Liebe LeserInnen,
Caro Skirt ist eine Geschichte, die ich kapitelweise veröffentlichen werde. Sie ist noch nicht abgeschlossen, die Figuren begleiten mich jedoch schon eine Weile und ich möchte sie schon jetzt mit euch teilen.
Vielen Dank für euer Interesse an meiner Geschichte und viel Spaß beim Lesen!
Langsam öffnete er die Augen. Im ersten Moment war seine Sicht verschwommen und er wußte nicht, wo er sich befand. Er blinzelte mehrmals und erkannte den Whirlpool, etliche teils gefüllte Gläser und auf dem Boden liegende Flaschen. Er stemmte sich von der Liege hoch, auf der er bäuchlings lag, nur, um gleich darauf mit einem Stöhnen auf den Boden zu sinken. Die Welt schien sich zu drehen und er hatte pochende Kopfschmerzen. Scheiße. Vorsichtig öffnete er die Augen einen spaltbreit, dann stand er langsam auf und presste sich dabei mit einer Hand an die Stirn, während er sich mit der anderen auf Kante des Liegestuhls abstützte. Taumelnd wankte er über die Dachterrasse und schließlich ins Wohnzimmer. Auch hier standen und lagen etliche Gläser, Flaschen, Teller, Luftballons, Chipstüten und Servietten verstreut auf dem Boden, Tischen, Ablagen und Sesseln herum, die von einer wilden Party zeugten.
In der Küche angekommen, durchwühlte er mehrere Schubladen, bis er endlich jene mit den Kopfschmerztabletten fand. Erleichtert drückte er einige Tablette aus dem Blister, füllte ein sauberes Glas aus dem Schrank mit Leitungswasser und schluckte sicherheitshalber gleich mehrere auf einmal.
Da ihm noch immer furchtbar schwindlig und übel war, sank er samt Wasserglas auf den Boden, lehnte sich an die untere Küchenschranktür und hoffte, dass die Tabletten bald ihre Wirkung zeigten. Mit einem Seufzen zog er die Beine an und verschränkte die Arme. Erst jetzt fiel ihm auf, dass um seinen linken Unterarm die Bänder einer Bikinihose gewickelt waren, die lose an seinem Ellbogen baumelte. Irritiert wickelte er die Bänder ab und fuhr mit den Fingerspitzen über den glänzenden Stoff. Er konnte sich an nichts mehr erinnern.
***
Claire lag auf ihrem Bett und hörte Musik. Die Party gestern war lang und laut gewesen, erst nach Sonnenaufgang waren die letzten Gäste gegangen. Sie war einen Blick auf die Uhr. 16:45. Sie sollte irgendetwas essen. Sie rollte sich vom Bett und betrat barfuß den Flur, kehrte kurz vor dem Wohnzimmer jedoch um und zog ihre Flipflops an. So chaotisch, wie die meisten Zimmer waren, wollte sie lieber Schuhe tragen.
In der Küche traf sie auf ihren Stiefbruder, der auf dem Boden kauerte.
„Alles okay?“
Er hob den Kopf und sah sie an. „Hi, Claire. Mir brummt der Schädel...“
„Hast du schon Tabletten genommen?“
Er nickte.
Sie griff nach seinem leeren Glas, füllte es mit Leitungswasser und hielt es ihm dann hin. „Du solltest mehr Wasser trinken, statt nur auf dem Boden zu hocken.“
„Würd ich ja, man. Aber mir ist so schlecht... kann mich kaum auf den Beinen halten.“
Sie seufzte und kniete sich neben ihm auf den Boden. Strich ihm die langen Ponyfransen aus der Stirn und sah ihn eindringlich an. „Was hast du denn getrunken, dass du so fertig bist?“
Er zuckte mit den Schultern und rieb sich mit der Hand über die Stirn. Tatsächlich befürchtete er, dass ihm irgendeiner seiner Gäste etwas ins Glas gemixt hatte, was kein Alkohol war, doch das wollte er ihr nicht sagen.
Claire umfasste seinen Arm. „Komm, ich bring dich in dein Zimmer.“
Mühsam richtete er sich auf und ließ sich von ihr in sein Schlafzimmer begleiten. Kaum war er in der Nähe des großen Bettes, ließ er sich mit einem Seufzer darauf fallen, während er ein kurzes Danke murmelte. Claire betrachtete ihn noch einen Augenblick, dann nahm sie eine Wasserflasche vom Sideboard und legte sie neben ihn ins Bett. „Denk dran, genug zu trinken.“ Er nickte unmerklich und schloß die Augen, fast so, als wäre er schon im Schlummer.
Claire verließ leise das Zimmer ihres Stiefbruders und ging in die Küche zurück, die verhältnismäßig ordentlich aussah, zumindest im Vergleich zu Wohnzimmer, Terrasse und Spielezimmer.
Sie holte ein Fertiggericht aus dem Tiefkühlfach und griff nach dem Telefon, das in einer Wandhalterung stand.
„Hallo Amelie, ich bin’s, Claire. Könntest du schon heute vorbeikommen? Ja, mir geht’s gut, aber die Wohnung sieht schlimm aus...“
Sie schwieg einen Moment und hörte Amelie zu, dann sagte sie: „Danke! Vielen Dank, bis gleich!“
Eine halbe Stunde später betraten Amelie, André und Arndt die Wohnung. Die drei waren Teil des Personals, das für Clements Haushalt zuständig waren. Neben Haushaltsangestellten, beschäftigte er auch Sicherheitspersonal und Chauffeure; jedoch nicht alle gleichermaßen häufig. Manchmal ließ er sich auch vom Sicherheitspersonal anstelle des Chauffeurs fahren, während die Haushaltsangestellten üblicherweise täglich früh morgens kamen und bis abends blieben und wegen der Party eigentlich erst Morgen kommen sollten, jedoch wegen Claires Anruf schon heute kamen.
„Sieht ja wild aus hier“, bemerkte André, als er sich im Wohnzimmer umsah. „Hattet ihr viel Spaß?“
Claire machte eine vage Geste. „Frag am besten Cle, sobald er wieder stehen kann.“
Durch den Anruf bei Amelie hatte sie ihr Fertiggericht vergessen, sie wärmte es nochmals auf und verzog sich dann in ihr Zimmer. Wenigstens dort herrschte kein Chaos einer zu langen Nacht.
***
Ein Geräusch riß ihn aus dem Schlaf. Erschrocken richtete sich Clement auf bis ihm klar wurde, dass es nur die Wasserflasche gewesen ist, die auf den Boden gefallen war. Inzwischen war es schon nach 23 Uhr. Er hatte ziemlich lange geschlafen und zum Glück weniger Kopfschmerzen. Er stand auf und ging ins Bad, um zu duschen. Danach zog er eine helle halblange Hose und ein kurzärmeliges Leinenhemd an. In der Küche nahm er zwei weitere Tabletten und füllte sich ein Glas mit Orangensaft. Als sein Blick ins offene Wohnzimmer schweifte, bemerkte er, dass es ordentlich und sauber war. Ob Claire aufgeräumt hatte? Er schlurfte zu ihrem Zimmer und betrat es, ohne vorher anzuklopfen. Sie lag auf der Seite in ihrem Bett und starrte aufs Smartphonedisplay.
„Hast du aufgeräumt?“
Sie schüttelte den Kopf, „nein, ich habe Amelie angerufen. Sie, André und Arndt haben sich drum gekümmert.“
Er setzte sich auf die Bettkante und trank einen Schluck Orangensaft. Sie legte ihr Smartphone zur Seite und drehte sich auf den Rücken.
„Geht’s dir besser?“
„Etwas, ja.“
Sie setzte sich im Schneidersitz neben ihn.
„Erinnerst du dich an gestern?“
„An die Party?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich, ich... ich glaube, jemand hat mir was ins Glas gekippt.“ Sein Gesichtsausdruck war voller Widerwillen. Er haßte Drogen. Etwas Alkohol war okay, aber Koks, Meth, Dust und anderes war für ihn Tabu - und eigentlich auch für seine Gäste. Doch gestern waren so viele Leute aufgetaucht, die er nicht einmal annähernd kannte, dass ihm so etwas passieren konnte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er sah sie erschrocken an.
„Geht’s dir gut? Oder hat dir auch jemand was ins Glas getan?“
Sie schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung, ich hatte keine Drogen.“
Er hielt ihren Blick fest. Irgendetwas war seltsam. Sie sah ihn mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an, so, als warte sie auf etwas, doch er vermochte nicht zu sagen, auf was.
„An was sollte ich mich denn erinnern?“, unterbrach er die Stille, die entstanden war. Als sie weiterhin schwieg, legte er ihr die Hand aufs Knie.
„Claire, war gestern irgendwas?“
Sie sah ihn noch einen Moment zögernd an, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein.“
Er glaubte ihr nicht, doch würde sie es ihm jetzt nicht sagen, das spürte er.
„Tut mir leid, wenn du übermorgen übermüdet zur Schule musst, weil ich gestern eine Party veranstaltet habe.“
Sie lächelte flüchtig. „Ich werd’s überleben."
Die Schultage waren wie so oft eintönig und ermüdend. Oft hörte Claire den Lehrern kaum zu und kritzelte stattdessen Ornamente in die Ecken ihres Blockes. Trotzdem gelang es ihr meist, die Fragen der Lehrer zu beantworten, sodass diese dachten, sie mache sich eifrig Notizen und folge aufmerksam dem Unterricht. Zum Glück war heute Freitag, denn samstags hatte sie außer Badminton keinen Unterricht und konnte sich ihre Zeit frei einteilen.
In der Mittagspause schlenderte sie am überdachten Gang zum Innenhof entlang und hörte Bee mit ihrer Clique Tuscheln und Kichern. Bee hieß eigentlich Bianca, doch nur die Lehrer sprachen sie mit Vornamen an. Bee färbte sich die Haare blond mit dunklen Strähnen. Vielleicht hatte ihr diese Angewohnheit den Spitznamen eingebracht, doch ganz sicher war sich Claire nicht.
„Hey Desert, wie findest du das?“ Eins der Mädchen hielt ihr die aufgeschlagene Seite eines Modemagazins vors Gesicht. Desert war der Spitzname, den sie sich für sie ausgedacht hatten, wegen ihrer roten Haare und zierlichen Figur. Eine aus Bees Clique meinte im vorletzten Sommer nach einem Schwimmwettbewerb, Claire sei so spröde und trocken wie eine Wüstenlandschaft, deshalb sei es kein Wunder, dass sie weder an rhythmischer Sportgymnastik noch beim Turmspringen eine gute Leistung erbrachte. Auch wenn sich ihre sportlichen Fähigkeiten verbessert hatten, der Name hing ihr noch immer nach.
Claire nahm ds Magazin in die Hand und betrachtete das Modefoto. Die zweiseitige Werbeanzeige für die neue Kollektion von Cabal zeigte ein männliches und ein weibliches Model. Die Frau trug ein rosafarbenes, kurzes Cocktailkleid mit Aussparungen, die sehr viel Haut zeigten, während der Mann einen dunkelblau schimmernden Anzug trug. Die meisten Knöpfe des Hemdes waren geöffnet, sodass ein Teil seines Oberkörpers sichtbar wurde. Claire kannte ihn nur zu gut. Es war ihr Stiefbruder.
„Schöne Farbe“, bemerkte Claire und reichte das Magazin an Lea zurück, doch Bee riß es ihr vorher aus der Hand.
„Ich muss dieses Kleid einfach haben!“, verkündete sie. Die anderen lachten. „Nur das Kleid?“ Bee verdrehte die Augen und verzog ihren rosa geschminkten Mund. „Tiz, wenn du weißt, wie man mehr als nur das Kleid kaufen kann, nur zu. Verrat’s mir.“
Joi, die bislang geschwiegen hatte, strich über den unteren Rand des Magazins und sagte: „Morgen Abend findet eine Autogrammstunde im Eleven’s statt. Wir sollten hingehen, vielleicht bekommst du da das Kleid.“
Bee fiel erst jetzt auf, dass in winzigen goldenen Lettern tatsächlich eine ‘Vorstellung samt Autogrammstunde’ angekündigt war.
„Joi, du bist die Beste! Lasst uns zusammen hingehen. Claire, kommst du auch mit?“ Bee sah sie auffordernd an.
„Okay, wenn es zeitlich geht. Du weißt doch, samstags ist immer Badminton...“
Bee zog eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch, dann las sie vor: „Die Präsentation unserer neuen Time for Celebrations-Kollektion findet Samstag von 11-13 Uhr im Eleven’s statt. Von 13-15 Uhr können vor Ort ausgewählte Stücke sofort erworben bzw. vorbestellt werden. Zudem finden Autogrammstunden mit unseren beliebten Modellen statt. Wie lange geht dein Unterricht?“
„Bis um 11. Danach muss ich duschen, mich umziehen und...“
Tiz fiel ihr ins Wort. „Du kannst ja nachkommen. Bis wir in der City sind, dauert es mindestens 30 Minuten, mit Stau noch länger.“
Die anderen murmelten zustimmend, doch Bee schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist keine gute Idee. Ich wollte Barney überreden, uns zu fahren. Er macht doch am Wochenende oft Einkäufe und kann uns sicher mitnehmen. Am besten läßt du Badminton diese Woche ausfallen.“
Claire wollte wiedersprechen, doch dann schwieg sie. Vermutlich war es leichter, sich eine Ausrede für den Sportunterricht einfallen zu lassen als Bees Einladung, die eher eine Anweisung war, auszuschlagen.
„Gut... wann fahren wir los?“
Bee dachte nach. „Ich glaube, der Hausmeister fährt immer zwischen 10 und 11 Uhr los, wenn er etwas besorgen muss. Ich frage ihn nachher und schick euch dann eine Nachricht.“
Das Läuten der Schulglocke kennzeichnete das Ende der Mittagspause und die Mädchen verabschiedeten sich voneinander und strebten in unterschiedliche Richtungen davon, da sie aufgrund von Wahlfächern nicht alle Stunden gemeinsam hatten.
***
Bee hatte es tatsächlich geschafft, den Hausmeister zu überreden, dass er sie mit in die City nahm, jedoch nur durch einen Trick. Sie hatte sowohl für die Köchin als auch die Kunstlehrerin einige Besorgungen übernommen, die es rechtfertigten, dass sie mit dem Hausmeister in die Stadt fahren konnten. Aus diesem Grund trugen sie keine Alltagskleidung, sondern ihre Karmesinroten Schuluniformen, die mit dunkelblauen Akzenten geschmückt waren.
„Ey Bee, deine Idee war ja ganz gut, aber dass wir nun in Uniform zum Event gehen müssen, suckt“, beschwerte sich Tiz, als sie zu fünft Richtung Shoppin Mall schlenderten. Bee nahm Tiz Genörgel gelassen auf. Sie kannte Tiz lange genug, um zu wissen, dass diese eigentlich immer etwas auszusetzen fand.
„Besser so als gar nicht“, warf Lea ein und Joi nickte zustimmend. Claire reagierte gar nicht. Ihr war es egal, was sie trugen. Wenn sie Pech hatte, würde ihr Bruder sie so oder so bemerken und ausfragen, wieso sie nicht in der Schule war. Leider wußte er, dass sie auch samstags Unterricht hatte.
„Wenigstens haben wir nicht die ganze Präsentation verpaßt“, bemerkte Joi, als sie endlich das Einkaufszentrum betreten und die richtige Etage gefunden hatten. Obwohl doch etliche Interessierte Kunden um die Präsentationsplattform herumstanden, gelang es Bee dennoch, sich näher an die Tribüne zu drängeln. Natürlich umgeben von ihrem Gefolge. Claire war das Ganze etwas peinlich und sie entschuldigte sich mehrere Male bei erbost dreinblickenden Kundinnen. Schließlich blieb Bee etwa drei Meter von der Tribüne entfernt stehen, in der Nähe der Absperrung, während Claire sich in 6 Metern Enternung an eine Säule lehnte.
„Meinen sehr verehrten Damen und Herren, kommen wir nun zum Abschluß unserer heutigen Präsentation!“
Ein gespanntes Raunen ging durch die Menge und auch Claire richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf die Bühne und nicht mehr auf ihr Handydisplay.
Mehrere Models, sowohl Männer als auch Frauen, liefen über einen Steg aus dem hinter der Tribüne liegenden Kleidungsgeschäft auf die Plattform zu. Der letzte der fünf Männer, der die Bühne betrat, war Clement.
Sein Gesichtsausdruck wirkte kalt und abweisend, wie der einer Marmorstatue. Seine hellen, halblangen fransig geschnittenen Haare waren gestylt und mit viel Haarspray fixiert. Das Makeup betonte seine grünen Augen und verlieh ihm gleichzeitig etwas Ätherisches. . Das Jackett seines Anzugs glitzerte und durch das Farbspiel aus tiefem Blau und hellen Reflexionen erinnerte es an den Nachthimmel und verlieh ihm etwas Entrücktes. Kein Wunder, dass einige der jungen Kundinnen aufkreischten, sobald sie ihn sahen.
Clement absolvierte die Präsentation in routinierter Gelassenheit. Erst als er Claire an der Säule entdeckte, legte sich für einen Sekundenbruchteil ein flüchtiges Lächeln auf sein Gesicht. Weshalb sie wohl hier war? Er wußte, dass sie sich nicht besonders für Modeschauen und Präsentationen interessierte, ebenso wenig für die Mode an sich. Sie trug zwar gelegentlich auch Werbegeschenke, die er ihr mitbrachte, doch oft hatte er das Gefühl, dass sie es eher ihm Zuliebe tat und nicht, weil ihr die Kleidung wirklich gefiel oder es ihr wichtig gewesen wäre, stets Stücke aus der neuesten Kollektion zu erwerben.
Die Autogrammstunde fand an zwei Seiten der Tribüne statt. An den anderen beiden Seiten wurden Vorbestellungen für die neue Kollektion angenommen, an einem Tisch konnten Kunden einige ausgewählte Exemplare sofort erwerben, solange die Größe stimmte.
Die Autogrammtische der Modelle befanden sich an der rechten Seite der Tribüne; Claire und ihre Mitschülerinnen standen vor der Tribüne an der linken Ecke. Deshalb hatten sie einen kürzeren Weg zu den Tischen mit der Bestellungsannahme.
Fünfzehn Minuten später hielt Bee eine Papiertüte mit einer Seidenschachtel in der Hand.
„Ich hab’s! Ich hab’s!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht, während sich ihre Freundinnen verstohlene Blicke zuwarfen. Keine wollte diejenige sein, auf die Bees Zorn fiel, denn obwohl Bee für gewöhnlich Größe 40 trug, hatte sie sich Größe 36 gekauft, denn andere Größen gab es nur auf Bestellung und Bee wollte unbedingt sofort das neue Kleid mitnehmen und nicht noch drei Wochen bis zur offiziellen Veröffentlichung warten.
Während die Kundenmenge sich vorher mehr verteilt hatte, sammelten sich nun alle zu beiden Seiten der Verkaufs- und Autogrammtische. Bei den Modellen stand so eine große Menschentraube, dass die Security begann, die Kunden zurückzudrängen und weitere Absperrungen aufzustellen.
„Mist, wieso habt ihr euch denn nicht schon eher angestellt?“ warf Bee vorwurfsvoll ein, als sie die Securitymänner sah, die ihr gerade vor der Nase den Weg versperrten.
„Hey. Hey!“, rief sie einem der Männer zu. „Können wir bitte noch durch? Bitte?“
Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Geht nicht, sorry. Wir haben unsere Anweisungen. Autogrammstunde zwei Stunden.“ Er deutete mit dem Kopf auf die noch immer zu den Tischen strebenden Kunden. „Wenn wir noch mehr hinlassen, sitzen die Models heute Abend noch hier.“
Noch bevor Bee etwas erwidern konnte, wandte er sich um und half einem Kollegen, weitere Absperrungen aufzustellen.
„Wenigstens hast du das Kleid, Bee“, versuchte Joi sie zu trösten.
„Ja, aber wie oft gibt es eine Autogrammstunde in unserer Nähe?“ Vor Enttäuschung biß sie sich auf die Lippe.
Während die anderen miteinander diskutierten, was sie nun am besten tun sollten und ob sich einer der Securityleute vielleicht doch erweichen ließ, ging Claire an den Schaufenstern der anderen Geschäfte entlang, die sich gegenüber der Autogrammtische befanden. An der Ecke eines Geschäfts, das in einen weiteren Gang des Shopping Centers mündete, blieb sie stehen und wartete.
Es dauerte nicht lange, dann kam ein Securitymitarbeiter auf sie zu und forderte sie auf, sie zur Tribüne zu begleiten. Er schob sie an allen Wartenden vorbei und wollte sie sogar in den hinteren VIP-Bereich durchlassen, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, danke. Holen Sie bitte noch meine Mitschülerinnen? Sonst wird der nächste Monat eine Qual!“ Einen Moment sah er sie irritiert an, dann nickte er verstehend. Zehn Minuten später standen alle fünf vor den Autogrammtischen und ließen sich Postkarten und Din A 5 Poster mehrerer Models geben.
„Bitte, kann ich ein Selfie machen?“ Bee blinzelte eins der weiblichen Models auffordernd an und tatsächlich lächelte diese und erlaubte ihr das Selfie. Nur Bees Freundinnen wußten, dass sie am Model nicht wirklich interessiert war, jedoch einen Grund brauchte, um auch Clement um ein Selfie bitten zu können. Er würde sicher nicht unfreundlicher als seine Kollegin erscheinen wollen, malte sich Bee aus und tatsächlich gewährte auch er ihr das ersehnte Selfie.
Da Claire und er lediglich Ziehgeschwister waren und öffentlich nicht bekannt war, dass sie zusammen aufgewachsen waren, wußte niemand an Claires Schule, dass sie sich kannten. Nicht einmal die Lehrer, denn Clement überließ einem Anwalt sämtliche Formalitäten. Selbst Schulbesuche für eventuelle Lehrergespräche wurden vom Anwalt absolviert und nicht von ihm selbst, obwohl er bereits volljährig war.
„Hier, bitte.“ Clement hielt Claire dasselbe Fanpaket hin, dass er allen Kunden übergab: Eine unterschriebene Autogrammkarte, drei Din A 5 Poster der neuesten Kollektion und ein Schlüsselanhänger mit einem stilisierten C, das für Cabal stand, jedoch gleichermaßen auch für die Anfangsbuchstaben ihrer Namen. Deshalb gefiel ihr der Anhänger am besten und sie lächelte, als sie ihn entgegen nahm. „Danke.“
Nachdem sie sich aus dem Pulk der Wartenden gelöst hatten, bleiben sie kurz stehen, um zu entscheiden, was sie nun tun wollten. Da sie nichts zu Mittag gegessen hatten, entschieden sie, in einem der Restaurants des Shopping Centers etwas zu essen. Die Wahl fiel auf ein japanisches Restaurant, weil Bee unbedingt Sushi essen wollte, was Claire hasste. Deshalb begleitete sie die anderen auch nur bis zum Restaurant und sagte dann, sie müsse nochmal zurück, weil sie ihr Handy nicht mehr fand und fragen wollte, ob es jemand gefunden und beim Fundbüro abgegeben hatte.
„Hoffentlich war es kein Taschendieb!“, bemerkte Tiz und kontrollierte sicherheitshalber, ob ihr Handy noch da war. Die anderen taten es ihr gleich und waren erleichtert, dass keines fehlte.
„Viel Glück, Des!“
Clair winkte ihnen kurz zu und ging dann in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
Natürlich hatte sie ihr Handy nicht verloren, doch sie brauchte einen Grund, um sich von ihnen trennen zu können und gleichzeitig nicht per Message oder Anruf erreichbar zu sein. Ein leerer Akku eignete sich zwar für das eine, jedoch nicht als Ausrede für das andere und deshalb hatte sie behauptet, ihr Handy verloren zu haben.
Drei Ebenen tiefer befand sich das Event. Nachdem Claire zwei Ebenen nach unten gefahren war, suchte sie sich eine relativ ruhige Ecke und zog die Werbegeschenke heraus, um sich den Schlüsselanhänger anzusehen, der in einer kleinen Schatulle verpackt war. Als sie den Deckel abhob, fiel ein gefalteter Zettel mit einer handschriftlichen Notiz heraus:
Belle Vue, 307
Es war die Handschrift ihres Bruders. Belle Vue war ein Apartmenthotel, dass an die Shopping Mall angegliedert war. 307 vermutlich eine Zimmernummer. Sie zog ihr Handy hervor und betrachtete die Uhrzeit. 14.45h.
Vermutlich würde er nicht vor 16 Uhr dort sein. Sie packte alle Sachen wieder in ihren Rucksack und dachte nach. Entweder, sie aß ebenfalls hier oder sie ging gleich ins Hotel und aß dort. Sie entschied, lieber in einem Restaurant der Shopping Mall zu essen.
***
„Guter Auftritt!“ Carissa, die Organisatorin des Events, hatte die Umkleide der Models betreten und klatschte zweimal in die Hände. Anerkennend nickte sie den Modellen zu. „Wir haben sämtliche Vorverkaufsstücke bereits verkauft und eine hohe Anzahl von Vorbestellungen erhalten. Zieht euch um und genießt die After Show Party heute Abend!“
Clement fuhr sich durch die noch immer starren Haarfransen. Er würde duschen müssen, damit sie wieder weich und beweglich waren. Zumindest war er das Makeup los. Liveauftritte benötigten immer wesentlich mehr Makeup als Studioaufnahmen, wo man digital nachbearbeiten konnte. Deshalb mochte er Fotoaufnahmen lieber als Livepräsentationen, doch da ausdrücklich nach ihm verlangt worden war, hatte er sich von seiner Agentur dazu überreden lassen, heute daran teilzunehmen.
„Kommst du auch?“ Eins der Models, mit der er auch schon für Studioaufnahmen zusammengearbeitet hatte, sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Für heute reicht’s mir. Viel Spaß noch!“ Er nickte ihr zu und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Erst dann packte er seine Sachen zusammen und ging ebenfalls.
***
Kurz nach 17 Uhr betrat Clement die Hotelsuite. Claires Rucksack lag auf einem der Sessel im Wohnzimmer, sie musste also auch irgendwo sein. Er hatte dem Concierge des Hotels ausgerichtet, dass er sie in seine Suite lassen sollte, nachdem er sich per Ausweis ihrer Identität versichert hatte.
Anstatt sie zu begrüßen, ging er jedoch erst einmal in eines der Badezimmer, um sich das Haarspray abzuwaschen.
Frisch geduscht und lediglich mit einem Handtuch um die Hüften, betrat er zwanzig Minuten später das ans Bad angrenzende Schlafzimmer und blieb überrascht stehen, als er Claire auf dem Bett liegen sah.
Sie summte eine Melodie, die vermutlich zu einem Song gehörte, den sie über ihr Handy anhörte. Sie hatte die beiden Zöpfe gelöst, die noch vorhin ihre kupferne Haarpracht gebändigt hatten und lag bäuchlings mit den Füßen zu ihm, sodass sie nicht bemerkt hatte, dass er ins Zimmer gekommen war.
Während sie die Melodie summte, bewegte sie ihre Beine im Takt. Sie hatte die langen Kniestrümpfe ausgezogen, die sie üblicherweise trug. Der ohnehin sehr kurze Rock der Schuluniform war durch die Bewegung nach oben gerutscht und ließ immer wieder ihre Rundungen aufblitzen.
Er blieb neben der Wand stehen und beobachtete sie. Sie schüttelte ihr Haar und auf einmal erinnerte er sich wieder. An die Party. Den Whirlpool. Der Typ, der plötzlich aufgetaucht war...
Zeitgleich mit den Erinnerungsfetzen schoß ihm das Blut in die Lenden. Er ballte die Hand zur Faust und dachte: Fuck!
Er wandte sich ab, um ins Bad zurück zu gehen, doch in diesem Augenblick begrüßte ihn Claires helle Stimme.
„Hi, Cle! Ich hab gar nicht gemerkt, dass du da bist.“ Sie lächelte und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.
„Hi“, erwiderte er matt.
„Alles okay?“ Sie setzte sich auf und betrachtete ihn nachdenklich. Der kurze Rock rutsche dabei noch weiter nach oben und gab den Blick auf ein Stück Stoff ihres Slips preis.
„Ich...“
„War es so anstrengend?“ Sie rutschte vom Bett und lief barfuß zu ihm.
Prüfend betrachtete sie sein Gesicht. Glücklicherweise nur das, dachte er.
„Ich muss nochmal ins Bad...“ Er drehte sich um und wollte ins Bad gehen, doch sie folgte ihm. „Claire, bitte, ich will...“ Er wollte griff nach ihren Schultern, um sie zurück ins Schlafzimmer zu schieben, doch dabei löste sich da Handtuch von seiner Hüfte, fiel zu Boden und offenbarte seine Erregung.
„Fuck!“ Er wollte das Handtuch aufheben, doch sie war schneller, hob es vom Boden auf und trat einen Schritt zurück.
Kurz starrte er das Handtuch in ihrer Hand an, dann trafen sich ihre Blicke.
„Du erinnerst dich wieder. An die Party“, sagte sie. Es war eine Festellung, keine Frage.
„Das...ich...“ Er seufzte und nickte schließlich.
„An alles?“ Er war sich nicht sicher, was genau sie mit ‘alles’ meinte.
„Auch daran, was du gesagt hast?“
„Was habe ich gesagt?“
Über ihre Gesichtszüge glitt Enttäuschung und sie warf ihm das zusammengeknüllte Handtuch ins Gesicht, bevor sie aus dem Zimmer stapfen wollte.
„Claire, was habe ich gesagt?“ Clement war ihr gefolgt und hielt sie am Oberarm fest.
„Dass du mich liebst. Dass du für immer bei mir sein willst. Dass du mich nie verläßt...“
Als er nicht sofort reagierte, riß sie sich von ihm los und lief ins Wohnzimmer, kam jedoch nur wenige Schritte weit, bevor er sie erneut festhielt.
„Du erinnerst dich nicht!“, warf sie ihm vor.
Es stimmte. Er erinnerte sich nicht daran, das in der Partynacht zu ihr gesagt zu haben und dennoch entsprach es der Wahrheit.
„Es stimmt“, begann er und fing sich einen zugleich wütend doch auch verletzten Blick ein. „Das ist, was ich empfinde. Und was ich mir wünsche.“
Jedoch hätte er es nüchtern wohl kaum zu ihr gesagt. Er hätte sich nüchtern auch nicht im Pool an sie gedrängt und ihr die Bikinihose ausgezogen.
„Ich zieh mich an und dann können wir reden.“ Da die Tasche mit seiner Kleidung im Schlafzimmer an der Wand neben dem Bad stand, ging er wieder zurück. So konnte er nicht mit ihr reden.
Erleichtert bemerkte er, dass sie ihm nicht folgte. Er ging ins Bad, um sich abzukühlen, doch noch bevor unter der Dusche stand, hörte er ein leises Klirren und hielt in der Bewegung inne.
Claire stellte mehrere Alkoholflaschen aus der Hotelbar auf die Ablage.
„Was soll das?“
„Es ist genug Alkohol da. Wenn du nüchtern nicht kannst, dann betrink dich eben!“
„Was?“ Irritiert und verärgert betrachtete er sie.
Claire begann, die Knöpfe ihre Schuluniformsbluse zu öffnen. Sie trug keinen BH. Die Enden des Kragenbandes, das eine moderne Form einer Schulkrawatte sein sollte, baumelten zwischen ihren Brüsten. Sie streifte die Bluse über die Arme und legte sie auf einen Hocker.
„Du warst genau so steif wie jetzt, vielleicht noch mehr. Du hast dich an ich gepresst und...“
„Claire, ich...“
„Wäre der Typ nicht aufgetaucht, dann hättest du, du warst...“
Er sollte sie nicht ansehen. Weder auf die Bändel noch ihre wippenden Brüste achten. Sie war so aufgebracht, dass sie bei jeder Bewegung sichtbar mitschwangen, jetzt, wo sie keine Bluse mehr trug.
„Wenn es wahr ist, was du gesagt, hast, dann...“
Sie trat zu ihm und griff nach seiner Hand, presste seine Handinnenfläche auf ihr Herz, sodass er sowohl ihren Herzschlag als auch ihre Brust spürte.
„Claire...“ Er seufzte. Sie war furchtbar stur. Seit jeher.
Schließlich gab er nach. Wie so oft. Er zog sie an sich und legte die Arme um sie. Für einen Moment standen sie eng umschlungen da, dann schob er seine Finger seitlich in ihren Slip.
Es gab Situationen, in denen Clements Verhalten für sie unberechenbar war. Diese war eine von ihnen. Claire dachte, er würde sie umarmen und dann hinausschicken, doch stattdessen begann er, sie zu fingern.
Er küßte ihren Hals, leckte über ihr Schlüsselbein, saugte an ihren Brustwaren und vergaß doch nie, weiterhin mit seinen Fingern zwischen ihren Schenkeln zu arbeiten. Ihre Atmug veränderte sich, wurde flacher, kürzer. Plötzlich winkelte er ein Bein an und schob es zwischen ihre Beine, packte sie an der Taille und der Schulter und rieb ihren Schritt über seinen Oberschenkel. Wieder und wieder. Der Stoff ihres Slips verrutschte und verklemmte sich.
Er bemerkte es, drehte sie um und zog ihr den Slip herunter, schob sie zum Hocker, auf dem ihre Bluse lag und griff nach ihrem Bein, damit sie sich mit einem Knie auf dem Hocker abstützte. Er zog sie an der Taille nach hinten, wodurch sie das Gleichgewicht verlor und sich mit den Armen auf der an der Wand stehenden Kommode abstützen musste.
Seine Finger glitten in sie, über sie, erneut spürte sie seinen Oberschenkel zwischen ihren Beinen und als er sie heftig zu sich zog, kam sie.
Er legte seine Hand auf ihren Unterbauch und glitt mit zwei Fingern in sie. Sie zitterte und keuchte. Er beugte sich zu ihr hinunter, schmiegte sein Gesicht in ihre Haare und flüsterte ihr ins Ohr.
Sie drehte sich um und sah ihn an, legte ihm die Hand an die Wange.
„Was ist mit dir? Wieso hast du...“
„Sei doch einmal still!“ Um sie am Weitersprechen zu hindern, presste er seinen Mund auf ihren. Seine Zunge war, heiß, fordernd, sodass sie nichts mehr fragen konnte. Sie war zu abgelenkt gewesen, um zu bemerken, daß er längst gekommen war.
Als sich ihre Münder voneinander lösten, war Claire atemlos. Clement nutze den Moment, um ihr Gesicht mit beiden Händen zu umfassen und ihren Blick festzuhalten.
„Lass uns duschen und etwas zu essen bestellen, okay? Ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen.“ Sie nickte zögernd. Sein Verhalten verunsicherte sie. „Ich nehme das andere Bad“, verkündete er und huschte aus dem Zimmer noch bevor sie etwas erwidern konnte.
Als Claire einige Zeit später aus der Dusche stieg, fehlte ihre Schuluniform. Stattdessen lag auf der Kommode ein Set dunkelgrüner Unterwäsche sowie ein ebenfalls grünes Hoddie-Kleid mit Reißverschluß. Claire faltete es auseinander und betrachtete den Zipper in Form eines C’s. Die Kleidung stammte vermutlich aus der neuen Kollektion von Cabal.
***
Clement trug ein hellblaues Leinenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und dazu eine beigfarbene Leinenhose. Er saß auf der Terrasse am Eßtisch, auf dem verschiedene Gerichte nebeneinander aufgereiht waren.
Als Claire die vielen Teller, Schüsseln und Töpfe sah, verzog sie das Gesicht.
„Wer soll das denn alles essen?“
„Ich konnte mich nicht entscheiden, außerdem wußte ich nicht, was du essen willst. Deshalb hab ich einfach von allem etwas bestellt. Die Agentur bezahlt das eh. Fällt unter Spesen für das Event.“
Sie setze sich neben ihn und betrachtete die Speisen. Letztlich entschied sie sich für Salat und Kräuterbaguette. Clement aß gefüllte Paprika und Reis.
„Claire, wo ist dein Handy?“, fragte er sie nach dem Essen.
„In meinem Rucksack.“
„Kannst du es holen?“
Sie nickte und stand auf, um es aus dem Wohnzimmer zu holen. Auf dem Wohnzimmertisch standen einige mit glänzender Folie beschichtete Papiertüten. Sie warf einen Blick hinein und stellte fest, daß er noch weitere Kleidungsstücke für sie mitgebracht hatte.
Clement wollte wohl nicht länger auf der Terrasse warten und kam nun ebenfalls ins Wohnzimmer. Claire sah auf und tadelte ihn:
„Cle, du sollst mir doch nicht immer Designerkleidung mitbringen!“
„Laß mich doch!“ Er grinste. „Besser du als ich. Wenn ich immer ablehne, selbst auch Stücke aus der Kollektion anzunehmen, reagieren sie verärgert.“
Sie seufzte und zog den Inhalt aus den Tüten. Legte jedes einzelne Kleidungsstück auf die Rücklehne der Couch.
„Zumindest ist es diesmal tragbar“, bemerkte sie letztlich, da es sich nicht nur um Partykleider handelte, sondern auch um leger-elegante Freizeitkleidung, einen Badeanzug, ein Sportdress und ein Cocktailkleid.
„Siehst du, es gefällt dir doch.“ Er trat hinter sie und zog sie an sich, legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Sie schloß die Augen und lehnte sich an ihn. Könnte sie für immer in diesem Moment verharren, wäre alles gut.
„Gibst du mir jetzt dein Handy?“ Der Moment war vorbei und Claire seufzte. Griff nach ihrem Rucksack und zog das Handy hervor.
„Hier, bitte.“
Er nahm es ihr aus der Hand.
„Es ist nicht an.“
„Natürlich nicht. Der Akku ist leer. Als ich vorhin beim Haarefönen etwas Musik hören wollte, ging es aus, deshalb habe ich es in den Rucksack getan, damit ich es nicht vergesse, bevor ich zu dir auf die Terrasse kam.“
Sie sah zu ihm und fragte sich, was er mit ihrem Handy wollte.
„Okay, gut.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und strich dabei einige der Strähnen zurück, die ihm in die Stirn fielen.
„Es ist wichtig, daß du dich auch weiterhin an unsere Abmachung hälst. Keine Fotos, keine relevanten Details, keine intimen Telefonate...“
Sie nahm das Handy wieder an sich und steckte es zurück in den Rucksack.
„Ja, ich weiß. Das brauchst du mir nicht extra sagen.“
Es war seit jeher so gewesen; seit sie aufs Internat ging, daß sie weder persönliche Textnachrichten noch Fotos oder andere private Daten auf dem Handy speichern sollte. Das bedeutete, sie besaß keinen Social Media Account, keine Selfie-Galerie und auch keine Urlaubsfotos auf ihrem Handy, im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen. Deshalb dachten manche, sie wäre eigentlich ein armes Mädchen, das nur durch Glück mithilfe eines Stipendiums an einer Elite-Schule gelandet war. Sie beließ sie in dem Glauben. Es machte die Dinge einfacher, führte zeitgleich jedoch dazu, daß sie sehr einsam war, da die anderen sie als nicht zu ihrer Schicht gehörend betrachteten. Hätte auch nur eine von ihnen geahnt, daß Clement ihr Ziehbruder war, dann hätte sie sich vor falschen Freundinnen kaum noch retten können.
Dies war einer der Gründe, weshalb Clement auf so eine strikte Regelung bestand. Ein anderer hing mit ihrer Vergangenheit zusammen. Dem Tod ihrer Eltern. Vielleicht auch dem Tod seiner Eltern, die vor etwa drei Jahren gestorben waren. Es hieß, es sei ein unglücklicher Unfall gewesen, doch Clement schien davon nie ganz überzeugt gewesen zu sein.
Er ließ sämtliche Angelegenheiten, die Claires Ausbildung betrafen, von einer Anwaltskanzlei regeln. Er war noch nie an ihrer Schule gewesen, weder für einen Lehrersprechtag noch für eine der sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen. Selbst die Schulleitung wußte nicht, wer die Anwaltskanzlei beauftragt hatte, akzeptierte dieses ungewöhnliche Vorgehen jedoch, da sie jedes Jahr eine großzügige Spende für ihre schulischen Projekte erhielt, durch die sie sich von anderen Schulen abheben konnte.
„Denkst du ich mach mir plötzlich einen Insta-Account und poste Schnappschüsse von dir?“ Sie klang gekränkt.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das denke ich nicht. Ich wollte dich nur daran erinnern, nicht nachlässig zu werden.“
„Das werde ich nicht!“ Sie funkelte ihn einen Moment wütend an, dann drehte sie sich um und zog die Event-Poster aus dem Rucksack.
„Wenn ich dich sehen will, hänge ich mir einfach ein Poster an die Wand! Was hälst du davon? Das tun viele, Bee zum Beispiel...“
Er zog sie an sich und strich ihr über das Haar.
„Schon gut, es tut mir leid. Ich vertraue dir.“
Sie schwieg, legte nun jedoch ebenfalls ihre Arme um ihn, denn sie wollte ihre gemeinsame Zeit nicht mit Streiten verbringen.
Einige Tage später...
„Sehr gut Claire! Wenn du so weitermachst, kommst du bis zu den Meisterschaften.“ Die Lehrerin nickte ihr anerkennend zu. Claire hatte heute beim Training sowohl das Badminton-Einzel- als auch das Doppelspiel gewonnen. Die Lehrerin klatschte zweimal in die Hände, so Mädels, genug für heute.“
Claire ging zusammen mit den anderen in die Umkleide. Dort verstaute sie ihre Sachen und entschied, lieber in ihrem Zimmer zu duschen, damit sie sich danach gleich umziehen konnte. Sie war direkt in Sportkleidung zur Halle gegangen und hätte deswegen keine frische Kleidung anziehen können.
Sie schulterte ihre Sporttasche und ging durch den großräumigen begrünten Innenhof Richtung Wohngebäude. Als sie an einer Nische in der Nähe des Wohngebäudes vorbeiging, hörte sie ein ihr bekanntes Lachen. Sie blieb stehen und lugte um die Ecke. Bee und die anderen saßen und standen lachend und quatschend herum. „Paßt auf, ich zeig’s euch!“, verkündete Bee nun und zog einen Lolli aus ihrer Tasche hervor, mit einer Handbewegung entfernte sie die glänzende Folie von der roten Kugelspitze des Lollis und hielt ihn den anderen demonstrativ hin. Dann fuhr sie mit der Zunge die Naht in der Mitte des Lollis entlang, die beide Hälften miteinander verband. Nachdem sie den ganzen Lolli einmal mit ihrer Zunge umrundet hatte, steckte sie ihn ganz in den Mund und begann daran zu saugen und zu lecken. Joi fing an zu kichern, Tiz verdrehte die Augen und Lea sah mit ausdrucksloser Miene zu.
Bee zog den Lolli wieder aus ihrem Mund und presste nun ihre Zungenspitze auf die obere Seite des Lollis, dabei verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem leicht spöttischen und zugleich herausfordernden Lächeln.
„So macht man das“, raunte sie, während sie sich zu Lea beugte.
Vielleicht hatte Bee ihren Blick gespürt, vielleicht war es Zufall, dass sie sich plötzlich umdrehte und gerade noch sah, wie jemand durch die geöffnete Tür im Inneren des Gebäudes verschwand.
Claire hastete durch den Gang und beeilte sich, die Treppe, die hinauf zu ihrem Zimmer führte, zu erreichen. Sie hatte keine Lust auf eine Unterhaltung mit Bee, die bestimmt wieder irgendwelche spitzen Bemerkungen gemacht hätte, wie sie es oft tat, wenn sie Claire sah.
Oben in ihrem Zimmer verschloß Claire die Tür und zog sich das Sportdress aus, dann ging sie ins angrenzende Bad, um zu duschen. Glücklicherweise gab es im Internat für viele Zimmer eigene Bäder, sodass sie nicht in Gemeinschaftsräumen duschen mussten. Es war erträglich, in Gemeinschaftsräumen zu essen, doch Gemeinschaftsduschen hätte sie nicht überlebt.
Zwanzig Minuten später schlüpfte Claire in eine Jeans und ein grünes T-Shirt mit einem Blumendruck. Nach einem Blick auf ihren Wecker, stellte sie fest, dass sie noch fünf Minuten hatte, um sich im Speisesaal einzufinden. Sie seuzfte und rubbelte mit dem Handtuch durch ihre feuchten Haare. Heute würde sie wohl ungefönt zum Essen gehen müssen.
***
Seit sie mit Bee im Einkaufszentrum gewesen war und ihr später half, das Kleid in eine passende Größe umzutauschen, forderte diese sie regelmäßig auf, ihr und den anderen Gesellschaft zu leisten. Auch heute winkte sie Claire zu, damit sie sich zu ihnen an den Tisch setze.
„Wie war das Training?“, Fragte Tiz als Claire sich zu ihnen setzte.
„Ganz gut. Die Trainerin meint, wir haben eine Chance, bis zu den nationalen Meisterschaften im Herbst zu kommen, wenn wir weiterhin so spielen wie jetzt.“
„Das ist toll, ich freue mich für dich!“ Jois Begeisterung schien echt und Claire nickte ihr mit einem kurzen Lächeln zu.
„Sag mal... du zeichnest doch gern, oder?“ Nun wandte sich Tiz an sie. Claire sah überrascht auf und nickte. „Ja, schon, wieso?“
Tiz faltete die Hände und legte ihre Unterarme auf die weiße Tischdecke. Am Wochenende aßen sie oft im kleinen Speisesaal, weil viele zu ihren Eltern nach Hause fuhren. Der kleine Speisesaal erinnerte mehr an ein Restaurant als an eine Schulmensa.
„Ich habe die Organisation für den Sommerball übernommen. Dekoration, Tischkärtchen und so... und da du gerne zeichnest, dachte ich, du könntest vielleicht ein paar passende Muster entwerfen, die wir dann auf die Plakate und Kärtchen drucken.“ Tiz sah sie aufmerksam an, etwas Lauerndes lag in ihrem Blick, doch Claire konnte nicht sagen, was dahintersteckte.
„Okay“, erwiderte sie schließlich. „Ich denk drüber nach und werd dir ein paar Skizzen machen.“ Tiz nickte zufrieden. „Gut, schaffst du es bis Mittwoch?“ Claire überlegte. Sie musste für zwei Prüfungen lernen, hatte das Badminton-Training... Schließlich nickte sie. „Ja, bis Mittwoch Abend gebe ich dir ein paar Entwürfe.“
„Gut, ich bin gespannt, was du dir einfallen läßt.“
***
Claire saß auf einer Bank am Rand der Sporthalle und sah den anderen Spielern zu. Heute sollte eigentlich das Doppeltraining stattfinden, doch ihre Mitspielerin war krank und deshalb war es ausgefallen. Während in der einen Hälfte das Mädchenteam der Schule spielte, tranierte in der anderen das der Jungen. Claire kannte sie vom Sehen, hatte noch nie mit ihnen gesprochen. Einer der Spieler, ein Schüler, der einen Jahrgang über ihr war, hatte einen ziemlich starken Aufschlag. Er gewann kurz hintereinander gegen mehrere Gegner, was beim letzten dazu führte, daß dieser wütend den Schläger gegen das Netz war.
„Ey Gero! Wenn du alle so abziehst, will keiner mehr mit dir ins Doppel!“
Der Angesprochene lachte. „Stell dich nicht so an und üb besser deine Reflexe. Du bist lahm wie ein Opa!“ Er drehte seinen Schlägergriff so schnell, daß dieser um die eigene Achse rotierte und immer für einen kurzen Moment in der Luft zu schweben schien.
„Ich wette, sogar sie könnte dich schlagen!“
Plötzlich deutete er mit der Schlägerspitze direkt auf sie. Claire erstarrte, doch es gab keine Möglichkeit, unauffällig zu verschwinden. Leider waren inzwischen auch die anderen Schülerinnen gegangen, sodass sie alleine mit den Jungs in der Halle war. Gero lief auf sie zu und blieb in etwa 2 Meter Abstand vor ihr stehen.
„Ich hoffe, du beweist, dass ich recht habe. Ich täusche mich nur ungern.“ Er sah sie auffordernd und herausfordernd an. Sein kastanienbraunes Haar war dunkel und leicht gelockt, doch er hatte es mit Gel und einem Stirnband gebändigt. Seine Augen schienen von ähnlichem Farbton wie seine Haare.
„Ich bin gar nicht aufgewärmt“, entgegnete Claire schließlich.
Nun trat er zu ihr, packte ihr Handgelenk und zog sie von der Bank. „Worauf wartest du dann noch? Los, mach schon!“
Widerstrebend stand Claire auf und begann mit Dehnübungen, schließlich lief sie fast drei Runden am äußeren Rand der Sporthalle entlang und blieb schließlich neben ihrer Sporttasche stehen, um ihren Schläger hervorzuholen. Prüfend fuhr sie mit den Fingern über die Saiten. Dann klemmte sie sich den Schläger und zog ihre Trainingsjacke aus. Es spielte sich besser ohne lange Ärmel.
„Girlys first“, bemerkte Paul als sich Claire zu ihnen stellte. „Willst du die Seite oder den Aufschlag bestimmen?“
„Ich wähle die Seite.“ Er nickte ihr zu und wartete ab, welches Feld sie nahm, dann ging er zur gegenüberliegenden Seite und positionierte sich ebenfalls.
Den ersten Satz entschied sie klar für sich, doch Paul tat so als sei das absichtlich gewesen. Der zweite endete unentschieden und den dritten entschied sie erneut eindeutig für sich. Gero applaudierte.
„Tja, ich hab’s dir doch gesagt. Du brauchst mehr Training.“ Paul verzog die Mundwinkel, entgegnete jedoch nichts. Er warf auch nicht erneut den Schläger ins Netz, sondern ging zu Claire, um ihr kurz die Hand zu reichen. „Gut gespielt. Bei der Revanche spiele ich mit einem neuen Schläger, dann hast du keine Chance mehr.“ Er grinste sie an und wandte sich dann an Gero. „Ich mach Schluß für heute, muss noch für Physik lernen. Bis später!“ Er drehte sich um und schlenderte in Richtung der Jungsumkleiden davon.
Claire sah einen Moment hinterher und wollte sich dann ebenfalls verabschieden, doch Gero kam ihr zuvor.
„Du spielst besser als er. Vermutlich schlägt er dich nur, wenn du ihn absichtlich gewinnen läßt.“ Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Dadurch, daß er etwas muskulöser als Clement war, wirkte er größer, obwohl er ein Stück kleiner war.
„Mag sein. Wieso spielst du mit ihm im Doppel, wenn du ihn für einen schlechten Spieler hältst?“ Gero lachte.
„Ich habe nicht gesagt, daß er schlecht ist, nur, daß du besser bist.“ Er sah sie eindringlich an, bis sie den Blick abwandte.
„Wie dem auch sei, ich muss mich auch noch um andere Dinge kümmern...“
Er nickte. „Okay, bis dann! Man sieht sich.“ Er nickte ihr zu und ging zu seiner Sporttasche, die neben einer der langen Sitzbänke stand. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er die Halle.
Kurz darauf packte Claire ihre Sachen zusammen und ging ebenfalls. An der Tür begegnete sie einigen anderen Schülerinnen, die am Sportgymnastik-Kurs teilnahmen und nun damit begannen, die Halle dementsprechend vorzubereiten. Die Schule bot verschiedene Sportarten an; einige wurden gezielt gefördert, sodass sie an lokalen und nationalen Meisterschaften teilnehmen konnten. Vereinzelt gab es sogar später international erfolgreiche Sportler, die während ihrer Schulzeit hier traniert hatten.
***
Claire legte ihr Lehrbuch zur Seite. Sie hatte zwei Stunden gelernt und das Gefühl, sich an weniger zu erinnern als zuvor. Ihr Handy klingelte und sie berührte das Annehmen-Symbol.
„Hi.“
„Hi, wie geht’s?“
Sie seufzte. „Gut, daß du anrufst. Ich habe bis eben Chemie gelernt und das Gefühl, weniger zu wissen als vor zwei Stunden.“
Er lachte. „Du solltest lieber öfters und dafür mit Pausen lernen als nur wenige Male und dann stundenlang.“
„Ja, vermutlich.“
„Hast du morgen Training?“
„Ja. Wie jeden Samstag.“
„Ich bin ab morgen Abend in der Stadt. Komm doch übers Wochenende nach Haus.“
„Wirklich?“ Claires Stimme klang unweigerlich höher vor Aufregung.
„Ja. Ich bin für ein paar Tage in der Stadt. Es hat sich kurzfristig so ergeben, wenn du jedoch lieber Trainieren willst...“
„Nein! Das tue ich doch schon die ganze Zeit.“ Sie hielt kurz inne und presste sich eine Hand aufs Herz, das viel zu schnell schlug.
„Dann sehen wir uns also morgen Abend?“
„Ja. Ich sage Karim Bescheid, daß er dich abholt. Bis morgen.“
Noch bevor sie sich verabschieden konnte, hatte er aufgelegt. Claire saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und versuchte, wieder ruhiger zu atmen.
Sie hatte Clement seit drei Wochen nicht mehr gesehen und nur einige wenige Male kurz mit ihm gesprochen. Die Live-Präsentation hier war nicht die einzige für die neue Kollektion; deshalb reiste er zusammen mit den anderen Models momentan von Stadt zu Stadt, um in allen relevanten Zentren exklusive Vorverkaufsveranstaltungen abzuhalten.
An manchen Tagen hatte sie ihn so sehr vermißt, daß sie beinahe die PR-Poster an die Wand genagelt hätte, doch das war ihr im letzten Moment dann doch zu blöd vorgekommen. Immerhin war es nicht das Model, nach dem sie sich sehnte, sondern der Mensch, den sie seit über zehn Jahren kannte.
Claire freute sich sehr, Clement endlich wieder zu sehen und dann bekam sie am späten Nachmittag eine Textnachricht, in der er ihr mitteilte, daß er nicht genau wußte, wann er landen würde, da es ein Problem mit dem Flugzeug gab. Enttäuscht verbrachte sie den Abend alleine vor dem großen Flachbildschirm im Wohnzimmer und sah sich irgendeinen Film an, den ihre Mitschülerinnen toll fanden, der sie selbst jedoch nur wenig interessierte. Irgendwann, es war bereits nach Mitternacht, schaltete sie den Fernseher aus und schlurfte in sein Zimmer. Wenn er schon nicht selbst anwesend war, so wollte sie wenigstens seinen Sachen nah sein.
Gegen 2 Uhr betrat Clement das Penthouse. Es war still. Vermutlich schlief Claire bereits. Auch er war müde, denn sie hatten nach der Präsentation noch eine After Show Party gehabt, an der diesmal alle teilnehmen mußten, weil es um einen Auftrag ging. Er ließ sein Gepäck im Flur stehen, streifte die Schuhe ab und ging in sein Zimmer. Er wollte nur noch schlafen.
In der gesamten Wohnung gab es an den Wänden eine indirekte Beleuchtung, die auch nachts für ausreichend Licht sorgte, um schemenhaft sehen zu können und zum Beispiel vom Flur ins Schlafzimmer zu gelangen, ohne die helle Beleuchtung einschalten zu müssen.
In seinem Schlafzimmer ließ Clement Hemd, Hose und Socken auf den Boden fallen und stieg lediglich in Boxershorts ins Bett. Das Bett war zu groß und er zu müde, um zu bemerken, daß Claire bereits darin schlief.
***
Im Halbschlaf drehte sie sich zur Seite und stieß auf einen Widerstand. Mit den Fingerspitzen berührte sie warme Haut. Sie öffnete die Augen und bemerkte im Zwielicht der Dämmerung, daß Clement neben ihr schlief. Er lag schräg auf der Seite, ein Arm von sich gestreckt, der andere angewinkelt. Claire betrachtete seine Gesichtszüge. Die markanten, hohen Wangenknochen, die hellen langen Wimpern, die geschwungenen Lippen, auf denen oft ein spöttischer Ausdruck lag. Sie streckte die Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger über seine Stirn, seinen Nasenrücken, sein Kinn. Er gab ein Geräusch von sich und drehte sich auf den Rücken. Nun konnte sie seinen trainierten Oberkörper sehen. Er schien akzentuiertere Muskeln zu haben als zuvor. Sie rückte ein Stück näher an ihn heran und setzte sich auf, berührte mit den Fingerspitzen seine Muskeln, abwartend, ob er erwachte. Vielleicht war er zu erschöpft und schlief deshalb zu tief, um ihre Berührung zu bemerken. Vorsichtig rückte sie noch ein wenig näher heran und neigte den Kopf, um ihn auf den Bauch zu küssen. Er regte sich nicht einmal. Claires Hand legte sich auf seinen Oberschenkel, verharrte kurzfristig dort, bevor sie zwischen seine Beine wanderte. Er war weich und schlaff, doch schon bald, nachdem sie ihre Hand unter die enganliegende Shorts gezwängt hatte, wurde er stetig härter.
Mit einem kurzen Blick versicherte sich Claire, daß Clement noch immer schlief, dann zog sie ihm einen Teil der Shorts herunter. Wäre er wach, hätte sie sich vermutlich nicht getraut, doch so war sie wagemutiger. Sie dachte an Bee und den Lolli und probierte es an Clements Spitze aus. Sein Stiel wurde steifer; die Kuppe trat weiter hervor. Claire leckte und saugte unterbrochen von kurzen Pausen so lange an ihm, bis er sich wie ein Spähturm emporreckte.
Er träumte. Es war ein seltsamer Traum. Etwas zog ihn immer weiter hinab in die tiefen des Wassers. Schlingpflanzen wanden sich um seine Gliedmaßen, wann immer er ein Stück nach oben in Richtung der Wasseroberfläche geschwommen war und zogen ihn wieder hinab ins Dunkel. Bald schon würde ihm die Luft ausgehen, käme er nicht rechtzeitig zur Oberfläche, würde er ertrinken. Erneut versuchte er sich von den Schlingpflanzen zu befreien und war danach noch gefesselter als zuvor. Resigniert ließ er den Kopf sinken. Er wollte nicht so enden. Er spürte eine leichte Berührung an der Wange und als er den Kopf hob, sah er vor sich zwei dunkle schimmernde Augen, die ihn wortlos und intensiv musterten. Kein Augenweiß war zu sehen und die Nase schien flach und ungewöhnlich. Das Wesen ergriff seinen Kopf mit beiden Händen und presste seinen Mund auf Clements. Lebenswichtiger Sauerstoff strömte ihn seinen Körper. Die Fesseln der Schlingpflanzen schienen sich zu lösen und er packte das Wesen, presste es an sich und schlug zugleich heftig mit den Beinen, letztlich mit dem ganzen Körper, versuchte, die Wasseroberfläche zu durchbrechen, mit heftigen Bewegungen nach oben zu schwimmen, während er in dem Glauben, das Wesen könne ihn vor den Schlingpflanzen bewahren, auch jenes mit sich zog.
Er lag auf ihr, seine Finger krallten sich in ihr Fleisch, während er sich ruckartig bewegte, wieder und wieder in sie stieß, immer heftiger und tiefer. Sie konnte nicht richtig atmen, er war zu schwer und zu grob. Sie versuchte, sich zu lösen, sich unter ihm hervorzuwinden, doch das führte lediglich dazu, daß er sie noch fester packte, noch heftiger zustieß. Erst als er sich in ihr ergoß, entspannte sich sein Körper etwas und er sank schwer atmend auf sie. Sie spürte seinen Herzschlag. Schnell, pochend. Auch er atmete unregelmäßig.
Endlich hatte er die Wasseroberfläche durchbrochen! Seine Bewegungen wurden ruhiger, gleichmäßiger. Tief sog er die frische Luft ein, die salzig und leicht modrig schmeckte. Hier würden ihn die Schlingpflanzen nicht mehr erreichen. Er war frei.
Irgendetwas kitzelte seine Nase. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und öffnete die Augen. Im ersten Moment überlagerte das Traumbild seine Wahrnehmung doch dann realisierte er, daß es Claires Haar war, das sein Gesicht gestreift hatte und daß er auf ihr lag. In ihr vergraben war.
„Was...?“
Mit einer geschmeidigen Bewegung löste er sich von ihr und setzte sich auf. Starrte sie fassungslos an.
Einige Knöpfe ihres Hemdkleides waren abgerissen, am Hals und an den Beinen hatte sie rote Druckstellen. Das Gefühl der Unterwasserwelt aus seinem Traum war noch so präsent, daß es ihm schwerfiel, das, was er sah, zu erfassen. Seine Gedanken so zu ordnen, daß er verstand, was genau geschehen war. Wie konnte es sein, daß er so einen Traum hatte und gleichzeitig mit Claire im Bett lag?
Claire setzte sich ebenfalls auf, zog den Saum ihres Kleides herunter und fuhr sich über den Hals. Vermutlich würde sie einige blaue Flecken bekommen.
„Was ist passiert?“
„Was ist passiert?“
Sie stellten die Frage gleichzeitig. Da er schwieg, sprach Claire zuerst.
„Ich weiß nicht genau. Du schienst zu schlafen. Ich wollte dich berühren, ohne dich zu wecken und dann...“ Sie zog die Beine an sich und schlang ihre Arme darum. Es war komplett anders verlaufen als sie es sich vorgestellt hatte. Ob er unter Drogen stand? Hatte er, wie so viele andere, begonnen, auf den Partys high zu werden?
„Hey.“ Er rückte näher an sie heran und strich ihr eine der Haarsträhnen hinters Ohr, wie er es schon oft getan hatte.
„Ich hatte einen wirklich schrägen Traum. Ich dachte, ich ertrinke. Ich bekam keine Luft, immer, wenn ich mich befreit hatte und zur Oberfläche schwimmen wollte, schlangen sich erneut unzählige Schlingpflanzen um meinen Körper und zogen mich hinab zum Grund.“
„Ziemlich scheußlicher Traum.“ Sie hielt noch immer ihre Beine umschlungen und stützte das Kinn auf ihren Knien ab.
„Claire, wieso hast du mich nicht geweckt?“
Sie sah auf, begegnete dem Blick seiner nun dunkelgrün schimmernden Augen.
„Das habe ich ja versucht, aber du hast gar nichts mitgekriegt!“ Sie klang aufgebracht.
Er schüttelte den Kopf, „nein, ich meine vorher.“
Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Unterarmen als sie spürte, wie Hitze ihre Wangen durchströmte. Was sollte sie darauf antworten? Daß sie ihn wie eine Puppe in Ruhe erspüren wollte? In einem Augenblick spontan an Bee und ihre eingebildeten Freundinnen denken mußte und deshalb sich selbst beweisen, daß die anderen nur so taten, als hätten sie Ahnung, während sie selbst. Claire, dann eine echte Erfahrung hätte? Mit dem Idol, hinter dem so viele her waren? Sie seufzte. Clement beobachtete sie und wartete ab.
„Sie reden dauernd von dir. Wie toll du aussiehst, wie sexy du bist. Worauf du stehst. Daß sie... daß du... Manche sagen, sie sind so gut, daß du von ihren Blowjobs nie genug kriegen würdest und sie schon deshalb immer an deiner Seite haben wolltest...“
„Ach Claire.“
Er zog sie an sich und legte die Arme um sie, schmiegte sein Gesicht an ihr seidiges Haar.
„Tiz meint, du hast was mit dem anderen Model, deshalb habt ihr so viele Shootings zusammen, damit es nicht auffällt.“
Er strich ihr mit der Hand übers Haar, über den Rücken.
„Welches andere Model denn?“
„Das mit den langen Locken.“
„Trixie?“ Er begann zu lachen. „Sie denken echt, ich hätte was mit Trixie?“
Claire legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Wieso amüsierte ihn das so?
Er erwiderte ihren Blick und lächelte.
„Trixie ist die Freundin der Projektmanagerin.“
„Wirklich? Du meinst, sie ist... sie steht nicht auf dich?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wir sind Kollegen. Sie und ich fingen damals etwa zeitgleich bei derselben Agentur an. Vielen Auftraggebern gefällt es, uns zusammen zu buchen. Wegen der Gegensätze.“
Damit spielte er auf das Äußere an. Während er helles Haar und helle Augen hatte, war sie eine dunkle Schönheit mit schwarz glänzenden Augen und kakaofarbener Haut. Er wußte, daß es Gerüchte, Spekulationen gab, ob zwischen ihnen etwas lief, doch weder er noch sie gingen darauf je ein. Ihm war es egal und sie wollte verhindern, daß jemand bemerkte, mit wem sie wirklich zusammen war.
„Es gibt keinen Grund für Eifersucht.“ Er drehte sich zur Seite und stieg aus dem Bett.
„Wo gehst du hin?“
„Bin gleich zurück.“
Kurze Zeit später betrat Clement das Zimmer erneut. Claire sah ihn abwartend an, als er sich neben sie aufs Bett setzte und ihr eine Kette mit einem Anhänger zeigte.
Der Anhänger und die Kette glänzten silbern, vielleicht war es Silber oder Weißgold; der Anhänger selbst bestand aus verschlungenen Buchstaben:
C-L-AI-E
In die Buchstaben waren Steine eingebettet, vielleicht Diamanten? Sie war nicht sicher, allerdings spielte es für sie auch keine so große Rolle; es ging ihr nicht um den materiellen Wert.
„Erkennst du, was es ist?“
Sie nickte. Die Buchstaben standen teils für ihren und seinen Namen, AI für Liebe und LE für ewiges Leben. Es war lange her, daß sie die Buchstaben in dieser Kombination gelesen hatte. Damals konnte sie nur ihren Namen schreiben und hatte ihre Eltern verloren. Clement wollte sie aufmuntern und hatte dieses Wortspiel erfunden und später gezeichnet. Er meinte, ihre Eltern hätten sich durch sie verewigt, würden durch sie weiterleben und schon ihr Name bringe dies zum Ausdruck. Sie griff nach dem Anhänger und schlang die Arme um seinen Hals.
„Danke“, flüsterte sie kaum hörbar.
Texte: Nick Taken
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2020
Alle Rechte vorbehalten