Es regnete. Seit Tagen regnete es unaufhaltbar. Luzy saß am Fenster des alten Fachwerkhauses und starrte mit leerem Blick auf den Hof, auf dem sich reißende Bäche gebildet hatten. Vor ihr stand eine Tasse Heißer Kakao, der vor sich hin dampfte. Sie zog die Decke, in die sie sich eingekuschelt hatte, enger an sich ran, als die Tür aufging und ein kalter Wind durch den Spalt pfiff. Ihre Mutter trat tropfend und mit roter Nase ein und zog sich die Gummistiefel aus. "Du musst nachher noch nach den Kühen gucken!", rief sie Luzy zu. Auch das noch, dachte sie und wand ihren Kopf wieder zweifelnd zum Fenster hin. Ihr Atem bildete einen Fleck auf dem Glas und sie malte ein Herz hinein. Seufzend stand sie auf, um ihren Regenmantel zu suchen. "Mama, hast du meinen Mantel zufällig gesehen?", fragte Luzy mit hochgehobener Augenbraue. Nein, hatte sie nicht, und Luzy ging schlurfend in ihr Zimmer. Natürlich fand sie ihren Mantel nicht sofort, wie es mit allen Sachen war, die sie je gesucht hatte. Im Schrank war er nicht. Auf dem Schrank auch nicht. Und in ihrer Komode schon gar nicht. Erst als sie die Idee hatte, auch unter ihrem Schrank zu schauen, tauchte der Mantel auf. Erleichtert zog sie ihn hervor und rannte die Treppe herunter. Nun wurde es aber Zeit, die Kühe konnten ja nicht ewig auf ihr Futter warten.
Im Laufschritt ging sie quer über den Hof und bemerkte zu spät, dass sie ihren Mantel immer noch in der Hand hielt. Sie war nunmal vergesslich. Kopfschüttelnd warf Luzy sich ihn über und öffnete das ächzende und knarrende alte Stalltor. Schnell schlüpfte sie hinein und schlug den Weg in Richtun Futterkammer ein. Geschickt mischte Luzy in großen Eimern Portionen, die sie dann den wartenden Kühen vor die Nasen stellte. Sie setzte sich auf einen Strohballen und hörte das zufriedene Muhen ihrer schwarz-weiß gefleckten Freunde. Ich will nur noch schnell nach Esma schauen, dachte Luzy und stand wieder auf. Die Hintertür ließ sich nur schwer öffnen und war von Spinnenweben übersäht, die die Tierchen im Laufe der Jahre gewebt hatten. Esma war eine Isländerstute, die auf dem Hof von Luzys Eltern ihr Gnadenbrot erhielt. Sie trug schon mehr als 20 Jahre Pferdeerfahrung auf ihren Beinen und war das zutraulichste Pferd, das Luzy je gekannt hatte.
Draußen hatte es inzwischen aufgehört, zu regnen, und die Wolken schimmerten unglaublich schön. Silberwolken, dachte Luzy, während sie durch das nass glitzernde Graß lief. Die Halme streiften ihre nackten Beine und sie genoss die Frische, die in der Almluft hing. Sie erspähte das Gatter und wollte hinlaufen, doch sie blieb ruckartig stehen. Esma war nicht da. Luzy öffnete mit zitternden Fingern das bemooste Gatter. Ihr Atem ging schnell und sie konnte ihr eigenes Herz pochen hören. "ESMA", schrie sie,"ESMA, WO BIST DU?" Doch es gab keine Antwort. Kein Hinweis. Nichts.
Luzy zog ihren Mantel enger um sich rum. Sie fröstelte, obwohl die Nachmittagssonne die Luft erwärmt hatte. Mit wachsamem Blick suchte Luzy die Weide ab, doch sie konnte Esma nirgens entdecken.Wie ein Nebel machte sich die Angst in ihrem Kopf breit und verhinderte, dass sie klar denken konnte. Es gab doch so eine Sage...,dachte sie, aber verdrängte den Gedanken sogleich wieder. Wurden nicht die alten und kranken Tiere irgendwann über eine Treppe aus Wolken in den Himmel geleitet? Ach Quatsch, dachte Luzy und biss die Zähne zusammen. Sie war doch kein kleines Kind mehr! Als sie das Ende der Weide erreichte, stieg sie einfach über den Zaun und lief weiter. Der große Sommerwald warf lange Shatten über sie und es rauschte im Geäst der alten Bäume. Der Weg war kaum mehr als ein Trampelpfad, und wenn man nach oben schaute, sah man nur das dichte, schützende Blätterdach. Ein ganz kleines Bisschen Magie hatte der Wald schon. Luzy lächelte, obwohl ihr gar nicht so zu Mute war. Sie kam auf eine Lichtung, die über und über mit Buschwindröschen bewachsen war. Ein leiser Windhauch zog über die Blumen und ließ sie erzittern. Luzy war von der Schönheit dieses Ortes so fasziniert, dass sie sich an einen Baumstamm lehnte und alles aufmerksam beobachtete. Der Wind trug eine leise Musik zu ihr herüber, die wie tausend Glöckchen klang. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie war und streckte sich auf dem weichen Waldboden aus. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie spät es war und schloss die Augen. Schlief ein, vom Duft der Blümchen betäubt und von der Melodie in den Schlaf gewiegt. Sie schlief und schlief und bekam nichts mit, als die Wolkendecke brach und sich etwas veränderte.
Texte: Isabelle F.
Bildmaterialien: Isabelle F.
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2014
Alle Rechte vorbehalten