Wieder hatte Johannes den sicheren Weg verlassen und blickte nun sehnsuchtsvoll hinauf zu dem strahlend weißen Gebäude, das sich über die gesamte Breite des Wasserfalls zog.
Das Tosen des in die Tiefe stürzenden Wassers übertönte das Meckern der Ziegenherde und die Gischt kühlte sein von der Mittagssonne erhitztes Gesicht.
Die Gegend galt als gefährlich, doch, wenn man ihn fragte, war das Blödsinn. Aber niemand fragte Johannes.
Also verließ er Tag für Tag heimlich den üblichen Pfad, um seine Herde am Ufer des reißenden Flusses weiden zu lassen.
Nicht umsonst waren die Ziegen seiner Familie die wohlgenährtesten im ganzen Dorf. Sie mussten nicht auf den kränklich braunen Wiesen hinter den Häusern grasen, sondern erfreuten sich an dem üppigen, frischen Grün.
Würde seine Mutter jemals erfahren, wo sich sein geheimer Weideplatz befand, würde sie ihm die Verantwortung für die Tiere, die ihren Lebensunterhalt sicherten, gewiss nicht mehr übertragen.
So aber sorgte er nicht nur für ein besseres Einkommen, sondern konnte auch ungestört seinen Tagträumen nachhängen.
Wie gerne wäre er dort oben, in der Villa Hohlstein, inmitten der anderen Anwärter, deren dunkle Schatten er im steinernen Bogengang erkennen konnte. Gemeinsam mit ihnen würde er den Umgang mit Schwert, Pfeil und Bogen lernen, wie man für das Gute einstand und den Menschen helfen konnte!
Aber als einfacher Ziegenhirte bekam er dazu keine Chance …
Im Gegensatz zu all den Adligen dort oben würde er sie nutzen und sich als würdig erweisen, sodass ein Drache ihn als Gefährte wählen würde. Dessen war er sich sicher.
Johannes betrachtete die gegenüberliegende Felswand, auf der die Drachenvilla thronte, wie die Villa Hohlstein für gewöhnlich genannt wurde. Nur im unteren Bereich war das hellbraune Gestein spärlich mit Büschen bewachsen. Ein einzelner Baum klammerte sich hartnäckig an einen Felsbrocken inmitten des herabstürzenden Wassers. Im Grunde waren es mehrere direkt nebeneinanderliegende Wasserfälle, die den ohnehin schon tosenden Fluss zusätzlich speisten. Erst einen halben Tagesmarsch entfernt gab es eine Brücke, die es ermöglichte, das schäumende Gewässer sicher zu überqueren.
Links neben den Wasserfällen konnte man eine Treppe erkennen, die aus dem Felsen geschlagen worden war und zu einer Plattform hinab führte. Ein hölzernes Tor versperrte den Eingang zu den Schwarzfelshöhlen, denen die Villa Hohlstein ihren Namen verdankte.
Ein tiefes Seufzen entrang sich seiner Kehle, als sein Blick weiter schweifte und an einem klaffenden Loch in der Felswand hängen blieb, das nur aus der Luft zu erreichen war. Riesig und dunkel hob es sich von dem hellen Gestein ab und wirkte gleichermaßen ehrfurchtgebietend wie faszinierend auf ihn.
Für jeden anderen Dorfbewohner war es einzig und allein furchteinflößend. So furchteinflößend, dass sie die Villa und deren Umgebung weitläufig mieden.
In dem zweiten Höhlensystem lebten die Drachen, die gerade keinen Gefährten gewählt hatten. Nur selten sah man sie über der Villa kreisen, denn sie brauchten weder Wasser noch Nahrung.
Immer wieder musste er über die Leute und ihre schier unermessliche Panik schmunzeln. Wenn sich doch eines der riesigen Wesen am Himmel blicken ließ, flüchteten sich die Bewohner seines Dorfes aus Angst in ihre Häuser. Niemand von ihnen konnte es verstehen, wenn er dann auf dem Dorfplatz stehen blieb und, den Kopf in den Nacken gelegt, die Drachen bewunderte.
Überall im Land galt es als Ehre, in die Gardistenschule des Königreichs aufgenommen zu werden, doch hier, in unmittelbarer Nachbarschaft, war es das schlimmste Schicksal, das einen jungen Mann ereilen konnte. Dabei verteidigten die Drachengardisten die Grenzen des Reichs und sorgten so für die Sicherheit der Bevölkerung.
Johannes wusste, dass es unter König Endres dem Zweiten anders gewesen war. Er hatte einen nie enden wollenden Krieg mit den umliegenden Reichen geführt, um sein eigenes zu vergrößern. Zuerst mit normalen Truppen, später, als die anderen Reiche zurückzuschlagen begannen, auch mithilfe der Drachen. Doch noch vor Johannes’ Geburt war König Endres der Zweite in einer Schlacht gefallen und sein Sohn, der jetzige König, Endres der Dritte, hatte den Thron übernommen und die Kämpfe mit den benachbarten Reichen beendet.
Das Gerücht, dass Endres der Zweite von jemandem aus den eigenen Reihen umgebracht worden war, hielt sich hartnäckig. Und es war nicht auszuschließen, denn zu dieser Zeit hatte es einige Rebellengruppen gegeben. Zusammenschlüsse von Männern und Frauen, die es nicht länger hatten hinnehmen wollen, dass einer nach dem anderen von ihnen in sinnlosen Schlachten fiel, denn jeder wehrfähige Bewohner des Reiches war zum Kriegsdienst verpflichtet gewesen. Die Felder waren unbewirtschaftet geblieben und allein der Hunger hatte unzählige Opfer gefordert. Sie hatten mehr als einen erfolglosen Anschlag verübt.
Der König war im Gegenzug nicht davor zurückgeschreckt, die eigenen Dörfer anzugreifen und mit Hilfe der Drachen niederzubrennen, um diese Gruppen auszulöschen. Insgeheim vermutete Johannes, dass es auch seinem Dorf bald so ergangen wäre, hätte nicht der Machtwechsel stattgefunden.
Wahrscheinlich war sein Dorf das einzige, in dem die Menschen ihre Abneigung gegen die Drachen so offen zeigten. Im Grunde waren es nur Kleinigkeiten, die jedoch die Gesinnung der Dorfbewohner mehr als deutlich machten. Zum Beispiel die Abscheu, die vorbeiziehende Drachengardisten zu spüren bekamen oder deren widerwillige Versorgung. Und egal wie schlecht es auch stand, niemand wollte in der Villa Hohlstein Arbeit suchen.
Mit einem Kopfschütteln wischte Johannes die Gedanken beiseite und widmete sich lieber seinem knurrenden Magen. Er überprüfte, ob die Herde noch vollzählig war, lehnte seinen Stock an einen flachen Felsen und setzte sich darauf. Er holte eine Scheibe trockenes Brot sowie ein Stück Ziegenkäse aus seinem Beutel.
Nachdem er in Rekordzeit sein Mittagessen vertilgt hatte, lehnte er sich auf dem flachen Stein zurück, verschränkte zufrieden die Arme hinter dem Kopf und blickte hinauf in die flauschigen Wolken vor dem hellblauen Hintergrund. Um sich die Zeit zu vertreiben, suchte er nach Figuren, fand einen Krug, ein Boot und sogar eine Art Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln.
Oder war es doch eher ...?
Er musste eingeschlafen sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, waren die Wolken in Kupfer getaucht.
Johannes sprang auf. Hektisch blickte er sich um. Zu seinem Glück waren alle Ziegen noch in seiner Nähe.
Er nahm seinen Beutel und den Stock, bevor er mit einem Pfiff die Aufmerksamkeit der Tiere auf sich lenkte. Dann suchte er die Leitziege und legte ihr die Hand an den Hals, um sie in die richtige Richtung zu führen. So erklomm er die Uferböschung und folgte schnellen Schrittes dem ausgetretenen Trampelpfad zurück nach Hause.
Die Nacht sandte bereits ihre langen Schatten aus und verdrängte die letzten Strahlen geschmolzenen Goldes, als er aus dem dichten Buschwerk hinaustrat. Der gewundene, staubige Weg, der nun vor ihm lag, führte direkt in die Mitte des Dorfes. Doch bereits aus der Ferne bemerkte er, dass etwas nicht in Ordnung war.
Die Leute, die um diese Zeit normalerweise beim Abendessen zusammensaßen, standen auf dem Marktplatz und viele wuselten in einer Mischung aus angstvoller Hektik und gebrüllten Befehlen durcheinander.
Ohne weiter darauf zu achten, ob ihm die Tiere folgten, stürmte er los.
Er drängte sich durch die Menge, aber noch bevor er das Haus seiner Familie erreichte, hörte er neben sich ein ersticktes Aufkeuchen. Im nächsten Moment umfingen ihn schmale Arme.
Der typische Geruch von Ziegenmilch und Seife stieg ihm in die Nase und vor Erleichterung wurden seine Augen feucht.
„Mein Junge!“, flüsterte seine Mutter nahe an seinem Ohr. „Was bin ich froh, dass es dir gut geht ...“ Sie drehte ihn herum und ihr Blick glitt an ihm herab. „Du bist doch in Ordnung, nicht wahr?“
„Natürlich Mutter, mach dir keine Sorgen.“
„Oh, wenn du wüsstest, mein Junge …“ Die Tränen flossen ungehindert über ihre Wangen.
„Was ist passiert?“, wollte er wissen.
Seine Mutter senkte den Kopf, als könnte sie seinem Blick nicht länger standhalten. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit.
„Mutter?“
Sie schüttelte schwach den Kopf. „Die Drachen ...“
Ihre Stimme klang rau und als sie ihn wieder ansah, wirkte sie unendlich alt.
„Einer ist gekommen und hat seine Kreise über dem Dorf gezogen ... Er ...“ Sie stockte. „Die Kinder ...“
Sein Herz verkrampfte sich schmerzhaft und er ballte die Hände zu Fäusten.
„Sie haben Leila“, schluchzte seine Mutter und bestätigte seine schlimmste Befürchtung.
Sie sackte auf die Knie, als hätte sie plötzlich alle Kraft verlassen, das Gesicht in den Händen verborgen.
Johannes fühlte sich wie damals, als das Eis des Dorfsees nicht dick genug gewesen und er eingebrochen war. Eisige Kälte betäubte jegliches Gefühl, ließ nur die brennende Sorge übrig.
Wie von einem fremden Willen gesteuert legte er seine Hand auf die Schulter seiner Mutter.
„Ich werde sie zurückholen.“
Bevor die Worte richtig zu ihr durchdringen konnten, hatte er bereits den Waldrand erreicht. Er hörte sie hinter sich schreien, warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah, dass sie vom Schmied zurückgehalten wurde, damit sie ihm nicht folgen konnte. Gut so … Ihre Blicke trafen sich und sie musste seine Entschlossenheit gesehen haben, denn sie kämpfte nur noch stärker gegen Gerts Umklammerung an.
Johannes wandte sich ab. Er achtete nicht auf die Dornen, die sich in seiner Hose verfingen und ihn scheinbar aufhalten wollten. Auch die Äste, die blutige Striemen auf seinen Armen und Wangen hinterließen, während er sich seinen Weg bahnte, nahm er kaum wahr.
So schnell wie noch nie zuvor erreichte er die flache Böschung, die zum Fluss hinabführte.
Schwer atmend blieb er stehen, starrte hinüber zum Eingang der Höhle, die immer noch genauso ruhig wirkte wie am Morgen. Der Anblick schien ihn in trügerischer Sicherheit zu wiegen.
Doch nun wusste er es besser.
Nie hatte er es geglaubt, wenn die Dorfältesten erzählten, dass die Drachen den Krieg genossen hätten. Die Schreie ihrer Opfer und das Blut der Gefallenen.
Stets hatte er es als abergläubischen Unsinn von vor Furcht verblendeten alten Männern abgetan, wenn sie behaupteten, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die Ungetüme, wie sie sie nannten, gegen die Gebote des Königs rebellieren würden. Bis sie ihrer wahren Natur nachkommen würden …
Und jetzt stand er hier, verging schier vor Sorge um seine Schwester und musste an allem zweifeln, woran er noch vor Kurzem geglaubt und was sein Leben jemals ausgemacht hatte.
Mit zittrigen Fingern fuhr er sich durch die Haare, überlegte fieberhaft, wie er den reißenden Fluss überwinden konnte, dessen Wasser die Dämmerung sturmgrau färbte.
Da sich nie jemand in die Nähe der Wasserfälle traute, gab es hier weder eine Fähre noch ein kleines Boot. Und selbst wenn, würde es wahrscheinlich nur allzu bald gegen einen der Felsen geschleudert werden.
Die Höhle von oben zu erreichen kam jedoch ebenso wenig infrage. Es würde einen Fußmarsch von mehreren Tagen bedeuten und so viel Zeit hatte er nicht.
Kurz entschlossen zog er sich das Leinenhemd über den Kopf und streifte die Schuhe von den Füßen.
Mit festen Schritten steuerte er auf das Ufer zu.
„Schön, dass du gekommen bist.“
Die Stimme trug das Grollen des Donners in sich und Johannes wirbelte herum, um sogleich keuchend zurückzutaumeln.
Vor ihm stand ein Drache.
Er überragte die umliegenden Bäume um einige Meter. Sein Körper war mit nachtschwarzen Schuppen bedeckt, wirkte jedoch trotz der Größe, schlank und elegant. Aus dem Kopf des Wesens sprossen mehrere Hörner und an den Wangen hingen feine Fäden wie Schnurrhaare herab. Er war sich sicher, in kompletter Finsternis würde man nur die funkelnden grünen Augen sehen können.
Er hatte die Drachen bisher nur aus der Ferne gesehen. Jetzt einen so nahe vor sich zu haben brachte seinen Körper gegen seinen Willen zum Beben.
„Wo ist das Kind …?“, schrie er dem Wesen trotzdem mit fester Stimme seine Wut entgegen.
Unbeeindruckt trat der Drache einen Schritt nach vorne, so leise und leichtfüßig, dass dabei kein Geräusch an Johannes’ Ohren drang. Am Ende der schmalen Beine bohrten sich jeweils drei unterarmlange Krallen in die Erde. Die Mundwinkel des Drachen zuckten, bis sie in einem schiefen Grinsen eine Reihe perlweißer Dolche entblößten.
Johannes’ Atem ging schneller, doch er durfte sich nicht einschüchtern lassen; durfte seine Panik nicht allzu deutlich zeigen. Für seine Schwester musste er stark sein.
„So vorlaut?“, dröhnte die tiefe Stimme und ließ alles im Umkreis erzittern.
„Ich will nur das Kind!“, erwiderte er und wunderte sich selbst, wie er es schaffte, aufrecht stehen zu bleiben, während seine Knochen sich in biegsame Weidenruten zu verwandeln schienen. „Dann bist du mich los!“
Ein leises Grollen ertönte, wie von einem beginnenden Erdrutsch, wurde immer lauter, bis Johannes begriff, dass der Drache lachte.
Seine Kehle schien wie ausgedörrt, als das Monster noch einen Schritt näherkam. Nun trennten sie nur noch wenige Meter voneinander und er musste den Kopf in den Nacken legen, um in die blitzenden Augen sehen zu können.
„Du bist tapferer, als ich gedacht hatte“, meinte er und Johannes schob es auf die absurde Situation, dass er tatsächlich glaubte, so etwas wie Anerkennung in der Stimme zu hören.
Scheinbar nachdenklich neigte der Drache den Kopf zur Seite und betrachtete ihn.
„Was genau hast du jetzt vor?“, fragte das Ungetüm schließlich, offenbar amüsiert von dem Ganzen.
Er beschloss diesen Umstand zu seinem Vorteil zu nutzen.
„Ich schlage dir einen Handel vor.“
Wieder ein Grinsen. „Und was glaubst du, kannst du mir anbieten?“
Der Drache setzte sich und ließ seinen dornenbewehrten Schwanz nur Zentimeter vor Johannes’ Gesicht vorbei sausen, bevor er ihn um seinen Körper wickelte.
Sein Herz schien aus seiner Brust zu hüpfen. Einzig die Hoffnung, dass er ein zu guter Zeitvertreib war, um ihn sofort loszuwerden, sorgte dafür, dass er nicht zurückwich.
Er schluckte und setzte zu einer Antwort an, doch seine Stimme brach und er musste sich räuspern, bevor er fortfahren konnte.
Das Grinsen wich nun nicht mehr aus dem Gesicht des Wesens.
„Ich bleibe und du lässt das Kind unversehrt ziehen!“
„Du würdest also dein Leben für sie geben?“
„Aber du hast doch versprochen, ihm nichts zu tun!“
Johannes erstarrte und sein Herz begann zu rasen, als er die leise Stimme hörte. Es schien, als würde seine Lunge seinen Körper nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgen.
Obwohl alles zu schwanken schien und er umzukippen drohte, blieb er breitbeinig stehen, starrte den hellbraunen Lockenkopf an, der zwischen den Flügeln dieses Ungetüms so furchtbar zerbrechlich und fehl am Platz wirkte.
Ein erneutes Lachen drang aus der Kehle des Drachen, doch dieses Mal wirkte es beinahe sanft.
„Und du hast versprochen, Verstecken zu spielen, bis ich dir sage, dass du dich ihm zeigen kannst“, sagte das Wesen zu seiner Schwester.
Leila lachte und schmiegte ihren Kopf an seinen schuppigen Hals, als hielte sie ihre zerlumpte Lieblingspuppe in den Armen.
„Aber du hast ihn doch als Gefährten gewählt, du Dummerchen!“, meinte sie in tadelndem Tonfall.
Johannes’ Blick irrte zwischen den himmelblauen Augen seiner Schwester und den vor Schalk sprühenden grünen des Drachen hin und her, während er gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen anblinzeln musste.
„Das ist Kuron“, stellte seine Schwester den Drachen grinsend vor.
Dieser duckte sich auf den Boden, sodass Leila von seinem Rücken rutschen konnte.
Johannes’ Beine waren so wackelig, dass seine kleine Schwester ihn beinahe umriss, als sie in seine Arme sprang. Er drückte sie so fest an sich, dass sie ihre Hände bereits nach einem kurzen Moment protestierend gegen seine Brust stemmte.
Er konnte nicht fassen, dass er Leila unversehrt wiederhatte. Und vor allem konnte er den Blick nicht von dem Drachen nehmen, der ihnen gegenüberstand und behauptete, er hätte ihn als Gefährten gewählt.
„Ich hole dich morgen früh hier ab“, bestimmte Kuron.
Ein Schmunzeln kräuselte sich um das geschuppte Maul, doch es lag ein Ernst in den grünen Augen, den Johannes nicht leugnen konnte.
Unzählige Fragen purzelten zusammenhanglos in seinem Kopf herum. Bevor er jedoch auch nur eine davon stellen konnte, zog sich der Drache zurück. Johannes wollte ihm nacheilen, da begann er mit den Flügeln zu schlagen. Der aufgewirbelte Staub, den die riesigen Schwingen beim Abheben verursachten, sorgte dafür, dass er sich stattdessen abwandte, um Leila mit seinem Körper zu schützen.
Als er sich wieder umdrehte, brauchte er eine Weile, um das schwache Schimmern des Mondlichts auf den schwarzen Schuppen zu entdecken, das ihm die Position des sich immer weiter entfernenden Drachen verriet.
Johannes spürte Leilas gleichmäßigen Atem an seinem Hals. Obwohl sie eingeschlafen war, klammerten sich ihre Ärmchen noch immer fest um seinen Nacken.
Den Weg zurück zum Dorf hatten seine Beine von selbst gefunden. In seinem Kopf schwirrten die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle durcheinander, wie ein aufgeschreckter Krähenschwarm. Zu seinem Erstaunen lag die Siedlung vollkommen ruhig da. Auf den Straßen war niemand zu sehen, es herrschte kein Tumult mehr. Kein Laut drang an seine Ohren und nur das Licht, das hier und da durch Ritzen zwischen den Fensterläden auf die Straße fiel, verriet die Anwesenheit der Bewohner.
Erst jetzt fragte er sich, warum ihm niemand gefolgt war. War die Angst der Dorfbewohner tatsächlich so groß, dass sie sich lieber in ihren Häusern verbarrikadierten, als seiner Schwester zu Hilfe zu kommen?
Johannes presste die Lippen zusammen und ging auf die Hütte seiner Familie zu. Auch hier waren die Fensterläden verriegelt. Vor der Tür blieb er stehen, atmete tief durch und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sofort sah er Kuron wieder vor sich.
„Kuron …“
Er flüsterte den Namen, der ungehört mit der Nacht verschmolz, so wie es vorhin auch der schwarze Drache getan hatte.
Wären nicht die brennenden Striemen auf seinen Armen, als Beweis für seine Hatz durch die Büsche, hätte er es für einen Traum gehalten. Einer, aus dem man verwirrt und schließlich enttäuscht hochschreckte.
Konnte es wirklich wahr sein?
Das Lächeln ließ sich nicht von seinen Lippen vertreiben, als er sich straffte und mit der freien Hand die Tür aufstieß.
Der Stuhl, auf dem sein Vater wohl eben noch gesessen hatte, fiel krachend nach hinten um. Seine Hand umklammerte das Brotmesser bereit, sich zu verteidigen. Als Johann seinen Sohn erkannte, ließ er es fallen, eilte zu ihm hin und zog ihn ins Innere.
Leila grunzte trotz des Gepolters lediglich unwillig und drückte ihren Kopf noch fester gegen Johannes’ Hals.
Sein Vater beugte sich hinaus, spähte in den Himmel, bevor er die Tür hastig schloss und den Riegel vorlegte.
„Sind sie dir gefolgt?“, wollte er wissen und packte Johannes an den Schultern.
Dieser begegnete dem ungläubigen Blick seiner Mutter. Anna saß wie versteinert auf der Holzbank. Ihre Augen waren rot gerändert, die Hände lagen ineinander verkrampft auf der Tischplatte.
Einige Herzschläge lang schien die Zeit still zu stehen, dann schluchzte sie auf, sprang hoch und schob ihren Mann zur Seite. Johannes übergab ihr Leila in die zitternden Hände. Mit geschlossenen Augen drückte sie ihr schlafendes Kind an die Brust, murmelte lautlose Worte. Anna wandte sich zum Strohlager in der Ecke um, das von einem hölzernen Rahmen zusammengehalten wurde, und bettete Leila vorsichtig darauf. Sie untersuchte den Körper seiner Schwester auf Verletzungen und als sie zu ihrer offensichtlichen Erleichterung nicht fündig wurde, fuhr sie mit fahrigen Bewegungen durch Leilas Locken, deckte sie schließlich behutsam zu.
„Sind dir die Drachen gefolgt?“, fragte sein Vater erneut.
Anna strafte seine lauten Worte mit einem Zischen. Noch einmal strich sie Leila übers Haar, dann erhob sie sich und zog Johannes in eine Umarmung, die ihm die Luft abdrückte.
„Mutter …!“, krächzte er.
Widerwillig schob sie ihn von sich und betrachtete ihn.
„Ich dachte, ich hätte euch beide verloren …“, gestand sie mit rauer Stimme.
„Sohn!“, brachte sich sein Vater in Erinnerung.
Beim Gedanken an das, was er seinen Eltern mitzuteilen hatte, bildete sich ein Kloß in seiner Kehle und er verkrampfte sich in der Umarmung seiner Mutter.
„Johann!“, tadelte diese flüsternd ihren Ehemann. „Du weckst noch Leila. Lass den armen Jungen doch erst einmal zur Ruhe kommen.“ Sie drückte Johannes einen Kuss auf die Stirn und beförderte ihn dann energisch auf die Bank. „Du siehst doch, dass er ganz blass ist!“
„Wenn das Haus brennt, hilft uns das auch nichts mehr!“, erwiderte sein Vater. Zu laut, sodass Leila grummelte und sich schlaftrunken auf die Seite drehte.
Anna ließ sich nicht beirren und stellte einen Holzbecher mit Wasser vor Johannes ab.
„Trink“, forderte sie ihn auf, strich ihm mitfühlend über die Stirn und setzte sich neben ihn.
„Johannes!“
Sein Vater stütze sich auf dem Tisch ab und er konnte seinem bohrenden Blick nicht standhalten, krampfte stattdessen die Hände um den Becher. Er schluckte schwer und leckte sich über die Lippen, wurde das flaue Gefühle, das ihn befallen hatte, einfach nicht los. Er konnte sich denken, wie sein Vater reagieren würde.
„Ich … Also …“, stotterte er. „Sie haben sie nicht verschleppt …“
„Red’ keinen solchen Unsinn!“, donnerte sein Vater. „Natürlich haben sie das!“
„Aber er hat wirklich …“
„Ich will nur wissen“, unterbrach ihn Johann, „wie du sie unbeschadet zurückgebracht hast und vor allem, ob dieses Ungeziefer bereits auf dem Weg hierher ist, verdammt nochmal!“
„Nein.“ Johannes schüttelte den Kopf.
„Was, nein?“
„Johann!“, rügte seine Mutter.
Johannes starrte auf die von Schrammen übersäte Tischplatte hinab. „Sie sind nicht auf dem Weg hierher.“ Er blickte auf und erwiderte den Blick seines Vaters. „Und sie werden uns auch nicht angreifen! Und auch niemanden sonst!“
Sein Vater starrte ihn einen Moment lang an und hieb dann mit der Faust auf den Tisch, sodass Johannes zusammenzuckte.
„Bist du auf den Kopf gefallen? Sie haben Leila doch mit Sicherheit nicht freiwillig gehen lassen!“
Johannes kämpfte gegen den Klumpen in seiner Kehle an, der immer größer zu werden schien.
„Doch … das haben sie …“, flüsterte er.
Sein Vater wollte etwas erwidern, aber diesmal ließ er ihn nicht zu Wort kommen. „Sie sind nicht so wie ihr denkt!“, rief er und verfluchte sich gleichzeitig für seine zittrige Stimme. „Es war ein Test. Und ich habe ihn bestanden!“
Johannes reckte sein Kinn in die Höhe und versuchte, seine bebenden Hände unter Kontrolle zu bringen. Verdammt, ab morgen würde er zum Drachengardisten ausgebildet werden! Da sollte er doch wohl genug Mumm haben, um seinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Trotzdem schienen die Worte in seinem Hals kleben zu bleiben.
„Er hat mich als Gefährten gewählt.“
Die Bedeutung der Worte war mit einem Mal erdrückend geworden.
Langsam richtete Johann sich auf und wich einen Schritt vom Tisch zurück.
„Weißt du, was du da sagst …?“
Der Atem seines Vaters ging schwer und er schien sich nur mit Mühe unter Kontrolle halten zu können. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich mache mir einfach Sorgen … Aber mit so etwas macht man keine Scherze!“
Johannes klappte den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch an Land, ohne dass er einen Ton hervorbrachte. Sein Magen rebellierte und gab ihm das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
„Es ist wahr …“, flüsterte er tonlos. Dieses Mal wich er dem Blick seines Vaters nicht aus. „Kuron wird mich morgen abholen und in die Villa bringen.“
Er konnte sehen, wie sein Vater mit sich kämpfte; sein Kiefer mahlte.
„Wir werden dich wegbringen! Noch heute Nacht!“
Johannes sprang auf. „Was?“
„Wir bringen dich zu meinem Bruder! Er kann immer Hilfe in der Mühle brauchen. Dort wird dieses Monster dich nicht finden!“
„Ich will nicht zu Gustav!“
Der Blick seines Vaters sorgte dafür, dass er sich wie ein trotziges Kind vorkam.
„Sei vernünftig, Junge! Je weiter weg du bist, umso besser!“
„Aber …“
Johann achtete gar nicht auf ihn, sondern wandte sich an seine Frau.
„Pack seine Sachen zusammen, damit wir aufbrechen können!“
Mit blassem Gesicht blickte sie zwischen ihnen hin und her. Johannes konnte die Sorge in ihren Augen sehen.
„Ich gehe nirgendwo hin!“, stellte er fest, ballte die Fäuste und nahm all seinen Mut zusammen. „Ob es dir nun passt oder nicht Vater, ich werde ein Drachengardist!“
Er sah, wie der Ausdruck in den meerblauen Augen seines Vaters langsam von Wut zu Enttäuschung wechselte. Leise Zweifel begannen an ihm zu nagen, aber sein Vater musste doch verstehen, dass es eine riesige Chance für ihn war! Er konnte sich nicht erklären, warum Kuron ausgerechnet ihn gewählt hatte, aber er würde alles dafür tun, um dem Drachen zu beweisen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Dann habe ich ab heute keinen Sohn mehr …“
Die Worte trafen Johannes wie ein Schlag.
Anna keuchte und sein Vater stolperte zurück, riss die Tür der Hütte auf und flüchtete ins Freie.
Johannes stand nur da. Unfähig sich zu bewegen. Starrte auf die offene Tür.
Beinahe hoffte er, dass sein Vater zurückkommen, sich entschuldigen und ihm sogar Glück wünschen würde. Doch mit jedem Herzschlag, der verstrich, wurde die Hoffnung mehr und mehr von einer bitteren Gewissheit abgelöst.
Seine Sicht verschwamm, als Tränen in seinen Augen aufstiegen.
Er hatte gewusst, dass sein Vater nicht begeistert sein würde. Aber er hatte sich auch gewünscht, dass er es akzeptieren würde. Sich vielleicht sogar ein winzig kleines bisschen freuen würde, dass sich der größte Traum seines Sohnes erfüllte. Dass er ein kleines bisschen Stolz auf ihn wäre …
„Warum ist denn die Tür offen, Mama?“, fragte die verschlafene Stimme seiner Schwester.
Hölzern setzte sich Johannes in Bewegung, verriegelte die Tür und blieb dann davor stehen. Mit trübem Blick starrte er die Maserung an, als könnte sie ihm etwas von seinem Schmerz nehmen.
„Mama?“
Er hörte wie seine Mutter aufstand und das Stroh raschelte.
„Ist schon gut mein Schatz. Schlaf weiter!“, sagte sie und er wusste genau, dass sie die Decke weiter nach oben zog und Leila liebevoll auf die Augenlider küsste, so wie sie es früher auch bei ihm getan hatte.
Anna summte leise ein Schlaflied und mit einem Mal fühlte sich Johannes vollkommen einsam. So glücklich er vorhin noch gewesen war, so sehr sehnte er sich jetzt den vergangenen Morgen zurück, als er sich der Liebe und Unterstützung seiner Familie noch sicher gewesen war.
Verzweifelt lehnte er den Kopf gegen das raue Holz und drängte krampfhaft die Tränen zurück. Seine Atmung ging unregelmäßig und es schien keinen festen Boden mehr zu geben.
Als sich die warme Hand seiner Mutter auf seinen Rücken legte, zuckte er zusammen und fuhr herum.
Unbeholfen ließ Anna den Arm sinken und Johannes sah, dass sie schon wieder weinte. Eine boshafte Stimme in seinem Inneren raunte ihm zu, dass sie ihn sonst einfach in ihre Arme gezogen hätte und er biss die Zähne fest aufeinander.
„Er hat es nicht so gemeint …“
Johannes lachte bitter auf. „Du weißt so gut wie ich, dass er es genau so gemeint hat.“
Anna presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick.
„Du solltest es dir wirklich überlegen … Bei Gustav hättest du kein schlechtes Leben.“
Johannes’ Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er spürte, dass er den Kampf gegen die Tränen nun endgültig verloren hatte, also tat er es seinem Vater gleich und stürmte aus der Hütte hinaus.
Verwirrt rieb sich Johannes die Augen und blinzelte in die aufgehende Sonne, deren Strahlen ihn wachgekitzelt hatten. Für einen Moment fragte er sich, warum er im Freien geschlafen hatte. Dann sickerte die Erkenntnis bleischwer in seinen Magen. Er hatte kein Zuhause mehr …
Vorsichtig streckte er seine verkrampften Glieder. Sein ganzer Körper schmerzte von der unbequemen Position, in der er gegen den Stamm der Erle gelehnt geschlafen hatte, doch es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in seinem Inneren tobte.
Einzig der Gedanke an Kuron ließ ihn schließlich aufstehen.
Über ihm zwitscherten die Vögel und ihr Lied vermischte sich mit dem Rauschen des Flusses und dem Tosen der Wasserfälle. Die Höhle gegenüber zog Johannes’ Blick magisch an, doch sofort drängte sich ein hellbrauner Lockenkopf in sein Bewusstsein. Sehnsüchtig sah er zu dem Felsen hinüber, auf dem er gestern noch entspannt in der Sonne gelegen hatte.
Was würde Leila denken, wenn sie erfuhr, dass er einfach so gegangen war? Am liebsten wäre er sofort zurück ins Dorf gerannt, doch allein der Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte nicht zurück. Er wusste, dass er es später bereuen würde, aber im Moment konnte er seinen Eltern nicht gegenübertreten. Gleichzeitig fühlte er sich deswegen wie ein Feigling. Sein Inneres fühlte sich taub an. Als wäre der gestrige Tag nur ein schöner Traum gewesen, der sich zu einem Albtraum entwickelt hatte.
Niedergeschlagen trottete Johannes zum Flussufer und ließ sich die kalte Gischt ins Gesicht wehen, während das Durcheinander in seinem Kopf sich nicht ordnen lassen wollte. Wahrscheinlich irrte sich Kuron. Oder war es sogar nur ein dummer Scherz, eingefädelt von den Adligen? Nein! Auf so etwas würde sich ein Drache nicht einlassen. Oder …?
Johannes sank auf die Knie und betrachtete sein welliges Spiegelbild im Wasser. Er fragte sich, wer sich jetzt um die Ziegen kümmern würde. Wahrscheinlich beauftragten seine Eltern einen Nachbarsjungen damit, die Herde auf die Dorfwiese zu führen. Spätestens wenn die Ziegen magerer und die Milch weniger wurde, würden sie an ihn denken. Sein Vater würde es bereuen, ihn verstoßen zu haben. Ein bitteres Lächeln verzerrte seine Lippen und sein Spiegelbild ahmte ihn nach. Doch er spürte keine Genugtuung, im Gegenteil. Er würde seine Eltern vermissen, das war klar. Und Leila auch.
Wie traurig würde sie sein, weil er sich nicht von ihr verabschiedete? So oft hatte sie mit ihm im Gras gelegen, in die Wolken geblickt und geträumt, wie es wäre, wenn er die Chance hätte, auf die Gardistenschule zu gehen. Leila hatte ihn nie verurteilt oder als verrückten Träumer abgestempelt. Doch die Tatsache, dass er sich einfach davonschlich, würde sie mit Sicherheit enttäuschen.
Unvermittelt schlug er mit aller Kraft auf den steinigen Boden ein, dann stützte er schluchzend den Kopf in die Hände. Sein Blut hatte den Kies rot gefärbt, doch das anbrandende Flusswasser verwischte es zu einem sanften Rosa.
Hoffentlich würde Kuron ihn bald abholen.
Bei diesem Gedanken wurde ihm plötzlich bewusst, was für ein Bild er abgeben musste. Seine Kleidung war voller Grasflecken und von der gestrigen Hast durch die Büsche stellenweise zerrissen. Seine Augen blickten ihm rotgerändert aus dem Wasser entgegen und nun waren auch noch seine Wangen blutverschmiert.
Hastig tauchte er seine Hände in das eiskalte Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Die Kälte brannte auf seinen Wangen, doch sie sorgte auch dafür, dass sein Geist klarer wurde.
Provisorisch kämmte er sich mit den Fingern durch die verstrubbelten Haare, bevor er sich erhob.
So unwahrscheinlich es auch schien, heute würde sich endlich sein größter Traum erfüllen. Und das würde er sich von niemandem kaputtmachen lassen! Weder von seinen Eltern noch von sich selbst, indem er sich in Selbstmitleid suhlte.
Also straffte Johannes seine Schultern und blickte entschlossen zu der Höhle empor.
„Da bist du ja!“
Erschrocken fuhr er herum und seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er zusah, wie seine Schwester die Böschung herablief. Ungebremst sprang sie an ihm hoch und er schloss sie automatisch in die Arme, stolperte dabei ein paar Schritte zurück.
„Mama hat mich doch tatsächlich nicht aufgeweckt!“, teilte sie ihm mit und verteilte Schmatzer auf Johannes’ Wangen und Nase.
„Leila …“ Trotz seines gerade erst gefassten Vorsatzes sammelten sich erneut Tränen in seinen Augen.
„Dachtest du, ich lass dich ohne Knuddeln fort?“ Seine Schwester lachte und schmiegte sich noch enger an ihn.
„Nein … aber …“
„Papa war schon weg und Mama musste sich um die Ziegen kümmern.“ Leila zuckte mit den Achseln.
Ihre hellbraunen Locken wippten und sie strahlte ihn glücklich an.
Er runzelte die Stirn. „Du bist einfach abgehauen?“
„Ich muss dir doch noch was geben!“
Seine Schwester fing an, in seinen Armen zu zappeln. Widerwillig stellte Johannes sie auf dem Boden ab und beobachtete, wie sie ein kleines Päckchen aus ihrer Rocktasche holte und es ihm entgegenhielt.
„Das war eigentlich für deinen Geburtstag. Damit du mich nicht vergisst …“ Auf einmal sammelten sich auch in ihren himmelblauen Augen Tränen, die über ihre Wangen kullerten.
Johannes’ Hände begangen zu zittern. Er kniete sich vor sie, drückte sie fest an sich.
„Ich vergess’ dich doch nicht!“, krächzte er. „Das verspreche ich dir!“
Mit erstaunlicher Kraft schlang Leila ihre dünnen Arme um seinen Nacken und vergrub die Nase in seinem Hemd.
Eine Weile verharrten sie so, bis sie sich gegen ihn stemmte. Nur widerwillig ließ er sie los, strich über ihre feuchten Wangen und küsste sie auf die Stirn.
„Danke …“
Sie kicherte und wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht. „Du weißt doch noch gar nicht, was drin ist!“ Ungeduldig hüpfte sie auf der Stelle. „Mach auf, mach auf, mach auf …!“
„Ist ja schon gut.“ Johannes grinste und fing an, den rauen Stoff abzuwickeln.
Zum Vorschein kam ein kleiner Holzdrache. Ungläubig starrte er ihn an, betrachtete den kleinen, geschuppten Körper und das aufgerissene Maul. Bis das Bild seiner kleinen Schwester mit einem Schnitzmesser vor seinem inneren Auge entstand.
„Du kannst doch nicht …!“
„War nicht ich!“, unterbrach Leila ihn sofort.
„Was …?“
„Gunter hat ihn geschnitzt.“ Leila lächelte, als ob das selbstverständlich wäre.
Verwirrt blickte Johannes von dem geschnitzten Drachen zu seiner Schwester hin und wieder zurück.
„Gunter? Der Sohn des Schmieds …?“
Leila stöhnte und warf theatralisch die Arme nach oben. „Natürlich! Kennst du sonst noch einen?“
„Aber …“ Johannes schüttelte den Kopf. „Er hat einen Drachen geschnitzt?“
Auf dem Gesicht seiner Schwester breitete sich ein schelmisches Grinsen aus. „Ich hab’ ihn einfach immer wieder gefragt. Irgendwann ist es ihm dann wohl zu blöd geworden …“
Johannes musste lachen und schüttelte den Kopf. „Du bist unglaublich …“
„Ich weiß“, stimmte Leila ihm mit einem zufriedenen Grinsen zu, doch plötzlich wurden ihre Augen groß und sie starrte an ihm vorbei.
„Sieh nur!“ Sie hibbelte auf den Fersen und deutete in den Himmel.
Als Johannes sich umdrehte und ihrem Fingerzeig folgte, konnte er ihre Aufregung verstehen. Der riesige Umriss eines Drachen zeichnete sich dunkel vor dem wolkenlosen Himmel ab und kam rasant näher.
Schnell ergriff er ihre Hand und lief mit ihr los, weg vom Ufer.
„He!“, protestierte sie, doch er ließ sich nicht beirren.
Sie erreichten die dichtsehenden Büsche, als der schwarze Drache sich in den Fluss fallen ließ. Das Wasser spritzte in die Höhe, klatschte dann auf den Kiesstrand. Die Vögel, die in den umliegenden Bäumen gesessen hatten, suchten lärmend das Weite.
Kuron schritt seelenruhig ans Ufer. Seine nassen Schuppen glitzerten wie wertvolles Buntglas und die gebleckten Zähne zeigten seine Belustigung.
Bevor Johannes reagieren konnte, hatte sich Leila aus seinem Griff gelöst und rannte unbefangen auf den Drachen zu. Kuron schüttelte sich, wie es sonst nur nasse Hunde taten und entlockte Johannes’ Schwester damit ein Kreischen, als die Wassertropfen sie erwischten.
„Böser Drache!“, beschwerte sie sich, grinste jedoch von einem Ohr bis zum anderen.
Johannes wusste, dass Kuron seiner Schwestern nichts tun würde, trotzdem überkam ihn ein flaues Gefühl, als er beobachtete, wie der Drache, ebenfalls grinsend, den Kopf senkte. Leila tätschelte ihn zwischen den Nüstern und kam dabei den blitzenden Reißzähnen gefährlich nahe.
„Willst du etwa auch Drachenreiterin werden?“, neckte Kuron sie, während Johannes nähertrat.
Leila klatschte in die Hände. „Au ja …! Aber mein Drache soll wie eine Himbeere aussehen!“
„Wie eine Himbeere?“ Johannes sah schmunzelnd auf seine Schwester hinab.
Er begegnete dem Blick des Drachen, der ein Schnauben von sich gab und den gehörnten Kopf schüttelte.
Leila rümpfte die Nase und stemmte die Hände in die Hüften. „Das ist viel schöner als langweiliges Schwarz!“
„Und ich dachte, du würdest mich mögen …“, klagte Kuron gespielt wehmütig, mit seiner dröhnenden Stimme.
Seine Schwester legte den Kopf schief. „Liegt nicht an dir. Zu Johannes passt du. Aber ich will einen Prinzessinnendrachen!“
Lächelnd strich Johannes seiner Schwester über den Kopf und sie lehnte sich an ihn.
Kuron blickte zur Villa hinauf. „Wir sollten aufbrechen.“
Augenblicklich kehrten die Nervosität und das ungute Gefühl zurück. Er schluckte trocken und wandte sich an seine Schwester.
„Mutter und Vater machen sich ohnehin bestimmt schon Sorgen, wo du hingerannt bist. Du …“
„Jetzt frag mich nicht, ob ich den Weg alleine finde!“, unterbrach sie ihn, klammerte sich an seine Hüfte und blickte nach oben. „Wie oft sind wir ihn gegangen …?“
Vorsichtig verstaute Johannes den kleinen Holzdrachen in seiner Hosentasche und hob dann Leila hoch. Seufzend vergrub er seine Nase in ihren Locken.
„Ich hab’ dich lieb, Schwesterchen“, flüsterte er. „Und ich werde jeden Tag an dich denken …“
„Ich werde dich vermissen …“ Leilas zierlicher Körper bebte.
„Ich dich auch.“ Nur mit Mühe konnte Johannes seine eigenen Tränen zurückhalten, als er sie abstellte und sie einen Schritt zurücktrat.
Sie schniefte und straffte die Schultern.
„Jetzt hast du die Chance bekommen und musst sie nur noch nutzen“, meinte sie erstaunlich ernst.
Sie drehte sich um und rannte die Böschung hinauf. Dort hielt sie noch einmal inne und blickte über die Schulter zu ihm zurück.
„Denk an dein Versprechen …!“
Johannes nickte und ballte die Hände zu Fäusten, um dem Drang zu widerstehen, ihr nachzulaufen und sie erneut an sich zu drücken, als sie zwischen den Büschen verschwand.
Johannes hatte sich keine Gedanken gemacht, wie er zur Drachenvilla gelangen sollte. Im Grunde war er davon ausgegangen, den Weg zu Fuß gehen zu müssen oder vielleicht noch, dass er in der nächstgrößeren Ortschaft ein Pferd leihen würde.
Auf seine Nachfrage hin breitete Kuron jedoch lediglich die Flügel aus und ging in die Knie. Mit einem Kopfnicken bedeutete ihm der Drache aufzusteigen.
Johannes schluckte und kämpfte dabei gegen den Kloß in seiner Kehle an. Sein Herz pochte, als er seine Hand ausstreckte und die schwarzen Schuppen berührte. Sie fühlten sich rau an, gleichzeitig erstaunlich weich und nachgiebig.
Kurons Rücken war trotz seiner gebückten Haltung höher als der eines Pferdes und reiten hatte Johannes nie gelernt. Seine einzige Erfahrung rührte daher, dass er den gelegentlich durch sein Dorf ziehenden Gardisten beim Aufsitzen zugesehen hatte. Fieberhaft überlegte er, wie er es am besten anstellen sollte. Er entschied sich dafür, einen Arm so weit wie möglich um Kurons Nacken zu schlingen und sich dann mit einem Bein vom Boden abzustoßen. Doch der Schwung reichte nicht aus … Wenig elegant rutschte er ab und plumpste zurück auf seine Füße. Seine Wangen glühten, als er zurücktrat.
Er räusperte sich, bevor er seiner Stimme genug vertraute. „Wäre es vielleicht … Ich denke, ich schaffe es nicht …“
Vage deutete er in Richtung des Felsens, auf dem er sonst immer saß.
Kuron verlor kein Wort, als er sich daneben stellte und erneut in die Knie ging. Johannes wagte es nicht, dem Drachen ins Gesicht zu sehen. Zu groß war seine Angst, Enttäuschung oder Zweifel in den grünen Augen zu sehen.
Er blieb stumm, während er es vom Steinbrocken aus endlich auf den Rücken des Drachen schaffte. Immerhin, erneut herunter zu fallen wäre noch viel peinlicher.
Bereits Kurons erster Flügelschlag katapultierte sie in die Luft. Johannes Magen zog sich zusammen, nur um sich gleich darauf mit kitzelnden Daunenfedern zu füllen. Er konnte die Bewegungen des kraftvollen Körpers unter sich spüren. Und mit einem Mal kam es ihm so vor, als wären all seine wirren Gedanken auf dem Kiesstrand zurückgeblieben …
Das Fliegen mit einem Drachen war ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Es war berauschend und die Aufregung kribbelte in seine Adern.
In einer Spirale schraubten sie sich empor. Immer höher. Der Fluss unter ihnen wurde kleiner, ähnelte bald einem Rinnsal. Zum ersten Mal sah Johannes, wie groß die Villa und der umliegende Park wirklich waren. Wahrscheinlich hätte man sein Dorf auf der Fläche mehr als dreimal unterbringen können.
Das Gebäude war u-förmig und der Fluss, der den Wasserfall speiste, zog sich in Form eines mit Steinen eingefassten Wasserlaufs bis kurz vor die breite Treppe, die zum Eingang hinaufführte. Ein mit Seerosen bewachsenes Becken bildetet den Abschluss und Johannes vermutete, dass das Wasser von dort aus unterirdisch weitergeleitet wurde.
Ohne Vorwarnung stürzte Kuron sich in die Tiefe. Der Wind riss Johannes einen Schrei von den Lippen und raubte ihm gleichzeitig den Atem. Er presste seinen Körper fest gegen die schwarzen Schuppen, versuchte krampfhaft Halt zu finden, nicht über den schlanken Hals abzurutschen. Er hatte das Gefühl, dass ihn davor nur die an den Körper gepressten Flügel des Drachen bewahrten, die seine Beine einklemmten.
Der Wind pfiff an ihnen vorbei, während sie wie ein Pfeil herabsausten. Immer näher kam der Boden. Johannes konnte trotz seiner tränenden Augen einige Menschen erkennen, die geschockt nach oben zeigten und schleunigst Platz machten. Panik machte sich in ihm breit. In seiner Vorstellung schlugen sie bereits ungebremst auf dem Hof auf …
Plötzlich breitete Kuron seine Schwingen aus und fing den Sturz ab.
Johannes’ Magen rebellierte, als der Kies unter den Klauen des Drachen knirschte. Jetzt war er froh, dass er kein Frühstück gehabt hatte.
Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass Kuron seine Flügel seitlich ausstreckte, um ihn absteigen zu lassen. Er war jedoch zu benommen, um der Aufforderung sofort Folge zu leisten. Seine Ohren klingelten und schwarze Punkte zuckten vor seinen Augen hin und her. Erst als er sah, wie die jungen Männer näherkamen, die eben ausgewichen waren, biss er die Zähne zusammen und rutschte von Kurons Rücken herunter. Unsanft landete er im Kies, konnte sich gerade noch an der Seite des Drachen abfangen.
Sein Herz schlug viel zu schnell und er musste sich zwingen, seinen Atem ruhig zu halten. Ehrfürchtig blickte er an dem gewaltigen Gebäude empor. Auf dieser Seite gab es keinen Galeriegang, dafür war die aus grob behauenen, weißen Sandsteinquadern bestehende Fassade mit etlichen Säulen geschmückt. Im Sonnenlicht glitzerten die in verschwenderischer Menge vorhandenen Fenster, deren einzelne Glasscheiben mit Blei eingefasst waren. Die Dächer waren mit dunkelgrauen Schindeln gedeckt worden und auf dem mittleren Gebäudeteil thronten zwei Drachenstatuen, deren aufgerissene Mäuler über dem Eingang schwebten.
„Was geht hier vor?“, wurde er aus seiner Betrachtung gerissen und zuckte zusammen.
Johannes drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sah einen Mann auf sich zukommen, der einen Lentner aus schwarzem Leder trug. Silberne Nieten, mit denen die in der Schutzweste eingearbeiteten Eisenplatten befestigt waren, bildeten darauf ein Muster aus unterschiedlich breiten Querstreifen. Die ledernen Beinlinge, sowie die ebenfalls mit Nieten verzierten Armschienen und Stiefel ergaben das Bild eines Ritters von niedrigerem Stand. Im Gegensatz zu den Jungen, die ein Stück zurückgeblieben waren, blieb der Mann erst kurz vor Kuron stehen. Sein Schwert, ein Zweihänder, den er lässig auf den Boden stützte, ließ Johannes unbewusst einen Schritt zurückweichen.
Kuron schien wenig beeindruckt und senkte lediglich leicht den Kopf, als würde er einen alten Bekannten grüßen. „Ich bringe einen neuen Anwärter.“
Die jungen Männer, die, wie Johannes erst jetzt bemerkte, ähnliche Lederrüstungen trugen, steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Ihre abschätzigen Blicke glitten an ihm herab und er drückte automatisch den Rücken durch.
Auch der Mann betrachtete Johannes von Kopf bis Fuß, seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen. Er sah wieder zu Kuron hin und kniff die Augen zusammen.
„Es wäre schön, wenn du uns mit deinen Scherzen nicht vom Üben abhalten würdest!“
In Johannes’ Magen schien plötzlich ein Klumpen sehr alten Brotes zu liegen. Er versuchte, das Zittern seiner Hände zu verbergen, während die Gedanken in seinem Kopf rasten. Sollte er mit seiner Befürchtung recht gehabt haben? Falls ja, hatte er sich vollkommen umsonst mit seiner Familie überworfen. Sich noch dazu zum Gespött des Dorfes gemacht …
Der Mann war bereits im Begriff sich abzuwenden, als Kuron grollend die Luft ausstieß und ihn innehalten ließ.
„Das ist Johannes“, stellte ihn der Drache vor. „Ich habe ihn als meinen Gefährten ausgewählt.“
Unsicher musterte Johannes den Drachen. In der Reihe der Jungen wurde Empörung laut, doch der Mann brachte sie mit einer rüden Geste zum Schweigen. Er starrte zuerst Kuron an, dann Johannes.
„Ihr werdet ihn ausbilden und auf seine Aufgabe vorbereiten.“ Die Worte des Drachen klangen nicht nach einer Bitte.
Der Mann rümpfte die Nase, die aussah, als wäre sie bereits mehrfach gebrochen worden und schüttelte den Kopf, sodass ihm Strähnen seines dunkelbraunen Haares in die Stirn fielen.
Er wies mit der Hand auf Johannes. „Woher kommst du?“
Johannes schluckte, deutete dann über seine Schulter. „Aus Uslach …“
Seine Stimme klang nicht annähernd so sicher, wie er es sich gewünscht hätte und er presste die Zähne aufeinander.
Der Mann begann zu grinsen.
„Bring ihn zurück“, wandte er sich an den Drachen. „Du hast unter den Anwärtern genug Auswahl.“
Johannes runzelte die Stirn, angesichts der Respektlosigkeit, mit der er Kuron begegnete. Dieser senkte den Kopf und ließ seinen dornenbewehrten Schwanz über den Kies schrappen. Johannes sprang zur Seite, um den umherfliegenden Steinchen auszuweichen.
„Ich habe meine Wahl bereits getroffen.“ Kuron klang viel zu ruhig. Er machte einen drohenden Schritt auf den Mann zu. „Du willst sie doch nicht infrage stellen?“
Der Mann hielt stand, doch das Grinsen war ihm offenbar vergangen.
„Ich mache die Regeln nicht.“
„Eure Regeln interessieren mich nicht.“ Kuron neigte den Kopf. „Aber, wenn du darauf bestehst, nenne ich dir meine. Johannes bleibt! Und ihr bildet ihn aus.“
Damit wandte er sich um und breitete seine Flügel aus, ohne eine weitere Antwort des Mannes abzuwarten. Sein letzter Blick galt Johannes und beinahe glaubte er, dass der Drache ihm zuzwinkerte. Dann erhob er sich bereits in die Luft und wirbelte eine Wolke aus Staub auf.
„Wenn mir etwas Gegenteiliges zu Ohren kommt, werde ich mehr als nur eure Übungen stören!“, donnerte seine Stimme über den Himmel, bevor er im Sturzflug hinter der Villa verschwand.
Überrumpelt blickte Johannes ihm nach, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Aus einem Grund, der ihm selbst nicht klar war, fühlte er sich von Kuron im Stich gelassen. Aber was hatte er auch erwartet?
Wahrscheinlich nicht, dass ihn der Drache einfach absetzen und dann verschwinden würde. Sehr zum Missfallen der Anwesenden, wie ihm ein Blick auf die Gruppe der Jungen zeigte, die ihn zum Teil verwirrt und ungläubig, aber auch mit Verachtung musterten.
Plötzlich wurde Johannes seine zerrissene Kleidung wieder sehr bewusst. Beinahe wollte er den Kopf senken, doch dann rührte sich ein Funken Trotz in ihm und ließ ihn stattdessen die Schultern straffen, als der Mann mit dem Schwert vor ihn trat. Sein Blick zeigte deutlich seinen Widerwillen.
Bevor er jedoch etwas sagen konnte, ertönte aus Richtung des Parks eine deutlich missbilligend klingende Stimme.
„Schon wieder ein Päuschen, Gerold?“
Der Mann in der schwarzen Lederrüstung, der offenbar Gerold hieß, grunzte und verschränkte die Arme vor der Brust, während seine auf und ab wippende Stiefelspitze seine Ungeduld verriet.
„Sieh nur, was dein Schätzchen uns hier angeschleppt hat.“ Er wies mit dem Kinn auf Johannes. „Als ob es nicht reichen würde, dass er sich bereits jahrelang vor der Bindung drückt!“
Johannes blickte sich zu dem neu eingetroffenen Mann um. Auch dieser musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Er trug ebenfalls einen schwarzen Lentner, jedoch in feinerer Ausführung und das königliche Wappen auf seiner Brust, bestehend aus zwei ineinander verschlungenen grünen Drachen, zeugte von einem hohen Rang.
„Was willst du damit sagen? Einer seiner Scherze?“, wollte der Mann wissen und fuhr sich durch die kurzen, kastanienbraunen Haare.
Johannes’ Magen zog sich erneut krampfhaft zusammen und er atmete tief ein, wagte es jedoch trotz der allmählich in ihm aufsteigenden Wut nicht, sich einzumischen.
Gerold lachte bitter. „Er hat mir versichert, dass dem nicht so wäre.“ Er wies in Johannes’ Richtung und deutete eine spöttische Verbeugung an. „Begrüße seinen neuen Gefährten, Arndt!“
Der Mann mit dem königlichen Wappen auf der Brust, Arndt, korrigierte sich Johannes in Gedanken, zog die Augenbrauen, wenn überhaupt möglich, noch weiter zusammen. In seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er davon hielt.
Einen Augenblick herrschte Stille.
„Dein Name, Junge?“
„Johannes“, erwiderte er tonlos. „Johannes Burschap.“
Arndt nickte, wandte sich ab und steuerte auf den Haupteingang der Villa zu. Nach einigen Schritten drehte er sich um.
„Nun komm schon!“ Mit einer unwirschen Handbewegung forderte er ihn auf, ihm zu folgen. „Und ihr übt gefälligst weiter!“, wandte er sich an die Gruppe der Jungen, unter denen das Getuschel wieder lauter geworden war.
Auf Gerolds Gesicht lag ein breites Grinsen. „Du wirst nicht lange hier sein …“
Johannes’ Handflächen wurden feucht und sein Blick wanderte ungewollt zu dem Schwert.
„Junge!“, bellte Arndt ungeduldig, doch sein wütender Blick galt Gerold, als Johannes auf ihn zueilte.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg Arndt die blütenweißen Stufen der Vortreppe hinauf. Johannes zögerte ob seiner schlammverkrusteten Schuhe einen Moment, folgte ihm dann jedoch mit vorsichtigen Schritten, darum bemüht, keinen Schmutz zu hinterlassen.
Erst als er oben angekommen war, hob er wieder den Blick und erstarrte mit weit aufgerissenen Augen. Die doppelflügelige Holztür war geöffnet und gab den Blick auf eine prächtige Halle frei. Noch niemals zuvor hatte er einen solch großen Raum gesehen. Selbst der Innenraum ihrer hölzernen Dorfkirche, der ihn mit seiner Höhe immer beeindruckt hatte, war im Vergleich dazu winzig.
Ehrfürchtig trat Johannes über die Schwelle. Vergeblich versuchten seine Augen, alle Einzelheiten aufzunehmen, von den gemusterten Bodenkacheln, über die kunstvolle, halbhohe Vertäfelung, bis hin zu den detailreichen Wandgemälden. Diese zeigten Menschen in seltsamen Gewändern vor der Kulisse eines Waldes, darüber die gewaltigen Leiber von Drachen, die den Himmel bevölkerten. Die Farben waren so prächtig, dass er sich fragte, aus was sie hergestellt worden waren. Im Dorf bestanden die Farben aus Pflanzen oder verschiedenen Erden, sie waren nie so kräftig. Seltsamerweise schienen manche Bereiche des Bildes nicht so detailliert zu sein. Sie wollten nicht Recht zum Rest passen und wirkten wie nachträglich übermalt.
Ein Räuspern ließ Johannes zusammenzucken. Arndt hatte den Raum bereits durchquert und stand nun mit verschränkten Armen und hochgezogener Augenbraue da, wartete auf ihn. Prompt erhitzten sich Johannes’ Wangen. Als sich Arndt wieder in Bewegung setzte, folgte er ihm mit gesenktem Kopf. Was mussten die Leute hier von ihm denken?
Sie passierten einen breiten Gang, von dem in großen Abständen mit Schnitzereien verzierte Türen oder weitere Flure abgingen. Ihre Schritte hallten so laut von den Wänden wider, dass Johannes das Gefühl hatte, man müsse es überall hören.
Trotz seiner Bemühungen, nicht allzu auffällig zu starren, glitt sein Blick wie von selbst immer wieder zu den an den Wänden hängenden Prunkwaffen hin.
Arndt blieb stumm und Johannes wagte es nicht, auch nur eine der unzähligen Fragen zu stellen, die in seinem Kopf umherschwirrten. Zu groß war die Angst, wieder zurückgeschickt zu werden. So wie es aussah, war es zwar tatsächlich Kurons Ernst, allerdings schien niemand hier begeistert von der Wahl des Drachen zu sein.
Was konnte er dafür, wo er geboren worden war? Ja, er hatte nicht dieselbe Erziehung genossen, wie die üblichen Anwärter der Gardistenschule. Doch was sollten ihm gute Tischmanieren oder das Beherrschen der höfischen Tänze im Ernstfall nutzen?
Die abwertenden Blicke der anderen Anwärter brannten noch jetzt auf seiner Haut und trieben ihm beinahe die Tränen in die Augen. Noch nie zuvor hatte er sich für seine Herkunft geschämt. Wenn er tatsächlich hierblieb, würde er unweigerlich erneut auf sie treffen. Allein der Gedanke daran ließ ihn erschauern. In seinen Tagträumen waren solche Probleme nie vorgekommen …
„Warte hier“, wies ihn Arndt an, als sie vor einer besonders üppig verzierten Tür stehen blieben.
Arndt klopfte an, trat hinein und schloss die Tür sofort wieder hinter sich, wodurch Johannes nur kurz einen Blick auf unzählige Bücher erhaschte, die in deckenhohen Regalen die Wände säumten. Er kannte Bibliotheken nur aus Erzählungen und staunte daher über die schiere Masse an beschriebenem Papier.
Gedämpft drang die Stimme von Arndt und die eines weiteren Mannes durch das Holz, aber er konnte nichts von dem Gesagten verstehen. Während er in dem menschenleeren Gang wartete, wurde ihm plötzlich mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass hinter dieser Tür gerade über seine Zukunft entschieden wurde. Würden sie sich weigern, ihn hier aufzunehmen? Die Drohung von Gerold kam ihm wieder in den Sinn und für einen Moment erwog er, an der Tür zu lauschen, schüttelte dann jedoch entschieden den Kopf. Er durfte nicht riskieren, erwischt zu werden.
Er ballte seine zitternden Hände zu Fäusten und versuchte vergeblich, seinen rebellierenden Magen unter Kontrolle zu bringen, als sich ihm plötzlich Schritte näherten. Er blickte auf und sein Puls beschleunigte sich, als er einen der Jungen aus der Gruppe der Übenden wiedererkannte. Der Adlige mit den eisblauen Augen tat so, als wäre Johannes überhaupt nicht da und stürmte stattdessen ohne anzuklopfen in den Raum.
„Verzeiht mein Eindringen, Berlein, aber warum ist er noch hier?“, fragte der Junge herrisch. „Es ist …“
„Was fällt Euch ein?“, fiel ihm Arndt ungehalten ins Wort. „Auch, wenn Euer Vater die rechte Hand seiner Majestät ist, gelten für Euch gewisse Regeln!“
Johannes stand wie versteinert da und lugte in den Raum. Es gab darin mehrere kleine Tische und hinter einem davon saß ein Mann, dessen Haare bereits ergraut waren. Seine Augen richteten sich in dem Moment auf ihn, als er um Ruhe bat.
„Das ist er also?“ Der Mann nickte in Johannes’ Richtung.
Arndt warf ihm einen kurzen Blick zu, den er nicht deuten konnte, und brummte schließlich zustimmend.
„Es ist eine Schande für diese Einrichtung, dass überhaupt erwogen wird, solches Gesindel hier aufzunehmen!“, fing der Junge wieder an und betonte die Worte dabei, als würde er über eine stinkende Ratte sprechen.
„Lynhartt, mäßigt Euch! Immerhin sprecht ihr mit Freiherr zu Hohlstein“, grollte Arndt.
„Lasst mich das Regeln, von Tieffenow.“ Freiherr Berlein zu Hohlstein, wie der Mann anscheinend hieß, warf Arndt einen warnenden Blick zu, obwohl dieser im Rang vermutlich über ihm stand. „Der junge Erbgraf von Darranstedt hat nicht ganz unrecht. Und das ausgerechnet jetzt, da seine Majestät jeden Tag ankommen kann.“
Johannes ballte die Hände zu Fäusten, blieb jedoch stumm.
„Mit Verlaub“, begann von Tieffenow, „er ist nun Mal die Wahl des Drachen.“
Lynhartt schnaubte. „Eine vollkommen lachhafte Wahl! Weist ihm einfach einen Gefährten zu.“
„Darüber haben wir nicht zu bestimmen.“ Ein seltsamer Unterton war in Freiherr zu Hohlsteins Stimme zu hören. „Der Pakt besagt, dass die Drachen selbst wählen.“
„Aus den Kandidaten, die zur Auswahl stehen!“, begehrte von Darranstedt erneut auf.
Der Freiherr seufzte. „Im Grunde ist das nicht festgelegt.“
„Aber ein Drachenreiter muss würdig sein!“
Der Junge fing sich einen stechenden Blick von Arndt ein, ignorierte es jedoch und seufzte.
„Natürlich verstehe ich Euer Dilemma.“ Plötzlich war sein Tonfall deutlich versöhnlicher. „Ihr müsst ja selbst wissen, dass ein solcher Anwärter dieses Haus und Euren Namen in Verruf bringen würde. Aber in Eurer Großherzigkeit wollt ihr den Wunsch des Drachen auch nicht einfach ablehnen, nicht wahr?“
Freiherr zu Hohlstein wirkte einen Moment überrumpelt, nickte dann jedoch zögerlich.
„Natürlich verfüge ich nicht über Euren Weitblick.“ Lynhartt lächelte schmal. „Aber ich denke, ich wüsste einen Weg, um sicherzustellen, dass er es Wert ist, ausgebildet zu werden.“
Zum ersten Mal sah er Johannes direkt an und das Funkeln in seinen Augen verursachte ihm eine Gänsehaut.
„Schickt ihn in die Wisperhöhle.“
Johannes runzelte die Stirn, denn davon hatte er noch nie gehört.
Arndt baute sich vor Lynhartt auf. „Es ist besser für dich, wenn ich davon ausgehe, dass du das nicht ernst meinst, Junge!“
„Von Tieffenow!“ Die bebenden Finger des Freiherrn zerknitterten das vor ihm liegende Papier. „Vergesst Eure Umgangsformen nicht.“
Arndts Kiefer spannten sich an. Er konnte seinen Ärger anscheinend nur mühsam zurückhalten.
Freiherr zu Hohlstein schien zu überlegen und für einen Moment herrschte Stille.
„In Anbetracht der Umstände ist es nur gerechtfertigt, wenn er die alte Prüfung durchläuft“, meinte er schließlich.
Augenblicklich breitete sich auf Lynhartts Gesicht ein selbstgefälliges Grinsen aus.
„Die Zeremonie wurde nicht umsonst geändert!“ Arndt wirkte ungehalten. „Ihr könnt ihn doch nicht …“
„Ihr habt selbst gesagt, er ist die Wahl des Drachen“, unterbrach ihn der Ältere nun etwas lauter. „Was befürchtet Ihr dann?“
Arndt erwiderte nichts, presste stattdessen die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
„Dann wäre das wohl geklärt“, stellte der Freiherr nach einem Augenblick fest.
„Ihr habt wie immer weise entschieden, Freiherr zu Hohlstein.“ Lynhartt lächelte und Johannes konnte Arndts Wangenmuskel zucken sehen.
Johannes war hin und her gerissen zwischen Freude und Unsicherheit. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus, doch er versuchte es zu ignorieren.
Von welcher Prüfung hatten sie gesprochen und was war die Wisperhöhle? Wieder traute er sich nicht, seine Fragen laut auszusprechen, denn vielleicht überlegten sie es sich anders, wenn er ihnen auf die Nerven fiel.
„Weist ihm ein Zimmer zu“, wurde Arndt beauftragt.
Der Freiherr betrachtete Johannes erneut. „Und sorgt dafür, dass er nicht mehr ganz so sehr auffällt.“
Erneut folgte er Arndt stumm durch die endlos scheinenden Gänge, bis sie endlich vor einer Tür Halt machten.
„Ich hoffe, du hast dir den Weg gemerkt“, brummte von Tieffenow und Johannes schreckte aus seinen Gedanken auf.
Tatsächlich war er ihm nur hinterhergetrottet. Die Villa war so weitläufig, dass er sich vermutlich für mehrere Tage darin verirren konnte.
„Ähm …“, setzte er an, doch Arndt stieß bereits die Tür auf und deutete in den Raum.
„Dein neues Quartier."
Johannes trat vor und sobald er das Zimmer erblickte, war er zu keiner Antwort mehr fähig.
Mit offenem Mund bewunderte er die deckenhohen Bäume, die auf die Wände gemalt worden waren und in denen sich Amseln mit Eichhörnchen balgten, beobachtet von Meisen und weiteren Vögeln. Die beiden Seiten des Raumes wurden jeweils von einem Himmelbett dominiert, die beinahe so groß waren wie das Lager für seine gesamte Familie. Dazwischen ließ ein breites Bleiglasfenster das Sonnenlicht ein und gab den leicht verschwommenen Blick auf den Park frei, in dem die anderen Jungen immer noch mit den Holzschwertern durcheinanderwirbelten. Zusätzlich gab es auf der rechten Seite eine gemütliche Sitzecke vor einem offenen Kamin.
„Nun geh schon rein, Junge“, sagte Arndt hinter ihm genervt. „Ich sorge dafür, dass dir ein Bad eingelassen wird.“
Johannes runzelte die Stirn. „Aber ich kann doch …“
„Was? Hier kannst du dich nicht im Park waschen!“
Johannes fühlte, wie sich seine Wangen erhitzten. Zum Glück wartete Arndt nicht auf eine Antwort, sondern schritt eilig den Gang entlang. Erst als von Tieffenow um eine Ecke bog und so aus Johannes’ Blickfeld verschwand, wagte er es wieder zu atmen.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte keine Umstände bereiten wollen, denn er war es gewohnt, den Zuber selbst zu füllen. Jeden Sonntag schleppte er sieben Wasserkübel vom Brunnen am Dorfplatz bis zu ihrer Hütte, wo seine Mutter das Wasser über der Kochstelle erhitzte, bis sie es schließlich in den Holzbottich füllen konnten. Im Sommer sparten sie sich diese Mühe meistens, denn dann konnten sie auch im Dorfsee baden. Als kleines Kind war ihm zuletzt ein Bad eingelassen worden.
Seufzend wandte er sich wieder dem Zimmer zu und musterte seine dreckverkrusteten Stiefel. Kurzerhand zog er sie aus, lies sie neben dem Eingang stehen und ging barfuß ein paar Schritte in den Raum. Der Holzboden fühlte sich kühl unter seinen Fußsohlen an. Er spürte die Unebenheiten und ihm wurde bewusst, dass er wirklich hier stand …
Er hatte keine Zeit der Flut an Gefühlen auf den Grund zu gehen, die ihn bei diesem Gedanken zu überwältigen drohten, denn in dem Moment hörte er, wie sich ihm die Schritte mehrerer Personen näherten. Schon eilten vier Frauen in einfacher Kleidung ins Zimmer, jede mit einem Eimer voll dampfendem Wasser. Beinahe wäre er zu ihnen hingelaufen, um ihnen zu helfen, doch dann bemerkte er Arndt, der mit verschränkten Armen im Gang stand und ihn beobachtete.
Hin und her gerissen blieb Johannes stehen und sah zu, wie die Frauen in einem Raum zu seiner Rechten verschwanden, den er bisher übersehen hatte, da die Tür ebenfalls bemalt war.
Er hörte Wasser platschen, dann verschwanden die Vier wieder mit leeren Eimern im Gang. Unschlüssig stand Johannes da und blickte zwischen der halb geöffneten Tür und Arndt hin und her.
„Sie kommen noch einmal“, sah sich dieser anscheinend gezwungen zu erklären und tatsächlich erschienen die Frauen kurz darauf erneut.
Dieses Mal allerdings in Begleitung eines hellhaarigen Jungen in schlichter, aber hochwertiger Kleidung, der kaum älter als er selbst schien. Er hatte einen Stapel Kleidungsstücke bei sich, den ihm eine der Frauen abnahm. Dann verbeugte er sich doch tatsächlich vor Johannes, um neben der Tür zur Badestube Stellung zu beziehen. Johannes fühlte sich so unwohl mit der Situation, dass er es nicht schaffte, das freundliche Lächeln des Jungen zu erwidern.
Nachdem die Frauen gegangen waren, trat Arndt ein.
„Lass uns kurz allein.“
Beinahe wäre Johannes der Aufforderung gefolgt, doch da verbeugte sich bereits erneut der Junge. „Sehr wohl, Herr von Tieffenow.“
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Arndt ließ seufzend die Arme sinken.
Er sagte nichts, stand einfach nur da und musterte ihn und so wuchs in Johannes die Furcht, schon wieder etwas falsch gemacht zu haben.
„Es tut mir leid, wenn ich …“, begann er.
„Wenn dir dein Leben lieb ist Junge, dann gehst du wieder zurück.“
Johannes konnte sein Gegenüber nur mit großen Augen anstarren. Drohte von Tieffenow ihm jetzt auch? Vorhin hatte er noch den Eindruck gehabt, er würde sich zumindest ein kleines bisschen für ihn einsetzen.
Arndt verzog die Lippen. „Versteh mich nicht falsch, aber du gehörst nicht hierher. Du wirst die Prüfung nicht schaffen. Geh zurück, dann hast du zwar kein Leben in Luxus, aber dafür hoffentlich ein langes!“
„Was … was soll das heißen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bleibe“, sagte er entschieden, auch wenn seine Stimme zittrig klang.
Arndt seufzte und blickte aus dem Fenster hinter Johannes. Seine Lippen waren aufeinandergepresst und er schien mit sich zu hadern.
„Kuron verweigert es bereits seit mehreren Jahren einen der Anwärter zu wählen, sobald diese ihre Ausbildung beendet haben.“ Er sprach leise und sah Johannes eindringlich in die Augen. „Er will keinen Gefährten.“
Johannes taumelte und plötzlich schien es zu wenig Luft im Raum zu geben.
„In seinem Versuch, die Bindung zu verhindern, kommt er mittlerweile offenbar auf solch abstruse Einfälle, wie jemanden zum Schein zu wählen.“
Arndts Worte drangen nur noch gedämpft zu ihm durch. Angst umklammerte sein Herz und mischte sich mit Wut, Hilflosigkeit und Scham.
Es fühlte sich an, wie ein Schlag in den Magen, als ihm etwas klar wurde.
Sie alle wollten ihn nicht hierhaben.
War es dann nicht das Naheliegendste, ihn Glauben zu machen, dass Kuron es nicht ernst meinte? Er selbst hatte einen anderen Eindruck von dem Drachen gehabt. Er dufte, er konnte nichts anderes glauben. Durfte sich nichts einreden und sich so in die Ecke drängen lassen.
„Das ist nicht wahr“, krächzte er.
Arndt schloss für einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf. „Überleg es dir“, erwiderte er barsch.
Er wandte sich ab, um die Tür zu öffnen und den Jungen hereinzuwinken, der sich erneut verbeugte.
„Du teilst dir das Zimmer mit Salomon Praiosholt. Und das hier ist Maximilian Löwenkofen, euer Kammerjunker“, erklärte Arndt, dann verschwand er im Gang.
Johannes blickte Maximilian an und fragte sich, was er von all dem halten sollte.
„Soll ich Euch beim Entkleiden behilflich sein, Herr?“
„Was …? Ich … Nein, das schaffe ich alleine“, wehrte er hastig ab.
Der Junge senkte den Kopf, sodass ihm die weizenblonden Strähnen vor die Augen fielen. Johannes konnte nur vermuten, dass ihm die Situation ebenso unangenehm war, wie ihm selbst. Und so, wie er im Moment aussah, machte es alles noch schlimmer.
Er wusste, dass Kammerjunker aus dem niederen Adel stammten und mit dieser Tätigkeit Weltkenntnis erlangen und Beziehungen knüpfen sollten. Was aber bedeutete, dass Maximilian im Rang weit über ihm stand.
„Das habe ich nicht bezweifelt, mein Herr. Ich wollte Euch lediglich meine Hilfe anbieten.“
Er schüttelte den Kopf. „Nenn mich doch einfach Johannes.“
„Das ist mir nicht erlaubt, mein Herr.“
„Auch nicht auf meinen ausdrücklichen Wunsch? Ich meine, ich bin doch gar kein Adliger“, entgegnete er. „Im Gegensatz zu dir … Also …“ Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Es war einfach verrückt.
„Ihr bekleidet im Moment einen deutlich höheren Rang als ich, Herr“, erwiderte Maximilian mit roten Wangen.
Einen Moment lang herrschte unangenehme Stille.
„Ihr solltet baden, solange das Wasser noch heiß ist, mein Herr.“
„Ja, ich …“
Johannes atmete tief durch und ging dann an ihm vorbei in die Badestube.
Ein Holzzuber mit einem sorgfältig in den Rand geschnitzten Muster erwartete ihn. Auf einem halbhohen Schränkchen stand ein Leuchter, der außer einem sehr schmalen Fenster die einzige Lichtquelle in dem Raum war. Daneben lagen unzählige Fläschchen und Tiegel, deren Zweck sich ihm nicht erschloss.
Als Maximilian ihm folgte und Anstalten machte, ihm tatsächlich beim Ausziehen helfen zu wollen, wehrte Johannes schnell ab. „Ich wäre ganz gerne allein, wenn das in Ordnung ist.“
„Natürlich.“ Der Junge verbeugte sich schon wieder vor ihm. „Dort liegt frische Kleidung bereit, mein Herr.“ Er deutete auf einen Schemel neben der Wanne. „Wenn Ihr noch etwas braucht, Herr, dann sagt Bescheid.“
Maximilian schloss die Tür und endlich konnte Johannes aufatmen. Er entledigte sich seiner zerrissenen Kleidung und seufzte wohlig, als er in die Wanne sank und das warme Wasser seinen Körper umspülte. Er schloss die Augen und tauchte unter. Blubbernd entließ er die Luft aus seiner Lunge und für einen kostbaren Moment konnte er sich vorstellen, zuhause im Holzzuber zu sitzen. Nur dass das Wasser für gewöhnlich nicht mehr so warm war, wenn er an die Reihe kam, da Leila immer ewig planschte. Was sie wohl gerade tat?
Prustend kam er wieder an die Oberfläche, öffnete die Augen und betrachtete all den Prunk um sich herum. Brauchte man das, um glücklich zu sein? Im Moment wollte er nichts lieber, als nach Hause zu seiner Familie. In der Stube sitzen und die Wärme spüren,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Tess M. Heingand
Bildmaterialien: lizenzfreie Bildelemente von Pixabay.de
Cover: Tina Tannwald
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2019
ISBN: 978-3-7554-1573-2
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