätte sich zurückziehen und nicht mit ihm chatten sollen. Sie hätte ihn weder heimlich treffen, noch ihn küssen, noch mit ihm schlafen dürfen. Dann wäre jetzt niemand in Schwierigkeiten...

 

„Marinja!“, kreischt Alina verschreckt auf und legt ihr die Arme um. Ist eine warme und willkommene Unterstützung.

„Geht schon wieder“, lächelt Marinja gequält, als sie merkt, dass ihr Magen leer ist. Sonderlich viel gefrühstückt hat sie wie immer nicht. Aber Magensäure zu erbrechen, ist fies genug.

„Bullshit! Du bist weiß wie 'ne Wand! Wenn du noch krank bist, dann bleib doch noch ein paar Tage Zuhause?!“

„Ich bin nicht krank.“

„Sondern?“

Erst als Marinja die Frage hört, realisiert sie ihren Fehler. Sie hätte lügen müssen. Sie hätte die Magen-Darm-Grippe vorschieben müssen. Stattdessen steht sie nun hier und merkt, wie ihre Mundwinkel zu zucken beginnen. Ihre Lügenmaske bröselt ihr vom Gesicht. Plötzlich rollen immer mehr Tränen über ihre Wangen und spülen die Ausreden hinfort. Marinja weint und weint, ohne einen Laut zu verlieren und ohne sich zu rühren. Die nervigen Kinder, die einige Meter entfernt Fußball spielen, haben zum Glück nicht mitbekommen, dass Marinja sich übergeben hat. Sie johlen und kreischen und interessieren sich einen feuchten Kehricht für ihre Umwelt.

 

„Hey“, sagt Alina leise und nutzt den Arm um Marinjas Schultern, um sie in eine enge Umarmung zu ziehen. Schweigend zuckt mit Marinja mit den Achseln; kann und will sich nicht erklären. Ihr ist all das zu viel. Die Schuld, die Scham, die Verantwortung. Es nimmt ihr sämtliche Kraft und Zuversicht. Sie ist allein mit der Wahrheit und hält diese in sich gefangen, obwohl es so leicht wäre, die Lippen zu öffnen und sie zu befreien. Doch die Angst hat Marinjas Mund versiegelt, ihre Lippen zugenäht...

Auf Marinjas Rücken sind warme Hände zu spüren, im Hintergrund ertönt die Schulglocke. Alina setzt sich gemächlich in Bewegung und dirigiert Marinja mit sich, zwischen den kratzigen Hecken hindurch und dann zum Tor hinüber. Sie verlassen unerlaubt das Schulgelände durch ein Loch im Zaum, huschen geduckt zwischen den Autos auf dem Lehrerparkplatz hindurch und schlendern dann über den Gehweg. Da sie grundsätzlich ihre Schultaschen mit in die Pause nehmen, lassen sie nichts im Klassenzimmer zurück.

 

Der Tag ist noch jung und die Geschäfte haben erst vor kurzem geöffnet. Als die beiden Mädchen in einem Café einkehren, sind hauptsächlich ältere Herrschaften mit Frühstücken beschäftigt. Die Freundinnen wählen einen Tisch, der von den Fenstern aus nicht zu sehen ist und wo niemand ihre Unterhaltung mitverfolgen kann. Marinjas Tränen sind irgendwann auf dem 10-minütigen Fußweg hierhin getrocknet. Etwas gesagt hat keiner von ihnen. Als die Bedienung ihre Bestellung aufnimmt, entscheidet sich Marinja für einen schonenden Tee und Alina für einen würzigen Chai Latte. Derweil sie auf die Kellnerin warten, brummt Alinas Handy. Ihre Miene verrät sofort, dass es eine Nachricht von Jackie ist.

„Sie ist okay – schreibt sie zumindest“, informiert Alina teils beruhigt, teils skeptisch und tippt eine Antwort. Marinja kann sich schon denken, was in dieser Antwort steht: nämlich dass Alina später bei Jackie vorbeischauen wird.

 

Mit einem sanften Klirren stellt die Kellnerin den Tee und den Chai Latte auf die Tischplatte und verschwindet wieder. Alina packt ihr Handy weg, greift sich ihren Löffel und schöpft etwas von dem Milchschaum ab. Marinja kommt sich dumm, hässlich, aufgedunsen und abartig vor.

Alinas hochkonzentrierter Blick ist auf ihr Getränk gerichtet, dann schwenkt er zu Marinja hinüber.

„Du bist schwanger, oder?“

 

Weil Marinja kein Ja hervorbringt, nickt sie bloß schwach. Dass Alina das so schnell durchschaut hat, ist ein Albtraum! Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Alina zwei ältere Schwestern hat, von denen eine bereits zwei Kinder hat, wohl keine sonderliche Überraschung. Die vermeintliche Magen-Darm-Grippe, das Erbrechen, die Blässe, die Schwäche und wer weiß, was Alina ihr noch angesehen hat oder ob sie einfach nur gut geraten hat. Fakt ist, Alina weiß Bescheid und Marinja kann das genauso wenig ungeschehen machen wie so viele andere Dinge.

Eigentlich war Alina immer eine der letzten Personen, mit denen Marinja über die Schwangerschaft sprechen wollte; auch jetzt kann Marinja nur stumm da sitzen und auf die Moralpredigt warten. Auf das „Du machst dir dein Leben kaputt!“ und das „Wie konntest du nur so dumm sein?“. Alina, die nie Kinder haben möchte und ihre beiden Neffen zwar mag, aber genau weiß, wie anstrengend Babysitten ist und dass Kinder nie einen Platz in ihrer eigenen Lebensplanung haben werden. Was soll so jemand von einer gleichaltrigen Freundin halten, die schwanger ist?!

 

„Erzähl mir was darüber, irgendwas.“ Es klingt kein bisschen nach Befehl und Marinja fühlt sich keineswegs unter Druck gesetzt. Dennoch weiß sie nicht recht, womit sie beginnen soll.

„Ich...ich hab 'nen Test gemacht.“

„..und der war positiv“, hakt Alina nach, als Marinja nicht weiterspricht. Jene nickt, nippt vorsichtig an ihrem heißen Tee und kauert sich auf der Sitzbank zusammen.

„Das war nicht geplant.“

„Das denk ich mir mal. Wie weit bist du denn?“

„Siebte Woche.“

„Okay... Und jetzt?“ Alina rührt den Rest ihres Milchschaums unter. Marinja wird schon wieder anders zumute, wenn sie nur an fettigen Milchschaum denkt.

„Weiß nich'... Meine Eltern sind sicher bis an ihr Lebensende von mir enttäuscht. Ich kann's ihnen nicht sagen.“

Alina stützt aufmerksam das Kinn auf die Hand. „Sie werden's überleben, und du auch.“

„Du sagst das so leicht.“

„Marinja, deine Eltern werden dir nicht den Kopf abreißen. Ich kenn die doch. Die werden bestimmt platt sein, ich mein, ich bin auch gerade ziemlich platt, aber du bist nun mal schwanger und jetzt muss es doch irgendwie weitergehen. Das wird ja nicht ungeschehen, nur weil du ein Geheimnis draus machst.“

Nein, das wird es nicht. Da muss Marinja ihrer Freundin zustimmen.

„Ich weiß. Ich sollte bald mit ihnen reden, damit ich's noch..wegmachen lassen kann.“ Marinja erträgt es nicht, diese Alternative aus ihrem eigenen Mund zu hören. Es macht sie krank und kurbelt ihre Übelkeit erneut an. Sich auf ihre Atmung konzentrierend, lehnt sich Marinja dezent zurück und würde am liebsten in den Polstern der Bank verschwinden.

 

„Wenn du das möchtest“, dringt Alinas Stimme zu ihr durch. Marinja hebt verwirrt den Kopf.

„Ich hab doch keine Wahl.“ Und das sollten sie beide wissen! Doch Alina strahlt etwas völlig Anderes aus.

„Man hat immer eine Wahl.“

„Du würdest es auch wegmachen lassen!“, flammt eine plötzliche Wut in Marinja auf. Sie findet es anmaßend von Alina, so daher zu reden. Was für eine Wahl hat Frau denn bitte mit 16 Jahren?!

Alina, die diesen Anflug von Ärger definitiv nicht erwartet hat, hebt ihr Kinn von der Hand und tippt mit dem Finger auf die Tischplatte.

„Schön, dass du das so genau weißt!“

„Jeder weiß doch, dass du keine Kinder willst.“

„Trotzdem kann man ungeplant schwanger werden! Außerdem geht’s bei deiner Entscheidung nicht um mich, sondern darum, womit du am besten leben kannst. Es ist doch dein Leben, Marinja. Und du kannst nicht in zehn Jahren bei mir klingeln und sagen: Ich hab damals abgetrieben, weil ich dachte, wenn Alina keine Kinder will, krieg ich besser auch keine und jetzt bereu ich's!

 

Die Vorstellung hinterlässt Marinja empört. Dabei weiß sie tief in ihrem Inneren längst, dass Alina Recht hat. Marinja würde die Verantwortung für diese Entscheidung am allerliebsten abwälzen, denn dann könnte sie im Falle eines Falles tatsächlich jemand anderem die Schuld zuschieben. Doch so funktioniert das nicht...

 

„Ich-ich weiß doch nicht, was ich machen soll! Ich kann ein Kind doch gar nicht allein versorgen.“

„Was ist denn mit dem Vater? Hast du es ihm schon gesagt?“

Eine merkwürdige Taubheit ergreift von Marinjas Gliedern Besitz. All der Ärger ist mit einem mal wie weggeblasen und sie schaut auf ihre Hände hinab, die sie in ihren Schoß gelegt hat.

„Ja... Er will es nicht.“

„Mordskerl. Sorry, ich weiß, das hilft dir nicht weiter. Warum hast du eigentlich nie gesagt, dass du einen Freund hast?“

„Das...war nichts Festes. Also, ich wollte schon, aber er...“ Marinja will nicht verraten, dass ihr „Freund“ vergeben war, deswegen ist ihr Alinas Rumraterei willkommen.

„Er wollte sich nicht festlegen?“

„Genau...“

„Kenn ich den Kerl?“

„Nee.“

„Ist der auf unserer Schule?“

„Ist das nicht jetzt total egal? Er will uns nicht. Ich hab gedacht, wenn ich ihm von dem Baby erzähle, dann wird alles besser mit uns, aber stattdessen...“ Marinja beendet ihre Ausführungen mit einem verletzten Kopfschütteln. Die Enttäuschung raubt ihr die Sprache, macht sie fix und fertig. Wie sie sich doch in Linus geirrt hat. Wie dieser Junge gleich zwei Mädchen unbeschreiblich weh getan hat.

 

„Verstehe“, wispert Alina und wirkt betroffen. Ihre Hand legt sich auf Marinjas Hände, die eiskalt sind.

„Du wärst nicht die Erste, die ein Baby allein großzieht.“

„Ich kann das aber nicht...“

„Ich sag's ja nur. Das heißt nicht, dass du's tun musst.“ Unter dem Streicheln von Alinas Hand werden Marinjas Finger allmählich wärmer. Alina spricht derweil in ruhiger Tonlage weiter.

„Red mit deinen Eltern. Du musst auf jeden Fall zum Frauenarzt. Als Franzi zum ersten Mal schwanger geworden ist, war sie ja auch erst 19. Sie ist zu so 'ner Beratungsstelle gegangen. Die haben ihr total viel erzählt, also wie sie das am besten mit ihrer Ausbildung macht und was sie so für Gelder beziehen kann. Vorher dachte sie auch, sie packt das nicht. Aber als sie von dem Termin wiederkam, war sie total happy. Ich kann ja mal nachgucken, ob ich die Adresse der Beratungsstelle rauskriege.“

„Du darfst aber niemanden erzählen, dass ich...“

„Nein, natürlich nicht. Ich lass mir schon was einfallen.“ Das kleine Zwinkern schenkt Marinja sehr viel Mut und Zuversicht. Sie hat zwar keine Ausbildung, aber vielleicht gäbe es ja eine Möglichkeit, Baby und Schule zu vereinbaren? Nicht, dass sie sich das einfach vorstellt, aber Alinas Schwester Franziska war früher auch nicht der Typ Mädchen, dem man die Disziplin zugetraut hätte, sich mit einem Baby durch eine Ausbildung zu kämpfen. Dafür war sie zu Schulzeiten stets zu lernfaul und hat eher in den Tag hinein gelebt. Keiner hätte je gedacht, dass sie für sich und ein Baby sorgen könnte. Doch mittlerweile ist sie ein komplett anderer Mensch; viel organisierter und verantwortungsbewusster, und sie hat sogar einen neuen Freund gefunden.

 

Marinja ist ehrlich mit sich: Sie sieht weder sich selbst als Mutter, noch Linus als Vater. Aber sie fühlt, wie dieses Baby Einfluss auf ihr Leben nimmt, ihr Befinden und ihre Stimmung steuert. Etwas muss getan werden, etwas muss entschieden werden. Marinja kann nicht mehr weggucken oder fort laufen. Sie braucht Hilfe und Beratung; sie muss reinen Tisch mit ihren Eltern machen.

 

Fortsetzung folgt

Impressum

Bildmaterialien: HTTP://WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/KENAPARKER/
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle verzweifelten Mädchen

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